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Stadt ohne Worte
Der Standard

Seit über einem Jahr sind die Straßen in São Paulo frei von jeder Werbung. Auch anderen Städten verschlägt es bisweilen die Sprache

6. September 2008 - Wojciech Czaja
Knapp zwei Jahre ist es her, dass in São Paulo beschlossen wurde, die ganze Stadt zu säubern und die Werbung von den Häusern zu reißen. Videoscreens wurden demontiert, Leuchtreklamen entfernt, Feuermauern übermalt. Das sogenannte „Gesetz der sauberen Stadt“ war eine der ersten Amtshandlungen des Neobürgermeisters Gilberto Kassab. „Ich meine es ernst. Wir müssen aufs Ganze gehen“, sagte er damals, „bei elf Millionen Einwohnern kann man unmöglich im kleinen Rahmen agieren. Man muss radikal sein und rigorose Maßnahmen ergreifen.“

Am 1. März 2007 ist die Schonfrist abgelaufen. Außenreklamen und Firmenschilder sind seit diesem Tag strengstens verboten, das Anbringen wird mit saftigen Strafen geahndet. Ein Quadratmeter illegaler Außenwerbung kostet den Eigentümer knapp 400 Euro. „Mit dem Reklame-Gag wurde Kassab sofort zum populären Saubermann“, bemerkt Carl D. Goerdeler in einem Essay, der im Wirtschaftsmagazin brand eins erschienen ist. Doch nicht ohne Folgen: „Selbst auf der noblen Avenida Paulista fällt die Orientierung schwer. Wo sind die Wahrzeichen der Stadt geblieben?“ Und die Rua Augusta, einstige Prachtstraße im Zentrum der Stadt, beklagt der Autor, sehe heute aus wie ein gerupftes Huhn.

Der brasilianische Architekt Vasco Caldeira formuliert es auf seine Weise: „Die Stadt hat vor der Aktion hässlich ausgesehen. Und sie sieht nach der Aktion hässlich aus. Nur halt anders.“ Caldeiras ist mit seiner Meinung jedoch in der Minderzahl. Denn trotz der kargen Erscheinung findet die Säuberungsaktion in São Paulo viele Anhänger. Ein Großteil der Paulistas - manche Tageszeitungen sprechen gar von 70 Prozent der Bevölkerung - ist mit dem Verschwinden von Text und Bild zufrieden.

Endlich wieder Nacht

„São Paulo war immer ein Meer von visueller Verschmutzung. Die Stadt ist hinter Werbeflächen verschwunden, die Slogans und Claims der großen Brands waren überall, und es gab kein Entkommen“, erinnert sich der Ausstellungsbauer Antonio Vieira Paschoalique. „Heute wirkt São Paulo aufgeräumt, ästhetisch, ja völlig anders, als es jemals war.“ Und noch etwas: „Endlich gibt es in der Stadt wieder Dunkelheit, endlich gibt es wieder Nächte.“

Die fehlende Helligkeit hat Konsequenzen: Seitdem das Licht aus ist, fühlen sich die Leute auf der Straße nicht mehr sicher. Manche sprechen sogar davon, dass die Kriminalität wieder angestiegen sei. Der größte Verlierer ist allerdings die Wirtschaft. Einzelhandelsleute und Handwerker haben ihre Jobs verloren, ein ganzer Industrie- und Dienstleistungszweig ist angesichts der kaum noch benötigten Werbung zusammengebrochen. Kein Mensch braucht heute noch Leuchttafeln, Klebebuchstaben, großflächige Fassadenmalerei.

Der US-amerikanische Plakatwerber Clear Channel Communications, der sich erst vor einigen Jahren am brasilianischen Markt eingekauft und einen Großteil der Rechte am Plakatmarkt erworben hat, ist alles andere als begeistert. Er interpretiert das Verschwinden der großflächigen Werbeflächen als Kulturverlust. Seine letzte Kampagne für São Paulo lautete: „Es gibt einen neuen Film auf allen Plakaten ... Was für Plakate? Außenwerbung ist auch Kultur.“

Einen marginalen Einblick in einen derartigen Sprachverlust gewährte die Kunstinstallation Delete! im Juni 2005. Für die Dauer von zwei Wochen wurde ein Teil der Neubaugasse in Wien von jeglicher Werbung befreit. Die beiden Initiatoren Christoph Steinbrener und Rainer Dempf sprachen dabei von der „Entschriftung des öffentlichen Raums“. Geschäftsportale, Schriftzüge, Schilder und Plakate wurden mit knallgelber Folie überzogen. Die Stadt verstummte. Gelegentlich blitzte unter der Folie noch die Kontur eines Logos durch.

„Wien ist, wie uns scheint, mehr mit Werbung zugepflastert als andere europäische Städte“, sagen die beiden Künstler, „in Wien gibt es 6000 großflächige Werbeflächen, in Paris, das um ein Vielfaches größer ist, sind nur etwa 2000.“ In gewisser Weise funktioniere das Projekt wie eine Schule des Sehens: „Durch den Eingriff des Überdeckens wird der Blick auf andere Dinge gelenkt. Motive, die in der Stadt zwangsläufig untergehen, weil sie etwa nicht hinreichend farbig sind, bekommen plötzlich wieder Bedeutung.“

Stadt ist ein Ort der Zeichen

Die Sprache des öffentlichen Raums gehört ohne Zweifel zur Stadt des 20. und 21. Jahrhunderts. Ohne Schrift erscheint sie uns fremd. Denn - wie der Literaturwissenschafter Karlheinz Stierle schreibt: „Die große Stadt ist ein Zeichenort oder eine Semiosphäre. Je größer die Stadt, desto geringer ist in ihr die Chance der direkten sprachlichen Kommunikation, umso zahlreicher sind aber die Zeichensprachen, in denen die multiple Kohärenz der Stadt sich spiegelt. Prinzipiell ist die Stadt dann groß, wenn in ihr auch für den Stadtbewohner selbst das Unvertraute überwiegt.“

Das neueste Projekt, das sich mit der Sprache im öffentlichen Raum befasst, ist das sogenannte Stadtalphabet Wien. Der Grafikdesigner Martin Ulrich Kehrer marschierte wochenlang durch Wien und bannte dabei die Schriftzüge von Geschäftsportalen auf Film. „Mich fasziniert dieses Kommunikationsmittel schon seit langem“, sagt er. „Die gestalterische Freiheit ist bei Geschäftsportalen größer als in jeder anderen geschriebenen Kommunikationsform.“

Die Schriftzüge der Einzelhändler müssten sich keinem Corporate Design unterwerfen, sie müssten einfach nur aufmerksam machen. Je unverwechselbarer, desto besser. „Erst das dichte Nebeneinander ohne jegliche Rücksicht auf den Nachbarn macht die Lebendigkeit einer Stadt aus.“

Ende des Jahres erscheint das Stadtalphabet Wien in Buchform im Sonderzahl Verlag. Es ist die Dokumentation einer Kultur, die langsam, aber doch aus dem Stadtbild verschwindet. „Früher waren die Straßen mondän und elegant. Die Buchstaben haben geleuchtet und geblinkt, waren hinter Glas oder eingefasst in Metall. Heute verwahrlost der Straßenraum zusehends. Überall große Ketten, Wettbüros und Handyshops mit hässlichen Buchstaben aus Klebefolie.“ Ein letztes Aufflackern der Worte. Und Buch zu.

[ Martin Ulrich Kehrer, „Stadtalphabet Wien. Mit einem Nachwort von Walter Pamminger“. Ca. 200 Fotografien in Farbe. € 16,- / 128 Seiten. Erscheint Ende 2008 im Sonderzahl Verlag ]

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