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Pariser Stadtmusikanten
Der Standard

Delogierung mal anders: Architekt Édouard François stapelte für den Bauträger Paris Habitat verschiedene Wohnhäuser zu einer urbanen Collage

18. Mai 2013 - Wojciech Czaja
Die Straßen sind geprägt von Kinderwagen, Einkaufswagen und tiefergelegten Renaults, deren Kofferräume mit Subwoofern ausgefüllt sind. Das Savoir-vivre ist nicht zu überhören. Trist wachsen dahinter abgewohnte, unansehnlich gewordene Plattenbauten in den Himmel. Gelegentlich noch ragt aus dem planlosen Nichts das eine oder andere Einfamilienhaus, die eine oder andere historische Stadtvilla, die von den rigorosen Stadtbaumaßnahmen der Sechziger- und Siebzigerjahre verschont geblieben ist.

Champigny-sur-Marne, rund zehn Kilometer südöstlich von Paris gelegen, ist das etwas andere Frankreich, fernab von Tour Eiffel und Champs-Élysées, eine Mischung aus Stadtrandgrün und Banlieue. 23 Prozent der Bevölkerung sind Migranten, die meisten davon stammen aus Nordwest- und Zentralafrika, die Arbeitslosigkeit ist exorbitant. Ein Drittel der Menschen unter 25 ist ohne Job.

Oder, wie es der Pariser Architekt Édouard François ausdrückt: „Das ist eine furchtbare und unattraktive Stadt mit vielen Problemen. Niemand will hier wohnen, niemand will darüber sprechen. Doch die Wahrheit ist: Champigny ist ein weltweites Phänomen, denn die sozial benachteiligten Wohnquartiere an den Peripherien der Großstädte sehen überall gleich aus. Die Infrastruktur ist eine Katastrophe, die Mobilität ist nicht gelöst, und das Stadtbild ist schlichtweg eine Beleidigung für die Augen.“

Das Wohnhaus „Urban Collage“, das vor rund einem Jahr fertiggestellt wurde, ist als aufmunternder Beitrag gedacht. François verschließt sich nicht vor der Realität, sondern schnappt sich die für diesen Ort typischen Wohntypologien und stapelt sie zu einer architektonischen Variante der Bremer Stadtmusikanten. Unten Stadtvilla, in der Mitte Plattenbau und oben drauf, quasi als surreales Sahnehäubchen im siebenten Stock, ein paar Einfamilienhäuser von der Stange. 114 Wohnungen gibt es insgesamt.

„Manche Leute werfen mir vor, dass ich mich mit diesem Projekt über die Wohnsituation armer Leute lustig mache“, meint François. „Aber das stimmt nicht - ganz im Gegenteil. Ich will die Architektur, die in Champigny-sur-Marne vorzufinden ist, als Baustein verwenden, um etwas anderes daraus zu machen, keines dieser 08/15-Wohnhäuser, sondern ein witziges, fröhliches Ding, das ein Spiegelbild der kulturellen Vielfalt dieser Stadt ist.“

Dass sich hinter dem Witz, den der eine lustig finden mag und der andere nicht, ein aufwändig geplantes Delogierungsprojekt verbirgt, ist den Beteiligten erst auf gezieltes Nachfragen zu entlocken. Paris Habitat, größter gemeinnütziger Wohnungserrichter und Immobilienverwalter der Hauptstadt, besitzt eine Handvoll Plattenbauten in Champigny. Die meisten davon sind marod, entsprechen längst nicht mehr den bautechnischen und energetischen Anforderungen und sind am Markt kaum noch zu vermieten. Nicht zuletzt sind die Wohnungen, nachdem sich die Suchkriterien in den vergangenen Jahrzehnten verändert haben, für die meisten Wohnungssuchenden zu groß.

„Urban Collage ist das erste Teilprojekt einer langen Serie, in der die alten, leer stehenden Plattenbauten nach und nach durch attraktivere Neubauten ersetzt werden sollen“, erklärt Karin Sallière-Trayssac, Projektleiterin im Büro Édouard François. „Nachdem wir das Haus fertiggestellt haben, wurden die bestehenden Mieter in ihre jeweilige Wunschwohnung umlogiert. Danach wurde der alte Plattenbau abgerissen, um Platz für einen weiteren Neubau zu machen.“ So, meint Sallière-Trayssac, solle das sozial benachteiligte Wohnquartier nach und nach umgekrempelt werden.

Hier einziehen? Schock!

Eine der betroffenen Mietparteien ist Familie Laidi. Seit und 35 Jahren leben Vater Laid und Mutter Aichi, beide aus Algerien, in Champigny. Elf der insgesamt zwölf Kinder sind bereits ausgezogen, die 23-jährige Nachzüglerin Asma lebt noch bei ihren Eltern. „Die Umlogierung war ein wunderbarer Schritt für uns“, erinnert sich Asma. „Die alte Wohnung war schlecht gedämmt, undicht, feucht, kalt im Winter, und man hat ständig alles durchgehört. Und manchmal hatten wir tagelang kein Wasser, weil die Steigleitung wieder einmal kaputt war. Ich bin froh, dass wir umgezogen sind.“

Und, wie gefällt Asma das neue Haus? Sie rollt mit den Augen. „Als uns Architekt Édouard François das erste Mal die Pläne und das Modell unseres neuen Wohngebäudes präsentiert hat, in das wir alle umziehen sollten, waren wir geschockt. Das war eine Katastrophe.“ Der 75-jährige Vater mischt sich ins Gespräch ein und schimpft. Irgendwann fällt der Begriff Disneyland Paris. Der erste Eindruck sitzt den Laidis noch tief in den Knochen. „Doch mittlerweile haben wir unsere neue Wohnung richtig liebgewonnen.“

Familie Laidi lebt in einem der kleinen Einfamilienhäuser, die etwas deplatziert auf dem Dach zum Landen gekommen sind, Fensterläden und schmiedeeiserne Scharniere inklusive. Die Wohnfläche beträgt 90 Quadratmeter, hinzu kommt eine riesige Dachterrasse vor dem Wohnzimmer. Die Miete ist zwar teurer, doch nachdem die Heizkosten nur noch einen Bruchteil von früher betragen, ist die Bruttomiete mit rund 600 Euro um keinen Cent teurer als im Vorgängerbau.

„Eine neue Wohnsituation verlangt immer auch nach einer gewissen Lebensumstellung“, sagt Mutter Aichi. „Das ist schon okay. Was ich allerdings kritisiere, ist der offene Wohnungsgrundriss, wo Wohnzimmer, Küche und Vorzimmer ohne Wände und Türen übergangslos ineinanderfließen. Auch wenn das nicht so aussieht, aber wir sind eine progressive und moderne Familie. Doch nicht alle sind so wie wir. Es gibt einige arabische Familien im Haus, die mit der neuen Situation nicht umgehen können.“

Lebensgefühl wie in einem Dorf

Der Grund: Durch den Wegfall von Wänden sei die Abgrenzung von Männerräumen und Frauenräumen verlorengegangen. Manche Parteien hätten nachträglich Wände eingezogen. „Ich verstehe von moderner Architektur nicht viel“, meint Aichi. „Aber wenn Sie mich fragen, ist das eine Zwangsbeglückung, weil die Wohn- und Lebenstraditionen der Zielgruppe nicht respektiert wurden.“

Ganz anders draußen auf den Laubengängen. Kinder rennen hin und her, Wäsche ist von einer Hauswand zur anderen gespannt, wacker kämpfen sich Nanaminze und Petersilie aus der Erde. „Früher waren die Wohnungen alle an einem langen, dunklen Gang aufgefädelt, und jeder lebte für sich allein“, sagt Aichi Laidi. „Heute ist alles offen, und endlich sieht man die Nachbarn, die rundherum wohnen. Man fühlt sich hier wie in einem Dorf. Ich mag das.“

Nicht alle sind so glücklich wie die Laidis. „Sozialer Wohnbau in Paris ist ein trauriges Kapitel“, sagt Édouard François. „Immer noch wird in Frankreich Segregation nach sozialen Schichten und Klassen betrieben, und zwar mehr als in anderen Ländern. Es entsteht ein Ghetto nach dem anderen. Was fehlt, ist kulturelle Durchmischung und menschliches Durcheinander.“

Wäre die Stadt eine nicht nur oberflächlich, sondern auch substanziell durchwebte soziale Collage, so François trotzig, dann würde dieses Haus niemandem mehr auffallen.

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