Venezianische Demaskierung

Die Fassadenarchitektur der Lagunenstadt erinnert an einen ewig währenden Karneval. Der Umbau des historischen Fondaco dei Tedeschi hinterfragt die Maskerade kritisch – ohne sie jedoch zu zerstören.

Paul Andreas
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Der einstige Handelshof der deutschen Kaufleute hat im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Umnutzungen erfahren. (Bild: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti / OMA)

Der einstige Handelshof der deutschen Kaufleute hat im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Umnutzungen erfahren. (Bild: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti / OMA)

Die Kurve des Canal Grande ist hier so scharf, dass das Vaporetto immer etwas bremsen muss. Langsam schwebend nähert man sich dem Nadelöhr der Rialtobrücke und ihren Nachbargebäuden: Rechts steht der Palazzo dei Camerlenghi, der den abrupten Verlauf des Canale im Renaissancegewand fast mimetisch nachzeichnet. Links erhebt sich breit gelagert der Fondaco dei Tedeschi. Der einstige Handelshof der deutschen Kaufleute – erbaut 1508 wohl nach Entwürfen von Fra Giovanni Giocondo auf der Basis früherer, bei einem Brand teilweise zerstörter Bauten – hat im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Umnutzungen erfahren. Zuletzt wurde der mit einem Oberlicht geschlossene Innenhof des Fondaco als Schalterraum des Hauptpostamtes genutzt, bevor auch dieses vor Jahren schloss.

Die schrumpfende Stadtbevölkerung machte den Betrieb unrentabel, und das Gebäude ging – wie so viele Schätzchen der hochverschuldeten Stadt – in Privatbesitz über. Seitdem stand nicht nur der Name der Benetton-Familie, sondern auch das Zukunftsversprechen des niederländischen Architekten Rem Koolhaas über dem denkmalgeschützten Bau. Dessen Office for Metropolitan Architecture (OMA) sollte die alten Gemäuer in ein neuartiges Lifestyle- Kaufhaus transformieren, das nun vom französischen Luxuskonzern LVMH betrieben wird. Seit einigen Wochen werden in exklusiven Shop-in-Shops, die sich wie an einer langen Perlenkette über die vier Etagen des Gebäudes erstrecken, globale Mode- und Beauty-Marken angeboten – zu Tax-free-Konditionen wie am Flughafen und doch in historisch einzigartigem Ambiente.

Brüche im Authentischen

Dass man an Gebäuden, die am Canal Grande stehen, fast keinen Stein umdrehen kann, ohne in Konflikt mit dem Denkmalschutz zu kommen, versteht sich. Wie kaum in einer zweiten Stadt wird versucht, die historische Stadtkulisse möglichst authentisch zu erhalten. Es ist dieses Kapital vermeintlicher Authentizität, nach dem sich Jahr für Jahr das Gros der schätzungsweise 20 bis 30 Millionen Venedig-Touristen sehnen. Und doch zeigt gerade auch das Beispiel des Fondaco dei Tedeschi, wie brüchig dieses Bild ist: Von den beiden Türmen, die auf Canalettos Ansicht der Rialtobrücke noch zu sehen sind, ist am Gebäude seit dem 19. Jahrhundert nichts mehr vorhanden. Ebenso wenig von den Fresken, mit denen Giorgione und Tizian die heute so nackte Schaufassade des Baus schmückten – im 19. Jahrhundert waren sie derart abgeblättert, dass sie einfach überputzt wurden.

Aussen authentisch, innen Avantgarde – der alt-neue Fondaco dei Tedeschi in Venedig. (Bild: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti / OMA)

Aussen authentisch, innen Avantgarde – der alt-neue Fondaco dei Tedeschi in Venedig. (Bild: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti / OMA)

Und auch im Inneren des Gebäudes ergab die bauhistorische Untersuchung, die der leitende OMA-Projektarchitekt und Partner Ippolito Pestellini Laparelli an den Anfang des Umbauprojektes stellte, ein klares Ergebnis: Die Kernelemente des Baus – etwa der so authentisch erscheinende viergeschossige Arkadenhof – wurden im 19. Jahrhundert mit modernen Konstruktionsweisen restauriert, die unter dem Putz verborgen und dieserart unsichtbar gemacht wurden.

Erst in den 1930er Jahren, als man den Fondaco zum Postamt umbaute, liess man die neue Betonbinderkonstruktion des Dachgeschosses erstmals auch optisch in den Innenräumen sichtbar werden – vermutlich weil man darunter das Backoffice des Telegrafiesaals unterbrachte. Nach der umfassenden Analyse schien der Bau jedenfalls viel brüchiger zu sein, als man es ihm eigentlich zugestehen wollte. Der Fondaco sei geradezu eine «Akkumulation von Authentizitäten», postulierte man beim OMA.

Auf den ersten Blick erscheint der nun fertiggestellte Umbau wie zuvor – man kann kaum Veränderungen ausmachen am Aussenbild des Gebäudes. Gewiss, es gibt im Erdgeschoss mehr Schaufenster, und man hat umseitig für mehr Zugänge in das Gebäude gesorgt. Die Fenster wurden dabei jedoch so elegant wie zeitlos mit Messingprofilen eingefügt – als hätte der grosse venezianische Nachkriegsarchitekt Carlo Scarpa beim Entwurf beratend assistiert. Auch die alte Sockelfassade aus Travertin wurde ganz erhalten und nur ausgebessert; selbst die Briefkästen und Beschriftungen des früheren Postamtes tilgte man nicht. Bei der Transformation der Innenräume waren dagegen etwas tiefgreifendere Veränderungen notwendig.

Vor allem die Erschliessung der insgesamt vier Arkadengeschosse musste an die Besuchermassen eines Kaufhauses angepasst werden – bis zu zwei Millionen Menschen werden hier jährlich erwartet. Die Technologie der Rolltreppe sollte deshalb – auch als symbolisches Zeichen der Transformation – im zentralen Innenhof prominent ihren Platz finden, mit aller denkbaren Nutzungsflexibilität: Bei Veranstaltungen sollte sich die unterste Treppe gleichsam wie eine Gangway pragmatisch nach oben klappen lassen.

(Bild: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti / OMA)

(Bild: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti / OMA)

Der venezianische Denkmalschutz wollte dieser bewusst etwas polemischen Zurschaustellung moderner Technologie jedoch nicht folgen. Das Rollband musste deshalb aus dem Hof hinaus in einen seitlichen Gebäudetrakt hineingeschoben werden. Dort schneidet die Rolltreppenanlage nun – purpurrot lackiert – einen scharfen Schnitt durch die Etagenarchitektur und legt so die unterschiedlichen Konstruktions- und Restaurierungsweisen unter dem Putz frei. Das so geradezu demaskierte, raue Mauerwerk und die subkutane Betonstruktur der Deckenträger treten dabei geradezu brutalistisch hervor.

Der Schnitt durch die Substanz bildet einen spannungsvollen Kontrast zum Innenhof, der in seinen Arkadengängen nahezu komplett wiederhergestellt wurde. Nur der alte Ziegelboden wurde in einen Campo mit einem emblematischen Naturstein-Streifenmuster verwandelt, das alte Oberlicht entfernt und durch eine schwere und doch transluzente Glaskassettendecke ersetzt. Vor allem bei der Rolltreppenfahrt lässt sich dieser Effekt besonders eindrucksvoll auskosten: Ein in das rohe Mauerwerk monumental eingeschnittenes, goldgefasstes Halbmondfenster – auch dies eine versteckte Reverenz an Scarpa? – eröffnet einen geradezu theatralischen Ausblick in die historische Hofsituation.

Öffentliche Flanierräume

Als vor Jahren bekanntwurde, dass Benetton den Fondaco dei Tedeschi für 53 Millionen Euro kaufen werde, ging ein Aufschrei durch die Lagunenstadt – ausgerechnet die Firma Benetton, die sich schon den Bahnhof, die Insel San Clemente und das Teatro Ridotto einverleibt hatte. Die Aufregung war entweder grundlos, oder sie hat ihre Wirkung nicht verfehlt: Auch wenn die öffentlichen Räume des Fondaco kommerzialisiert sind, kann man doch recht ungezwungen über den neuen Terrazzo der Arkadengänge flanieren, entlang diskret gestalteter Vitrinen und ohne auch nur einen Fuss in die Laufsteg-Enfilade der untereinander verbundenen Shops setzen zu müssen. Einzig der zentrale Innenhof ist nur halböffentlich, wird er doch fast gänzlich von einem Café eingenommen, das von Philippe Starck ausgestattet wurde.

(Bild: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti / OMA)

(Bild: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti / OMA)

Öffentlich ist auch das Zwischendeck, das zwischen der tatsächlich belastbaren Glasdecke des Innenhofes und der verglasten Eisendachkonstruktion darüber eingefügt wurde: Dieser versteckte Event-Space, der über eine goldene Rampe erreicht wird, ruft mit seiner kassettierten Bodenstruktur kurz Erinnerungsbilder an den Lighting Dancefloor aus dem Film «Saturday Night Fever» wach. Die rund herum ausgestellten, seriellen Slow-Mood-Videoarbeiten über das venezianische Hochwasser von Fabrizio Plessis verleihen dem platzartigen Zwischenraum jedoch eher eine poetische Note – im Zusammenklang mit den atmosphärischen Klavierteppichen Michael Nymans scheinen sie ihn in eine Ewigkeit gradueller Veränderungen tauchen zu wollen. Das fügt sich gut in die Architektur ein – auch in dieser Rauminstallation ist die vergehende Zeit das grosse Thema. Vom Zwischendeck sind es schliesslich nur noch wenige Stufen die Dachschräge hinauf – und man steht auf der öffentlich zugänglichen Freiterrasse, von der sich ein phänomenales Panorama eröffnet – über den zu Füssen liegenden Rialto genauso wie über die Dachlandschaft der Stadt. Geradezu zum Rufen nah erscheinen dabei die Dachterrassen der Nachbargebäude, die genauso improvisiert wie die Freiterrasse des Fondaco als hölzerne Altana-Konstruktion den Dächern aufgeständert wurden. Die durch Balustraden gesicherte Plattform bettet sich so doch sehr harmonisch in ihren umliegenden Kontext ein – und bleibt doch selbst vom Canal Grande aus recht unsichtbar.

Zeitschichtenfragment

Es ist diese Strategie des selektiven Ergänzens, die den Umgang von Rem Koolhaas und OMA mit der Bausubstanz vielleicht am ehesten beschreibt. Jenseits grosser Starallüren und ihres endlosen Spiels von Formeninnovation und originären Signaturen beschränken sich die Interventionen in erster Linie darauf, den Bestand zu sichern, substanzielle Erkenntnisse über das Gebäude bewusst freizulegen und nur da, wo es die neuen Nutzungen tatsächlich erfordern, pragmatische Eingriffe vorzunehmen – mit einem reduzierten Formenkanon und einer durchaus behutsam auf den Kontext bezogenen Materialauswahl. Damit wird das pluralistische Zeitschichtenfragment des Baus durchaus mit Eleganz, aber ohne Überformungen und Kapriolen fortgeschrieben.

Der neue alte «T Fondaco dei Tedeschi» – wie er nun in der globalen Branding-Sprache von LVMH heisst – wird so auch zum Manifest für die kontinuierliche Anpassungsfähigkeit der Architektur inmitten der heute weitgehend mumifizierten Lagunenstadt. Sicher, auch in Venedig haben in den letzten Jahren einige Neubauten von Calatrava bis Siza Einzug gehalten. Aber im Umgang mit alter Bausubstanz neigt man oft doch zum nostalgischen Maskenspiel. Da könnte der ebenso investigative wie sensible Weiterbau der Fondaco dei Tedeschi ein Zeichen setzen und der (Um-)Baukultur der Lagunenstadt etwas frischen Fahrtwind für die Zukunft einblasen. – Zumindest das Vaporetto gibt nach dem Nadelöhr der Rialtobrücke immer etwas Gas.