Das Deutsche Architekturmuseum erzählt in seiner Ausstellung über den Widerstand mit Barrikaden oder Baumhütten die lange Geschichte der Protestbewegungen.
Wer protestiert, setzt seinen Körper ein, um sich Gehör zu verschaffen. Diese physische Erfahrung können die Besucher des Deutschen Architekturmuseums (DAM) in Frankfurt am Main selber machen, während sie über eine wackelige Hängebrücke gehen. Sie eröffnet die Ausstellung «Protest/Architektur» und stammt aus dem Hambacher Wald, der seit 2012 besetzt wird, um die Erweiterung eines Braunkohletagebaus zu verhindern. Zwischen den Bäumen haben die Menschen Seile gespannt, an denen Stege und Hütten hängen. Auf dem Boden des Ausstellungsraums liegen alle Elemente aus dem Werkzeugkasten für eine Besetzung, vom Schlafsack bis zu den Gummistiefeln.
Protest braucht Platz, auch im Museum. Die Schau nimmt ein ganzes Geschoss ein in einem Bürogebäude des einstigen Versandhauses Neckermann, wo das DAM während Umbauarbeiten gastiert. Der Einstieg macht klar: Es geht in erster Linie um das handfest Gebaute, nicht um die politischen Inhalte der Proteste. Also nicht ums Klima, sondern um den Klebstoff, mit dem sich die Aktivisten auf der Strasse befestigen. Wobei die Ausstellung auf räumliche Interventionen fokussiert, wenn der Protest also «sesshaft» und der Ort zum Argument wird.
Die Schau ist eine Koproduktion des DAM und des Museums für angewandte Kunst in Wien, wo sie als Nächstes zu sehen sein wird. Das Kuratorenteam um Oliver Elser hat sich mächtig ins Zeug gelegt. Ein zweisprachiger Katalog versammelt die wichtigsten Begriffe von A wie Absperrgitter bis Z wie ziviler Ungehorsam zu einem handlichen Lexikon, in dem man die Details der eindrücklichen Recherche in Text und Bild nachschlagen kann.
Die Ausstellung zeigt ein breites Spektrum von Protesten, das sich vom politischen Überlebenskampf einer Demokratie bis zum sozialen Happening für mehr Naturschutz erstreckt. Und das von friedlich bis kriegerisch geht. Der Einsatz von Gewalt ist eine zentrale Frage – sowohl aufseiten der Demonstrierenden wie der Polizei. Je höher die Gewaltbereitschaft, desto mehr wird die Architektur zum Bollwerk. Meist geht es hingegen schlicht darum, einen öffentlichen Raum möglichst lange zu blockieren. «Verzögerungsarchitektur» nennt die Schau diese Taktik.
Eine Chronologie zeigt die wichtigsten Protestbewegungen seit der Julirevolution 1830 in Paris auf. Die Beispiele reichen von den Trucker-Blockaden in Ottawa bis zu den Flashmobs auf den Strassen Myanmars. Im deutschsprachigen Raum ist die Protestarchitektur eng mit dem Umweltschutz verknüpft, allen voran der Anti-Atomkraft-Bewegung, die 1980 in Gorleben zum Medienereignis wurde. Die Schweiz ist mit den Opernhauskrawallen von 1980 vertreten, während deren an der Sihl ein «Chaotendorf» gebaut wurde. In Bern entstand 1985 die linksautonome Wohnsiedlung Zaffaraya, die bis heute Bestand hat.
Der historische Überblick ist umfassend, aber nicht abschliessend. So kommen etwa die Aids-Kundgebungen in den USA nicht vor, die mit den selbstgeknüpften Quilts in die Designgeschichte eingegangen sind. Auch fehlen aktuelle Beispiele, die an die Grenzen des physischen Protests gehen. Etwa die Besetzung in Seattle während der BLM-Kundgebungen, bei der mehrere Häuserblocks zur rechtsfreien Zone wurden. In der Ausstellung hängt auch kein verschmiertes Gemälde von Vincent van Gogh.
So utopisch manche Forderungen der Protestierenden sind, so pragmatisch sind ihre Konstruktionen. Es sind Architekturen ohne Architekten, wie Bernard Rudofsky einst sagte: selbstgezimmerte Hütten, aufgespannte Tücher, improvisierte Türme. Wobei durchaus Fachleute beteiligt sind. Schon Gottfried Semper hat während des Dresdner Maiaufstands 1849 Vorgaben gemacht, um die später nach ihm benannten Barrikaden zu verstärken.
Seither wurde die Protestarchitektur professioneller. 1968 beim Poor People’s March in Washington DC baute man Notbehausungen mit vorfabrizierten Holzrahmen, die Architekten entworfen hatten. Die Zeltstätte der «Povo Sem Medo»-Demos 2018 in São Paolo folgen einer regelmässigen Struktur, da sie im Vorhinein geplant werden und so das romantische Bild der Selbstorganisation relativieren.
Neben dem baulichen Wissen steigt das Sendungsbewusstsein. Dank den sozialen Netzwerken kann mit einer minimalen Intervention im Raum eine maximale Wirkung im Internet erzielt werden. Das vereinfacht die Teilhabe, beeinflusst aber auch die demokratische Legitimation: Musste eine Bewegung früher Tausende Menschen mobilisieren, um gehört zu werden, genügen heutzutage dank dem Twitter-Echo ein paar Personen.
«Proteste müssen stören, sonst wären sie wirkungslos», heisst es in der Einführung. Das DAM hat den Störfaktor domestiziert und ins Museum geholt. Er gehört damit selbst zum kulturellen Establishment. Das Maidan-Museum in Kiew hat bereits während der Proteste 2014 Nudelsiebe und andere Utensilien gesammelt, die die Demonstranten zum Schutz vor der Staatsgewalt verwendeten.
Sind Protestbewegungen besonders erfolgreich, können ihre Objekte selbst zum Fetisch werden. Die Embleme von Occupy-Wall-Street werden heute teuer im Kunsthandel verkauft und sind damit ein Stück weit selbst zu einem Teil der kapitalistischen Exzesse geworden, die sie kritisieren.
Das Museum kuratiert eine vielfältige und wichtige Schau, die ein relevantes Thema via Architektur detailliert beleuchtet. So politisch und aktuell kann eine Architekturausstellung sein, wobei der Begriff weit gedehnt wird. Doch wie meinte einst Hans Hollein: «Alles ist Architektur.» Obwohl die Konstruktion im Vordergrund steht, dreht sich die Schau letztlich um gesellschaftliche Fragen, die den Architekturdiskurs seit einigen Jahren bestimmen – auch an der diesjährigen Biennale in Venedig.
Die originalen Objekte und Strukturen sowie die journalistischen Fotos machen das Thema greifbar. Die Plakate hängen krumm und schief an den Tafeln, die wie improvisierte Hütten wirken. Skizzen zeichnen die Bautypen minuziös nach und veranschaulichen die Komplexität. Ein Filmbeitrag von Oliver Hardt zeigt die Räumungsaktionen, bei denen Menschen Leib und Leben riskieren. Manche der detailliert nachgebauten Modelle der Hütten und Zeltstädte hingegen drohen das mitunter brutale Thema zu verharmlosen, auch wenn sie es besonders anschaulich vermitteln.
Wem gehört der Raum? Die Ausstellung stellt eine grundsätzliche planerische Frage, obschon sie die rechtlichen Aspekte nur am Rande streift. Sie macht klar, wie wichtig der physische Raum im digitalen Zeitalter nach wie vor ist. Die Bilder des belagerten Maidan oder des brennenden Paris gingen um die Welt. Städte brauchen öffentliche Räume, die allen gehören. Und die eine symbolische Wirkung haben. Es ist nicht dasselbe, ob ich auf dem Bundesplatz in Bern oder auf dem Turbinenplatz in Zürich demonstriere.
Oft werden einfache Gegenstände zum Symbol einer Protestaktion. Etwa die Regenschirme, mit denen sich die Demonstranten in Hongkong vor den Überwachungskameras schützten. In Wien wurde ein pyramidenförmiges Gebäude zum ikonischen Zeichen der Bewegung, die ein Auengebiet vor der Zerstörung durch einen Autobahnzubringer retten will. Die wiedererkennbare Geometrie macht die Architektur zum idealen Träger der Protestbotschaft.
Deutsches Architekturmuseum Ostend, Frankfurt am Main. Bis 14. Januar 2024. Publikation. «Protestarchitektur: Barrikaden, Camps, raumgreifende Taktiken 1830–2023». 528 S., Park Books 2023, 19 Euro.