Ornament ohne Verbrechen

In seinen Bauten will der seit 1990 in London tätige Ire Niall McLaughlin die Architektur des 19. Jahrhunderts mit der heutigen versöhnen. So entstehen formschöne Gebäude von eindrucksvoller Qualität.

Jürgen Tietz
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Wie ein grosses Ornament wirkt Niall McLaughlins Oxforder Kapelle. (Bild: Niall McLaughlin)

Wie ein grosses Ornament wirkt Niall McLaughlins Oxforder Kapelle. (Bild: Niall McLaughlin)

Peter Cook, der Altmeister der britischen Avantgardearchitektur, ging in einem Interview jüngst hart mit der gegenwärtigen Baukunst seines Landes ins Gericht. Die britische Architektur sei weit davon entfernt, ihr Bestes zu geben, und durchlaufe eine konservative Phase. In gewisser Weise trifft die Kritik von Peter Cook, der in den 1960er Jahren die legendäre Architektengruppe Archigram mitbegründete, tatsächlich zu. Denn anstelle optisch lärmender Solitäre, wie sein Kunsthaus-Blob in Graz (2003), hat derzeit eher eine zurückhaltende Architektur des Ortsbezuges Konjunktur. Dass derartige Entwürfe jedoch weit davon entfernt sind, unmodern oder gar langweilig zu bleiben, unterstreichen die Arbeiten von Niall McLaughlin. Seine Bauten erweisen sich vielmehr als geistreiche Auseinandersetzungen mit den Produktionsbedingungen zeitgenössischer Architektur und bieten zugleich eine inspirierende Reflexion der Moderne.

Digitale Reproduktion

Niall McLaughlins Londoner Büro liegt in der Nähe von Camden Market in einem unscheinbaren Geschäftshaus der 1960er Jahre. Gleich scharenweise strömen die zumeist jugendlichen Touristen am Haus vorbei, die Camden High Street entlang zu den populären Hallen und Marktständen. Die Beliebtheit des Trend-Quartiers verstellt leicht den Blick auf dessen erstaunlichen Wandel: Zahlreiche Arbeitsplätze seien in den vergangenen Jahren in Camden verloren gegangen, erklärt McLaughlin. Stattdessen hätten in letzter Zeit immer mehr wohlhabende Ausländer hier ihren Zweitwohnsitz bezogen.

Kein Zweifel, London, die Grand Old Lady unter den europäischen Metropolen, erfindet sich einmal mehr neu, mit etlichen geplanten Hochhäusern im Schlepptau und sämtlichen Risiken und Nebenwirkungen der damit einhergehenden Gentrifizierung. Da tut erschwinglicher Wohnungsbau not, wie ihn McLaughlin für den Peabody Trust in London Whitechapel realisiert hat. Mit schönen Ziegeln versehen und robust, ist das Haus freilich nur ein Tropfen auf den heissen Stein des Londoner Wohnungsproblems. Gleichwohl überzeugt der zurückhaltende Baukörper mit seinen tiefen Fensterleibungen, der sich an seiner viktorianischen Umgebung orientiert und sich zugleich in die derzeitige Londoner Renaissance des Backsteins einfügt.

So unterschiedlich die Charaktere von McLaughlins Bauten sind, so eint sie die Sehnsucht nach der Lektüre der Stadt. McLaughlins Anspruch ist es, verlorene Bindungen an Orte und Identitäten wiederherzustellen in einer Zeit, in der es keinen gesellschaftlichen Common Sense für Architektur mehr gibt. Dabei stehen seine Arbeiten für eine undogmatische Moderne, die sich von der Generation seines irischen Lehrers Robin Walker (1924–1991) abhebt, der streng in der funktionalistischen Tradition eines Le Corbusier und Mies van der Rohe entwarf.

Die besondere Stellung, die McLaughlin unter den Londoner Architekten einnimmt, zeigt sich in seinem Wohnblock für das Olympiaquartier, bei dem er nur die Fassade gestalten konnte. Er nutzte den künstlerischen Freiraum, um Ross und Reiter des Parthenons aus dem British Museum als vorfabrizierte Betonelemente nach Stratford zu bringen, wohlwissend, dass Bewohner und Besucher des Quartiers vielleicht weniger das antike Architekturzitat lieben werden als vielmehr die Pferde auf den Reliefs. Daraus spricht eine sympathisch hintergründige Gelehrsamkeit, die mit einer sanften ironischen Brechung einhergeht. Schliesslich lässt sich das Parthenon-Zitat als Ausflug in die Architekturgeschichte lesen, der zu den Urgründen der klassischen europäischen Baukunst und zur olympischen Idee im antiken Griechenland zurückreicht. Zugleich verweist es auf die zur Zeit des Klassizismus beliebte Rezeption antiker Vorbilder im England des 17. und 18. Jahrhunderts.

Doch damit noch nicht genug. Denn nicht umsonst betont McLaughlin im Gespräch das für einen britischen Architekten ungewöhnliche Interesse an Gottfried Semper, der im 19. Jahrhundert das «Prinzip der Bekleidung in der Baukunst» entwickelte. Nichts anderes macht McLaughlin, indem er das vorgegebene Schema des Wohnungsbaus mit einem Fassadenkleid festlich dekoriert. Ja es liesse sich sogar noch eine weitere Volte der Gelehrsamkeit konstruieren, erweist sich die dekorierte Fassade doch geradezu als eine gebaute Replik auf Adolf Loos, einen der Urväter der Moderne, und dessen polemisch pointierte Position von «Ornament und Verbrechen». Indem McLaughlin in einer nächtlichen Aktion im British Museum die antiken Reliefs berührungsfrei digital scannte und anschliessend in einem ebenfalls digital gesteuerten Prozess reproduzieren liess, verliert eine der Kernaussagen von Loos, Ornament sei vergeudete Arbeitskraft, ihre handwerkliche Grundlage.

Dekor und Detail

So vielschichtig McLaughlins Architektur sich lesen lässt, so spielerisch bleibt sie und bezaubert mit ihrer Poesie – wie im Fall der Bishop Edward King Chapel in Oxford. Auch dort fusst die textile Wirkung ihrer wie gewebt erscheinenden Steinfassade auf Sempers Bekleidungstheorie. Dem steht im Inneren eine filigran aufstrebende Holzkonstruktion gegenüber. Sie ruft Erinnerungen an gotische Vorbilder wach, aber auch an das urchristliche Thema des Schiffes. In der sakralen Preziose findet sich zudem ein weiterer Bezug zur deutschen Architekturgeschichte, denn die ovale Form des Kirchenschiffs ist nicht ohne die Sakralbauten von Rudolf Schwarz denkbar, dem wohl bedeutendsten deutschen Kirchenarchitekten des 20. Jahrhunderts.

In der britischen Hauptstadt ist McLaughlin derzeit gleich mit zwei prominenten Projekten betraut. Für das Natural History Museum, das Alfred Waterhouse Ende des 19. Jahrhunderts in den Formen einer üppig dekorierten Neoromanik an der Londoner Museumsmeile in South Kensington realisiert hat, plant er in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsarchitekten Kim Wilkie eine neue Erschliessung. Sie soll vom Tunnel, der die Museen der Exhibition Road mit der U-Bahn-Station South Kensington verbindet, in einen neuen, tiefer liegenden «Kreuzgang» mit skulpturaler Formensprache münden, samt Café und Buchladen. Der Baubeginn ist für Anfang 2017 vorgesehen.

Zu McLaughlins zweitem Londoner Projekt führt von seinem Büro in Camden aus der malerische Uferweg entlang des Regent's Canal bis nach King's Cross, wo eine für London beispielhafte Stadtentwicklung das einstige Bahn- und Industrieareal völlig verwandelt hat (NZZ 24. 2. 16). Gleich neben dem neuen Park in einem ehemaligen, von Bell Phillips Architects umgebauten Gasometer steht sein Wohn- und Geschäftshaus mit roten, aus ornamentierten Betonfertigteilen bestehenden Fassaden, das von Stadthäusern mit Dachgarten bekrönt wird. Auch hier blickt McLaughlin mit seinem Fassadenentwurf zurück nach vorne, indem er sich von Owen Jones' Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichter «Grammatik der Ornamente» inspirieren lässt. So wirken die Balkonbrüstungen, als wären sie gewebt, spielen die wellenförmigen Motive am Fuss der Betonelemente auf die bewegte Wasserfläche des Regent's Canal an, während schlank aufstrebende Muster wie die Schilfhalme die vertikale Ausrichtung des Gebäudes betonen.

Kunst des Kontexts

In Niall McLaughlins Arbeiten hallt der Klang der Geschichte bis in die Gegenwart nach. Sie wird dabei auf ihre Alltagstauglichkeit befragt und in einen neuen Kontext gesetzt, der die Moderne weder als eine abgeschlossene Epoche begreift noch als eine permanente Wiederholung ihrer selbst, sondern als einen reichen Fundus, der je nach Aufgabe für neue stadträumliche und architektonische Fragen und Techniken zu Rate gezogen werden kann. Etwas Besseres kann Architektur als die Kunst des Kontexts kaum leisten.