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Im Wohnzimmer der Gesellschaft
Der Standard

Zahlreiche Kunst- und Architekturprojekte erobern den öffentlichen Raum zurück

11. November 2010 - Wojciech Czaja
Wem gehört die Stadt? „Der öffentliche Raum gehört uns allen“, sagt der New Yorker Künstler und langjährige Flashmob-Organisator Charlie Todd. „Wenn Sie so wollen, ist das unser aller Wohnzimmer. Hier treffen wir uns, hier lernen wir einander kennen, hier gibt es Komik und Klamauk.“ Auf einen bestimmten Anteil des öffentlichen Raums habe jeder Mensch Anspruch. Rein theoretisch zumindest.

In der Praxis sieht die Sache jedoch anders aus. Immer öfter werden Stadt und Land privatisiert und bestimmten Nutzungsbestimmungen oder gar Verboten unterzogen. Häufig passiert es, dass der öffentliche Raum - laut Definition der ebenerdige und frei zugängliche Teil einer Gemeindefläche - der Bevölkerung entrissen und als Verkehrsfläche genutzt wird.

„In den meisten Ländern der Welt wird der öffentliche Raum vor allem von Autos in Anspruch genommen“, erklärt die Wiener Künstlerin und Ausstellungsmacherin Andrea Seidling. „Solange die Straßen und Plätze als Verkehrsraum genutzt und in dieser Funktion nicht behindert werden, ist alles in Ordnung. Jede Nutzung aber, die darüber hinausgeht, bedarf einer öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Sondernutzung. Ich denke, das sagt einiges über unseren Umgang mit Öffentlichkeit und Gesellschaft aus.“

Genau in dieser juristischen Lücke sind etwa die Projekte von Recetas Urbanas angesiedelt. Mit allen erdenklichen Mitteln versucht das spanische Büro, die Behörden an der Nase herumzuführen und so der Stadt wertvolle Parkplatzflächen für soziale Events abzuzwacken. „Das ist ganz einfach“, sagt Architekt Santiago Cirugeda. „Man muss lediglich bei der Stadtverwaltung um Genehmigung für das Aufstellen einer Schuttmulde ansuchen, ganz so, als hätte man eine Baustelle im Gange. Der Antrag kostet rund 35 Euro.“

Anstatt die bewilligten Mulden jedoch mit Bauschutt und Müll zu füllen, installierte Cirugeda darin Bäume, Schaukeln, und Picknick-Bänke. An anderer Stelle wiederum mutierten die Schuttmulden zu Info-Ständen, Leseräumen und Open-Air-Bühnen für Flamenco-Tänzer. So geschehen 1997 in Sevilla im Rahmen der Kunstinstallation Skips S. C.

Sprechen im Raum der Stadt

Auch das Wiener Architekturbüro feld72 übt Kritik an der fortschreitenden Vereinnahmung des öffentlichen Raums. Für die Biennale of Urbanism and Architecture 2009 in Shenzhen und Hongkong baute es sogenannte „Public Trailers“. Die besonderen Fahrrad-Anhänger können für Streiks und Demonstrationen eingesetzt werden. Mit Megafon und Inhalten gewappnet geht es über eine steile Leiter hinauf in den ersten Stock. Sollte die hier eingelöste Möglichkeit der freien Rede bei den Behörden nicht so gut ankommen, kann man rasch in die Pedale treten und wieder von dannen ziehen.

„Wir haben mehrere Installationen mit unterschiedlichen Funktionen gebaut, die bei der Bevölkerung und in den Medien durchaus gut angekommen sind“, erinnert sich Architektin Anne Catherine Fleith. „Lediglich der Speakers' Corner hat bei vielen Leuten für Hemmungen gesorgt.“

Das Foto mit dem Wachmann, der die Dame am Podest zurechtweist, habe sich genau so ereignet. Nichts daran ist gestellt. Während des 18. Wiener Architektur-Kongresses und der damit verbundenen Ausstellung Platz da! European Urban Public Space (zu sehen bis 31. Jänner 2011) ist der knallrote Speakers' Corner im Architekturzentrum Wien ausgestellt.

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