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2. Februar 2007 Neue Zürcher Zeitung

Auf der Suche nach der eigenen Geschichte

Tendenzen der zeitgenössischen Architektur in Libanon

Trotz den derzeitigen Machtkämpfen versucht man in Libanon wieder aufzubauen, was während der israelischen Angriffe zerstört wurde. Dabei stellt sich die Frage, welche Bedeutung Architektur und Städtebau im Zedernstaat haben. Eine unabhängige Szene setzt sich für eine Architektur ein, die ohne nationalistischen Beigeschmack als Instrument zur Revitalisierung der libanesischen Kultur und Gemeinschaft funktionieren könnte.

Ungeachtet aller politischen Spannungen ist seit dem Ende der israelischen Angriffe in Libanon der Wiederaufbau ein zentrales Thema. Unter Architekten wird kontrovers diskutiert. Einige sehen die Möglichkeit, das Land durch eine gezielte Förderung des sozialen Wohnungsbaus zu stärken. Andere zweifeln daran, dass die geschwächte Regierung eine Architektur unterstützen wird, welche über die gebaute Realität hinaus die Bevölkerung zu einen vermag. Im Zuge des allgemeinen Optimismus, der vor dem israelischen Angriff und dem derzeitigen Machtkampf zwischen den politischen Gruppierungen herrschte, entwickelte sich eine unabhängige Architekturszene, die von einem wachsenden kulturellen Selbstbewusstsein zeugte und Werke von beachtlicher Qualität und Eigenständigkeit hervorbrachte. Gefördert wurde sie in erster Linie von privaten Auftraggebern. Von der sonst im Land vorherrschenden Tendenz, die Erinnerung an den Bürgerkrieg durch kosmetische Architektur oder kommerzielle Grossprojekte möglichst rasch vergessen zu machen, unterschied sie sich deutlich. Obschon in Beirut lokalisiert, wirkte sie bis weit in die Peripherie und zielte darauf ab, Geschichte in der Gegenwart zu reflektieren und ein regionales Idiom zu formulieren, das sich nicht allein über formale Kriterien definiert, sondern darüber hinaus von einem ebenso konzeptuellen wie pragmatischen Ansatz geleitet ist. Ihre Vertreter melden sich nun wieder zu Wort, sehen sie doch in der Architektur eine Möglichkeit, den Zustand der libanesischen Gesellschaft in ihrer ethnischen und konfessionellen Vielfalt abzubilden.

Orte mit Bedeutung schaffen

Einer der interessantesten Protagonisten der libanesischen Architektur ist Bernard Khoury. Sein Büro liegt unweit des Klubs «BO18», jenes Bauwerks, das Khoury auf einen Schlag bekannt machte. Der Klub befindet sich inmitten eines öffentlichen Parkplatzes und ist - einem Bunker nicht unähnlich - unterirdisch angelegt. Sein aus Eisenplatten und Plexiglas konstruiertes Dach lässt sich öffnen, so dass Musik aus dem Erdinnern zu dröhnen scheint. Khourys Bauten fallen auf. Sie sind ungewöhnlich und oft von einer betont aggressiven Formensprache, die jedoch auch romantische Züge besitzt. «Es geht darum, Orte mit Bedeutung zu schaffen», sagt Khoury, «denn Beirut ist weder niedlich noch schön.» Das Gebäude des Restaurants «Centrale» beispielsweise liess Khoury nur notdürftig sanieren, so dass die Narben aus dem Bürgerkrieg sichtbar bleiben, während im Innern Leder und Spiegel für eine luxuriöse Atmosphäre sorgen. Die Bar im Dachgeschoss besteht aus einer monumentalen Eisentonne, wobei sich das bald tunnelartige, bald an ein U-Boot erinnernde Konstrukt mittels eines Schiebemechanismus öffnen lässt und den Blick auf Beirut freigibt. Khoury, der bei Jean Nouvel arbeitete und ein zweites Büro in Paris eröffnen will, liebt die Provokation, und dennoch weisen die Bauten des Enfant terrible der zeitgenössischen libanesischen Architektur eine Sensibilität im Umgang mit der Geschichte des Ortes auf, die in der arabischen Welt ungewöhnlich ist.

Obwohl Khoury mit spektakulären Entwürfen für die Unterhaltungsindustrie bekannt geworden ist, weist sein Portfolio heute Villen, Wohnüberbauungen und kommerzielle Bauten auf. Bei seinem neusten Projekt handelt es sich um eine luxuriöse Residenz, die in einer Gartenlandschaft auf dem Kopf zu stehen scheint. Dadurch wird die Sicht aufs Meer besser, während sich die Lärmbelästigung durch die angrenzende Autobahn verringert. Einen zentrumsnahen Wohnturm hingegen, dessen Balkone sich ganz um das Gebäude herumziehen, will Khoury mit einem Netz aus Kletterpflanzen verhüllen, derweil ein Wäldchen aus Zypressen das Dach schützen soll. Und für das Zentrum von Beirut hat er schliesslich ein Luxushotel entworfen, das gängige Materialien und Bauformen negiert. Es ist ein eiförmiger, kristalliner Körper aus Glas und Metall, dessen Basis verschiedene Geschäfte aufnehmen soll. Den Kern des Gebäudes bildet eine atriumartige Lobby, die wie ein Garten gestaltet und mit Bars und Restaurants ausgerüstet ist. Der Bau ist auf mehreren Ebenen zu betreten und versteht sich als neuralgischer Punkt, eine Art Piazza unweit der Souks. Khoury hofft, mit dem Bau beginnen zu können, sobald sich die Lage beruhigt hat.

Dialog mit dem Ort

Nicht weniger kritisch als Khoury, jedoch konformer hinsichtlich der Formensprache geht Nabil Gholam vor. Der in Frankreich und in den USA ausgebildete Gholam war in Spanien bei Riccardo Bofill tätig. Heute besitzt er Büros in Beirut, Istanbul und Barcelona. Gholam strebt ebenso wie Khoury nach einer zeitgemässen, den libanesischen Bedingungen angemessenen Architektur. Doch im Gegensatz zu Khourys Arbeiten, die mitunter fast surreale Züge annehmen, zeichnen sich seine Bauten durch Eleganz, Klarheit und ökologische Konzepte aus. Immer wieder integriert er Sonnenkollektoren. Breite Terrassen oder hölzerne Fensterläden dienen als Sonnen-, Glasflächen als Windschutz. Dass die Schutzelemente dabei auch eine ästhetische Funktion wahrnehmen, steht ausser Frage. Libanesische Architektur definiert sich laut Gholam «durch ihren Bezug zu Wind, Sonne und Raum sowie durch die Einfachheit des Volumens».

Der traditionelle libanesische Kubus dient dem knapp 40-jährigen Architekten dabei ebenso als Anregung wie der westliche Trend zu Transparenz. Die Konstante in seinem Werk aber ist das Zwiegespräch mit dem Genius Loci. So wehrte er sich beim Bau einer Privatresidenz in den Bergen gegen die Absicht des Bauherrn, das teilweise kriegszerstörte Landhaus abzureissen. Während des Bürgerkriegs waren in diesem Haus Menschen gefangen gehalten, gefoltert und getötet worden. Der Bauherr glaubte, die Vergangenheit durch die Zerstörung der alten Gemäuer tilgen zu können. Doch Gholam plädierte dafür, die noch existierenden Gebäudeteile mit dem umliegenden Baumbestand in einen Neubau zu integrieren und so den Ort des Grauens in einen Hort der Poesie zu verwandeln. - Gholam ist Geschäftsmann und Träumer zugleich. Er weiss mit schwierigen Bauherren und Realitäten umzugehen, nähert sich intuitiv der Problematik und sucht im Dialog seine Überzeugung zu vertreten. Das und sein Stil, der wesentliche Elemente traditioneller libanesischer Architektur aufnimmt, ohne in den Retrokitsch abzugleiten, machen ihn momentan zu einem der erfolgreichsten Architekten Beiruts.

Lokale Bautradition

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Simone Kosremelli. Die grosse alte Dame der Beiruter Architektenszene - sie war eine der Ersten mit einem eigenen Büro nach dem Bürgerkrieg - versucht Identität durch bauliche Präsenz zu schaffen, indem sie sich an der lokalen Bautradition orientiert und von topographischen Bedingungen und regionalistischen Sensibilitäten leiten lässt. Ihre Liebe gehört dem Stein, ihre Leidenschaft der Wiedererweckung handwerklichen Könnens. Ihre Bauten basieren auf dem Kubus, auf der für die Region typischen Dreifensterfront und der aussen liegenden Treppe. Der Reiz ihrer Bauten liegt in der Variation der Öffnungen und des Volumens. Der Architektur Mario Bottas fühlt sie sich nahe, wenn sie auch zurückhaltender und pragmatischer agiert. Kosremelli ist nicht auf vordergründige Effekte aus. Das Gebäude eines Privatklubs im Ostteil Beiruts stiess wegen seines ungemein diskreten Äusseren zunächst auf Ablehnung. Ein im Bürgerkrieg zerstörtes Bankgebäude im Zentrum der Hauptstadt renovierte Kosremelli derart subtil, dass ihre Handschrift nicht sichtbar ist, wohl aber die libanesische Steinmetzkunst. «Es ist wichtig», betont Kosremelli, «seine Wurzeln nicht zu verleugnen.» Gerade für ein Land wie Libanon, das auf eine turbulente Geschichte zurückblickt, ist ihrer Meinung nach eine Architektur, die eine identitätsstiftende Wirkung ausübt, ohne nationalistisch sein zu wollen, essenziell. Es braucht aber auch den politischen und wirtschaftlichen Rahmen, um solche Ideen in die Realität umsetzen zu können.

21. Oktober 2005 Neue Zürcher Zeitung

Visionen am Tejo

Architektonische Grossprojekte für Lissabon

Die Weltausstellung von 1998 bescherte Lissabon ein neues Wohn- und Arbeitsquartier am Tejo. Danach aber war es in Sachen Städtebau in Lissabon ruhig, bis ein Plan vorgelegt wurde, gemäss dem internationale Architekten ganze Quartiere bauen sollen. Das ambitiöse Projekt würde Lissabon zu einer europäischen Metropole machen.

Im Rahmen der Expo 98 wurden von namhaften portugiesischen Architekten Ausstellungsbauten errichtet, die nach der Grossveranstaltung für Verwaltung, Kultur, Sport und Vergnügen zur Verfügung stehen und den Kern eines neuen, vom Oriente-Bahnhof Calatravas erschlossenen Quartiers bilden sollten. Doch nach der Weltausstellung gewannen Stagnation und touristisch kultivierte Melancholie wieder Oberhand, bis ein ganz neuer städtebaulicher Ehrgeiz aufhorchen liess. Die Stadt am Tejo machte einen neuen Versuch, sich den Anforderungen einer globalisierten Welt zu stellen, um mit anderen europäischen Metropolen um Attraktivität und Standortvorteil zu konkurrieren.

Nachdem die Mitgliedschaft in der Europäischen Union dem Land ganz neue Perspektiven eröffnet und Gelder zum Fliessen gebracht hatte, nahmen Wohnungsnot und Spekulation drastisch zu. Im Grossraum Lissabon leben heute 2,5 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Im Zentrum jedoch sinkt nicht nur die Einwohnerzahl, sondern auch die Lebensqualität. Die meisten Gebäude müssten restauriert werden. Doch die Eigentümer kümmern sich nicht darum, da die Mieten seit Salazars Zeiten eingefroren sind. Gleichzeitig bilden sich vor den Toren der Stadt Siedlungen, die jeder städteplanerischen Erkenntnis spotten.

Sanierungen und Neubauten

Um den Ausbau der Hauptstadt kontrolliert anzugehen, wurde ein entsprechender Plan ausgearbeitet. In der Hoffnung, die Tücken eines Masterplans umgehen zu können, entschied man sich für eine kooperative Stadtplanung, die eine effiziente und marktorientierte Umsetzung erlaubt. Der Hauptteil der Investitionen soll aus dem Ausland kommen. Der Plan sieht unter anderem die Belebung des Zentrums vor. 450 Häuser in den historischen Vierteln Baixa, Barrio Alto, Chiado und Alfama sollen teilweise oder ganz renoviert werden.

Erste Resultate lassen sich in der Rua de São Bento oder in der Rua Madalena besichtigen: Dort strahlen im heissen Sommerlicht bereits einige Häuser mit geputzter Fassade. Sie sind der Stolz der Befürworter eines neuen Lissabon und werden werbewirksam eingesetzt, um die Einwohner von den neuen städtebaulichen Ideen zu überzeugen. Es braucht solche Mittel, denn nicht alle sind von der Verschönerung ihrer Quartiere begeistert. Wegen der Renovationsarbeiten sind viele Bewohner gezwungen, ihre Häuser für einige Monate zu verlassen. Obwohl sie von der Regierung finanziell unterstützt werden, leiden die Betroffenen unter der Mühsal eines temporären Umzugs und fürchten, dass die Mieten steigen werden. Dass dies der Fall sein wird, ist sehr wahrscheinlich. Ein Gesetzesentwurf, der die Mietregelung lockern soll, steht nämlich schon zur Diskussion.

Unweit der Avenida da Liberdade, der Prachtsstrasse Lissabons, plant Frank O. Gehry die Bebauung des Parque Mayer, eines rund 18 000 Quadratmeter grossen, teilweise als öffentlicher Parkplatz genutzten Areals, auf dem ein ehemaliger Theaterkomplex steht. Gehry will die denkmalgeschützten Theatergebäude aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts mit einer dem Anschein nach einstürzenden Turmlandschaft verbinden. Darin sollen sich wieder ein Theater, aber auch ein Hotel, ein Shoppingcenter, ein Museum, eine Mediathek und ein unterirdischer Parkplatz befinden. Es entspricht dem Anliegen der Stadt-Strategen, Lissabon als moderne Kultur- und Eventstadt bekannt zu machen. Festivals, Modeschauen oder Designermessen sollen für internationale Aufmerksamkeit und zahlungskräftige Besucher sorgen. Eine Architektur, die von Stars wie Gehry entworfen wurde, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Sie soll der Stadt ein neues Image verschaffen und dem Stadtmarketing sowie dem Tourismus dienen.

Der Traum von Alcantara

Die spektakulärsten Projekte sollen jedoch ausserhalb des historischen Zentrums entstehen. Namhafte Architekten wie Alvaro Siza, Norman Foster, Jean Nouvel und Renzo Piano zeichnen verantwortlich für die Bebauung brachliegender Gelände im Osten und im Westen des Stadtzentrums. Am weitesten fortgeschritten ist «Alcantara 21», ein 43 Hektaren grosses ehemaliges Industriegebiet, das zu einem Wohn- und Geschäftsviertel umgewandelt werden soll, wobei Nouvel für die Uferzone und Siza für das dahinter liegende Terrain zuständig ist. Die alten Fabriken sollen als Büros und Geschäfte genutzt und 600 Wohneinheiten sowie drei neue Metrostationen erstellt werden. Die Ausgangslage ist nicht einfach. Das Gelände liegt in nächster Nähe eines stark befahrenen Viaduktes und ist durch Bahnlinien vom Ufer getrennt. Der Zugang zum Fluss ist jedoch wichtig, da sich seit der Expo 98 entlang des Ufers eine attraktive Promenade mit Restaurants und Bars entwickelt hat. Siza hat sich aus diesem Grunde für grosszügig angelegte Fussgängerbrücken, mittels welcher die Gleise auf angenehme Art überquert werden können, entschieden sowie für drei Türme unterschiedlicher Höhe und Form. Die Türme - rund, rechteckig und trapezförmig - schirmen das Gelände von der Autobrücke ab und bilden gleichzeitig das Wahrzeichen Alcantaras. Da ihre Höhe die bisher gültigen Vereinbarungen übersteigt, ist aber die Realisation noch ungewiss. Als Zeitrahmen für die Verwirklichung aller Projekte werden die nächsten zehn Jahre angegeben, obschon kaum ein Projekt im Detail ausgearbeitet ist. Durch Schnelligkeit, Flexibilität, Ausnahmeregelungen und Sonderbewilligungen, Attribute moderner Stadtplanung, hat sich Lissabon allerdings bisher kaum ausgezeichnet. Zudem hat der Plan seine grösste Verfechterin, die alte Regierung, verloren. Noch ist offen, wie leidenschaftlich sich die Sozialisten für die städteplanerischen Visionen ihrer Vorgänger einsetzen werden.

11. Februar 2005 Neue Zürcher Zeitung

Architektur als Massstab der Demokratie

Zeitgenössisches Bauen in den arabischen Ländern

Folkloristischer Kitsch und Eklektizismus bestimmten lange Zeit die arabische Architektur. Doch mit wachsendem Demokratiebewusstsein und nicht zuletzt dank dem Aga Khan Award, einem der höchstdotierten Architekturpreise überhaupt, scheint sich zurzeit die Situation hin zu einem zunehmend kritischen Architekturdiskurs zu ändern.

Seit ihrer Eröffnung vor zwei Jahren ist die Bibliothek von Alexandria das Wahrzeichen der ägyptischen Hafenmetropole. Die aussergewöhnliche Form des monumentalen, zur Hälfte aus dem Boden ragenden, zur Hälfte darin verborgenen, schräg gelagerten Rundbaus dominiert die Küstenlinie. Schwere Granitplatten, in die, als seien es moderne Hieroglyphen, Buchstaben von unterschiedlichen Alphabeten gehauen sind, umhüllen das Gebäude. Das Innere besticht durch eine zeitgemässe Infrastruktur mit Leseraum, Planetarium, Cafeteria und Ausstellungsbereichen. Konzipiert und umgesetzt wurde die Bibliothek vom norwegischen Architekturbüro Snøhetta in Zusammenarbeit mit den Architekten der lokal tätigen Firma Hamza Associates.

Der Aga-Khan-Architekturpreis

Unlängst wurde nun die Bibliothek zusammen mit sechs weiteren Projekten mit dem Aga Khan Award for Architecture ausgezeichnet. Der mit insgesamt 500 000 Dollar weltweit höchstdotierte Architekturpreis wird seit 1977 alle drei Jahre von der in Genf ansässigen Aga Khan Foundation als Würdigung herausragender Architektur in islamischen Ländern vergeben. Die prämierten Projekte müssen dabei beispielhaft sein, lokale Ressourcen nutzen und auf die Bedürfnisse und Werte islamischer Gesellschaften eingehen. Das eigentliche Ziel des Preises aber ist es, das Verständnis für islamische Kultur und deren Verbreitung zu fördern. Denn Architektur ist nach Meinung von Suha Özkan, dem Generalsekretär des Aga Khan Award, bei weitem die wichtigste künstlerische Ausdrucksform islamischer Gesellschaften.

Dem positiven Einfluss dieses Preises ist es anzurechnen, dass das Wettbewerbswesen in den islamischen Ländern wichtiger geworden und ein kritischer Architekturdiskurs in Gang gekommen ist. Gerade für die arabische Welt mit ihren grossen demographischen und städtebaulichen Veränderungen ist dies wichtig. Zentren wie Damaskus, Kairo oder Marrakesch, einst Hochburgen architektonischen Raffinements, werden immer chaotischer. Die Altstädte verkümmern, während die Vorstädte sich wie hässliche Geschwüre ausbreiten, ohne Mass, Plan, Regel oder Stil. Ihre Architektur ist pragmatisch, billig, auf das Notwendigste ausgerichtet und erschreckend lieblos.

Die Golfstaaten hingegen, die als Inbegriff arabischer Superlative gelten, haben in wenigen Jahren Städte aus dem Nichts gebaut und sich dabei ganz auf westliches Know-how verlassen. Die Folge sind Häuser aus Glas, Stahl und Beton, teils gute Architektur, teils blosse Zurschaustellung des Reichtums, vielfach ohne Bezug zum kulturellen Erbe und zur Umgebung. Oft werden hier die von Tourismusbauten her bekannten islamisierenden Architekturelemente wie Türmchen oder Spitzbögen gesetzt, im Glauben, der Tradition zu huldigen. Dabei hat diese Bauweise nichts mit der komplexen islamischen Architekturlehre zu tun, die auf der Einheit von Licht und Raum basiert.

Vor dem Schritt in die Gegenwart

Wenn auch die arabische Architektur auf ein ausgesprochen reiches Erbe zurückblicken kann und damit einen, laut Özkan, besonderen Stellenwert innerhalb der islamischen Baukunst einnimmt, hat sie doch den Schritt in die Moderne noch nicht wirklich geschafft. Das zeigt sich bereits bei der jüngsten Verleihung des Aga Khan Award for Architecture. Aus dem arabischen Raum wurde als Neubau einzig die Bibliothek von Alexandria geehrt. Die weiteren prämierten Werke stammen aus anderen islamischen Ländern. Darunter befinden sich Neubauten - von einer Primarschule in Burkina Faso über eine türkische Privatvilla bis hin zu den Petronas-Türmen in Malaysia -, aber auch die Restaurierung der Al-Abbas-Moschee in Jemen und ein Programm zur Wiederbelebung der Altstadt von Jerusalem.

Zurückzuführen ist das mässige Abschneiden der arabischen Länder auf mehrere Faktoren. Eklektizistisch und unkritisch ging man jahrelang vor, und noch heute wird mehrheitlich ein Stil gepflegt, der eigentlich keiner ist und der kaum auf lokale Gegebenheiten eingeht. «Es fehlen Gesetze und Behörden, die Bauwesen und Stadtplanung regeln», erklärt die libanesische Architektin Maha Nasrallah. Die Ausbildung ist mangelhaft und basiert auf einer überholten Vorstellung vom Architekten. Darin verkörpert nicht der Muhandis mi'mari, der entwerferisch und kreativ arbeitende Architekt, das Ideal, sondern vielmehr der Banna', der als Baumeister tätige Architekt. Die grossen Auftraggeber betrauen daher meist ausländische Büros mit wichtigen Projekten, weil die einheimischen Architekten oft nicht über das nötige Können verfügen.

Seit einiger Zeit gibt es aber Anzeichen, welche die arabischen Architekturkritiker hoffen lassen. Es ist das Umfeld, das sich verändert und eine für das Bauwesen durchaus stimulierende Dynamik fördert. Politische Bewegungen, fortschreitende Demokratisierungsprozesse und ein stärkeres Selbstbewusstsein üben wichtige Einflüsse aus. «Architektur ist ein Massstab für die Liberalisierung und den Pluralismus in einem Land», sagt Reinhard Schulze, Islamwissenschafter an der Universität Bern, der - ebenso wie der Basler Jacques Herzog - Mitglied der Wettbewerbsjury war. Somit ist es nicht verwunderlich, dass sich gerade in Libanon die Baukunst dank Architekten wie George Arbid, Pierre Khoury oder Nabil Gholam durch Experimentierfreudigkeit auszeichnet. Ihnen und anderen, meist im Ausland ausgebildeten und oft auch dort lebenden arabischen Architekten wie Abdelwahed el-Wakil, Mohammed Makiya oder Elie Mouyal gelingt es, trotz Traditionsverbundenheit internationale Einflüsse aufzunehmen und daraus eine zeitgenössische arabische Formensprache zu entwickeln.

Spiel mit Fenstern und Türen

Schön lässt sich dies beim Salem-Haus von George Arbid verdeutlichen. Es handelt sich dabei um ein altes Gebäude, welches restauriert und erweitert wurde. Arbid baute einen Flügel an, der ähnlich hoch und breit wie der vorhandene Kubus, jedoch von diesem durch ein verglastes Atrium getrennt ist. Beide Mauerwerke sind aus Naturstein, doch der alte Teil besitzt eine roh behandelte Oberfläche, während die Fassade des Neubaus sandgestrahlt wurde. Ebenso raffiniert ist der Kontrast bei den Öffnungen. Das vorhandene Tor in der Form eines Spitzbogens trifft auf rechteckige, moderne Fenster im neuen Teil. Das Spiel mit Fenstern und Türen beherrscht auch el- Wakil. Für die Halawa-Residenz in Ägypten stützt er sich zwar auf vorhandene Muster, baut jedoch gleichzeitig neuartige Elemente ein, die modernen Lebensstilen und Bedürfnissen entsprechen. So ergänzen beispielsweise eine Loggia und ein Windfang den traditionellen Grundriss.

Derartige Lösungen sind selbstverständlich nur möglich, wenn sich Auftraggeber und Bauherr offen zeigen für Innovationen. «Eine neue Generation von jungen Auftraggebern, die ein viel besseres Verständnis für Architektur mitbringen, beginnt ihren Einfluss geltend zu machen», sagt Özkan. «Sie haben die Möglichkeit, die besten Architekten der Welt zu engagieren.» Norman Foster, Renzo Piano, Jean Nouvel und die gebürtige Irakerin Zaha Hadid, um nur einige zu nennen, waren oder sind in arabischen Ländern tätig. Kritische Stimme sprechen jedoch in diesem Zusammenhang bereits von einer neuen Form des Kolonialismus, die sich mittels Architektur ausdrückt. Auch das wohl aufsehenerregendste Projekt der arabischen Welt, das neue Ägyptische Museum bei Kairo, soll aufgrund eines internationalen Wettbewerbs von Ausländern, genauer dem irischen Büro Heneghan Peng, gebaut werden.

In Jordanien, Ägypten und - gemäss Mohamed Metalsi, einem Architekturfachmann am Institut du Monde Arabe in Paris - vor allem in Marokko gerät soziales und ökologisches Bauen zunehmend in den Fokus des öffentlichen Interesses. Vorbildliche Siedlungen werden realisiert, die auf intelligenten städtebaulichen und sozialen Planungen basieren und darauf zielen, der Armut und der religiösen Radikalisierung der arabischen Bevölkerung entgegenzuwirken oder der Landbevölkerung zeitgemässe Annehmlichkeiten wie Elektrizität und fliessendes Wasser zu bieten.

Die Weichen sind gestellt. Jetzt ist es an den Architekten und Auftraggebern, die neuen Entwicklungen zu nutzen und voranzutreiben. Das Wettbewerbswesen muss ausgebaut und vor allem in die Ausbildung muss investiert werden. Viele Fragen sind dabei offen. Von diesen steht eine im Zentrum: Wie lässt sich arabische Architektur auf heutige Lebensformen übertragen? «Es ist wichtig», betont Özkan, «dass die Vergangenheit nicht blind kopiert wird, sondern dass neue Wege gefunden werden.»