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Das Material, es spricht zu dir
Der Standard

Um ein Haus zu bauen, nehme man Ziegel, Mörtel, Holz und Stahl. Oder man werfe einen Blick nach Japan und lasse sich von der Architektur Kengo Kumas inspirieren. Ein Appell zu Weitblick.

19. August 2006 - Wojciech Czaja
Architektur wirft viele Fragen auf. Eine davon ist beispielsweise voll und ganz dem Material gewidmet. Die Liste der möglichen Baustoffe ist eingedenk unserer kulturellen Wurzeln und der klimatischen Verhältnisse kurz: Ziegelstein, Beton, Holz, Stahl und Glas. Doch Einfamilienhäuser müssen nicht immer gemauert und gemörtelt sein. Und Bürogebäude müssen nicht immer nur aus Stahl und Glas sein. Holzhütten hingegen - ja, die müssen aus Holz sein.

Ein Blick ins Land der aufgehenden Sonne jedoch beweist, dass die Frage nach dem Material noch viel mehr Antworten zulässt, wenn man erst einmal die gewohnten Pfade und Denkmuster hinter sich lässt. Eine besondere Materialvielfalt zeigt die Architektur des japanischen Architekten Kengo Kuma. „Wie können wir endlich der Massivität unserer Kisten entkommen?“, fragt der 52-Jährige, „diese Frage zu beantworten war mein Bestreben in den vergangenen Jahren.“ Seine emsige Arbeit trägt Früchte. Zu den klassischen Materialien der Architektur gesellen sich heute Naturstein, Adobe, Onyx, Bambus, Reispapier, rohe Baumstämme, ja, sogar mit Plastik hat er schon gebaut.

Das Plastic House - ein Einfamilienhaus mitten in Tokio - besteht bis auf die stählerne Tragkonstruktion durch und durch aus Kunststoff. Die Wände sind nicht aus Ziegel, die Fenster nicht aus Glas, die Böden nicht aus Holz. Alle Bauteile, die wir intuitiv mit einem herkömmlichen Material assoziieren würden, sind hier aus strapazierfähigem Polymer. Konsequenterweise sind sogar der Zaun und der Lattenrost auf der Terrasse aus Kunststoff gegossen. Verschraubt ist das Ganze - selbstverständlich - mit Schrauben aus Plastik. Kuma: „Es ist ein einzigartiges Material, das je nach Lichtstimmung einmal wie Reispapier, einmal wie Bambus nach außen scheint.“

Doch der Japaner gesteht sich ein: Das Plastic House war ein Experiment, ein kleiner Exkurs in unbekannte Gefilde. Denn eigentlich hat Kengo Kuma für tote Materie nichts übrig: „Ich glaube an natürliche Materialien, an das Leben in jedem einzelnen Werkstoff. Ein Haus muss wie ein Mensch sein: Es muss atmen können, es muss durchlässig sein wie die Haut des Menschen, es muss mit uns kommunizieren können.“ Und das funktioniere eben nur mit Materialien aus der Natur.

Zu den extremen Beispielen seiner buchstäblich materiellen Architektur zählt das Community Center in Takayanagi. Obwohl es sich dabei um ein öffentliches Gebäude handelt, scheute Kuma nicht davor zurück, die Außenwände aus zartem Reispapier zu bauen. „Ein schwaches Material wie beispielsweise Reispapier ist eines, das lebt, das sich bewegt, sich verändert, atmet und sich der Umwelt anpasst.“ Schwache Häuser benötigen mehr Pflege, daran gebe es nichts zu rütteln. „In so einem Haus können Sie nicht um sich schlagen, Sie können nicht mit dem offenen Messer herumlaufen. Aber wenn die Bewohner das Haus mit Respekt behandeln, dann kann die Lebensdauer eines solchen Bauwerks sehr lange sein.“

Das seltene Gebäude in Takayanagi hat mittlerweile schon sechs Jahre auf dem Buckel. Kein Kratzer, kein Riss, von Graffiti gar nicht erst zu sprechen. Zur Pflege des sachten Reispapiers empfiehlt Kuma frische Khaki-Früchte und den Saft von Tomaten. „Die natürliche Kraft ist manchmal stärker, als man glauben möchte. Es ist nur eine Frage der Einstellung: Welche Beziehung wollen Mensch und Material miteinander eingehen?“

Eine derart intensive Auseinandersetzung mit dem Bauwerk könne in der zeitgenössischen Architektur niemals entstehen, so Kuma. Da gelten Stärke, Steifigkeit und Stringenz. Gebäude müssen Erdbeben, Überschwemmungen und Flugzeugkollisionen standhalten. Vor allem aber sind Gebäude schonungsloser Nutzung und Vandalismus ausgesetzt. „Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass so ein traditioneller und respektvoller Ansatz nur in Japan möglich ist“, erklärt Kuma, "in Europa oder Amerika müssten Sie ein Schild anbringen mit der Aufschrift: „Bitte auf das Haus zu achten!“. Und es wird Ihnen trotzdem nichts nützen. Denn die Europäer und Amerikaner sind im Vergleich zu uns Japanern ziemlich roh."

Und aus diesem Grund wirft er erst gar keinen Blick in den Westen, wo wahrscheinlich ein zerschmetterndes Erlebnis das andere jagen würde, sondern bleibt dem Fernen Osten treu, wo man stets freundlich ist und sich verbeugt - nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor den Häusern. Ein solcher Ort der Stille und des Respekts ist das Projekt „Great Bamboo Wall“ in Peking, Bestandteil eines weit gestreuten Apartment-Areals entlang der Chinesischen Mauer (Commune by The Great Wall, betrieben von Kempinski). Kuma ließ sich von der Bauweise der nahe gelegenen Mauer inspirieren und hüllte seine Residenz rundum in Bambus. Einmal trägt der Bambus das Haus, einmal steht er einfach da, einmal gleitet er als Rollladen vor dem Fenster auf und ab. So eine Architektur lässt sich nicht einzig und allein mit Computerprogrammen generieren. Sie verlangt einem Herz und Seele ab.

„Wir Japaner sind detailverliebt, wir schätzen die Feinheit, wir haben eine gewisse Ehrfurcht vor dem Material und natürlich vor der Tradition“, erklärt Kuma. Selbst wenn er ein Haus aus Glas entwirft, ist das Glas nicht einfach nur durchsichtig und architektenhübsch. In seiner Villa „Water / Glass“ interpretiert er das Glas als still und fest gewordenes Wasser. Fast scheint es, als würde das eine Material ohne das andere keinen Sinn mehr ergeben.

In der Architektur von Kengo Kuma wird der Baustoff zum eigentlichen Konzept. Jedes Projekt verdient seinen eigenen Entwurf, mehr noch verdient jedes Projekt seinen ganz eigenen Rohstoff. „Am Anfang eines Projekts gibt es noch keine Materialidee. Die entsteht erst, wenn ich zum jeweiligen Grundstück fahre, und dort das Material mit mir zu sprechen beginnt.“ Man müsse eigentlich nur zuhören, der Rest erledige sich dann von selbst.

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