Wie Bürgersinn eine Stadt beflügelt

Das italienische Städtchen Camogli hat sein Theater vorbildlich restauriert und glanzvoll wiedereröffnet: mit Hilfe weiter Teile der Bevölkerung – und unter Mitwirkung von Zürichs Generalmusikdirektor Fabio Luisi.

Hans Jörg Jans, Camogli
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Jetzt strahlt er wieder: Der Zuschauerraum des renovierten Teatro sociale im italienischen Camogli. (Bild: PD)

Jetzt strahlt er wieder: Der Zuschauerraum des renovierten Teatro sociale im italienischen Camogli. (Bild: PD)

Im kulturellen Geschehen gibt es eklatante Ereignisse im Grossen, wie jüngst die Eröffnung von Hamburgs Elbphilharmonie. Aber es gibt sie auch im Kleinen. Und diese werden dann von den Beteiligten ebenso als Grossereignis wahrgenommen. Das hat sich kürzlich dort zugetragen, wo das Mittelmeer für viele Deutschschweizer am nächsten liegt, in der oberen Liguria, genauer im Städtchen Camogli am Golfo Paradiso, wenig unterhalb von Genua.

Wer im Oktober zu einer letztmöglichen Verlängerung der warmen Jahreszeit dorthin ans Meer fuhr, sah sich mit Überraschungen konfrontiert. Das einzige grosse Parking vor Ort war benutzerfreundlich organisiert und das zwecklos vor sich hin dümpelnde Gebäude im Hintergrund des Platzes erstrahlte in frischem Glanz.

Man mochte seinen Augen kaum trauen: Das nahezu über vier Jahrzehnte geschlossene Theater des Städtchens war offensichtlich in Stand gestellt und spielbereit gemacht worden. Und es entpuppte sich als Juwel einer Theater-Architektur aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Ein Geschenk der Seefahrer

Im seltsamen «paese delle meraviglie», im Wunderland Italien, das dem Satiriker und Darsteller Maurizio Crozza Woche für Woche unerschöpflichen Stoff für seine Shows (Canale 5) liefert, kann es offenbar auch heute noch zu einem «miracolo all'italiana» kommen. Denn unter der zerschlissenen Oberfläche hat sich nach wie vor ein unbeirrbarer und wandlungsfähiger Gemeinsinn erhalten.

Das «Teatro sociale» von Camogli wurde 1876 eingeweiht. Ein Jahr darauf wurde dem Ort von König Vittorio Emanuele II. der Titel einer Stadt zuerkannt. Denn Camogli befand sich während jener Jahrzehnte im Zenit seiner Geschichte, glänzte mit Wohlstand und Bedeutung, was es ganz und gar seinen Seeleuten und Reedereien verdankte. Ihre grossen Segler kreuzten auf allen Meeren und waren dem benachbarten Genua und selbst den Engländern ein Dorn im Auge.

Mitte der siebziger Jahre wollte niemand mehr die unaufschiebbar gewordene Renovation finanzieren.

Einen Drittel der nationalen Tonnage sollen sie damals auf ihren Schiffen befördert haben. Es war ein Kreis von rund sechzig Familien, die ihren Unternehmergeist und ihre Mittel auch vor Ort einsetzten: Waisenhäuser, Schulen und Spitäler wurden gebaut, eine nautische Akademie gegründet und schliesslich das Theater als private Institution errichtet. Die Logen der vier Ränge des Zuschauerraumes blieben den Stiftern, «palchettisti» genannt, vorbehalten.

Doch die goldenen Jahrzehnte kamen schnell an ihr Ende. Die Zeichen der Zeit wurden nicht erkannt und der Anschluss an die Dampf- und Motorschifffahrt verpasst. Das Teatro sociale geriet immer mehr in den Hintergrund des öffentlichen Lebens und musste bereits 1930 ein erstes Mal geschlossen werden. Nach einem kurzen Aufschwung in den Vorkriegsjahren wurde es nach 1945 meist als Kino genützt. Und Mitte der siebziger Jahre wollte niemand mehr die unaufschiebbar gewordene Renovation finanzieren.

Die Restaurierung

Immerhin erreichte die Vereinigung der «palchettisti», nach wie vor die Besitzer des Gebäudes, dass der bereits seit 20 Jahren stillgelegte Theaterbau 1996 unter nationalen Denkmalschutz gestellt wurde. Die kulturell aufgeschlossenen Bürger unter ihnen, angeführt von Florida Simonetti, Kunsthistorikerin und Museumsleiterin in Genua, brachten dann 2002 zusammen mit Kommunalpolitikern die Gründung einer Fondazione Teatro Sociale zu Stande. Die rechtlichen Verstrickungen liessen sich entwirren, die Voraussetzungen zu einem breiten Fundraising auf privater wie auf regionaler und staatlicher Ebene waren geschaffen.

Dass sich die finanziellen Mittel zusammenbringen liessen, verdankt sich der Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft eines weiteren Bürgers von Camogli. Marco Ferrari, Präsident der Stiftung, hatte während Jahrzehnten die Kulturpolitik von Genua und der Region Ligurien in leitenden Positionen mitgestaltet. Das Prestige einer integren Persönlichkeit und das überregionale Ansehen seiner Leistungen als Übersetzer und Vermittler serbokroatischer Literatur erhöhten das Vertrauen in die hochgesteckten Ziele der Unternehmung.

Ein Glücksfall war es auch, dass zur Restaurierung unter Leitung des Architekten Nicola Berlucchi (Brescia) viele Fachleute zum Einsatz kamen, die am Wiederaufbau des Teatro La Fenice in Venedig mitgewirkt hatten. Die Projektierungsarbeit setzte 2006 ein. Der Voranschlag von rund 8 Millionen Euro - ein Hundertstel der Kosten der Hamburger Elbphilharmonie – wurde nicht überschritten.

Eröffnung mit Bach

Unmittelbar vor Weihnachten wurde das Theater gleichsam als Geschenk an die Bürgerschaft eröffnet. Für einen mitteleuropäischen Konzertbesucher war es ungewöhnlich, mit einem überwältigenden Sonnenuntergang am winterlichen Mittelmeer sich auf Bachs «Weihnachtsoratorium» einzustimmen. Zürichs Generalmusikdirektor Fabio Luisi, zwar gebürtiger Genuese, aber mit Camogli familiär verknüpft, leitete eine in mancher Hinsicht ausserordentliche Wiedergabe des von ihm vorgeschlagenen Werks.

Aus Mailand hatte er Studenten und Absolventen der Accademia Teatro alla Scala mitgebracht, die sich im Rahmen einer Masterclass über Monate auf die Aufführung vorbereitet hatten. Mit der kleinen Besetzung von 18 Choristen und 22 Instrumentalisten waren historische Aufführungsbedingungen anvisiert. Bewundernswert war die Bewältigung und Verständlichkeit der deutschen Texte, die Flexibilität und saubere Intonation in den Chorsätzen (einstudiert von Alberto Malazzi, Leiter des Chors der Scala), die Brillanz und Festlichkeit des Instrumentenklangs.

Es geriet dem Bachschen Werk keineswegs zum Nachteil, dass sich seine Musik im Kontext der Theater-Eröffnung auch als Ausdruck profaner Freude über das geglückte Unternehmen miterleben liess. Es entschärfte vielmehr die oft als verstörend empfundene Problematik von Bachs Parodie-Verfahren, d.h. weltliche Kantaten in geistliche Werke zu verwandeln. Mit dem künstlerischen Rang von Fabio Luisi war ein Zeichen für den Anspruch und mit der Jugend der Ausführenden ein Symbol für die Zukunft des wieder eröffneten Theaters gesetzt.

Die restaurierte Front des Teatro sociale. (Bild: PD)

Die restaurierte Front des Teatro sociale. (Bild: PD)

«E la nave va», unter diesem Motto in Anspielung an Fellinis Film von 1983 hat die künstlerische Leiterin des Theaters, Maria de Barbieri, einen bunten Spielplan für die ersten Monate bis zum Mai 2017 vorgelegt. Sie wird hier ihre Erfahrungen einbringen können, die sie am Teatro delle Tosse von Genua in langjähriger Zusammenarbeit mit Emanuele Luzzati gemacht hat. In musikalischen Fragen lässt sie sich von Nicola Costa, einem ehemaligen Intendanten der Oper von Genua beraten.

In den Sommermonaten Juni und Juli wird im Theater unter dem Stichwort «Il mare» ein erstes Festival stattfinden, das Sparten übergreifend und mit interdisziplinären Tagungen dem «mediterraneo» gewidmet ist.

Soziales Engagement

Die Gemeinde Camogli zählt derzeit etwas über 5000 Einwohner. Das benachbarte Recco, das sich – entgegen aller Kirchturmpolitik – an den Kosten beteiligt hat, umfasst die doppelte Zahl. Wenn man erfährt, dass 1000 Bürger aus allen Schichten von Camogli je eine Spende von 250 Euro beigesteuert haben, dass die Garderoben- und Saaldienste von Freiwilligen geleistet werden, so spiegelt sich darin ebenjener Bürgersinn, dessen Pflege sich die Initianten mit der Wiedereröffnung ihres Theaters zum Ziel gesetzt haben – und den man sich in dieser Form andernorts nur wünschen kann.