Der schönste Lesesaal der Welt

Tage der offenen Tür in Paris. Bis Sonntag ist die Salle Labrouste zu besichtigen, das renovierte Juwel der «alten» Nationalbibliothek

Marc Zitzmann
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Warten auf Beseelung – noch sind die Bücherregale unter der Kuppel der frisch renovierten Pariser Salle Labrouste leer. (Bilder: Jean-Christophe Ballot / BnF)

Warten auf Beseelung – noch sind die Bücherregale unter der Kuppel der frisch renovierten Pariser Salle Labrouste leer. (Bilder: Jean-Christophe Ballot / BnF)

Achtzehn Jahre! Achtzehn Jahre lang war der schönste Lesesaal von Paris, der zu den Weltwundern unter den Bibliotheksbauten zählt, geschlossen. Am 29. August 1998 empfing die Salle Labrouste in der «alten» Bibliothèque nationale de France (BnF) ihre letzten Leser. Kurz darauf wurden am linken Seineufer in der «neuen» Nationalbibliothek die Lesesäle für Forscher und Fachleute eröffnet. Und sank die Salle Labrouste in einen Dornröschenschlaf. Wachgeküsst wurde sie erst Mitte 2011, als die Sanierungs- und Umbauarbeiten am «quadrilatère Richelieu» begannen, dem Richelieu-Block zwischen Palais Royal und Börse, der ab den 1720er Jahren von der – damals noch königlichen – Bibliothek kolonisiert wurde.

Äther des Wissens

Von heute, Freitag, bis und mit Sonntag ist die für Forscher bereits im Dezember wiedereröffnete Salle Labrouste für das breite Publikum zugänglich. Im Gegensatz zu anderen historischen Lesesälen drückt dieser den Besucher nicht mit seiner Pracht zu Boden. Vielmehr hebt er einen empor, durchaus auch im spirituellen Sinne, evozieren seine Helligkeit ohne Grellheit, seine Geräumigkeit ohne Massivität und seine sanft stimulierenden Farben doch die lichten Gefilde des menschlichen Geistes, wo dieser in der Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft zu Hochform aufläuft.

Zeitgenössischer Schandfleck auf dem historischen Kostüm: Bruno Gaudins nicht eben kongenialer Windfang für die Salle des Manuscrits.

Zeitgenössischer Schandfleck auf dem historischen Kostüm: Bruno Gaudins nicht eben kongenialer Windfang für die Salle des Manuscrits.

Dass einen der Saal in höhere Sphären entrückt, verdankt sich unter anderem der aufstrebenden Bewegung seiner sechzehn ranken Pfeiler aus Gusseisen, denen neun Kuppeln entspriessen. Diese verbreiten via Okuli ein gleichmässig diffuses Licht; Exegeten des Hauptwerks von Henri Labrouste (1801–1875) sehen in diesen neun Kuppeln Evokationen davonfliegender Krinolinen, Anspielungen auf Sonnensegel, die eine Brise lupft, oder Visionen von Montgolfieren, die – an Masten verankert – sanft im Wind schaukeln. Bereits im Vestibül suggerieren die flatternden Fransen einer Wandteppich-Freske, dass in diesen Hallen ein lindes Lüftchen weht. So mag die Kuppeldecke – auch – den Äther des Wissens versinnbildlichen, dessen sanftes Leuchten den Lernenden lockt, sich zu ihm emporzuschwingen.

Der Grundriss des Lesesaals bildet ein Quadrat mit 35 Metern Seitenlänge, dem auf der Südseite ein Halbkreis angefügt ist. Das Dekor ist der Struktur untergeordnet – besser: Es drückt diese aus. Das gilt im Grossen für die Kuppeln, deren Konstruktion den Reifenkäfigen von Krinolinen nachempfunden ist – augenzwinkernd gestaltete Labrouste sie wie weisse Unterröcke, besetzt mit bunten Borten. Aber auch im Kleinen für eine Vielzahl von Details: Die Nietköpfe etwa verbinden gemalte Goldfäden, deren Muster an das Schnurgeflecht eines Korsetts gemahnt.

Wie jedes Meisterwerk lädt die Salle Labrouste zu vielfältigen Interpretationen ein. Basilika, byzantinischer Tempel, Seldschuken-Moschee oder – dank den Wandgemälden lebensgrosser begrünter Bäume – Garten des Wissens, aber auch raffinierter Abklatsch der im 19. Jahrhundert populären Panoramen-Theater, verschmitzt-platonischer Blick unter den Reifrock – und nicht zuletzt Lese-Fabrik, erheben sich über dem Zentralmagazin doch an frühe Industriehallen erinnernde Sheddächer.

Magazin als Maschinenraum

Es ist bezeichnend, dass das modernistische 20. Jahrhundert in der Person des Architekturhistorikers und -kritikers Sigfried Giedion dem poetischen Lesesaal das rationale Depot vorzog. Beidseits der zentralen Allee erheben sich fünf Geschosse von Gitterrost-Plateaus voller Bücherregale. Ein Anblick, der nicht nur Giedion an den Maschinenraum eines Ozeanriesen gemahnte.

Erstmals ist dieses Magazin jetzt zugänglich. Von einem Lager- wurde es in einen Leseraum verwandelt: Insgesamt 80 Plätze laden nunmehr zur Lektüre ein. Neben dem Entwurf des Mobiliars ist dem Architekten Bruno Gaudin hier vor allem ein neues Beleuchtungssystem zu verdanken. Dieses strahlt einerseits die Bücher direkt an, restituiert anderseits aber auch jenen Effekt des Niederrieselns von Helligkeit, den Labrouste zu erzielen suchte. Wegen der Brandgefahr verzichtete die Bibliothek ursprünglich auf jede künstliche Lichtquelle – im Magazin fiel das Tageslicht durch die verglasten Sheddächer auf die Roste und drang durch deren Gitter, Geschoss für Geschoss, nach unten.

Labrouste entwarf nicht nur den grossen Lesesaal und sein Magazin, sondern vereinheitlichte auch die Fassaden des disparaten Komplexes – hier die 1860 erbaute Rotonde des donateurs.

Labrouste entwarf nicht nur den grossen Lesesaal und sein Magazin, sondern vereinheitlichte auch die Fassaden des disparaten Komplexes – hier die 1860 erbaute Rotonde des donateurs.

Ebenso schonend wie spektakulär waren ihrerseits die Eingriffe von Jean-François Lagneau im Lesesaal selbst. Ziel des Architecte en chef des monuments historiques war es, den denkmalgeschützten Saal diskret heutigen Benutzern gerecht zu machen, es sonst aber laut eigenen Worten bei einem vertieften «Grossputz» zu belassen. Wie der Vergleich mit zwanzig Jahre alten Fotos zeigt, hat die Salle Labrouste spektakulär an Farbe und Lichtfülle gewonnen. Das pikante Fuchsienrot der «Krinolinen-Borten» war unter einer sepiafarbenen Schmutzschicht ebenso verloren gegangen wie die Strahlkraft der crèmeweissen Fayence-Platten, die die Innenseite der «Unterröcke» auskleiden.

Warzen und Vandalenakte

Die Salle Labrouste und ihr Depot bieten Forschern rund 150 000 Bände zum freien Zugriff an. Im Gegensatz zur «neuen» Nationalbibliothek ist der Richelieu-Block eine reine Fachbibliothek. Genauer sind es sogar deren drei, beherbergt der Komplex doch nunmehr neben spezialisierten Departementen der BnF wie jenen für Grafiken, Fotografien, Münzen und Medaillen auch die Bibliotheken der Ecole nationale des chartes (Urkundenforschung) und des Institut national d'histoire de l'art. Letztere durfte sogar die Salle Labrouste mitsamt Magazin beziehen – ein Zeichen für die Wertschätzung, die Kunstgeschichte heute als Disziplin geniesst, nachdem sie in Frankreich jahrzehntelang geringgeschätzt und unterdotiert gewesen ist. Mit 1,7 Millionen Dokumenten zählt die Bibliothek des Instituts zu den weltweit grössten.

Die Bibliotheken der Hochschule für Urkundenforschung und jene der spezialisierten Departemente der BnF verfügen im Richelieu-Komplex über eigene Räumlichkeiten. So empfängt die Abteilung für Bühnenkunst ihre Leser in einem von Gaudin entworfenen neuen Saal mit heller Holzausstattung, derweil jene für Manuskripte ihre Schätze in einem restaurierten Saal aus den 1880er Jahren bewundern lässt. Leider jedoch wurde hier der originale Windfang durch eine gläserne Monstrosität ersetzt, die weder vom Material noch von der Form her zum Rest der Holzmöblierung passt.

Und das ist kein Einzelfall. Während das Geld fehlte, um mehr als eine der auf den Ehrenhof blickenden Fassaden zu reinigen, waren genügend Mittel da, um dem Vestibül eine langgezogene Glasgalerie aufzusetzen. Dieser transparente Tunnel, der über ein Flachdach hinweg von einem Gebäudeteil zum andern führt, erleichtert zwar die Zirkulation. Aber er verfremdet die Hauptfassade von Labroustes Meisterwerk, wo diese mit ihrer kuriosen Anlehnung an Bahnhofsarchitektur schon fremd – und faszinierend – genug anmutet.

Die Stein-Täfelung des Vestibüls wurde akribisch nachgeschaffen. Ob die Rampe mitsamt Glasbrüstung freilich eine ästhetische Lösung für das Problem der Behindertengerechtigkeit bildet?

Die Stein-Täfelung des Vestibüls wurde akribisch nachgeschaffen. Ob die Rampe mitsamt Glasbrüstung freilich eine ästhetische Lösung für das Problem der Behindertengerechtigkeit bildet?

Das Ärgste steht freilich noch bevor. Demnächst soll die Ehrentreppe abgerissen werden, ein Werk, das Labrouste und seine beiden direkten Nachfolger, Jean-Louis Pascal und Alfred Recoura, gezeichnet und gebaut haben – mithin die wichtigsten Architekten eines Komplexes, dessen baugeschichtliche Bedeutung sich in Paris mit jener des Nationalarchivs oder der Ecole des beaux-arts vergleichen lässt. Selbstverständlich steht diese Treppe unter Denkmalschutz – doch linke wie bürgerliche Kulturminister haben ihrer Zerstörung zugestimmt. Eine neue, von Gaudin entworfene Treppe soll punkto Sicherheit und Zirkulation benutzerfreundlicher sein: Computerbilder zeigen eine zeitgeistige Silberspirale.

Der Fall illustriert die Schizophrenie des Kulturministeriums. Einerseits steckt es 185 Millionen Euro in präzedenzlos ambitiöse Renovierungsarbeiten (deren zweiter Programmabschnitt jetzt in Angriff genommen wird und bis 2020 vollendet sein soll). Anderseits behandelt es das Bauerbe selbst wie ein Vandale.