Alles im Fluss

Die Bündner Berge erinnern Nahoko Hara an Japan, der im Vergleich zu Tokio langsame Puls von Zürich ist ganz nach ihrem Geschmack. Und ihr Architekturbüro ist in Hochform. Trotzdem geht sie.

Dorothee Vögeli
Drucken
«Zwölf Jahre sind genug»: Nahoko Hara. (Bild: Goran Basic / NZZ)

«Zwölf Jahre sind genug»: Nahoko Hara. (Bild: Goran Basic / NZZ)

Ihr Büro wird künftig ohne sie auskommen müssen. Ende Jahr hat Nahoko Hara ihren Arbeitsplatz im Office Haratori auf dem Zürcher Geroldareal geräumt. Warum geht sie ausgerechnet jetzt? Im Moment, in dem sich ihr Architekturbüro etabliert hat und bestens funktioniert? «Zwölf Jahre sind genug», sagt sie. Sie wolle wieder mehr Luft und Zeit für sich selbst.

Ihr letztes Projekt in Zürich ist der Umbau des Juwelier- und Uhrengeschäfts Bucherer an der Bahnhofstrasse. Ursprünglich wollte die Bauherrschaft Herzog & de Meuron damit betrauen. Doch den Behörden war das Projekt nicht opportun. Im zweiten Anlauf lud Bucherer vier Büros ein. Das Office Haratori und sein Amsterdamer Partner Office Winhov machten das Rennen – mit ihrer ausgeklügelten Neuinterpretation des in den 1960er Jahren schon einmal umgebauten Gebäudes.

Inzwischen sind die Bauarbeiten im Gang. Eine gelb gestrichene filigrane Eisentreppe vor nachtblauem Grund, die sich wie eine Zugbrücke abends hochziehen lässt, führt zum Eingang des temporären Verkaufslokals im Nachbarhaus. Der Entwurf des aufsehenerregenden Provisoriums stamme nicht von ihr, dieses sei wie alle anderen Projekte ein Gemeinschaftswerk, hält die Japanerin Nahoko Hara fest. Ihren Sinn fürs Kollektiv widerspiegelt auch der Name ihres Büros, das sie vor zwölf Jahren zusammen mit Zeno Vogel gegründet hat: Haratori setzt sich zusammen aus Wiese (Japanisch: Hara) und Vogel (Tori).

Ein Teil der Natur

2010 gewannen sie den Wettbewerb für einen Cluster mit 270 Wohnungen auf dem Gelände des ehemaligen Zürcher Zollfreilagers. Auch hier schufen die Büros Haratori und Winhov nuancierte Ortsbezüge: Die aus rotem Klinker gemauerten Neubauten nehmen den Charakter der einstigen Lagerhallen auf. Mittlerweile sind die Wohnblöcke bezogen. Zusammen mit acht weiteren Gebäuderiegeln bilden sie ein Quartier, dessen Dichte neue Massstäbe setzt. Hat dieses Beispiel hoher Ausnützung für die vierzigjährige Architektin Vorbildcharakter? Sie zögert. Die Frage zielt ihr zu sehr auf ein Werturteil ab – spontan kann und will sie sich nicht dazu äussern. «Gute» Architektur setzt sie mit «stimmig» gleich – einem Gefühl, das sich erst nach eingehender Prüfung aller Details einstellen könne.

Angesprochen auf die Mini-Häuser in ihrer Heimatstadt Tokio, mit denen momentan die allerletzten Kleinstparzellen überbaut werden, lässt sie sich dann doch aus der für sie typischen Reserve locken. Im Detail seien solche Kleinbauten zweifellos kreativ, sagt sie. Sie sind ihr jedoch zu isoliert, zu wenig auf die Nachbarn und aufs Quartier bezogen. Dank strengeren Regeln, zu denen im Unterschied zu Japan auch Rekursmöglichkeiten gehören, empfindet sie die städtebauliche Entwicklung in Zürich sehr viel «harmonischer organisiert» als in ihrem Heimatland.

In der Küche ihrer Wohnung im Kreis 5, in der sie der Journalistin japanische Häppchen und Tee serviert, ist ihre Familie präsent: Die Wände dienen als Fotoalbum. Das mit Reisstroh-Matten ausgelegte Gästezimmer nutzt sie auch als Musik- und Meditationsraum; manchmal führt sie hier Teezeremonien durch. Solche sind erst in Europa ein Thema geworden: «Je länger ich hier bin, umso mehr interessieren mich japanische Rituale.» Ist sie religiös? «Was ist Religion?», fragt sie zurück und antwortet gleich selber: «Jeder Mensch glaubt an etwas. Ich glaube an die Natur.» Der Mensch sei Teil der Natur, deshalb fühle sie sich in den Bergen wohl.

Ihr Vater war weltweit als Brückenbauingenieur tätig, ihre Grossmutter übersetzte französische und englische Literatur und hinterliess eine grosse Bibliothek. Nahoko verschlang Romane von Maupassant, Zola und Dostojewski und träumte von Europa. Nach dem Architekturstudium zog sie für ein Nachdiplomstudium nach Paris. Der Kulturschock blieb aus. Einen solchen hatte sie als Zehnjährige in Thailand, wohin sie mit ihren Eltern und ihren vier Geschwistern für zwei Jahre gezogen war. Zum ersten Mal war sie direkt mit einer Welt ausserhalb von Japan konfrontiert. In Paris und später auch im Wallis, ihrer erste Station in der Schweiz, war ihr der Alltag hingegen sofort vertraut. Hier fand sie schnell Anschluss an Architektur- und Künstlerkreise, deren Nonkonformismus sie inspiriert.

Das alpine Loft

Drei Fahrstunden von Tokio entfernt baute ihr Vater in den Bergen eine «Plattform», wie sie das einfache Ferienhaus nennt. Dieser «Ort des Seins» spielt für sie eine wichtige Rolle, immer wieder zieht es sie dorthin. Ebenfalls auf 1500 Metern, im bündnerischen Bergdorf Mathon, hat sie inzwischen ihre eigene Plattform realisiert. Vor drei Jahren kaufte sie dort zusammen mit Zeno Vogel einen baufälligen Stall. Den Bauern stand er im Weg, am liebsten hätten sie ihn abgebrochen. Doch die Denkmalpflege intervenierte.

Nahoko übernahm die Bauleitung. Zunächst galt es, den Stall um 50 Zentimeter von der Strasse zurückzuversetzen, dann musste er stabilisiert und mit einem neuen Steinplattendach versehen werden. Derweil sahen die Bauern skeptisch und aus sicherer Distanz zu. Als sich äusserlich nicht viel veränderte, trieb sie die Neugier irgendwann ins Innere. Sie staunten: Dort, wo früher Kühe standen und Heuberge lagerten, war ein Bühnenraum im Stil des japanischen Minimalismus entstanden. Heute sind sie stolz auf das alpine Loft mitten im Dorf. Den Stallumbau hat das Office Haratori dokumentiert. Kürzlich fand in den Räumen des «Hochparterre» die Buchvernissage für das letzte gemeinsame Projekt statt.

Täglich liest Nahoko im Internet japanische Zeitungen. Sie kennt die Schattenseiten des vielgerühmten japanischen Arbeitsethos, die Hürden für Frauen, die sich beruflich selbständig machen wollen. Gleichzeitig beobachtet sie Gegenbewegungen bei den jüngeren Generationen. Ob sie deshalb trotz aller Europäisierung Anknüpfungspunkte in ihrem Heimatland sieht, lässt sie offen. Sie suche ein neues Feld, um eine Brücke bauen zu können, die verschiedene Orte, Kulturen und Menschen verbinde. Wo und was es ist, wird sich weisen: «Das Leben ist wie ein Fluss, der unaufhörlich dahinströmt», sagt sie in Anlehnung an den japanischen Dichter und Musiker Kamo no Chōmei (1155–1216), der sich einst in eine selbstgebaute Hütte in den Bergen zurückzog.