Die feinen Unterschiede

Lange galt die Ostmoderne als eintönig und trist. Das Interesse an ihr erwachte spät. Heute scheint das gewichtigste Argument für den Erhalt der Bauten ihr drohendes Verschwinden zu sein.

Andrea Gnam
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Die 1974 eröffnete Stadthalle von Chemnitz ist verkleidet mit Rochlitzer Porphyr, einem Tuff, der auch in mittelalterlichen Bauwerken Verwendung fand. (Bild: Roman Bezjak)

Die 1974 eröffnete Stadthalle von Chemnitz ist verkleidet mit Rochlitzer Porphyr, einem Tuff, der auch in mittelalterlichen Bauwerken Verwendung fand. (Bild: Roman Bezjak)

Architektonische Relikte der Schwerindustrie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erfahren im Westen als «anonyme Skulpturen» seit geraumer Zeit Anerkennung und Pflege. Sie halten die Erinnerung an untergegangene Produktionsformen und die funktionale Vielfalt von Industriebauten wach, mit denen man einst in erster Linie Schwerarbeit und Umweltverschmutzung verband. Fotografen wie Bernd und Hilla Becher waren es, die im grossen Massstab, mit langem Atem und systematischem Vorgehen unser Auge schulten. Auch nüchterne Zweckbauten, so lernte man beim Vergleichen ihrer zu Tableaus angeordneten Bildfolgen, unterscheiden sich aufgrund ihrer gestalterischen, funktions- und standortbedingten Variationen.

Spielräume und Haltungen

Nun scheint sich im Fall der Ostmoderne zu wiederholen, was mit der wachsenden Wertschätzung für die Industriedenkmäler einen Vorläufer fand. Verspätet, aber jetzt doch deutlich wendet sich das Interesse der Ostmoderne der Chruschtschow-Ära und den nachfolgenden Epochen sowie dem Baugeschehen in der DDR zu. Zunächst gerieten zeichenhafte, ungewöhnliche «Sonderbauten» in den Blick: repräsentative Gebäude für gesellschaftliche Anlässe, für die mehr Budget und Freiraum vorgesehen war als für den Bau von Wohnanlagen. In ihrer Fremdheit und ihrem gesellschaftlichen Anspruch muten sie heute wie aus der Zeit gefallene Meteoriten an – Frédéric Chaubin erfasste sie 2010 in den Republiken der ehemaligen Sowjetunion und setzte sie fotografisch in Szene (CCCP Cosmic Communist Constructions photographed, Taschen 2011). 2012 widmete das Wiener Architekturzentrum der Sowjetmoderne im Rahmen eines Architekturkongresses eine Ausstellung. Ein Jahr zuvor hatte an der Bauhaus-Universität Weimar ein Symposium zum Thema «Denkmal Ost-Moderne» einen wegweisenden Auftakt gesetzt.

Die Forschungen unseres Jahrzehnts nehmen Spielräume und persönliche Haltungen von Architekten in den Blick. Das hat ein Stück weit rehabilitierenden Charakter. Die Menschen hinter der Planungsmaschinerie erhalten als durchaus engagierte und zuversichtliche Architekten Namen und Gesicht. Sie hatten zwar mit rigiden Vorgaben zu kämpfen und mit wenig sinnlichen Baumaterialien auszukommen. Dennoch gelang es öfters – mit manchmal nur geringen Abweichungen vom Standard – mit «armen» Lösungen den Rahmen des Zusammenlebens der Bewohner anders zu gewichten und damit angenehmer zu gestalten. Diese Lösungen bleiben aber Varianten innerhalb des seriell Modularisierten, wobei in den zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion auch regionale Elemente in die Gestaltung einfliessen durften.

Ornamente und Mosaiken

Das heutige Interesse für die feinen Unterschiede setzt auf Differenzierung und retrospektiv erworbene Kennerschaft. Denkmalpfleger, Architekturhistoriker und Fotografen stehen im Fall der Ostmoderne vor einer schwierigen Aufgabe: Spezifische Eigenheiten, die angesichts der ungeliebten Hinterlassenschaft lange übersehen wurden, sind ausfindig zu machen und in ihrer Gesamtaussage zu begreifen. Die Architekten Martin Maleschka und Philipp Meuser zum Beispiel nehmen Ornamente in den Blick. Meuser erfasst in seinem Architekturführer Usbekistan (DOM Publishers)die von islamischen Formen inspirierte Fassadengestaltung in Taschkent, Maleschka fotografiert Mosaikarbeiten, Kacheln und brutalistisch inspirierte Betonbauten in Ostdeutschland. Selbst in einem Plattenbau aufgewachsen, erfreut sich Maleschka an der Proportion der in Ostdeutschland am häufigsten eingesetzten Grossplatte WBS 70 und der charakteristischen Sichtbarkeit der Fuge in ihrer vertrauten Rasterung. Ebenso schätzt er geometrisch ausgerichtete grafische Elemente der Wandgestaltung, skulpturale «Kunst am Bau».

Hier ist eine in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzende Bildsprache am Werk: Ihre Klarheit, schiere Grösse, Dynamik und Farbwahl hat Kindheitserinnerungen geprägt. Bei manch einem ehemaligen Bewohner hat sie lebensgeschichtlich einen nicht nur als negativen Nachhall hinterlassen. Und hegen nicht gerade Kinder eine besondere Freude am Ornament, das sie in seiner verlässlichen Wiederkehr auch zu Ausflügen in die Welt der Phantasie, zu gedanklichen Abschweifungen einlädt, die ein Stück kindlicher Identität ausmachen? In der «Berliner Chronik» ist dies zum Beispiel von Walter Benjamin für langweilige Schulstunden beschrieben worden, es mag auch für die Ornamente der Ostmoderne gelten.

In den Blick genommen wird der sorgfältig begutachtete Einzelfall, der vom Abbruch und den nicht immer gelungenen Verschönerungsbemühungen verschont geblieben ist. Man versucht eine Anlage möglichst im Originalzustand aufzuspüren und dann zu vermitteln, wie sich kleine Details zu einem stimmigen Ganzen im Ensemble schliessen. Bald aber stellt sich ein Problem, ähnlich dem, das wir bei heute als allzu radikal empfundenen Restaurierungsmassnahmen des 19. Jahrhunderts mit dem Verdikt des «Totsanierens» belegt haben.

Ist die Gestalt eines Baukörpers mit der jeweilig aktuellen Formensprache des Sanierers weitgehend überschrieben, wird es später schwierig, das einstige Zusammenspiel der Elemente zu erkennen. Und dieses kann wohldurchdacht gewesen sein: etwa bei der ersten Generation von Grossplattenbauten in der Berliner Karl-Marx-Allee, wie Gabi Dolff-Bonekämper einem Filmteam der Wohnbaugesellschaft Mitte ihre diesbezüglichen Forschungen darlegt. Von der Schraube bis zum Klingelknopf war alles zuvor vom Architekten auf einer Zeichnung festgehalten worden. Grosser Wert wurde auch auf die typografische Gestaltung der Hausnummern gelegt. Jedes Detail trägt so die ästhetische Signatur der Epoche, die in ihrer Eigenheit und der spezifischen Aussage ihrer Materialien erst wieder aus den Relikten erschlossen werden muss.

Sanieren nach den ästhetischen und energetischen Bedürfnissen der eigenen Zeit und der Erhalt der historischen Formensprache sind gegenläufige Prozesse. Jede Gegenwart muss neu darüber nachdenken. Die Situation verschärft sich, wenn wie im Fall der sozialistischen Architektur erschwerend hinzukommt, dass die zur Debatte stehenden Bauten zunächst als in Beton gegossener Ausdruck einer überwundenen Herrschafts- und Gesellschaftsform betrachtet wurden – und überdies Geldmangel und finanzielle Interessen von Investoren zu schnellen Entscheidungen drängen.

Ob das Erbe der sozialistischen Architektur als städtebaulich verfehlt oder als exemplarisch erhaltenswertes Ensemble und Ausdruck einer Zeit verstanden wird, ob innerstädtische Freiflächen als zu gross und gleichförmig oder als harmonische Entsprechung zu hohen Wohntürmen begriffen werden – das kann möglicherweise einen biografisch verankerten Hintergrund haben: ähnlich wie die Vorliebe oder Abneigung gegenüber dem Blick in die Ferne, der sich einem in der norddeutschen Tiefebene eröffnet. Der dort Geborene begrüsst die flache Landschaft als wohltuend weit. Derjenige hingegen, der in einem von Hügeln durchzogenen Landstrich aufgewachsen ist, empfindet den freien Blick als eintönig, da sich dem umherschweifenden Auge kein visueller Halt bietet.

Mediale Vermittlung

Neben frühen Prägungen in der Kindheit ist solch unterschiedliche Wertschätzung aber auch durch mediale Vermittlung beeinflusst: Wer Fotos von Stadtansichten und Wohnanlagen betrachtet, wird geleitet von der Aufnahmetechnik und den kulturellen Sehgewohnheiten einer Zeit. Bilder aus den 1960er Jahren betonen in Ost wie West das Ordentliche und Aufgeräumte, die augenfällige Geometrie einer Anlage. Vorfabrizierte Bauformen in grossen Wohnkomplexen waren einst Hoffnungsträger der Moderne: Standardisierten Komfort zu erschwinglichen Preisen versprach man sich.

Heute hingegen werden die Details und das Ungewöhnliche, Herausspringende und das Uneingelöste der Träume vom besseren Leben gezeigt. So in Roman Bezjaks Projekt «Socialist Modernism» (Verlag Hatje Cantz, 2011), das den baulichen Zustand der nuller Jahre in den Staaten des ehemaligen Ostblocks fotografisch festhält. Gerne wird auch in den Blick genommen, was die Bewohner aus ihrem Wohnumfeld gemacht haben: Einfamilienhaus-Würfeln in Ungarn, mit Farbe und ornamentalen Verzierungen nach individuellem Gusto verschönert, spürte Katharina Roters nach (Hungarian Cubes. Subversive Ornamente im Sozialismus, Park Books, 2014). Manch eine individuell zusammengetragene Einrichtung eines heutigen Wohnzimmers im standardisierten Grundriss des Plattenbautyps «P 2» erscheint skurril, studiert man die Aufnahmen von Susanne Hopf und Natalja Meier (Plattenbau Privat, Nicolai, 2004). Betont vorläufig hingegen muten die minimalistischen Lösungen der Kreativen an, die in Imagekontexten wie dem gut gemachten Plattenbau-Portal «Jeder Qm Du» vorgeführt werden. Auf städtebaulicher Ebene zeichnet sich in ostdeutschen Städten ein Hang zur vormodernen Kleinteiligkeit und zum Verstecken der genuinen Formensprache der Ostmoderne ab: Grosszügig konzipierte oder auch als monoton empfundene Freiflächen werden verdichtet und zugebaut, kleinräumige städtebauliche Vorkriegssituationen nachträglich wiederherzustellen versucht. So geraten Mosaike, Wandbilder und Sonderbauten, auf denen einst der frei schweifende Blick weilen konnte, in eine planerisch so nicht vorgesehene Hinterhofsituation.

Unversehrt gebliebene Zeugnisse einer Epoche, die ein Gefühl für das Ganze und seine Konzeption vermitteln, erhalten sich unter solchen Umständen nicht, bestenfalls wird exemplarisch archiviert – mit spät erworbenem Fingerspitzengefühl und mühsam gewonnenem Distinktionsvermögen.