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Die fabelhafte Welt der Manuelle
Der Standard

Die Pariser Architektin Manuelle Gautrand hat nur Ornament im Sinn. Wenn die Wirklichkeit nicht ausreicht, zieht sie sich zurück in die Welt der Bits und Bytes.

7. August 2010 - Wojciech Czaja
Adolf Loos sagte einst, Ornament sei Verbrechen. „Ach, Loos würde mich hassen“, sagt die Pariser Architektin Manuelle Gautrand, zuckt mit den Schultern und rollt unschuldig ihre kullernden Teddybär-Augen nach oben. „Aus seiner Sicht wäre ich wohl so etwas wie eine Schwerstkriminelle. Unverbesserlich. Ab hinter Gitter.“

Die 49-Jährige, die seit 1991 ein eigenes Büro in der Nähe der Opéra Bastille betreibt, hat nämlich nur eines im Sinn: Ästhetik um jeden Preis. „Ich will, dass Architektur etwas Schönes ist. Ich will, dass die Menschen die Häuser nicht nur mit den Augen wahrnehmen, sondern dass sie sie auch angreifen, streicheln, in die Hand nehmen wollen. Und das geht nur, indem man den Gebäuden so etwas wie eine emotionale Hülle verleiht.“

Das Gefühlskleid der Gautrand'schen Gebäude nennt sich Ornament. „Die meisten französischen Architekten haben Angst vor Expression und machen einen auf cool und emotionslos“, sagt Gautrand, die auf die Errungenschaften der Moderne pfeift und die Belle Époque zu neuem Leben erwecken will. „Aber das interessiert mich nicht. Ganz im Gegenteil. Ich brauche das Ornament, um mich zu artikulieren.“

Auf eines legt die Architektin allerdings Wert: Die ornamentale Oberfläche ist im Gegensatz zu den historischen Vorbildern nie Selbstzweck, sondern übernimmt stets eine bauphysikalische, statische oder marketingtechnische Funktion. Bei ihrem Citroën-Showroom C42 auf der Avenue des Champs-Élysées in Paris ist die kristalline Glasfassade Konstruktion und Kommunikationsoberfläche zugleich. Gautrand: „Der typische Doppel-Chevron, den jeder vom Kühlergrill dieser französischen Autos kennt, ist in die Fassade integriert und macht es so überflüssig, das Wort Citroën an die Wand zu schreiben. Die Architektur selbst wird hier zum Wiedererkennungsmerkmal.“ Gebäude und Marke seien untrennbar miteinander verbunden. „Sollte Citroën seine Niederlassung eines Tages aufgeben, dann müsste man das Gebäude wohl ohne jeden Zweifel zerstören.“

Allein, die meisten realisierten Bauwerke der Pariser Architektin, die für ihren Citroën-Showroom sogar mit dem Future Project Award 2005 ausgezeichnet wurde, kommen schlicht und schnörkellos daher. Das ist der Preis der Wirklichkeit. „Ich fürchte, viele Auftraggeber und Bauherren sind noch nicht so weit“, erklärt Gautrand. „Sie sehen Architektur in erster Linie als eine funktionsorientierte Dienstleistung und nicht so sehr als Ausdrucksmittel einer kulturbeflissenen Gesellschaft. Das ist zwar legitim, aber schade, denn es ist dringend an der Zeit, Architektur neu zu definieren und den Bedürfnissen der Gegenwart und Zukunft anzupassen.“

Fazit: Im Gegensatz zum Gros ihrer französischen Kollegen flüchtet Gautrand in die Backstube der Bits und Bytes, zieht sich Kochschürze und Mütze über und wälzt ihre digitalen Wolkenkratzer, Wohnhäuser und Kulturbauten in einer Panier aus Blumenstreusel und geometrischem Dekor. Beim Wettbewerbsentwurf für ein Bürocluster in Issy-les-Moulineaux in Westparis lässt sie die Wolkenkratzer wie Bäume aus dem Boden wachsen. Das Tragwerk in der Fassadenebene ist Stämmen und Ästen nachempfunden, die Fensterflächen weisen die Form organisch geschwungener Blätter auf.

„Manchmal eignet sich die Architektursprache eben, um einen Stadtteil unverwechselbar zu machen und mit Identität aufzuladen“, sagt Gautrand. Oder mit Emotionen. Für den Businessbezirk La Défense, der von jeher an gestalterischer Unterkühlung leidet, schlug sie einen 300 Meter hohen Office-Tower vor, der an seiner Außenseite in ein ornamentales Kleid aus Stahl gewickelt ist.

„Das Ornament ist auch in diesem Fall nicht nur ein Ornament, sondern in erster Linie die nach außen gekehrte Tragstruktur des Gebäudes“, sagt Gautrand. „Meist wird die Arbeit der Baumeister und Stahlbauer hinter Fassaden und Verkleidungen versteckt. Ich wollte ihre Arbeit klar sichtbar belassen. Wenn Sie so wollen, wird an der Fassade eine kleine Geschichte des Bauens erzählt.“

Architektonische Anekdoten wie diese seien dringend nötig. „Vor allem in der Hochhausarchitektur dominiert eine sterile, gesichtslose, männlich geprägte Sprache. Ich wollte beweisen, dass auch ein Wolkenkratzer weich und weiblich wirken kann.“ Ob sie die Einteilung in Geschlechterrollen nicht als störend empfindet? „Mag sein, dass Ornament etwas Feminines ist. Aber was soll's, ich bin eben eine Frau.“

Unter Umständen könnte demnächst auch in Wien ein archetypisch weiblicher Bau aus der Erde ragen. Im Auftrag der Wien 3420 Aspern Development AG wurde Gautrand vor zwei Jahren eingeladen, um mit Studenten der TU Wien Projekte für die neue Seestadt Aspern zu entwickeln. „Das war einmal ein erster Schritt“, heißt es bei Wien 3420. „Wir haben vor, Manuelle Gautrand bei einem der nächsten großen Projekte in der Seestadt zu einem Wettbewerb einzuladen.“ - Ein weiterer Versuch, um das Ornament aus der fabelhaften Welt in die Wirklichkeit zu hieven.

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