Paradoxes Zeichen

Was wäre Antwerpen ohne seinen Hafen? Das Havenhuis von Zaha Hadid sollte eine Hommage an die Stadt, ihre Geschichte und Zukunft werden. Aber setzt dieser Janus-Bau tatsächlich das richtige Signal?

Paul Andreas
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Surrealistische Montage – das von Zaha Hadid mit einem gläsernen Kristall aufgestockte Havenhuis in Antwerpen. (Bild: Helene Binet)

Surrealistische Montage – das von Zaha Hadid mit einem gläsernen Kristall aufgestockte Havenhuis in Antwerpen. (Bild: Helene Binet)

«Der Bürgermeister von Antwerpen – das bin ich», sagt Marc van Peel. Eigentlich nur im Scherz – allerdings würde man es dem grauen Mittsechziger mit der kleinen Monokel-Brille durchaus abnehmen. Mit einer ausladenden Geste fährt seine Hand über die gestrichelten Zonen auf der Landkarte. Beiderseits der Schelde, von der nördlichen Innenstadt bis zur niederländischen Grenze – da liegt sein Herrschaftsgebiet. Als Präsident der Hafengesellschaft steht er einer Produktionszone vor, die zehn Mal so gross wie Antwerpens Stadtgebiet ist und wie kein anderer Wirtschaftszweig die Ökonomie Flanderns zum Brummen bringt: Mit gut 208 Millionen Tonnen jährlich umgesetzter Güter rangierte der Antwerpener Hafen 2015 in Europa auf Platz zwei – zwischen Rotterdam und Hamburg.

Zukunft ohne Geschichte

Um der globalen Zukunft noch tiefer ins Auge zu sehen, plant Antwerpen nicht nur Erweiterungen des Tiefseehafens – es investiert auch in Symbole: Um alle über die Stadt verstreuten Hafenabteilungen zu bündeln, schrieb man 2008 einen europaweiten Wettbewerb für eine neue Hafenzentrale aus. Auf der Suche nach einem passenden Standort entschied man sich für die alte Feuerwehrzentrale, die genau an der Schnittstelle zwischen dem Containerhafen und dem alten Hafen des Eilandje verläuft, der in den letzten Jahren zum urbanen Vorzeigeviertel revitalisiert wurde. Dort, wo früher die Löschfahrzeuge ausrückten, sollte durch eine bauliche Ergänzung ein neuer Hauptsitz für 500 Mitarbeiter entstehen – aber nicht nur eine schlichte Verwaltungszentrale, wie Hafenpräsident Marc van Peel betont: «Antwerpens Hafen liegt knapp 100 Kilometer von der Nordsee entfernt und ist entgegen seiner enormen Flächenausdehnung in der Stadt kaum sichtbar. Der Bau musste deshalb besonders herausragen – eine Architekturikone, die von weit her ins Auge sticht!» Als ehemaliges Jurymitglied des Wettbewerbs fügt er schnell hinzu: «Nur der Entwurf von Zaha Hadid hat das wirklich verstanden.»

Wollte man Architektur allein an ihrer Fähigkeit bemessen, Aufmerksamkeit zu produzieren, dann dürfte das neue Havenhuis den Standort Antwerpen tatsächlich um einige Seemeilen Richtung Nordsee katapultieren: Am Horizont des Eilandje wirkt der neue Gebäudezwitter aus Alt- und Neubau wie eine paradoxe surrealistische Montage. Als befände sich ein Raumschiff aus einer anderen Galaxie auf terrestrischem Landeanflug, schwebt dort ein unregelmässiges, bald stromlinienförmiges, bald kristallines Gebilde von der Länge eines Containerschiffs über dem alten Backstein-Monument. Dass sich der bis hin zu den Dachgauben unangetastete, denkmalgerecht sanierte Bau und der mit komplexen parametrischen Algorithmen entworfene Hightech-Wolkenbügel in spiegelnder Diamanten-Optik nicht berühren, macht den besonderen Kitzel dieser spektakulären Bildmontage aus – zumindest aus der Distanz.

Am Zaha-Hadid-Platz, so die offizielle Adresse des Gebäudezwitters, ist die Welt weiträumig: Eine Pflaster-Einöde breitet sich weit über einer Tiefgarage aus – ohne jeden Baum, eingezirkelt von kanalisierten Wasser- und mehrspurigen Verkehrsadern. Im Zentrum des Platzes erblickt man in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Unbehagen einen Massstabsprung, der keine Grenzen kennt: So wie Utopien schnell in Dystopien umschlagen können, ruht dort der aus der Ferne fast schwerelos wirkende Wolkenriegel der Ende März verstorbenen Architektin auf einem massigen Beton-Brückenwerk, das zwar skulptural ausgeformt, aber an Massstabslosigkeit kaum zu überbieten ist.

Gedrängte Bürolandschaften

Die korpulenten, dynamisch angeschrägten Betonkerne der Konstruktion tragen ein Aussichtsgeschoss, das die Schnittstelle zwischen dem Altbau und dem neuen Überbau bildet. Das wirkt an sich nicht ungelenk – mit etwas Phantasie lässt sich darin sogar eine Reminiszenz an die Kräne sehen, die mit ihren gewaltigen Kragarmen auf den Containerschiffen das tägliche Wunder globaler Logistik bewältigen. Andererseits schmerzt es aber auch das Auge, wenn man das stramme Tragwerk mit dem nicht gerade zierlichen Feuerwehrhaus darunter vergleicht: Die ingenieurtechnische Übermacht des Neuen lässt die alte, traditionelle Architektur sehr klein und vergessen aussehen. Als könnte die Zukunft die Vergangenheit im Tigersprung überwältigen, erscheint der Bestand zur blossen Fussnote degradiert.

Wenn Marc van Peel, der Hafenpräsident, der von Haus aus eigentlich Historiker ist, über die neue Kommandozentrale spricht, dann münzt er das gerne in die Pathosformel «500 Jahre Geschichte und 500 Jahre Zukunft». Die Geschichte, die sich in der ehemaligen Hafenfeuerwehr verdichtet, ist dann eine Verweislinie, die bis ins goldene Zeitalter der Handelsstadt im 16. Jahrhundert zurückreicht. Tatsächlich entwarf der Stadtarchitekt Emiel van Averbeke 1922 das Gebäude im Stil des Neo-Historismus, weil er eine symbolische Stadtreparatur im Sinn hatte: Damit sollte dem 1893 bei einem Brand komplett zerstörten Juwel des Hansehauses Reverenz erwiesen werden. Niemand Geringeres als der berühmte Antwerpener Rathaus-Baumeister Constantin Floris hatte den aus italienischer Palastresidenz und einer dezenten Turm-Vertikale komponierten Sitz der norddeutschen Hansekaufleute 1568 inmitten der damaligen, noch ganz von Grachten (und noch nicht Docks) erschlossenen Neustadt ersonnen – dort, wo sich heute das Museum aan de Stroom (MAS) von Neutelings Riedijk Architekten zu einer dynamischen Raumstapelskulptur erhebt.

Die Aufzugfahrt vom symmetrisch um einen Innenhof gruppierten Altbau auf den schwebenden Wolkenbügel ist vergleichsweise unspektakulär. Alle vier transparenten Personenaufzüge führen durch den ehemaligen steinernen Ausguck des Feuerwehrhauses hinauf auf die vier Büroetagen. Jede von ihnen bietet eine Raumlandschaft von überwiegend offenen Grossraumbüros, die sich jenseits der drei mittig liegenden Versorgungskerne entfaltet. Diverse Sitzecken, Sitzungssäle und sogar ein Auditorium sind darin eingebettet und bieten eine flexible Vielfalt von kreativen Arbeitssituationen, wie man sie schon aus Zaha Hadids Learning Center der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) kennt und schätzt. Durch die bald transparent, bald opak gehaltenen Fensterdreiecke strömt ausreichend Tageslicht.

Die Aussicht über Stadt und Hafen ist schön, aber nicht überwältigend – das wissen allein schon die in ständiger Parametrie aneinandergesetzten Fassadendreiecke zu verhindern, die sich dem Auge immer wieder entgegenstellen. Dass trotz der optimierten Hightech-Glasfassade nicht auf innenliegenden Sonnenschutz verzichtet werden konnte, lässt einen ins Grübeln geraten – zumal dessen schräge Führungsseile schnell zum Stolperstein werden können. Die hohe Frequenz der Schrägstützen auf einem relativ schmalen Grundriss lässt die Büroetagen an manchen Stellen zudem etwas beengt und käfigartig erscheinen: Die Mitarbeiter, die in Zukunft im Altbau arbeiten, werden vielleicht eine weniger gute Aussicht haben – sie werden aber doch gewiss auf grosszügigerem Fuss arbeiten als ihre Kollegen oben im Wolkenbügel.

Aus den 2008 im nicht unumstrittenen Wettbewerbsentwurf veranschlagten Kosten von 31 Millionen Euro wurden schliesslich rund 55 Millionen Euro – zuzüglich weiterer Nachforderungen in zweistelliger Millionenhöhe, die noch vor Gericht verhandelt werden müssen. Allein angesichts dieser Kostenexplosion, die offenbar im grossen Masse der Komplexität des Entwurfes geschuldet war, muss die Frage erlaubt sein, ob die spektakuläre Alt-Neu-Preziose so alternativlos war. Müssen sich globale Aufmerksamkeit und Einbindung in den lokalen Bestand mit Ortsbezug tatsächlich so vehement ausschliessen, wie es das neue Havenhuis vorführt?

Gerade in der flämischen Metropole hat man es in den revitalisierten Hafenbereichen des Eilandje – und an dessen Rand befindet sich die neue Hafenzentrale – in den letzten Jahren verstanden, den Verlockungen des Kapriziösen und Divenhaften mit einer soliden Baukultur des Alltags zu widerstehen, die den urbanen Zusammenklang gleichermassen fördert, wie sie architektonischen Nachwuchs zum Zuge kommen lässt. Dass das keineswegs zwangsläufig auf Kosten der Aufmerksamkeit gehen muss, führt aufs Schönste das ganz ähnlich exponiert situierte Museum aan de Stroom vor: Obwohl es sichtbare Bezüge zur Kulisse restaurierter historischer Lagerhäuser und einer Serie neuer Wohntürme unterhält, ist es ein Eyecatcher, der es mit den Architekturikonen dieser Welt durchaus aufnehmen kann.

Monument der Spaltung

Noch immer zirkulieren die anderen fünf Finalisten des Wettbewerbs um das Havenhuis durch das Internet. Zugegeben, einige wirken eher banal – einige aber durchaus bedenkenswert, weil sie Brücken bauen zwischen Bestand und Erweiterung, Tradition und Zukunft, lokaler Baukultur und globaler Aufmerksamkeitsökonomie. Hätte der Bauherr (und mit ihm auch die Jury) doch etwas weniger auf das allmächtige und doch überholte Markenversprechen von Architektenstars vertraut; hätten auch die beratenden Denkmalschützer vielleicht etwas weniger absolut auf die Erhaltung des historischen Bestandes gepocht – dann hätte hier ein spannungsvolles, Zeiten und Räume miteinander verbindendes «Wahr-Zeichen» entstehen können. Entstanden ist nun aber ein Monument paradoxer Spaltung.