Wenn Städte ihr Gesicht verlieren

Sie sind zweckdienlich und technisch perfekt - aber völlig gesichtslos: Austauschbare Appartementblöcke verdrängen in den Vorstädten zunehmend die individuellen Bauten.

Nils Aschenbeck
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Angenehmes, reibungsloses Wohnen – am besten mit Blick über Stadt oder (Zürich-)See. (Bild: Christian Beutler / NZZ)

Angenehmes, reibungsloses Wohnen – am besten mit Blick über Stadt oder (Zürich-)See. (Bild: Christian Beutler / NZZ)

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts scheint Architektur gefangen in der ewigen Wiederkehr der Moderne. Andere Architekturströmungen – vom Regionalismus über die Postmoderne, über den strengen Rationalismus bis hin zum Dekonstruktivismus – blieben und bleiben Randphänomene, blühen meist kurz auf, um dann wieder zu verschwinden. Der 1932 von Johnson und Hitchcock begrifflich geprägte «International Style» mit seinen in Reihe gesetzten und in die Höhe gestapelten Wohnkästen hingegen war nie verschwunden und erlebt seit einigen Jahren eine derartige Renaissance, dass man schon von einem sich festigenden Einheitsstil sprechen kann.

Im Vergleich zu den grossen Vorbildern eines Walter Gropius oder Mies van der Rohe – seine Villa Tugendhat in Brünn erscheint wie ein strahlendes Vorbild für alle heutigen Penthouse-Träume – kommen moderne Wohnanlagen wie eine trivialisierte, ja vulgarisierte Moderne daher. Heute soll mit Architektur keine bessere Gesellschaft mehr geformt werden, heute soll Architektur nicht mehr zu einer Emanzipation der Bewohner führen. Dennoch: Die Appartementhäuser mit ihren gläsernen Balkonbrüstungen erweisen sich nicht nur bei den Bauträgern, sondern auch bei den Käufern trotz oder wegen ihrer inhaltlichen Leere als ausserordentlich attraktiv.

Vom Privatarchitekten entworfene, womöglich exzentrisch erscheinende Villen mit Herren- und Kaminzimmer, umgeben von einem parkartigen Garten, betont durch Erker und Türme, bilden nicht mehr den angemessenen Rahmen für den modernen Menschen. In unserer Zeit der gesteigerten Geschwindigkeit im Alltag ist die Vorstellung, stille Stunden in der Bibliothek des eigenen Hauses oder ruhige Nachmittage im Garten zu verbringen, vielleicht angenehm und als Entschleunigung erstrebenswert, aber gleichzeitig wenig realistisch. Wer mit Überlegung und Verstand eine Wohnung kauft, der greift zu der praktischen Eigentumswohnung mit Tiefgarage, Fahrstuhl, modernster Haustechnik und einem möglichst grossen, den Garten ersetzenden Balkon.

Blick über die Stadt

Das Penthouse, die Attikawohnung oder das Terrassenappartement mit jeweils ungehindertem Blick über die Stadt sind durch alle Schichten zum Wohnideal geworden. Städter von heute denken immer weniger daran, in einem Haus dauerhaft ansässig zu werden. Wer noch die Vorstellung hat, seinen Familiensitz an die Kinder und einst an die Enkel zu vererben, der muss meist früher oder später einsehen, dass die jungen Leute ein Haus mehr als einen Klotz am Bein empfinden denn als das erstrebenswerte Ziel im Leben. Der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts ist flexibel, immer auf dem Sprung in einen anderen Job und eine andere Stadt (vom amerikanischen Soziologen Richard Sennett schon vor fünfzehn Jahren eindrucksvoll beschrieben).

Unter diesen Voraussetzungen wurde das austauschbare Appartement mit Einbauküche und Nasszelle, einst von den Protagonisten des Neuen Bauens als rationale Wohnform für die Wohnungssuchenden in Berlin und Frankfurt am Main erfunden, die ideale Wohnform. So wie das Automobil die Fortbewegung ermöglicht, so soll die Wohnung wie eine Maschine das angenehme, reibungslose Wohnen erlauben – mehr nicht. Dieses Ziel erreicht die moderne Wohnung in den «Crèmeschnitten» genannten Blöcken zweifellos. Man kann sich in den praktischen Appartements, die nichts mit einem Ort verbindet, überall auf der Welt zu Hause fühlen – die Bedürfnisse nach Komfort und Sicherheit werden erfüllt, mehr muss nicht sein.

Spezifische, auf die Region zugeschnittene oder gar weitergehende ästhetische Ansprüche werden von den Bewohnern nicht erhoben. Dekorationen, mit denen noch in den 1980er und 1990er auch die Appartementblöcke gerne verziert wurden (angedeutete Türme, Risalite und manche Spielereien mehr) werden heute nur noch als Kostenfaktor gesehen, als ein überflüssiges Extra, das möglichst einzusparen ist.

Maschinelle Zweckmässigkeit

Wohnarchitektur dient kaum noch der offensiven Selbstdarstellung. Soziale Differenzierung findet in den sozialen Netzwerken im Internet statt, nicht mehr im Gebauten.

Doch auch wenn die Appartementblöcke in ihrer maschinellen Zweckmässigkeit die Bedürfnisse des heutigen Menschen ideal erfüllen – sie beschädigen gleichzeitig die Städte, sie verbreiten überall dort, wo sie in Gruppen auftreten, Eintönigkeit, zuweilen Sterilität; die Bedürfnisse der aussenstehenden Betrachter erfüllen die Blöcke nicht, sie schaffen keine städtische Atmosphäre.

Der kleine Staat Monaco, aufs Engste mit Appartementhäusern bebaut, ist vielleicht das extremste Beispiel der Entwicklung – unter den vielen Stapeln der Eigentumswohnungen, die hier mehr als woanders in die Höhe wachsen, sind die letzten überkommenen Bauten der Belle Epoque kaum noch auszumachen.

Erstaunlich scheint, dass selbst in Monaco, in einer Stadt, in der Immobilien Spitzenpreise erzielen, Architekten kaum Mühe darauf verwenden, die Appartementblöcke zu individualisieren oder zu dekorieren. Das schlichte Raster mit in Reihe gesetzten Balkonen der Loggien genügt im deutschen sozialen Wohnungsbau genauso wie im elitäreren monegassischen Luxusbau.

Die zweite oder dritte Moderne des 21. Jahrhunderts bildet heute weder ästhetisch noch inhaltlich eine Avantgarde, sie ist weder neu noch mutig, noch eine Vorwegnahme einer womöglich besseren Lebensform (von wenigen Wohnexperimenten abgesehen, die man in der Schweiz bei Genossenschaften finden kann, so beispielsweise beim Zürcher Wohnprojekt Kalkbreite). Wohnarchitektur hat entsprechend weitgehend ihre Bedeutung und ihren Anspruch verloren; sie kann so umso ungehinderter wuchern – am Zürichberg, am Zürichsee, am Luganersee, ja längst überall auf der Welt. Eine Architektur ohne Bedeutung wird nicht mehr infrage gestellt, über sie wird nicht mehr diskutiert, sie ist einfach ein Stück Alltag. Inzwischen zerstört sie in ihrer ermüdenden Einförmigkeit unsere Städte genauso effektiv, genauso unhinterfragt wie die Allgegenwart des Automobils, indem sie mehr und mehr die architektonischen Statements verdrängt, die in den Städten in der Vergangenheit gesetzt waren. Villen und Landhäuser, die gerade in Boomstädten wie Zürich oder München unter zunehmender Abrissgefahr stehen oder gar bereits abgerissen sind, waren meist ein Ausdruck einer bestimmten Lebensvorstellung, oft Spiegel der Ideen eines Bauherren. Die einheitlichen Appartementhäuser im «Crèmeschnittenstil» verdrängen zudem regionale Bauweisen und handwerkliche Traditionen, die ihren Platz bald nur noch im Museumsdorf finden.

Gesichtslose Gegenwart

Doch gerade die individuellen, regional oder biografisch geprägten Bauten gaben und geben einer Stadt ihre Einzigartigkeit, ermöglichen dem Passanten oder dem Flaneur, die Geschichte eines Ortes nachzuvollziehen. Doch auch dieser Flaneur, der die Stadt über den touristisch bedeutenden Nukleus hinaus als ästhetischen Raum erlebte, ist wahrscheinlich längst ausgestorben. Und so wird das austauschbare Appartementhaus zum Sinnbild einer zunehmend geschichtslosen und gesichtslosen Gegenwart.