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Tanzen mit Mario Botta
An einen postmodernen Museumsbau anzubauen ist schwierig. Die norwegischen Architekten Snøhetta haben ein eigenständiges Volumen als Hintergrundkulisse erstellt, das im Innern mit dem Altbau verschmilzt.
Drei Jahre lang war das San Francisco Museum of Modern Art (SFMoMA) für die Erweiterung des Museums von Mario Botta geschlossen. Anlass der Expansion war das Versprechen von Donald Fisher, dem Gründer der Bekleidungskette Gap, 1500 seiner Kunstwerke dem Museum für 100 Jahre zu leihen. Zuvor hatte er 2007 erfolglos versucht, sein eigenes Museum in Presidio zu errichten.
Mit 16 000 m² bietet der Anbau nun dreimal mehr Ausstellungsfläche als das alte SFMoMA von Botta. Kostenpunkt: 305 Millionen Dollar (der Botta-Bau kostete 60 Millionen). Wichtige und bekannte Werke der Kunstgeschichte bilden die Blockbuster der Sammlung. So ist ein Stockwerk der deutschen Kunst von Richter, Polke, Kiefer, Gursky und Ruff gewidmet. Weitere 3000 Werke von Privatsammlern wurden in einer beispielhaften Kampagne als Geschenke oder Dauerleihgaben akquiriert. Nach einem internationalen Wettbewerb und einer zweijährigen Planungsphase wurden die norwegischen Architekten Snøhetta 2010 ausgewählt, um den Anbau auszuführen (weitere Finalisten: Adjaye Associates, Diller Scofidio Renfro und Foster Partners).
Erweiterung als Herausforderung
Anbauen an den Bestand ist besonders im engen Stadtgefüge von San Francisco eine Herausforderung. Als Bauplatz stand nur die Rückseite des Museums zur Verfügung – ein Parkplatz mit Feuerwehrzufahrt. Zu den Rahmenbedingungen für die norwegischen Architekten gehörten die Aufgabe, die Museumsfläche in einer wenig attraktiven Lage zu verdreifachen und das Museum besser in die Stadt und Öffentlichkeit zu integrieren, sowie die Frage, wie ein solch ikonischer postmoderner Bau überhaupt erweitert werden kann. Durch den neuen Eingang an der Seite und den Skulpturengarten im 2. Geschoss vor einer «Living Wall», einer mit 19442 (zu 40 % einheimischen) Pflanzen bestückten grünen Wand setzt sich die Architektur deutlich als eigenständiges Bauwerk ab.
Der Neubau orientiert sich mit seinen Öffnungen und der Terrasse im 7. Geschoss vor allem zur anderen, also entgegengesetzten Seite der Stadt hin. Er steht sozusagen Rücken an Rücken mit Mario Bottas Bau. Damit schaffen die Architekten lichtdurchflutete Treppenräume, die an Felsschluchten erinnern, weil sie sich nach oben immer weiter verjüngen, und drei Stockwerke mit administrativen Räumen, die zu beiden Seiten Fensterbänder haben.
Das Museum ist von zwei Seiten im Erdgeschoss öffentlich zugänglich. Auf der Seite des Snøhetta-Gebäudes befindet sich die Skulptur «Sequence» von Richard Serra, die man von Treppen aus Ahornholz aus überblicken kann. Auf der anderen Seite wurde im Botta-Gebäude das rotundenartige, dunkle und enge Treppenhaus entfernt und durch eine neue, ebenfalls skulpturale, aber offene Treppe ersetzt – nur die vier Säulen blieben als Reminiszenz übrig. Im ersten Stock treffen sich die beiden Häuser im Foyer des Museums. Aufzüge, im Neubau auch Treppen, führen in die sechs Ausstellungsgeschosse hinauf.
In den kleinen Studienmodellen wird deutlich, wie sich die Architekten um eine Positionierung zu Mario Botta bemühen. Craig Dykers von Snøhetta fasst es folgendermassen zusammen: «Beim Tanzen wollen Sie Ihren Partner nicht kopieren, Sie möchten ihn ergänzen, damit Sie sich nicht auf die Füsse treten.»[1] Was von aussen als zwei komplett getrennte Baukörper erscheint, die Rücken an Rücken aneinanderlehnen, wird im Innern vollkommen verzahnt und miteinander verschmolzen. Mit der Architekturtheoretikerin Sylvia Lavin gesprochen, die jüngst eine Theorie des «Kissing»[2] entwickelt hat, könnte die innere Verschmelzung den Kuss der ansonsten individuellen Charaktere verkörpern – denn es ist mehr als der blosse Tanz mit Mario Botta.
Wo der Alt- und wo der Neubau anfängt und aufhört, bemerkt man im Innern oftmals kaum, so gekonnt wurden die Materialien, Farben und Räume aufeinander abgestimmt. Das neue Gebäude ist mit einem Spalt vom alten Gebäude abgesetzt, was im 3. Obergeschoss durch ein kleines Fenster sichtbar und im Boden auf jedem Stock durch zwei Metallleisten gekennzeichnet ist. Dies war wegen der Erdbebensicherheit notwendig, damit sich die Gebäudeteile hin- und herbewegen können. Im Ernstfall klappen die Bodenplanken nach oben und öffnen den Spalt.
Mario Botta selbst ist der Meinung, die Architekten hätten seinen Bau nicht gewürdigt: «Das Gebäude, wie ich es entworfen habe, mass sich mit dem Himmel oder mit der Spitze des 30er-Jahre-Wolkenkratzers, der dahinter aufragt. Die Erweiterung jetzt wirkt wie eine stumme Wand, wie eine aufgeblähte Garderobe.»[3] Tatsächlich gehen die Meinungen der Kritiker weit auseinander, ob hier eine geeignete Anfügung geglückt ist oder ob man Snøhetta nicht besser eine Tabula rasa überlassen hätte, um einen Neuanfang zu wagen. Gerade die Zurücknahme des Neubaus wird oftmals als störend empfunden. Ausserdem wird der Verlust der boxartigen Innentreppe von Botta bemängelt. Wegen der grossen Anzahl Besucher (1.2 Millionen pro Jahr) war jedoch eine bessere Zirkulation durch das Haus notwendig, was mit dem alten Treppenhaus nicht möglich war.
Ausgeklügelte Lichtführung
Eine Gemeinsamkeit der beiden Architekturen ist die spezielle Behandlung des Lichts. Die Galerien im Neubau, von denen die ersten drei allein den 260 ausgestellten Werken der Doris und Donald Fisher Collection gewidmet sind, werden von einem ausgeklügelten künstlichen Lichtsystem erhellt. Es wirft keine Schatten und erzeugt ein angenehmes Licht, das man nicht wahrnimmt und das die Kunstwerke in ihrer Wirkung unterstützt. Alle technischen Details wie Feuermelder, Sprinklersystem und Klimaanlage wurden versteckt.
Die verschiedenen Sammlungen auf den Stockwerken erhalten ihre eigene Deckenausprägung. Die Decken in den ersten drei Etagen haben eine gewölbte Struktur, während sie in den beiden folgenden Geschossen flach sind. Im 7. Stockwerk mit der zeitgenössischen Kunst sind die technischen und konstruktiven Details an der Decke sichtbar. Durch die enge Zusammenarbeit mit den Kuratoren wurden klare, unaufgeregte Räume im Dienst der Kunst entwickelt, die bis auf eine Wand im Zentrum des Neubaus alle flexibel wandelbar sind.
Naturphänomene als Inspiration
Schon in ihrem ersten international aufsehenerregenden Gebäude, dem Opernhaus in Oslo, versinnbildlichen Snøhetta einen Eisberg im Wasser. Theatralisch erhebt sich die Architektur über der Bucht. Damit der zehnstöckige Gebäudeblock des SFMoMA nicht nur als dienendes Bauwerk hinter jenem von Mario Botta steht und völlig unspektakulär verschwindet, haben sich die Architekten auch hier eine wirkungsvolle Fassade ausgedacht, die dem Bau seine eigene Identität verleiht. Die unregelmässig wirkende Faltung besteht aus über 700 unterschiedlichen, aus Fiberglas verstärkten, weniger als einen Zentimeter starken Polymerpaneelen (FRP), die das Museum als Curtain Wall umschliessen.
Je nach Lichteinfall scheinen sich ihre gefalteten horizontalen Bänder durch die jeweils andersartigen Licht- und Schattenwürfe zu verschieben. Durch die Beimischung von Sand aus der Monterey Bay im Süden von San Francisco wirkt die Fassade auch manchmal wie eine glitzernde Oberfläche. Die Vorlage für die klippenartige Fassadenformation hätten sie, so Architekt Craig Dykers, vor Ort von den aufziehenden Nebelwänden in San Francisco bekommen. Aber auch die spiegelnde Wasseroberfläche der Meeresbucht findet sich wieder. Die Natur oder der Nebel als Hintergrundkulisse zu Botta erzeugt, transferiert und abstrahiert Gefühle beim Betrachter. Man schaudert nicht vor dem Gebäude, empfindet es aber auch nicht als schön. Diese Ambivalenz macht die Qualität des Neubaus aus.
Anmerkungen:
[01] «You don’t want to copy your dance partner, you want to be complimentary to it so you don’t step on each other’s toes.» Craig Dykers von Snøhetta im Interview mit Dan Howarth, Dezeen 02.05.2015 (Übersetzung: Christof Rostert).
[02] Sylvia Lavin: Kissing Architecture, Princeton University Press, 2011.
[03] «The building, as I conceived it, compared itself either with the sky or with the top of the skyscraper dating back to the 1930s at its back. Now the expansion looks like a mute wall, an enlarged wardrobe.» Mario Botta in: Jenna McKnight «Postmodern architecture: San Francisco Museum of Modern Art by Mario Botta», Dezeen 10.08.2015 (Übersetzung: Christof Rostert).
Schleier und Gewölbe
Der Kunstmäzen Eli Broad hat sich von Diller Scofidio + Renfro neben die glänzende Walt Disney Concert Hall in Downtown Los Angeles eine Schatztruhe bauen lassen. Seine Sammlung umfasst rund 2000 Werke der Nachkriegskunst und der zeitgenössischen Kunst.
Das Zentrum von Los Angeles an der Grand Avenue ist seit über fünf Jahrzehnten im Werden begriffen. Mitte der 1950er-Jahre wurde der Gebäudebestand des ehemals bürgerlichen Viertels Bunker Hill dem Erdboden gleichgemacht. In den 1980er-Jahren entstanden hier planlos nebeneinander Hochhäuser und Apartmentblöcke. Doch seit dem Bau des Museum of Contemporary Art (MOCA, vgl. TEC21 11/2009) wandelt sich Bunker Hill zu einer Kulturmeile.
An all den neuen Kulturbauten – Walt Disney Concert Hall 2003, Cathedral of Our Lady of the Angels 2002, Ramon C. Cortines School of Visual and Performing Arts 2002 etc. – war der Immobilienmogul, Mäzen und Kunstsammler Eli Broad beteiligt. Um seine Person und Sammlung ranken sich Gerichtsprozesse und illustre Geschichten. Hat er doch in den letzten Jahren erst das MOCA finanziell vor dem Bankrott gerettet, nur um nun – als direkte Konkurrenz zu diesem – auf der gegenüberliegenden Seite sein eigenes Museum zu bauen. Wie es gelingen kann, dass sich das Gebäude von seinen Nachbarn absetzt und sich gleichzeitig in die von ihm mitgeprägte Kulturmeile einpasst, war eine der Aufgabenstellungen an die fünf Architekten, die Broad 2010 zum Wettbewerb eingeladen hatte. 2011 beauftragte er die New Yorker Architekten Diller Scofidio Renfro mit dem Projekt und gab ihnen damit den Vorrang vor Rem Koolhaas, Herzog & de Meuron, Christian de Potzamparc und SANAA.
Zur Stadt hin ein Schleier
Von aussen erscheint das Gebäude fast banal, wie eine der vielen Parkgaragen in Los Angeles: Es ist eine einfache Box mit perforierter Hülle. An zwei Ecken ist sie aufgeschnitten, um Raum für die Eingänge zu schaffen. 2500 Stahlbetonpaneele bilden die Waben der Hülle, die das dreigeschossige Gebäude auf allen Seiten umgibt. Gehalten werden sie von einem 650 t schweren Stahlgerüst.[1] Ohne visuellen Abschluss zum Dach und zu den Ecken wirkt die Fassade wie ein abgeschnittener bzw. das Gebäude unendlich umhüllender Stoff (Abb. unten).
Die Fassade erinnert an das 1964 erstellte American Cement Building am Wilshire Boulevard oder auch an andere spätmodernistische Experimente von Le Corbusier mit Betonfassadenelementen. Vor allem aber setzt sie einen klaren Kontrapunkt zu der silbrig glänzenden, skulpturalen Konzerthalle von Frank Gehry daneben. Es ist ein matter Kubus mit einer auf halber Höhe der Hauptfassade dezentrierten Einbuchtung – dem als Okulus bezeichneten Fensterauge (Abbildung und Grundriss).
Fenster in Anführungszeichen
Die Erwartung, die der Anblick der Fassade weckt – wie wird es hinter dem Auge beziehungsweise der eingedrückten Wand aussehen? –, führt zum eigentlichen Konzept des Museums: Der Besucher ist gleichzeitig Teilnehmer und Beobachter, Sehender und Gesehener. Es ist eine Erwartung, die grundsätzlich bei einer Verhüllung entsteht – man denke hier auch an Christo und Jeanne-Claude –, von aussen verborgen und von innen dann entzaubert.
Die norwegische Schriftstellerin und Kritikerin Victoria Bugge Øye hat diesen Okulus und die vielen kleinen schiessschartenartigen Fenster hinter der Honigwabenstruktur als «Fenster in Anführungszeichen» verstanden. Ihrer Ansicht nach stehen die transparenten Öffnungen für mehr als nur für ein Fenster. Enttäuscht steht man dann aber im Konferenzraum und sieht den Okulus von innen: eine einfache eingebuchtete Fassade. Auch die kleinen Fenster an zwei Seiten der Fassade dienen lediglich der Orientierung zum MOCA und zur Walt Disney Concert Hall, ohne einen Ausblick zu bieten.
Vom Dunkel ins Licht
Hinter dem Schleier der Museumslobby herrscht eine andere Atmosphäre. Der Vorhang zeigt sich selbstbewusst als eigenständiges Gebilde und setzt sich von der dahinter liegenden Glasfassade ab. Es entsteht ein schmaler Gang im Aussenraum. Dunkle, höhlenartig gewölbte Betonwände führen zum kleineren Ausstellungsbereich (mit 1300 m²) für zeitgenössische Kunst. Ein Tunnel mit einer schmalen, 32 m langen Rolltreppe führt durch eine kleine, lichtdurchflutete Öffnung ins 2. Obergeschoss. Der fast 4000 m² grosse stützenfreie Raum mit seinen 7 m hohen Decken, in dem flexible Ausstellungswände in einem 3 × 3-Meter-Raster beliebig installiert werden können, wird über 318 nördlich orientierte Oberlichter einheitlich mit Tageslicht beleuchtet (Abbildung).
Obwohl die Oberlichter den Waben der Aussenfassade ähnlich sind, erinnert der Gesamteindruck der Räume an das Eli Broad Museum des Los Angeles County Museum (LACMA), das Renzo Piano vor knapp sieben Jahren für dieselbe Sammlung fertiggestellt hat und bei der ebenfalls eine Rolltreppe ins Obergeschoss führt. Bei Diller Scofidio Renfro, die mit der lokalen Firma Gensler kooperierten, wird allerdings im Gegensatz dazu die Ankunft theatralisch inszeniert. Ein gläserner runder Aufzug, ebenso wie die Rolltreppe, lässt die Besucher im Zentrum des Ausstellungsraums wie aus dem Nichts auftauchen, sie scheinen sich inmitten eines Theaterstücks wiederzufinden. Auch hier geht es um das Sehen und Gesehenwerden.
Archiv als Schatzkammer
Das Konzept des Museums wird von den Architekten als «veil» (Schleier) und «vault» (Gewölbe/Tresor) umschrieben. Für die unzähligen nicht sichtbaren Werke der Sammlung wurde im mittleren Geschoss ein Depot – konzeptionell die Gewölbekammer – als Herzstück des Museums geschaffen. Diese Kammer kann der Besucher beim Verlassen des Obergeschosses über die Treppe durch zwei Fenster bestaunen. Es ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Sammlung, der ordentlich an Hängewänden des Depots aufgereiht ist. Die Decke der Eingangshalle bildet die Basis für die Tresorkammer. Auf diesen Eingeweiden im 1. Obergeschoss, dem Depot, der Administration und den Konferenzräumen, basiert das Museum. Denn die Schätze können nur teilweise in den Ausstellungsräumen betrachtet werden; dass noch viel mehr vorhanden ist, lässt das schnelle Erhaschen der Depotreihen erahnen.
Es ist eine neue Variante eines Schaulagers, wie es in Basel bereits 2003 von Maja Oeri und Herzog & de Meuron angedacht wurde. Während dort die Schätze nur den ausgewählten Kunstkennern zugänglich sind und in ihrer musealen Präsentationsform aufbewahrt werden, scheint Broad einen etwas anderen Weg gegangen zu sein. Sein Museum ist ein öffentliches Haus, das ohne Eintritt besucht werden kann, das aber durch seine Architektur der Verhüllung und der Einblicke in die archivarische Sammlung neugierig auf die Schätze in ihrer Gesamtheit macht. Damit animiert es auch zum erneuten Besuch. Während bei Herzog & de Meuron die Lagerung im Lehmbau demonstriert wird, ist es bei Diller Scofido Renfro das Schauen-Wollen und Eingeschränkt-Schauen-Lassen, das die Sammlung zum Objekt der Begierde macht.
Anmerkung:
[01] Ein Rechtsstreit mit der Ingenieurfirma Seele Inc., die für die Fertigstellung und Installation der wabenförmigen Paneele zuständig war, verzögerte den Eröffnungstermin um ein Jahr.
«Zwei selbstbewusste Menschen»
Jeder ein Ausdruck seiner Zeit: Obwohl Peter Neufert dieselbe Laufbahn einschlug wie sein Vater Ernst, stand er nicht in dessen Schatten. Was die beiden Architekten charakterisiert, verdeutlicht ein Gespräch mit Peter Neuferts Frau Marys und seiner Tochter Nicole Delmes.
Lilian Pfaff: Wie kam es zur Gründung des gemeinsamen Büros von Ernst Neufert und seinem Sohn Peter? Es bestand von 1953 bis 1955 – war das eine sogenannte Starthilfe des Vaters für den Sohn?
Marys Neufert: Das kann man so sagen.
Nicole Delmes: Es gibt Tagebücher von meinem Grossvater aus der Zeit, als er noch Peter in Darmstadt unterrichtet hat. Dort steht, dass Peter ein wilder Kerl gewesen sei, nur Flausen im Kopf hatte und nach Amerika wollte. Das heisst, Ernst Neufert wusste, wo es langging. Ich kann mir vorstellen, dass er ihn schützen oder ihm ins Leben helfen wollte.
Johannes Kister: Amerika war für beide wichtig.
Neufert: Das muss man aus der Zeit heraus verstehen. Damals nach Amerika zu gehen, direkt nach der Uni, war ein Abenteuer. Peter wollte etwas Eigenes auf die Beine stellen. Es war aber zehn Jahre nach Kriegsende, das darf man nicht vergessen. Man hatte von Amerika viel gehört, aber davon, was es bedeutete, dort als Architekt ein Büro aufzumachen, wusste man nicht viel. Ernst Neufert ist unter anderen Umständen nach Amerika gegangen. F. L. Wright hatte ihn nach Taliesin East in sein Haus eingeladen.
Kister: Man könnte sich vorstellen, dass Ernst Neufert seinen Sohn ermutigt hätte, nach Amerika zu gehen, denn für ihn selbst waren die amerikanischen Architekten eine wichtige Referenz. Aber es hört sich eher so an, dass er hierbleiben sollte, um zu lernen, was ein richtiger Architekt ist.
Delmes: Es ist erstaunlich, denn Peter hätte sich in Amerika mit seiner Architektur ausleben können, mit den besten Referenzen durch seinen Vater. Ernst war wohl froh, dass sein Sohn nicht nach Amerika ging. Denn er selber wollte sich 1936 auf den Weg in die Staaten machen, als die «Bauentwurfslehre» ein so grosser Erfolg wurde. Das kann aber auch eine Geschichte sein, die er selbst erzählt hat, um seinen Entschluss hierzubleiben zu rechtfertigen.
Pfaff: Haben sich Vater und Sohn über ihre Architektur ausgetauscht?
Neufert: Architekten schauen sich Projekte der anderen an. Sie haben gegenseitig ihre Bauten gesehen, aber nicht alle. Beim Haus X1 hat sich Ernst Neufert immer mal wieder in den Garten gestellt und gesagt, o. k., so kann man das auch machen … so eine Aussage seinerseits bedeutete viel.
Pfaff: Es gibt deutliche Differenzen in der architektonischen Auffassung.
Neufert: Das Selbstbewusstsein von Ernst Neufert hat das gut verkraftet. Peter hatte sich schon immer von seinem alten Herrn abgegrenzt, sobald er aus Darmstadt weggegangen war, war die Distanz hergestellt. Deswegen ist er auch als erste Abnabelung vom Vater ins Büro Peter Friedrich Schneider in Köln gegangen.
Kister: Woran würden Sie das noch festmachen?
Neufert: Ich glaube nicht, dass er es anders machen wollte. Er hatte seine Ideen, die er durchsetzte – aber nicht gegen den Vater, das lag ihm nicht. Er konnte auch zahlreiche Einfamilienhäuser realisieren, so wie er gern wollte. Da brauchte es keinen Kampf mit dem Vater, der eigentlich auch keine Kämpfernatur war. Sie waren eigenständige, selbstbewusste Menschen.
Pfaff: Peter Neufert wurde als Fliegerarchitekt bezeichnet, der über seine Baustellen fliegt, und als jemand, der sich in öffentliche Diskussionen einschaltete.
Neufert: Das ist etwas übertrieben. Das mit dem Flieger macht natürlich eine schöne Überschrift in der Zeitung, dass die Bauherren alles aus der Luft serviert bekommen, aber es war ein winziges Flugzeug, und nirgendwo steht, dass Ernst Neufert auch schon geflogen ist.
Pfaff: Peter feierte gern Feste. Wer war eingeladen?
Neufert: Das war unterschiedlich. Es gab Cocktails nur für Bauherren, die zusammenpassen mussten, denn man konnte sie nicht willkürlich mischen. Es war immer viel los, alle zwei Wochen gab es eine Cocktailparty. Und dann gab es Feste mit einem Motto und Dekoration, zu denen man kostümiert kam.
Kister: Ernst Neufert war vom Bauhaus-Gedanken beeinflusst, bei dem die Technik als Teil der sozialen Verantwortung galt. War das bei seinem Sohn auch Teil der Zukunftsvision? Die Faszination des Bewegens scheint für ihn wichtig gewesen zu sein.
Neufert: Viele der Materialien, die dies ermöglichten, wurden damals erst erfunden oder erstmals im Bauwesen eingesetzt, wie z. B. Kunststoff. Er hat sich dafür interessiert und damit experimentiert. Aber ganze Wände aus Kunststoff gab es noch nicht, das war alles in den Anfangsstadien.
Delmes: Wie die Verkleidung einer ganzen Fassade durch den Künstler Otto Piene an der Wormland-Fassade in der Hohen Strasse in Köln (Abb. S. 22).
Pfaff: Wie kam es dazu?
Neufert: Peter hatte ihn über die Künstlerin Mary Bauermeister kennengelernt. Und als Piene anmerkte, dass man seine Kunst auch als Fassade machen könnte, hat Peter ihn mit dem Bauherrn bekannt gemacht. Das Kunstwerk war mehr als nur eine Fassade, es war kinetisch – es drehte sich und war beleuchtet.
Kister: Wäre Peter gern Künstler geworden?
Delmes: Nein, er war mehr am Austausch interessiert und wie weit man die Dinge noch ausreizen könne, als dass er sich allein damit im Atelier beschäftigen wollte. Es gab die Ausstellung «Der Geist der Zeit» in unserem Haus mit verschiedenen Künstlern, wie Arman, Max Bill, Heinz Mack, Almir Mavignier, Arnulf Rainer, Dieter Rot, Daniel Spoerri und anderen.
Neufert: Ich erinnere mich, Mary Bauermeister hat die Ausstellung kuratiert, und sie kannte all die Künstler. Sie wohnte in der Lintgasse, in einem Wohnhaus, das Peter entworfen hatte. Da man nicht sicher war, ob die Decke im Obergeschoss statisch trägt, haben wir angeboten, die Ausstellung bei uns zu machen. Moderne Kunst war noch gewöhnungsbedürftig. Otto Piene war gefragt worden, was denn moderne Kunst sei. Er setzte sich an der Eröffnung zehn Minuten hin und sagte gar nichts. Danach meinte er: Sehen Sie, was Sie jetzt gedacht haben, das ist moderne Kunst.
Pfaff: Peters eigenes Haus X1 ist ein Paradebeispiel für seine künstlerische architektonische Haltung. Die Fassade erinnert an Malewitschs Kuben oder eine dreidimensionale Umsetzung eines Vasarely-Bilds.
Neufert: Hinten den einzelnen Kästen verbergen sich Schränke, Heizungen, Lüftungen und Mülleimer. Alles funktionale Einheiten, die sich an der Fassade als Ausstülpungen ablesen lassen.
Kister: Peter scheint einen persönlichen Zugang zu den Projekten gehabt zu haben, ohne theoretischen Überbau.
Delmes: Mein Vater war nicht jemand, der ein Werk schaffen oder eine künstlerische Handschrift etablieren wollte. Er interessierte sich für das Projekt, und wenn es gebaut war, war es nicht mehr der Rede wert, sondern es musste etwas Neues kommen. Ich kann mich erinnern, wie er sich jahrelang aufgerieben hat für das Palmenhaus. Er hatte die Idee, Wohnen und Geschäfte in einem Mini-Gesellschaftskonzept zu vereinen. Das wurde nicht genehmigt wegen eines Stockwerks. Für diese Idee hat er jeden Meter gekämpft und dann aufgeben müssen. Es wurde so verkleinert, dass der Bau keine Kraft mehr ausstrahlte. Unter dieser Beschränkung hat er sehr gelitten.
[Interview von Lilian Pfaff, Korrespondentin TEC21, und Johannes Kister, Professor an der Hochschule Dessau am Bauhaus, der die Bauentwurfslehre für die Neufert-Stiftung aktualisiert, mit Peter Neuferts Frau Marys Neufert, und Tochter Nicole Delmes am 2. August 2013 im Haus X1 in Köln.]
Digitale Fabrikation für Hochhäuser
Mit Robotern ganze Bauwerke zu entwerfen und zu bauen ist bisher nur in verkleinertem Massstab möglich. Dennoch denken die beiden Schweizer Architekten Fabio Gramazio und Matthias Kohler an ihrem ETH-Lehrstuhl für Architektur und Digitale Fabrikation über zukünftige Entwurfsmethoden und Konstruktionsweisen für Hochhäuser nach. Als Übungsfeld dienen konkrete Bauaufgaben in Singapur.
Seit über einem Jahr betreiben die ETH-Professoren Fabio Gramazio und Matthias Kohler als Beitrag zum Future Cities Laboratory FCL in Singapur (vgl. Kasten) auf einer Fläche von 200 m² drei Roboteranlagen. Ihr Ziel ist, roboterunterstützte Prozesse in der Architektur zu untersuchen und konkrete Szenarien für grossmassstäbliche Anwendungen beim Entwurf und bei der Konstruktion von Hochhäusern zu entwickeln. Im Labor an der ETH Zürich wiederum liegt das Schwergewicht auf räumlichen Aggregationen und materialspezifischen Bauprozessen sowie auf deren Anwendung im baulichen Massstab. Die Anlage besteht aus Roboterarmen mit knapp einem Meter Reichweite, wie sie in der Verarbeitungsindustrie verwendet werden. Diese sind an vertikale Linearachsen montiert und ermöglichen so den Bau von bis zu 3 m hohen Architekturmodellen im Massstab 1:50. Das Team setzt sich aus sechs Forschenden und den beiden Professoren zusammen, die jeweils für Langzeitaufenthalte von mehreren Monaten nach Singapur reisen. Sie bilden in zweisemestrigen Design Research Studios auch Masterstudierende der Architektur aus, die sowohl von der ETH Zürich als auch von der National University of Singapore NUS kommen. Die Aufgabe besteht darin, im Modell Hochhäuser für reelle Situationen zu entwickeln. Durch den für den Einsatz des Roboters in der Architektur ungewohnten Massstab sollen neue Entwurfsstrategien gewonnen werden, auch wenn die Realisierung bisher nur im Modell möglich ist.
Die Übertragbarkeit der Strategien in die Realität und die Skalierbarkeit stehen daher im Zentrum des Forschungsinteresses. (Eine der Schwierigkeiten ist die Diskrepanz zwischen der hohen Präzision eines Industrieroboters und den am Bau geltenden Toleranzen.) Bisher sind die meisten Versuche, Roboter im Bauwesen einzusetzen, im Bereich kleinmassstäblicher Anwendungen – etwa das Herstellen einzelner Bauteile oder einzelner konstruktiver Elemente wie Wände oder Stützen – geblieben oder in der Realisierung gescheitert. Frühere Ansätze – in den 1990er-Jahren zum Beispiel die Mechanisierung des Mauerwerkbaus und die Automatisierung des Hochhausbaus – sahen eine vollständige Automatisierung und Standardisierung der unterschiedlichen Bauprozesse mit hochspezialisierten Maschinen vor. Für die Ausführung solcher rein repetitiver Prozesse sind Industrieroboter jedoch ungeeignet und zu teuer – gar überqualifiziert, so die Meinung der Architekten –, und ihr Potenzial zu baulicher Variation und typologischer Differenzierung wird in den meisten Fällen noch immer verschenkt. Es gilt, die diversen Anforderungen eines Bauwerks, Nutzers oder Bauplatzes zu berücksichtigen und in den baulichen Fabrikationsprozess einzubringen. Dazu muss man bestehende Verfahrensweisen überwinden und über leistungsfähige, für das Bauen massgeschneiderte digitale Entwurfs- und Fabrikationsprozesse nachdenken.
Neues Werkzeug, neue Entwurfsmethode
Das Interesse von Gramazio und Kohler an den Robotern liegt vor allem darin, eine neue, konstruktive Interpretation des digitalen Zeitalters in der Architektur zu entwickeln. Schon immer haben neue Materialien und Konstruktionsprozesse zu Veränderungen in der Entwurfsmethode, in der Ausführung und im Ausdruck der Architektur geführt. Wenn nun beispielsweise Bauten ohne zusätzliche Einmessung, Gerüste oder gar Kräne erstellt werden können, wird das räumliche, zeitliche und konstruktive Konsequenzen haben.
Neue Entwurfs- und Fabrikationsmethoden mit Robotern am Beispiel Hochhausbau zu untersuchen macht insofern Sinn, als in asiatischen Metropolen zurzeit sehr viele Hochhäuser gebaut werden. In weiten Teilen Südostasiens haben sich Hochhäuser im sozialen Wohnungsbau als meistverbreitete Bautypologie durchgesetzt. In Singapur etwa leben mehr als 80 % der Bevölkerung in den über eine Million Wohnungen, die die Wohnbaubehörde Housing Development Board (HDB) seit ihrer Gründung im Jahr 1961 errichtet hat – hauptsächlich in Hochhäusern. Diese sind jedoch sowohl architektonisch als auch in der Bauausführung aus jenen ökonomischen Bedingungen heraus gedacht, die sich aus herkömmlichen Bautechniken ergeben. In der Forschung am Future Cities Laboratory dagegen dienen neue, durch Roboter entwickelte Konzepte und differenzierte bauliche Prozesse als Ausgangslage. Man könnte noch weiter gehen und den Entwurf eines Hochhauses rein von dessen Aufbaulogik her denken, sodass die eigentliche Tektonik zum zentralen Entwurfswerkzeug wird. Diese Auffassung ist seit jeher ein massgeblicher Bestandteil der Architektur, doch die Umsetzung mit dem vielseitigen Werkzeug Roboter ermöglicht eine bisher ungeahnte bauliche und konstruktive Differenzierung.
Digitale Methoden für Entwurf und Fabrikation
So wollen die Architekten neue Typologien mit starker Nutzungsdurchmischung und diversifizierten räumlichen Qualitäten entwickeln, um Lösungen für individuell unterschiedliche Bedürfnisse anbieten zu können. Dabei setzen sie konsequent auf neue Entwurfstechnologien und konzipieren die Projekte von Beginn an bis zur ihrer Umsetzung mit digitalen Methoden. Die Arbeit am Computer erfolgt mit der weitverbreiteten CAD-Software McNeel Rhinoceros zur dreidimensionalen Modellierung von Objekten und darin eingebetteten, eigens entwickelten Programmkomponenten, um die Entwurfsdaten nahtlos zur Ansteuerung der Roboter verwenden zu können. Durch die digitale Verknüpfung von Entwurf und Fabrikation, von Programmierung und Konstruktion, können die Projekte in unterschiedlichen Sequenzen entwickelt werden. Dies ist möglich, weil der Planungsprozess am Computer nicht unbedingt von vornherein bis zum Ende definiert ist, sondern laufend entworfen und umgesetzt werden kann. Im Studio erfolgt die Umsetzung daher stets in Modellen, die von Robotern fabriziert werden. Dies führt zu einer intensiven Auseinandersetzung mit konstruktiven Systemen und unterschiedlichen Materialformen, die unter rein digitalen Bedingungen am Computerbildschirm nicht möglich wäre. Modelle werden im Massstab 1:50 gebaut und stellen etwa 30- bis maximal 50-geschossige Bauten dar. Die Ergebnisse sind an der gebauten Realität und dem Massstab 1:1 orientiert, damit sich das zukünftige Bauen möglichst praxisnah an ihnen erforschen lässt.
Die Villa als Sammelobjekt
Juwelen mit Mängeln – neue Hoffnung für Kaliforniens bedrohte Architektur-Ikonen
Kalifornien besitzt ein reiches, aber bedrohtes Erbe an Privathäusern grosser Architekten aus den Nachkriegsjahrzehnten. Nun interessieren sich aber immer mehr Sammler für diese Kulturdenkmäler.
Vor Jahren noch beklagten Architekturliebhaber, die den Villen berühmter Baukünstler in Kalifornien nachreisten, immer wieder den schlechten Zustand dieser Kulturdenkmäler. Doch nun scheint sich das Blatt zu wenden. An den Bauten von Richard Neutra lässt sich die wachsende Wertschätzung, welche den architektonischen Meisterwerken entgegengebracht wird, besonders gut ablesen. Vor sechs Jahren wurde das 1962 von Neutra errichtete Maslon House für stolze 2,45 Millionen Dollar verkauft – und wenig später abgerissen, denn die Käufer waren nur am Grundstück interessiert. Noch nicht zerstört ist glücklicherweise das 1950 erbaute Neutra Office am Glendale Boulevard. Doch steht es seit über fünf Jahren für 3,5 Millionen Dollar zum Verkauf; und dabei leidet seine Bausubstanz.
Nicht für die Ewigkeit gedacht
Schlecht ist auch der Zustand des ehemaligen Wohnhauses von Neutra, des VDL-Research House II (1966), welches Neutra der Architekturfakultät in Pomona vermachte. Die Kosten für die dringend anstehende Renovation werden auf 2 Millionen Dollar geschätzt, weshalb die Fakultät jüngst ihr Interesse an einem Verkauf bekundet hat. In diesem Umfeld überrascht deshalb im ersten Augenblick die Ankündigung, dass das legendäre, 1946 vollendete Kaufmann-Haus von Neutra in Palm Springs von Christie's im Rahmen der Auktion für zeitgenössische Kunst am 13. Mai für 15 bis 25 Millionen Dollar versteigert werden soll.
Dass die aus den Nachkriegsjahrzehnten stammenden Häuser berühmter amerikanischer Architekten mitunter nur schwer zu verkaufen sind, liegt an dem aus heutiger Sicht mangelnden Komfort, an den relativ geringen Wohnflächen und am oft schlechten Zustand. Auch wenn einige Neutra-Häuser wie Stahlbauten anmuten, bestehen ihre Rahmenkonstruktionen meist nur aus silbrig gestrichenem Holz. Diese müssen ebenso gepflegt werden wie die Wasserbecken, die als «Reflecting Pools» den Aussenraum in den Innenraum spiegeln. Weiter weiss man gerade in Kalifornien die Bedeutung historischer Bausubstanz noch nicht richtig zu würdigen. Denn hier sind die immer wieder von Erdbeben und Feuersbrünsten bedrohten Bauten meist nicht für die Ewigkeit gedacht. Oft werden sie nach kurzer Zeit schon abgerissen und durch neue Häuser ersetzt. Zwar gibt es in der südkalifornischen Metropole eine Kommission mit dem Namen Cultural Heritage of the City of Los Angeles, die bei gefährdeten Häusern, welche zur Kategorie der «kulturhistorischen Monumente» zählen, einen 180-tägigen Abriss-Stopp bewirken und diesen nochmals um 180 Tage verlängern kann. Eine Zerstörung kann sie aber nicht verhindern. Dazu müsste auf einer höheren Stufe der National Trust of Cultural Heritage eingreifen.
Zu all dem kommt hinzu, dass die Häuser von den wechselnden Besitzern oftmals bis zur Unkenntlichkeit umgebaut werden. Ein Beispiel dafür ist das Kaufmann-Haus, das durch Julius Shulmans berühmte Fotografie einer am Pool liegenden Frau im Abendlicht Eingang ins architektonische Gedächtnis gefunden hat. Nachdem sein Erbauer, der Warenhaus-Mogul Edgar J. Kaufmann aus Pittsburg, der schon das Haus Fallingwater nach Frank Lloyd Wrights Plänen errichten liess, 1955 verstorben war, stand die Villa einige Jahre leer und wechselte danach häufig die Besitzer. Dabei wurde das Fünfzimmerhaus stark erweitert, der innen liegende Patio überdacht, die Räume tapeziert und eine Wand herausgebrochen, um einen Medienraum zu integrieren. Die gesamte Innenausstattung wurde zerstört, der weisse Betonboden sowie die Wasserbecken abgedeckt und die Erscheinung des Daches mit Air-Conditioning-Elementen verunstaltet.
Im Jahre 1992 wurde das Haus von Brent und Beth Harris «entdeckt», nachdem es dreieinhalb Jahre keinen Abnehmer gefunden hatte. Sie kauften es für 1,5 Millionen und liessen es von den in Santa Monica tätigen Architekten Leo Marmol und Ron Radziner renovieren. Gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Beth Harris ermittelten sie in mühseliger Kleinarbeit den Originalzustand anhand der Pläne und Skizzen im Neutra-Archiv der University of California in Los Angeles (UCLA). Da diese jedoch nicht ohne die Genehmigung des Sohnes Dion Neutra dupliziert werden durften, zogen sie zusätzlich die Schwarzweissfotos von Julius Shulman zu Rate. Der Restaurationsbericht liest sich wie eine Detektivgeschichte. So fand der Sohn des einstigen Fensterherstellers die ehemaligen Konstruktionspläne; und ein Steinbruch in Utah wurde eigens für die Steine der Feuerstelle wieder geöffnet.
Interesse von Privatleuten und Museen
Das Beispiel des Kaufmann-Hauses hat inzwischen Schule gemacht. Immer mehr Privatpersonen kaufen die Nachkriegsbauten zu einem guten Preis, richten sie aufwendig her und verkaufen sie anschliessend wieder – oder bewohnen sie eine Zeitlang selbst. Anders als berühmte Kunstwerke sind solche neu hergerichteten Architekturtrouvaillen noch immer günstig zu erwerben. Allerdings sind sie im Unterhalt oft teuer. Beth Harris, die nun das Kaufmann-Haus aus privaten Gründen zur Versteigerung gibt, findet es gut, dass Häuser immer mehr zu Sammelobjekten werden. Denn wenn jemand wie Brad Pitt, der bereits als Interessent genannt wird, erst einmal viel Geld für eine Architektur-Ikone bezahlt habe, werde er auch Sorge zum Gebäude tragen. Wenn dies zur gängigen Praxis würde, könnte das Bauerbe besser bewahrt werden, als wenn es im Besitz einer Institution vor sich hindämmert. Erinnert sei nur an das Neutra-Haus, das von der Architekturfakultät in Pomona zwar öffentlich zugänglich gemacht wurde, für dessen Renovationen aber das Geld fehlt.
Den privaten Interessenten könnte schon bald seitens der Museen Konkurrenz erwachsen. So kündigte unlängst das Los Angeles County Museum of Art (LACMA) seine Absicht, Häuser zu sammeln, medienwirksam an und scheint nun auf entsprechende Geschenke zu warten. Durch die Verhandlung des National Trust of Cultural Heritage ist es bereits im Besitz des Goldstein Office (1989) von John Lautner, das demnächst in das Gebäude West des Museums eingebaut werden soll. Damit folgt das LACMA dem Vorbild des Wiener Museums für angewandte Kunst (MAK), das sich in Los Angeles seit Jahren beispielhaft für das Erbe von Rudolf Schindler einsetzt und bereits drei seiner Bauten besitzt. Schindlers erstes Wohn- und Atelierhaus an der Kings Road in West-Hollywood, in dem einst auch Richard Neutra hauste, ist seit 1994 ein Ort für Kunst- und Architekturausstellungen.
verknüpfte Publikationen
- All began just by chance. Julius Shulman.
Verschweisst
Angelehnt an den Kontext stricken die Architektinnen Neff Neumann die Primarschule Henggart bei Winterthur, die in den 1970er-Jahren errichtet wurde, mit ihrem neuen Gebäude weiter. Sie nehmen formal auf den Vorgänger Bezug und ergänzen dessen Raumabfolge.
Es war das einzige Projekt unter den zehn des eingeladenen zweistufigen Wettbewerbs, das an das alte Schulhaus Henggart buchstäblich andockte. Alle anderen Büros sahen ein zweites Schulhaus vor. Mit ihrer Strategie des Weiterbauens konnten die Architektinnen auf den bestehenden Infrastrukturen aufbauen und gleichzeitig den Altbau von den neuen Strukturen, wie einem Mehrzwecksaal, einem Kindergarten, dem Schulleitungsbüro und dem Schulsekretariat, profitieren lassen. Diese neukonzipierte funktionale Einheit barg verschiedene betriebliche und technische Vorteile und führte damit zu einer äusserst ökonomischen Lösung. So konnte beispielsweise die Ölheizung integriert werden. Eine kontrollierte Lüftung blieb dabei zugunsten der konventionellen auf der Strecke.
Gestaffelte Volumen
Die bestehende Schulanlage, die durch die Staffelung der Klassenzimmer eine Kleinteiligkeit erhält, die den Wohnhäusern der Umgebung enstpricht, wurde im Westen mit einem quadratischen Volumen erweitert, wodurch ein neuer Vorplatz und Eingang im Süden geschaffen wurde – ein weiterer Aussenbereich, der zum ursprünglichen Eingang und Pausenplatz parallel genutzt wird. Im Wettbewerb war das angehängte Volumen selbst genauso gestaffelt wie der Altbau. Heute verbindet der Gang des Altbaus an seinem Ende über ein neues Schlupfloch den Altbau mit dem Neubau und füllt den Zwischenbereich (anstelle des ursprünglichen zusätzlichen Schulzimmers) mit einem «Zwickel», der auch von aussen sichtbar die Grenze markiert (Bild 1). Wichtig war den Architektinnen hierbei, dass der Gang auch weiterhin über die Fenster oberhalb der Türen Licht erhält.
Dachlandschaft
Um Alt und Neu zu verschmelzen, haben sie die Silhouette der alten Trakte mit ihren überdimensionierten braunen Eternitdächern und dem weissen Sockelgeschoss übernommen. Statt einem nutzlosen Estrichraum unter dem Dach (Bild 3), bringen sie jeweils über ein Shed viel Tageslicht in die Schulzimmer, was zu neuen innenräumlichen Qualitäten führt. Dadurch ensteht äusserlich eine zusammenhängende Dachlandschaft, ohne dass sich das Gebäude als Nachahmung zu erkennen gibt. Vielmehr behauptet es sich deutlich als neuer Teil des Ganzen.
Dies liegt daran, dass den Architektinnen jeglicher Eingriff in den Altbau untersagt war – sie hätten gerne über die Materialwahl oder Farbigkeit im Inneren einen Zusammenhang hergestellt –, aber auch daran, dass formal zwar Ähnlichkeiten bestehen, aber zum Beispiel der markante weisse Putz des Altbaus so nicht wieder auftaucht. Auch die Fensterformate sind anders. Während ursprünglich im Wettbewerbsprojekt noch Bandfenster geplant waren, ist es jetzt eine Lochfassade mit grossen quer liegenden Fenstern, die die körperliche Präsenz der neuen Trakte noch unterstützen. Wegen der Sheds konnten im Obergeschoss die Fenster in ihrer Höhe gestaucht werden, was sonst im Schulbau unüblich ist. Einbauschränke aus lackierten und geschliffenen Grobspanplatten wie auch der PU-Boden in durchgehend einheitlicher grüner Farbe und die Sheds erinnern an die industrielle Fertigung und lassen keinen Hauch von heimeliger Gemütlichkeit – wie man sie vielleicht in einem kleinen Dorf erwarten würde – aufkommen.
Öffentliche Zone
Das helle obere Geschoss, in dem die Schulzimmer um eine offene, mit zwei Sheds überkrönte Halle angeordnet sind, steht im Kontrast zum dunkleren introvertierten Erdgeschoss. Es ist als öffentlicher Bereich mit schwarzen Asphaltplatten, Sichtbeton und grossen Lichtern gekennzeichnet, die gleichzeitig den Schall absorbieren. Die Treppe macht unmissverständlich den fast schon «festlichen» Charakter deulich, der jenseits einer normalen Schuleingangshalle liegt. Hier befindet sich denn auch der Mehrzwecksaal für ca. 100 Personen mit einer Bühne, der von den ortsansässigen Vereinen auch abends genutzt werden kann. Gegen Osten liegt der Kindergarten mit eigener Küche. Er kann entsprechend der heutigen Schulbestrebungen als Grundstufe betrieben werden, in der Kindergarten und 1. Klasse zusammengelegt werden. Deswegen sind die von den Architektinnen entworfenen MDF-Kistenmöbel flexibel handhab- und organisierbar.
Prozess
Die schnelle Bauzeit von einem Jahr trug wohl dazu bei, dass sich das einfache Konzept des «Verschweissens» durchsetzte, obwohl die Architektinnen gerne die räumliche Verbindung im
Inneren noch verstärkt hätten. Kompromisse wie der PU-Boden anstelle eines Stirnklötzchenparketts schmälern den Gesamteindruck jedoch nicht. Wie die Umgebungsgestaltung konkret aussehen wird, ist noch in Arbeit.
Doppelte Landschaft
Das heikle Unterfangen, in einer Landschaftschutzzone ein bestehendes Produktionsgebäude massiv zu erweitern, ist in Hagendorn dank dem stringenten architektonischen Konzept geglückt. Das Gebäude wird als Landschaftselement mit einer horizontalen Wiese und einer vertikalen Vegetationswand aufgefasst.
Die Fensterfabrik des Familienunternehmens Baumgartner AG in Hagendorn bei Zug musste nach einer ersten Erweiterung in den 1980er-Jahren ausgebaut werden, um mit neuen Holz- und Holz/Metall-Fenstern so konkurrenzfähig zu werden wie mit herkömmlichen Kunststofffenstern. Durch Materialeinsparungen am Rahmen und schnelleren Produktionszeiten von rund einer Minute pro Fenster sollte dies erreicht werden. Dazu entwickelte die Fachhochschule in Biel ein neues Structural-Glazing-Fenster, das sowohl energetisch besser ist als auch mehr Fensterlicht ermöglicht. Eine wichtige Rolle bei den Erweiterungsplänen spielte der Standort, da die Firma einen Grossteil der Arbeitsplätze in dem kleinen Dorf sichert. Dieser stellte jedoch gleichzeitig das Hauptproblem dar, denn das neue Produktionsgebäude liegt in einer Landwirtschaftszone des Bundesinventars für schützenswerte Landschaften (BLN). In enger Zusammenarbeit mit der Gemeinde Cham, die im Vorfeld Standortvorschläge machte, legte der Bauherr in einem 0-Projekt die Produktions- und Funktionsabläufe fest. Mit der Bedingung, den jetzigen Standort beizubehalten, forderte die Gemeinde einen Architekturwettbewerb und verpflichtete den Bauherrn, das umliegende Gebiet ebenfalls nachhaltig in die Planung einzubeziehen. Die Luzerner Architekten Niklaus Graber und Christoph Steiger gewannen zusammen mit dem Landschaftsarchitekten Stefan Koepfli den eingeladenen Studienauftrag unter fünf Büros. Es folgte ein steiniger Weg durch die Gemeindeversammlung und nach Einsprachen des Heimatschutzes durch eine Volksabstimmung, bis der Bebauungsplan genehmigt wurde und die Landwirtschaftszone in Bauland umgezont werden konnte.
Landschaftlicher Eingriff
Die Hindernisse erwiesen sich jedoch im Nachhinein als eigentlicher Vorteil, da die schon im Wettbewerb recht konkret formulierten Parameter und Charakteristiken des Gebäudes im Laufe der fünf Jahre der Planung und Realisierung weitestgehend beibehalten wurden. Ausschlaggebend für das architektonische Konzept waren zwei Prämissen: zum einen die betrieblichen Anforderungen, die gegeben waren, zum anderen das öffentliche Interesse, den Landschaftsraum weiterzuentwickeln. Die Architekten widmeten sich deswegen in erster Linie der Hülle sowie der An- und Auslieferung und stellten den landschaftlichen Aspekt ins Zentrum. Im Unterschied zu den anderen Wettbewerbsteilnehmern verstanden sie die pragmatische Bauaufgabe als landschaftlichen Eingriff und versuchten nicht, das Bauvolumen auf verschiedene Baukörper zu verteilen oder den vorgegebenen Grundriss zu verändern.
Vegetationswand
Ausgehend von der Umgebung, dem Ein- und Ausspringen der Waldränder und Hecken entwarfen Graber & Steiger um das massive Gebäudevolumen eine mäandrierende Vegetationswand, die der angrenzenden Landschaft als Pendant gegenübersteht, gleichzeitig aber den Abschluss des Firmenareals oder – betrachtet man es von der Landschaft aus – deren Begrenzung markiert. Die Wand ist jedoch weniger Tarnung als gebautes Element, das nicht einfach eine Hecke sein will, sondern ein Volumen. Die Holzrahmenkonstruktion, die mit einheimischen Wildgehölzen bepflanzt wird, dient dem Erhalt der geometrischen Form sowie als Halterung der Autobahnmähmaschine für deren Unterhalt. Sie wird durch zwei Ausblicke in die Landschaft durchbrochen, an denen zwei Wasserbecken – eines mit Rohrkolben, eines als Seerosenteich – angelegt sind.
Wiese auf dem Dach
Diesen Landschaftsersatz, das Hinzufügen einer zusätzlichen zweiten Fassade, führen die Architekten auf dem Dach in der Horizontalen weiter fort. Auf der gesamten Dachfläche, die der Grösse von drei Fussballfeldern (18000 m²) entspricht, legen sie eine Feuchtwiese an, wie sie ursprünglich an diesem Ort im Schwemmgebiet zwischen Reuss und Lorze anstelle des Maisackers wachsen würde. Dabei wurde die Wiese buchstäblich in die Höhe gehoben, denn für die Substratmischung des Bodens von 15cm wurde Material des Bodenaushubs zusammen mit 50% Ziegelschrott verwendet. Die Pfeiffengraswiese funktioniert über das Prinzip des Wasserstaus, weshalb ein analoges technisches Dachwassersystem entwickelt wurde, um dieselben Bedingungen wie in der Natur zu simulieren. Im Vorfeld wurden dazu Versuchsfelder angelegt, da das erste Mal eine derartige Wiese auf einem Dach entsteht. Damit hat das Gebäude Teil am dynamischen Prozess der Landschaft. Es verändert sich mit der Zeit, und in ca. fünf Jahren wird die Wiese so hoch sein, dass die Oberlichter verdeckt und nur noch die Metallgitter als Stege sichtbar sind.
Statik und Haustechnik
Als Folge der grünen Wiese auf dem Dach ergaben sich einerseits grosse Lasten, was die Statik beeinflusste, andererseits aber auch klimatische Verbesserungen im Inneren der Produktionshalle. So ist in der Halle keine zusätzliche Kühlung oder Lüftung vorgesehen, da sich die Temperatur selbstständig durch die Verdunstungskälte, welche die Wiese erzeugt, reguliert. Das Haustechnikkonzept leistet die Architektur somit selbst, und durch die Abwärme der Maschinen kann weitestgehend auf Heizen in der Fabrikationshalle verzichtetet werden. Wie in den aufgestockten Büros, die sich zwischen dem Neubau und der alten Fabrikationsanlage befinden, wird dann mit den anfallenden Holzspänen geheizt. Die zweigeschossige Produktionshalle steht im Grundwasser auf 350 Bohrpfählen in einem Raster von 7.74 7.74 m, wobei die Pfähle je nach Lage und Grundwasserstand auf Druck oder Zug beansprucht sind und damit auch die Auftriebssicherheit gewährleistet ist. Die Fragilität zeigt sich demnach nicht nur in der Vegeta tion, sondern auch in der Statik, die in enger Zusammenarbeit mit den Ingenieuren entwickelt wurde. Die Idee einer schwebenden Körperlichkeit des Gebäudes steht in Zusammenhang mit der Konzeption der Vegetationswand. Zuerst wurde deswegen das Dach konzipiert. Es ist ein Stahlfachwerk mit Haupt- und Sekundärfachwerken in zwei Richtungen in einem Stützenraster von 23.22 23.22 m. Die nach Norden ausgerichteten Oberlichter besitzen einen feststehenden horizontalen Rost für die Beschattung und Vermeidung von Reflexionen. Im Wettbewerb war bereits die transparente Hülle festgelegt, wobei sich der Bauherr als Fensterfabrikant auch eine Fassade aus eigenen Fensterelementen, einer Musterzentrale vergleichbar, vorstellen konnte. Mit so genannten Clear-pep-Elementen – Polykarbonatplatten, die bisher ausschliesslich im Innenausbau eingesetzt wurden – erhielten die Architekten durch die Wabenstruktur sowohl ein sehr robustes und nicht splitterbares Material als auch eine transluzente Erscheinung mit geringem Gewicht für die Montage. Die 6 2 m grossen Elemente konnten seriell von der Firma selbst in die Pfosten-Riegel-Konstruktion aus Holz montiert werden. Nur bei den Stahltoren wurde Acrylglas verwendet.
Schon zu Zeiten der Römer war dieser Ort eine Fabrikationsanlage, weshalb der Standort als solcher bereits lange vor der extensiven landwirtschaftlichen Nutzung zu einer sekundären Natur wurde. Diese vom Menschen geschaffene Kulturlandschaft wurde nun mit einem weiteren Element ergänzt und die fehlende Landschaft wurde ersetzt, was sich sowohl ökologisch positiv aus- wirkt als auch zur Integration des Gebäudes in die Umgebung beiträgt. Dies funktioniert so gut, dass die Wiese auf dem Dach eine Horizontverschiebung bei den in den oberen Geschossen arbeitenden Menschen bewirkt, wodurch sie die Bodenhaftung nicht verlieren.
Obdachlosen-Vehikel
Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko entwickelt seit den späten 1980er-Jahren Kommunikationshilfen für Obdachlose und Immigranten. Dabei bewegt er sich als Stimme derjenigen, die ausserhalb der Gesellschaft stehen, zwischen Designer und Sozialtherapeut.
Die Obdachlosen-Vehikel des Künstlers sind nicht einfach Kunstwerke, die sich zwischen «public art», Architektur und temporären Strukturen verorten lassen. Sie sind tatsächlich auch benutzbar und als solches geplant und gedacht. In den 1960er-Jahren hatte die mobile Behausung ausgehend von den Möglichkeiten, die die Raumfahrt suggerierte, Hochkonjunktur. Auch heute noch üben die Modelleinheiten zum Leben auf reduziertem Raum als utopische Zelle innerhalb der Gesellschaft oder als «all in one» (alle Funktionen in einem Raum) auf viele Künstler und Architekten eine gewisse Faszination aus. Mobile Behausungen haben sich seit dem Wohnmobil über die Plug-in-Strukturen bis hin zu prothesenhaften Geräten wie dem «Crushicle», 1966 von Archigram, mit dem sich das eigene Haus jederzeit überall mit herumtragen lässt, ins Fiktive gesteigert. Die einfache Aufgabe aber, wie Obdachlose, Flüchtlinge oder Immigranten zu einem minimalen Zuhause kommen, scheint noch immer nicht gelöst zu sein. Meist sind es grosse Schlafsäle, die notdürftig einzelne Kompartimente voneinander abtrennen und für deren Typus das Hotel oder das Kloster Pate stehen. Ein eigenes Heim zu konzipieren, ohne dauerhaft sesshaft werden zu müssen, hat sich Krzysztof Wodiczko (geb. 1943 in Warschau) zur Aufgabe gemacht. Der Künstler, MIT-Professor für Design, schlägt eine Kombination von Mobilität und Ort besetzen vor. Während das «First Vehicle Reserved for The Artist» in den frühen 1970er-Jahren noch durch die Gehbewegung des Künstlers betrieben wurde und eine Anspielung auf das funktionsbasierte Design und den Fortschrittsglauben implizierte, erweitert er dieses Gerät mit einer sozialen Komponente. Das «Homeless Vehicle», 1988, ist ein vergrösserter Einkaufswagen, der zum einen zum Sammeln von Flaschen, zum anderen als Schlafstelle (mit Waschbecken) dient. Die Grundbedürfnisse des Menschen werden mit dem Arbeitswerkzeug vereint. Denn seit 1983, als der Künstler nach New York kam, hat sich die Situation der Obdachlosen um den Battery-Park immer mehr verschlechtert, bis schliesslich Kunst im öffentlichen Raum in den 1990er-Jahren zur Gentrifizierung des Quartiers und zur Vertreibung der temporären Bewohner eingesetzt wurde. Damit die Obdachlosen einer legalen Arbeit, dem Flaschensammeln, nachgehen können, entwarf er ein «Designobjekt», dessen seltsame Form zur Kommunikation anregen und gleichzeitig die Präsenz der Obdachlosen und ihrer Lebensbedingungen im Stadtraum verstärken sollte. Dass die mobilen Gefährte an konstruktivistisches Design der 1920er-Jahre und deren Utopien einer klassenlosen Gesellschaft erinnern, entbehrt nicht der Ironie. Das Problem der Obdachlosen, die sich in Hauseingängen oder Parks einnisten, sei, wie Wodiczko erläutert, dass sie sich zurückziehen möchten, aber gerade dieses Verhalten sie grösseren Gefahren aussetze und sie dementsprechend unsichtbar in der Gesellschaft werden lässt. Mit der mobilen Architektur dagegen sind sie legale Einwohner. Getestet und im Umlauf war der Prototyp des Homeless Vehicle insgesamt drei Monate. Da jedes Gefährt jedoch individuell mit dem Obdachlosen entwickelt und entworfen wird, ist der Prozess der Realisierung ein unendlich langer und weiter.
Kommunikationsmittel
Weiterentwickelt wurde das Vehicle zu «Poliscar», 1991, das schon mit seinem Namen die selbstbewusstere Intention veranschaulicht. Hier geht es zwar auch darum, im Inneren des Gefährts einen Schlafplatz, der mit einem anderen zusammengeschlossen werden kann, zu konzipieren. Vielmehr aber ist die Kommunikation nach aussen, die Verbreitung von Meinungen und die Vermittlung von Informationen Teil des Vehicle. So soll der Name bewusst Gedanken an Polizei oder auch Polis, die Gemeinschaft, evozieren. Die ambivalente Haltung zeigt sich im Kopf des Gebildes, das in vier verschiedenen Stellungen (zum Gehen, Fahren, Stehen und Schlafen) zum Einsatz kommt. Hier können sowohl der öffentliche Raum überwacht als auch über einen eingebauten Fernseher und einen Radiosender eigene Nachrichten kreiert werden. Der Obdachlose wird damit nicht mehr nur am Rande der Gesellschaft geduldet, sondern verschafft sich durch die provokative Form und Kommunikationshilfe Gehör. In anderen Arbeiten werden dazu Videobildschirme als Augenersatz auf den Rücken von japanischen Jugendlichen geschnallt, die so mit ihrer Umgebung kommunizieren können, ohne dem Gegenüber direkt in die Augen schauen zu müssen. Diese Prothesen, Erweiterungen oder auch Ersatzteile des Körpers übertragen die Stimmen der Randgruppen in riesige Dimensionen wie beim Projekt «The Tijuana Projection» 2001, Mexiko, wo die Bevölkerung ihr Gesicht über eine Kamera an die Fassade des Museums projizieren und ihre Wünsche und auch Probleme über grosse Lautsprecher äussern konnte. Wodiczko hat mittlerweile über 70 Projektionen an Denkmälern oder Monumenten realisiert. Anfang Januar liess er an der Fassade des Kunstmuseums Basel vier «Sans Papier»-Personen über die Problematik ihres Status sprechen. Zu sehen waren im Film, der über zwei Projektoren an die Fassade projiziert wurde, nur ihre Beine, die über die Dachkante des Museums herunterbaumelten – hören konnte man die Leute über riesige Lautsprecher im öffentlichen Strassenraum. Damit erhält auch das Monument eine aktive Rolle, es wird zum Zeugen des gesellschaftlichen Zustandes.
Gehör verschaffen
Ausgehend von einem Nicht-Ort (Non-Place) in der Stadt ist es für den Künstler ein No Place, für die Obdachlosen ein Ort und ein Zustand, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. In bestehenden Machtstrukturen sollen sie ihre eigene Sphäre einrichten. Dieses Interesse ist vor dem eigenen Hintergrund Wodiczkos als Immigrant in Kanada und mittlerweile auch den USA entstanden. Das Anliegen ist in allen drei Werkkategorien, den Vehicles, den prothesenartigen Geräten und den Projektionen, den Ausländern, Obdachlosen und Vertriebenen Raum zu geben und ihnen Gehör zu verschaffen, indem der Künstler ihnen seine Stimme leiht. Wichtig ist dabei, dass sich die Obdachlosen mit ins Konzept einschreiben und nicht einfach nur ein Verständnis für ihre Situation vorhanden ist, so Wodiczko. Die Obdachlosen seien eigentlich die Künstler, er führe nur Regie. Deswegen versteht er sich nicht als Sozialarbeiter oder Therapeut, sondern bietet sich den Leuten wiederum selbst als Vehikel an, damit sie lernen, sich selbst zu helfen. Seine Position als Künstler setzt er insofern ein, als er als internationaler Künstler mehr Aufmerksamkeit erhält als Randgruppen. Er ist deren Sprachrohr, mit dessen Hilfe sich finanzielle Unterstützung finden lässt.