Mit der Stadthausanlage haderte Zürich schon immer. Selbst der Stararchitekt des 19. Jahrhunderts scheiterte an ihr

Gegen die geplante Umgestaltung des Bürkliplatzes regt sich Widerstand. Ähnlich wie 1858, als die Zürcher Gottfried Sempers wegweisende Entwürfe ablehnten.

Oliver Camenzind 6 min
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Die Stadthausanlage und der Bürkliplatz sind ein ewiger Zankapfel in der Stadtzürcher Geschichte. Doch jetzt könnte sich endlich etwas tun.

Die Stadthausanlage und der Bürkliplatz sind ein ewiger Zankapfel in der Stadtzürcher Geschichte. Doch jetzt könnte sich endlich etwas tun.

Ullstein

Es war ein weiter Weg bis hierhin: Im Spätsommer 2022 kürte die Stadt Zürich den Entwurf des Architektenkollektivs Schmid Ziöjen zum Sieger eines Wettbewerbs für einen neuen Kiosk auf dem Bürkliplatz. Das Projekt sieht einen leichten Holzbau vor, in dem auch gleich die Toiletten-Anlagen, die Trafo-Station und die Marktpolizei untergebracht sind. Das Pissoir-Häuschen aus Beton und das Trafo-Häuschen kommen weg.

Zürich erhält also einen neuen Kiosk. Nicht weiter der Rede wert? Nun ja. Es wäre ein ziemlich grosser Schritt für die Stadt, wenn dieser Plan ohne grosse Diskussionen genau an dieser Stelle in die Realität umgesetzt würde. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass auf einmal alles möglichst schnell gehen soll; damit diese Sache endlich erledigt ist.

Schon im Herbst dieses Jahres sollen die Umbauarbeiten beginnen, was im Augenblick noch für Streit sorgt: Wenn der Bürkliplatz während der Bauphase 15 Monate gesperrt ist, können der dortige Wochen- sowie der Flohmarkt nicht stattfinden. Dagegen wehren sich nun die Marktfahrer, weil sie um ihre Existenz fürchten.

Geht trotz den opponierenden Marktfahrern alles nach Plan, wäre dies das vorläufige Ende einer leidvollen Geschichte.

Das Pissoir ist sei je verhasst – und steht noch immer

Der heutigen Ausgangslage ging eine zwanzigjährige Ratlosigkeit voraus. Niemand in Zürich wusste, wie sich der Bereich zwischen Seeufer und Stadthaus idealerweise präsentieren sollte.

Das Trafo-Häuschen mit den Toiletten kommt weg, die WC-Anlagen sind künftig im gleichen Gebäude wie der Kiosk untergebracht. Aufnahme von 1956.

Das Trafo-Häuschen mit den Toiletten kommt weg, die WC-Anlagen sind künftig im gleichen Gebäude wie der Kiosk untergebracht. Aufnahme von 1956.

ETH-Bildarchiv

Zwar war die Stadt schon Ende der 1990er Jahre der Ansicht, dass die Anlage nicht bleiben könne, wie sie war. Aber für mehr Konsens reichte es nicht. 1997 realisierte man eine neue Kanalisation, einen neuen Asphaltbelag und neue Rabatten. Immerhin. Denn danach – im 21. Jahrhundert – folgte das grosse Zaudern.

Die gängige Meinung lautete, der alte Kiosk sei heruntergekommen. Und den Betonblock mit den Pissoirs empfand man als Zumutung. Es sei das «hässlichste, aber bestgelegene Urinoir Zürichs», hiess es im «Tages-Anzeiger». Also schrieb man die Sache 2001 aus – guten Mutes, auf diesem Weg eine Verbesserung herbeizuführen.

Doch der Stadtrat düpierte das federführende Hochbaudepartement und verwarf das Siegerprojekt der Architekten Fickert und Knapkiewicz samt und sonders. SP-Hochbauvorsteher Elmar Ledergerber fand den projektierten Bau «zwar als Solitär schön», wie die NZZ damals berichtete, aber «städtebaulich unbefriedigend».

Also passierte jahrelang gar nichts. Bis die Stadt 2022 ein neues Projekt auswählte, womit wir beim Status quo wären.

Sogar für das englische Königshaus zu teuer

Dass es jetzt abermals Streit um sie gibt, passt bestens zur Geschichte der Stadthausanlage. Denn diese war schon vor ihrem Bau Gegenstand eifriger Auseinandersetzungen. Involviert waren damals die selbstbewussten Beamten der noch jungen Schweizer Republik und Gottfried Semper, einer der fähigsten Architekten seiner Generation.

Gottfried Semper, einer der bedeutendsten Architekten des 19. Jahrhunderts.

Gottfried Semper, einer der bedeutendsten Architekten des 19. Jahrhunderts.

Unbekannt

Semper kommt 1855 nach Zürich, um Professor am neu gegründeten Polytechnikum zu werden. Zu der Zeit ist er bereits ein berühmter Mann: In Dresden baute er das Hoftheater, die Villa Rosa und die Synagoge, allesamt herausragende Beispiele für den historistischen Stil in Deutschland. Es sind Gebäude, die in die Geschichte der Architektur eingehen würden.

Doch Semper muss Dresden verlassen, weil er während der deutschen Revolution mit den Republikanern sympathisiert.

In seinem Londoner Exil wird er nie richtig heimisch. Er hadert mit der Sprache und leidet unter seinem Status als Ausländer. Zwar darf er unterrichten. Und er findet Zeit, an seinen kunstgeschichtlichen Schriften zu arbeiten, die sich ebenfalls als wegweisend herausstellen werden. Doch zu bauen bekommt er nichts. Ein Auftrag für den Gemahl von Königin Viktoria wird vom englischen Board of Trade vereitelt, weil Sempers Vorhaben zu kostspielig geworden wären.

Von seiner Stelle in Zürich erhofft sich Semper nun ein Leben in Ruhe und Sicherheit. Und natürlich neue Aufträge. Er will endlich wieder bauen – doch daraus wird nichts. Zwar darf er das Hauptgebäude der ETH zeichnen, doch zerstreitet er sich rasch mit den Zürcher Behörden.

Diese finden ebenfalls das meiste zu teuer und tendenziell zu herrschaftlich. Zu prunkvoll und aristokratisch. Ausserdem wollen sie dem Architekten Vorschriften bis ins Detail machen. Sogar über die grammatikalischen Formen der lateinischen Fassadeninschrift liessen sie sich bei Semper aus.

So stellte sich Gottfried Semper das neu gestaltete Kratzquartier vor: mit Stadthaus und Springbrunnen im Zentrum der Stadthausanlage.

So stellte sich Gottfried Semper das neu gestaltete Kratzquartier vor: mit Stadthaus und Springbrunnen im Zentrum der Stadthausanlage.

Nach dem Polytechnikum bekommt der vielgescholtene, als eitel und selbstgerecht wahrgenommene Semper nur noch für die Eidgenössische Sternwarte und ein Waschschiff auf der Limmat den Zuschlag. Aus seinen Plänen für ein neues Zürcher Stadthaus wird nichts, obwohl sie alle anderen Vorschläge in jeder Hinsicht übertrafen.

Es hätte das herrlichste Ensemble werden können

Zur Zeit Sempers herrschte in Zürich richtiggehende Aufbruchstimmung. Alfred Escher, Direktor der Nordostbahn, versprach einen neuen Bahnhof, sofern die Stadt eine Verbindung zwischen Bahnhof und Paradeplatz ermöglichen würde. Also schüttete man den Fröschengraben zu und baute eine Strasse darauf – die heutige Bahnhofstrasse. Praktisch zeitgleich, nämlich 1858, wurde ein Wettbewerb zur Stadterweiterung im Kratzquartier ausgeschrieben.

Semper sehnte sich nach Aufträgen und reichte gleich zwei Entwürfe ein. Sein erster Plan sah vor, das ganze Ensemble zum See hin zu öffnen. Entstanden wäre ein langgestrecktes Forum mit Parkanlagen und weitläufigen Plätzen, wie man sie sonst nur in Italien sieht. Das Semper-Stadthaus wäre, vom Stadtzentrum gesehen, gewissermassen der Ausgangspunkt der gesamten Anlage geworden; eine prächtige Allee hätte vom Stadthaus bis zum See geführt.

Sempers Plan gewann den Wettbewerb und gilt nach heutiger Auffassung als eines der eindrücklichsten städtebaulichen Konzepte des 19. Jahrhunderts. Schon in einer zeitgenössischen Beurteilung stand, dass «keine Schweizer Stadt» ein schöneres Quartier vorzuweisen habe.

Er würde nach der Rad-WM für 15 Monate ausfallen: der Wochenmarkt auf dem Bürkliplatz, hier in einer historischen Aufnahme.

Er würde nach der Rad-WM für 15 Monate ausfallen: der Wochenmarkt auf dem Bürkliplatz, hier in einer historischen Aufnahme.

Getty

Aber den Zürchern waren Sempers Vorstellungen zu «fürstlich» und zu prätentiös. Die Stadt sah von einer Umsetzung ab – und beerdigte das Projekt eines neuen Stadthauses für die nächsten 30 Jahre.

Erst dann beauftragte sie Gustav Gull, der ein Stadthaus am Ufer der Limmat errichtete. Dieses hätte nur ein Provisorium sein und später einem dreimal so grossen Bau weichen sollen. Doch daraus wurde nichts, das «Provisorium» steht heute noch – und dürfte so schnell nicht ersetzt werden.

Semper blieb die Referenz

Sempers Pläne wurden zwar nicht verwirklicht, sie blieben aber die Referenz und wurden fleissig zitiert, wenn die Stadt darüber nachdachte, etwas an der Stadthausanlage zu verändern – was häufig der Fall war. Die Ergebnisse hingegen blieben überschaubar.

1925 schlägt Kasimir Kaczorowski vor, die Bahnhofstrasse und den Bürkliplatz mit der neuen Nationalbank durch zwei monumentale Leuchttürme zum See hin abzuschliessen. Obwohl Leuchttürme wohl besser ans Meer als an den Zürichsee passen, erinnert das an Semper. Und zwar insofern, als Kaczorowski das Quartier auf das Seebecken auszurichten versuchte. Die Entwürfe wurden nie realisiert, bis heute bleibt die Stadthausanlage durch eine Strasse vom See getrennt.

Und 1973 beziehen sich Bruno Reichlin und Fabio Reinhart noch einmal auf Gottfried Semper. Sie entwerfen zwei lange Baublöcke, die in den See hineinragen und auf diese Weise den Bezug zwischen Stadthausanlage und See herstellen sollen. Doch das Vorhaben wird 1974 an der Urne abgelehnt. So blieb alles, wie es war. Und immer noch ist.

Aber jetzt – jetzt könnte sich wieder einmal etwas tun auf der Zürcher Stadthausanlage. Im September, wenn die Bauphase beginnen soll, wissen wir mehr.

Für Frühaufsteherinnen: Eine Frau wartet auf erste Gäste am Flohmarkt auf dem Bürkliplatz. Das Bild stammt von 1974 oder 1975.

Für Frühaufsteherinnen: Eine Frau wartet auf erste Gäste am Flohmarkt auf dem Bürkliplatz. Das Bild stammt von 1974 oder 1975.

Heinz Baumann / ETH-Bildarchiv