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17. Juli 2025 deutsche bauzeitung

Energieautarkes Ferienhaus in Noto (I)

Die Fassaden und Innenräume dieses puristischen Sichtbeton-Gebäudes auf Sizilien sind mit lokalen mineralischen Materialien veredelt, die traditionell auch die Bauernhöfe im ländlichen Raum der Insel prägen.

Das Val di Noto bezeichnet eine dünn besiedelte Region rund 100 km südlich des Ätna. Sie ist bekannt für eine Reihe von Städten, die nach einem Erdbeben im Jahr 1693 allesamt fast vollständig zerstört und dann jeweils als einheitlich spätbarocke, inzwischen auch zum Weltkulturerbe erhobene Ensembles wiederaufgebaut wurden.

Einen besonderen Charme versprüht auch die karge Landschaft unweit des Mittelmeers. Die sanft hügelige Umgebung der Stadt Noto ist geprägt von Ackerflächen und weitläufigen Mandel- und Olivenhainen. Vereinzelt sind auch Ferienhäuser zu finden, die hier aber nur dann neu errichtet werden dürfen, wenn sie einige Spielregeln beachten. Baugrundstücke müssen beispielsweise eine Mindestgröße von 1 ha aufweisen, und die Neubauten dürfen nur ein Geschoss hoch sein, sodass sie die Kronen der oft jahrhundertealten Bäume nicht überragen. Konkrete Vorgaben zu Abmessungen, Gebäudehöhen und -formen oder Dachneigungen gibt es aber nicht.

In die Landschaft eingebettet

Als ein italienischer Fotograf das Pariser Architekturbüro Gaëtan Le Penhuel Architectes beauftragte, hier ein energieautarkes Ferienhaus zu bauen, war für die verantwortliche Büropartnerin Corina Laza eines sofort klar: „Hier sollte kein weiterer weißer Kubus entstehen – eine Typologie, die gerade in dieser Region verbreitet ist, obwohl sie eher an die Kykladen als an Sizilien erinnert. Wir sahen uns vielmehr von der archaischen Kraft der örtlichen Bauernhäuser inspiriert. Diese sind meist als Massivbauten mit Naturstein- oder Putzfassaden ausgeführt, die sich ebenso dezent wie elegant in die Landschaft einfügen.“

Dass die Casa Bendico hauptsächlich aus Sichtbeton besteht, liegt nicht nur an der Tatsache, dass es sich hierbei ebenfalls um ein mineralisches Material handelt. Es hat vielmehr auch mit der Erdbebensicherheit und den hier häufig wütenden Waldbränden zu tun. Darüber hinaus zählt ein weiterer Aspekt: „Dank der zweischaligen kerngedämmten Wand- und Deckenkonstruktion bleiben alle Innenräume selbst in der sengenden Sommerhitze Siziliens stets angenehm kühl“, erläutert Corina Laza.

Wer die nur 3 km südlich von Noto situierte Casa Bendico besucht, findet ein Ensemble aus vier Bauwerken vor. Am Ende der geschwungenen Zufahrt von der Via Gioi liegen ein filigraner Carport mit Schilfdach und das vorgelagerte kleine Ateliergebäude, hinter dem schließlich das 200 m² große Haupthaus steht. Hiervon wiederum nur einen Steinwurf entfernt ist der Outdoorpool zu sehen.

Grund für diese verteilte Anordnung war der Wunsch des Bauherrn nach einer kleinteiligen Bebauungsstruktur, durch die Orte mit unterschiedlichem Charakter und vielfältigen Perspektiven auf die Landschaft entstehen. Eine Rolle spielte aber auch der Respekt gegenüber den alten Olivenbäumen, die trotz der Baumaßnahme möglichst alle erhalten bleiben sollten.

Was am Haupthaus auffällt, ist sein durch und durch monolithisches Erscheinungsbild. Denn neben den Fassaden und der Umfassungsmauer für zwei windgeschützte Außenbereiche sind auch die geneigten Flächen des Satteldachs in Sichtbeton gefertigt. All diese Bauteile sind nicht betongrau, sondern sandfarben und zeigen die Abdrücke einer horizontalen Brettschalung.

Monolithisch bis ins Detail

Der erdige Farbton entstand durch den Einsatz von Puzzolanbeton, der Vulkangestein aus der Ätna-Region enthält. Eine weitere Komponente stellt die Beimengung von Sandstein dar, der auf dem Grundstück vorgefunden und gemahlen wurde.

Dank des Puzzolans ist dieser Beton kohlenstoffarm – zudem verbessert die hohe Porosität des Zuschlagstoffs die Wärmedämmeigenschaften. Betoniert wurde ausnahmslos vor Ort – mit lokalen Handwerksbetrieben, die hierfür Holzgerüste und 10 cm breite, gebrauchte Holz-Schalbretter verwendeten. „Eines der wichtigsten Ziele dieses Projekts bestand darin, die lokalen handwerklichen Fähigkeiten und Bautechniken zu nutzen, anstatt auf Industrieprodukte zu setzen“, sagt Laza. „Unregelmäßige Fugen und imperfekte Oberflächen mit einem lebhaften Wechsel aus helleren und dunkleren sowie eher grauen beziehungsweise sandfarbenen Farbfeldern waren ausdrücklich erwünscht.“ Wie die kerngedämmten Außenwände sind auch die Dachflächen zweischalig ausgeführt. Über der rund 20 cm starken, inneren Sichtbetonschale ordneten die Architekten zunächst eine Dampfsperre und eine druckfeste Mineralwolle-Wärmedämmung an, auf der eine Dichtungsbahn und schließlich die äußere Betonschicht aufgebracht wurde.

Um die Dachfläche mit der für die Wände typischen Oberflächenstruktur zu versehen, drückten die Handwerker die Holz-Schalbretter von oben in den noch feuchten Beton. Auf jegliche Blechverwahrungen wurde verzichtet, so dass der monolithische Charakter des Hauses vollkommen unbeeinträchtigt bleibt.

Sämtliche Innenräume – vom offenen Wohn-Koch-Essbereich über die drei Schlafräume bis hin zu den Bädern – sind ebenfalls fast vollständig von Sichtbeton mit Brettschalung geprägt. Das lässt die Räume kühl wirken, und im Sommer sind sie es dank der zweischaligen Konstruktion in der Tat. Für die zusätzliche Kühlung konzipierten die Architekten ein natürliches Lüftungssystem. Dabei gelangt zunächst warme Außenluft in eine 2 m tief verlegte gusseiserne Erdröhre und strömt dann über Auslässe im geschliffenen Betonfußboden in die Wohnräume. Die erwärmte Luft wird durch die Nassräume wiederum nach außen geführt.

Die Folge: Es entsteht eine natürliche Luftzirkulation. Den geringen Heizbedarf im Winter deckt ein offener Kamin sowie eine Fußbodenheizung. Heizwärme und Warmwasser stammen von einer Solarthermieanlage, die zusammen mit einem Speicher in einem der umfassten Außenbereiche untergebracht ist.

Puristisches Interior

Gemäß den Vorstellungen des Bauherrn nach einem energieautarken Haus verfügt das Gebäude außerdem über eine neben den Bauten installierte Photovoltaik-Freiflächenanlage. Passend zum archaischen, erdfarbenen Purismus der Gebäudehülle erwecken auch die wenigen in den Innenräumen eingesetzten Materialien den Eindruck, das ganze Haus sei aus einem Guss.

Sämtliche Zimmertüren und maßkonfektionierten Einbaumöbel bestehen aus unbehandeltem Eichenholz. Hinzu kommt römischer Travertin, der sich im Tresen des freistehenden Kochblocks, im Esstisch und in der Sofaecke ebenso findet wie in den Waschbecken, Regalböden und der Wandbekleidung der Duschen.

Große, schwellenlose Glas-Schiebetüren in allen Räumen ermöglichen fließende Übergänge zwischen innen und außen. Die Fensteröffnungen lassen sich mit Metall-Schiebeelementen schließen, die mit ihrem eleganten Maschrabiyya-Muster grazile Schatten auf Böden und Wände werfen und gleichermaßen als Lichtfilter und Einbruchsicherung dienen.

Die Öffnungen an den Gebäudestirnseiten verfügen außerdem über Holz-Schiebeelemente. Diese setzen sich aus jenen Brettern zusammen, die schon auf der Baustelle verwendet wurden und sind deshalb auf den ersten Blick kaum von den Sichtbetonoberflächen zu unterscheiden.

Das kleine Atelierhaus basiert auf den gleichen Gestaltungsprinzipien wie das Haupthaus. Es beherbergt ein Studio, eine Küche und ein Bad sowie einige technische Einrichtungen, für die im Haupthaus kein Platz war. Während das Atelierhaus nur vom Bauherrn genutzt wird, kann das nicht dauerhaft bewohnte Haupthaus über einschlägige Internetplattformen von Urlaubsreisenden gemietet werden. Auf diese Weise eröffnet sich für alle die Gelegenheit, nicht nur die außergewöhnliche Casa Bendico, sondern auch den grandiosen Ausblick über das Val di Noto und das Mittelmeer hautnah zu erleben.

28. März 2025 deutsche bauzeitung

Regenbrücke in Roding

Die neue 130 m lange Fuß- und Radwegbrücke im Oberpfälzer Roding erscheint als filigranes integrales Bauwerk. Nicht weniger interessant ist der Planungs- und Bauprozess, bei dem das Architekturteam von DKFS, Mayr Ludescher Partner und Lex_Kerfers Landschaftsarchitekten ein offenes Miteinander zelebrierten.

Der Regen ist ein gut 190 km langer Fluss, der weite Teile des Bayerischen Walds durchquert und in Regensburg in die Donau mündet. Im bergigen Oberlauf noch leichter Wildfluss, erscheint er weiter flussabwärts als gemächlich durch herrliche Naturlandschaften mäandrierendes Fließgewässer, das sich insbesondere unter Bootswandernden großer Beliebtheit erfreut. Immer wieder gehen vom Regen jedoch großflächige Überschwemmungen aus, von denen auch die Oberpfälzer Kleinstadt Roding betroffen ist. Um sowohl den Hochwasserschutz für den Ortsteil Mitterdorf als auch dessen Anbindung an die Altstadt mithilfe einer neuen Fuß- und Radwegeverbindung zu verbessern, initiierte die Stadt den Wettbewerb »Regenpromenade und -brücke Mitterdorf«. Mit dem Ziel, eine »harmonische und anspruchsvoll gestaltete« Lösung zu erreichen, richtete sich die Auslobung ausschließlich an interdisziplinäre Teams aus Architektur-, Tragwerks- und Landschaftsplanenden.

Das Siegerteam aus DKFS, Mayr Ludescher Partner und Lex_Kerfers Landschaftsarchitekten war nach einigen gemeinsam durchgeführten Wettbewerben und Projekten bereits gut eingespielt. Und so wartete es mit einem integralen, ganzheitlich durchdachten Entwurf auf, der bislang allerdings nur teilweise realisiert ist. Denn der ursprünglich geplante Hochwasserschutz entlang des rechten Regenufers, über den die Fuß- und Radwegeverbindung eigentlich hinwegführen sollte, verzögert sich u. a. aus Kostengründen auf unbestimmte Zeit.

Integraler Ansatz

Schon beim ersten Vor-Ort-Termin in der Wettbewerbsphase entwickelten Architekt Dirk Krolikowski und Tragwerksplaner Hubert Busler die Vorstellung einer Brücke, die als selbstverständliche Verlängerung der vorhandenen Wege sensibel in die bisweilen überflutete Auenlandschaft eingebettet ist. »Ein oben liegendes Tragwerk, z. B. mit Bögen oder Pylonen, hatten wir nie ernsthaft in Betracht gezogen, weil es sich aus unserer Sicht unangemessen in den Vordergrund gespielt hätte«, sagt Busler. Über einen weiteren Punkt waren sie sich ebenfalls schnell einig: Entstehen sollte eine materialsparende integrale Stahl-Rahmenbrücke, also ein Bauwerk gleichsam aus einem Guss – ohne Lager und Dehnfugen. Dies bedeutete zum einen den Wegfall wartungsintensiver Bauteile. Andererseits ermöglichte es die Realisierung eines gestalterisch reduzierten monolithischen Baukörpers. »Wir wollten keine Maschinenoptik schaffen, sondern ein feingliedriges Bauwerk, das als Teil der Auenlandschaft erscheint und bei dem Tragwerk und Architektur eins sind«, erläutert Krolikowski. Diesen Gedanken widerspiegelt auch der eingesetzte Cortenstahl. Die erdfarbene Oxidschicht harmoniert nicht nur wunderbar mit dem natürlichen Umfeld. Sie dient vielmehr zugleich als Witterungsschutz. Dies vermeidet sowohl Kosten für Korrosionsschutzbehandlungen als auch für potenzielle Umweltbelastungen durch deren zukünftig unerlässliche Wartung und Erneuerung.

DKFS und Mayr Ludescher Partner entwarfen gemeinsam eine in Brückenmitte um rund 140° abknickende Brücke in Form eines luftdicht verschweißten (und somit auch von innen korrosionsgeschützten) gevouteten Stahl-Hohlkastens. Dieser überspannt den Regen mit einer Hauptstützweite von 56 m, während der östliche Teil in der Auenlandschaft als Rampe mit Stützweiten von 21 bzw. 27 m konzipiert ist. Um die im Feld über dem Fluss lediglich 55 cm schlanke Seitenansicht des Überbaus zu erreichen, wurde der im Querschnitt dreiecksförmige Überbau am westlichen Widerlager und am mittigen Pfeiler mittels Stahllamellen biegesteif angeschlossen. Widerlager, Pfeiler und Gründungsbauteile bestehen aus anthrazitfarben eingefärbtem Ortbeton.

Insgesamt besteht der Stahl-Hohlkasten aus sechs Bauteilen, die von einer Stahlbaufirma im nur 20 km entfernten Cham hergestellt, mit Tiefladern auf die Baustelle gebracht, mit einem Autokran eingehoben und verschweißt wurden. Der kurze Transportweg erwies sich in Bezug auf Kosten- und Nachhaltigkeitsaspekte als vorteilhaft. Für die Bauausführung war er jedoch essenziell. Schließlich maß das größte Bauteil 25 m Länge und 8,5 m Breite und wog stattliche 68 t. Wesentlich größere Distanzen wären unwillkürlich mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen.

Bewehrte Erde

Der höchste Punkt der Brücke befindet sich am westlichen Ufer, wo sie an den als Schutzmauer geplanten Hochwasserschutz anschließt – die Hauptspannweite über dem Fluss liegt 15 % über der HQ100-Marke. Da nicht ausgeschlossen ist, dass diese Mauer eines Tages ergänzt wird, realisierte das Planungsteam die in den Ortsteil Mitterdorf führende, rund 3,5 m hohe Rampe aus geokunststoffbewehrter Erde – eine ebenso kostengünstige wie nachhaltige Lösung. »Der durch lagenweise angeordnete Geotextilien versteifte und dadurch entsprechend tragfähige Erdkörper lässt sich nicht nur innerhalb weniger Tage herstellen und leicht begrünen. Er kann auch vollständig recycelt und das Erdmaterial wiederverwendet werden«, sagt Hubert Busler. Eine Dammschüttung anstelle des aufgeständerten Brückenbauwerks kam auf der östlichen Flussseite nicht infrage, weil es möglich sein musste, dass sich der Regen bei Hochwasser ungehindert in die Auenlandschaft ausdehnt. Hinzu kommt, dass ein Damm hier zu einer unbedingt zu vermeidenden Erhöhung der Wasserfließgeschwindigkeit geführt hätte. Die schlanken Stützen und die strömungsgerechte Form des Hohlkastens, der im Rampenbereich in die HQ-Höhen eintaucht, sind Ausdruck eines klaren Gestaltungswillens und erlauben zudem ein störungsfreies Abfließen des Wassers im Hochwasserfall.

Die an der Innenseite der Biegung in Brückenmitte gemäß dem Kräfteverlauf organisch geformte Voute war statisch notwendig. Zugleich lässt sie einen Ort entstehen, der dank einer hölzernen Sitzbank zum Verweilen einlädt. Dass dies nicht zuletzt auch für die Abendstunden gilt, liegt an den durchlaufenden, dimmbaren LED-Leisten, die kaum sichtbar in die Handläufe links und rechts der Fahrbahn integriert sind. Dank eines Abstrahlwinkels von 20° aus der Vertikalen erzeugen sie einen angenehm blendfreien Lichtteppich auf dem hellgrauen, nur 6 mm dünnen reaktionsharzgebundenen Fahrbahnbelag. Auf diese Weise werden Fußgänger:innen und Radfahrende nicht geblendet, und auch für Insekten und andere Tiere bleiben die Beeinträchtigungen gering. Das leichte Erscheinungsbild der Brücke wird darüber hinaus von einem filigranen Stabgeländer unterstrichen, das wegen des Radverkehrs konstant auf 1,30 m Höhe durchläuft.

Gemeinschaftlich geplant

Was dieses Projekt besonders macht, ist nicht allein die bemerkenswerte Symbiose aus Architektur und Tragwerk, die in einer unerhört filigranen Fuß- und Radwegebrücke resultiert. Außergewöhnlich ist vielmehr auch das völlig unvoreingenommene, uneitle Miteinander während des parametrischen Entwurfs- und Ausführungsprozesses. »Alle Planungsbeteiligten, und das gilt ausdrücklich auch für die ausführende Stahlbaufirma, sind sich zu jedem Zeitpunkt auf Augenhöhe begegnet. Auf diese Weise fand das Projekt gleichsam in der Schnittmenge unserer jeweiligen Fähigkeiten statt, und das betrachte ich definitiv als Zukunftsmodell«, erläutert Dirk Krolikowski, dessen gemeinsam mit Falko Schmitt gegründetes Planungsbüro sich v. a. auf Infrastrukturbauten spezialisiert hat. Letztlich ist die Brückenkonstruktion ebenso integral wie der Planungsprozess – beste Voraussetzungen also für ein ganzheitlich durchdachtes, langlebiges, ästhetisches und dadurch nachhaltiges Bauwerk.

3. Januar 2025 deutsche bauzeitung

U-Halle in Mannheim

Fit für den Wandel

Wenn einfache Lagerhallen wie diese in Mannheim aus der Nutzung fallen, werden sie meist abgebrochen. Die mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur 2024 ausgezeichnete U-Halle zeigt, welches Potenzial selbst in solchen Gebäuden schlummert – nicht nur mit Blick auf das zirkuläre Bauen, sondern auch ästhetisch.

Seit gut 90 Jahren ist auf dem 79 ha großen Gelände 4 km östlich der Mannheimer Innenstadt nichts so stetig wie der Wandel. Ende der 1930er-Jahre errichtete die Wehrmacht eine Kaserne mit Lagergebäuden. In der Nachkriegszeit übernahmen US-Streitkräfte das Areal, um hier ein Distributionszentrum für Kleidung, Waffen und Fahrzeuge einzurichten. Dabei wurde ein bestehendes Lagergebäude aus vier direkt angrenzenden Hallen so erweitert, dass ein 350 m langes Gebäude in U-Form entstand, das einen zentralen Verladehof mit Gleisanschluss umschließt. Nachdem die Spinelli Barracks 2014 an den Bund zurückgingen, dienten die Kasernenbauten einige Jahre als Notunterkunft für Geflüchtete. 2023 war das Gelände schließlich Austragungsort der Bundesgartenschau (BUGA), in deren Fokus die vier Leitthemen Klima, Energie, Umwelt und Nahrungssicherung standen.

Um Neubauten für die BUGA-Ausstellung zu vermeiden, aber auch, um Impulse für ein zeitgemäßes Nutzungskonzept der nun mitten im Park liegenden U-Halle zu erhalten, lobte die Stadt als Eigentümerin einen Realisierungswettbewerb aus. Im ehemaligen Lagergebäude waren zunächst temporäre Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Gastronomieflächen sowie Blumenhallen und ein Rundfunkstudio unterzubringen. Nach der BUGA sollte es in der Lage sein, noch nicht näher definierte Kultur- und Freizeitnutzungen zu beherbergen.

Subtraktives Entwurfskonzept

Das mit dem 1. Platz ausgezeichnete Siegerprojekt des Berliner Architekturbüros Hütten & Paläste knüpft an den Wandel und die Transformationen an, die für dieses Gelände, aber auch für die U-Halle charakteristisch sind. Vor allem jedoch ist es ein bemerkenswertes Beispiel für die vielfältigen Möglichkeiten, die das zirkuläre Bauen selbst unspektakulären und im Lauf der Jahre »verbastelten« Bestandsgebäuden eröffnet.

Im Mittelpunkt des Entwurfs steht die Wieder- und Weiterverwendung der baulichen Strukturen. Die Berliner Architekt:innen planten kein fertiges Gebäude, sondern entwickelten einen auf zukünftige Szenarien ausgerichteten Umbauprozess. Bauliche Maßnahmen und Nutzungen wurden dabei nicht additiv zu einem großen Ganzen zusammengefügt. Hütten & Paläste kuratierte vielmehr den teilweisen Rückbau der aus insgesamt 16 Einzelhallen bestehenden U-Halle. Mit anderen Worten: Sie extrahierten das »neue« Gebäude subtraktiv aus dem bestehenden Baukörper. Da in den rückgebauten Bereichen lediglich die Tragstruktur erhalten blieb, entstanden spannungsreiche Abfolgen von Innen- und Außenräumen, die von den BUGA-Besucher:innen als Parcours durchschritten und erlebt werden konnten. Durch die freigelegten Tragwerke und das Bepflanzen der punktuell geöffneten Bodenplatten schufen die Architekt:innen eine kreative Markthallenatmosphäre, die den einst drögen Lagerhallen eine neue Identität und einen menschlichen Maßstab verleiht. Diese Reduzierung der Baumasse war nicht nur dramaturgisches Mittel. Sie entsprach auch der Forderung der Ausloberin nach einer verbesserten Winddurchlässigkeit des Geländes, die im Sommer einer Überhitzung der Innenstadt entgegenwirken soll.

Zirkuläre Strategien

Wesentlich für das Entwurfskonzept war die Wiederverwendung vorhandener Bauteile. Diese stammten z. T. aus der näheren Umgebung – für die Fassaden kamen etwa Polycarbonatplatten aus dem kürzlich renovierten Pflanzenschauhaus im Mannheimer Luisenpark zum Einsatz – oder aus der U-Halle selbst. Ein konkretes Beispiel für Letzteres ist die alte, aber noch intakte Blech-Dachdeckung. Während sie in den erhaltenen Einzelhallen unangetastet blieb, wurde sie in den rückgebauten Bereichen sorgfältig demontiert, neu zugeschnitten und als vertikale Fassade der nun freigelegten Brandwände eingesetzt. Ansonsten wurde wo immer möglich repariert, anstatt Bauteile auszutauschen.

Wo Erneuerungen unumgänglich waren, wie etwa bei der Ergänzung um Fluchttüren, wurden diese reversibel mit lösbaren Steckverbindungen montiert. Besonders eindrucksvoll zeigt sich dieses Vorgehen bei den temporären Fassaden, die während der BUGA als neuer Raumabschluss der durch den Rückbau einzelner Hallen offenen Stirnseiten dienten. Sie bestehen entweder aus modularen Holzrahmenbauwänden oder aus Mischkonstruktionen aus gemieteten Baugerüsten, die eine mit Klemmleisten befestigte Holzunterkonstruktion mit Polycarbonatplatten trugen. Durch die Seitenwände zu den neuen Höfen gelang es den Architekt:innen, großflächig Tageslicht in die bislang nur durch Oberlichtbänder belichteten Hallen zu bringen. Zudem entstanden vielfältige Sichtbeziehungen zum Freiraum. Teile dieser Konstruktion sind heute am KIT in Karlsruhe im Einsatz.

Experimentelle Erkundung des Bestands

Was die Umsetzung dieses Konzepts erschwerte, war der Umstand, dass die durchgängig 27 m breite U-Halle keineswegs über ein einheitliches Tragwerk verfügt, sondern seit den 1930er-Jahren verschiedene Bauweisen zur Ausführung kamen. Die vier ältesten Hallen wurden als Stahlbetonrahmen errichtet und von den amerikanischen Streitkräften seitlich um Stahlskelettbauten erweitert. Bei den jüngeren zwölf Hallen kamen robuste, aber uneinheitliche Stahlfachwerkbinder und Stützen zum Einsatz, deren bauzeitliche Verzinkung einen ausreichenden Korrosionsschutz bot. Ebenfalls unterschiedlich ist die Ausführung der Außenwände und der Brandwände zwischen den Einzelhallen teils als Betonskelettkonstruktionen mit Mauerwerksausfachungen, teils als massive Mauerwerkswände. Der heterogene Bestand eröffnete aber auch Gestaltungsspielräume: So ließen sich die Wände gemäß der jeweiligen Nutzungen ganz unterschiedlich gestalten, z. B. mit den zuvor demontierten Glasbausteinen, Profilgläsern oder Dachpaneelen.

Nicht zuletzt, weil keinerlei Planmaterial zum Baubestand vorlag, experimentierten die Architekt:innen zunächst in einen kleinen Hallenabschnitt. Hier erprobten und optimierten sie ihr Rückbaukonzept. Zudem gewannen sie wichtige Erkenntnisse zum Aufbau von Tragwerk, Wand und Dach sowie zu den Materialeigenschaften und eventuell enthaltenen Schadstoffen. Hierbei entwickelte Strategien wurden anschließend auf die Gesamtmaßnahme übertragen. Eine Herausforderung ergab sich etwa aus der Tatsache, dass die nach Entfernen der Dächer und Fassaden der Witterung ausgesetzten Böden kein Gefälle aufwiesen, sodass sich Regenwasser in großen Pfützen sammelte. Auf Grundlage eines »Pfützenmappings« öffneten die Architekt:innen dann jeweils genau dort die Bodenplatte, um große Pflanzflächen zu schaffen, in die das Regenwasser nun versickern kann. Der entfernte Beton wurde geschreddert oder zurechtgeschnitten und für Ausstellungsbeiträge während der BUGA verwendet.

Flexibilität für zukünftige Nutzungen

Durch die BUGA-Nutzung ausschließlich während der Sommermonate sind die Hallenbereiche mit Ausnahme der noch immer betriebenen Gastronomiebereiche bis heute unbeheizt. Mit Blick auf spätere Nutzungsphasen erhielt die U-Halle jedoch einen Fernwärmeanschluss sowie eine 6 400 m² große PV-Anlage auf dem Dach, deren Leistung rund 1 MW beträgt. Die Strom-, Wasser- und Medienversorgung erfolgt über eine zentrale, leicht von allen Hallenbereichen erreichbare Leitungsachse.

Der von der städtischen MWS Projektentwicklungsgesellschaft (MWSP) aktuell durchgeführte weitere Rückbau des Gebäudes basiert auf den von Hütten & Paläste gesammelten Erkenntnissen. Da einige Mitarbeitende, die das Projekt auftraggeberseitig während der BUGA geleitet haben, zur MWSP gewechselt sind, ist zu erwarten, dass sich die U-Halle im Sinne des zirkulären Umbau- und Organisationsprinzips weiterentwickelt. Noch ohne konkrete neue Nutzungen sollen drei weitere Hallen rückgebaut werden, u. a., um das Windströmungsprofil auf dem Gelände zu optimieren und die bebaute Fläche zusätzlich zu entsiegeln. Dies wird nichts daran ändern, dass die U-Halle als multifunktionales, nachhaltiges und partizipativ veränderbares Gebäude weiterhin die Identität seines Umfelds prägt. Und theoretisch könnten die freigelegten Tragwerke auch wieder zu geschlossenen Bauvolumen ausgebaut werden.

3. Juni 2024 deutsche bauzeitung

Forsthaus »Maison de la Forêt« in Carcassonne

Das kleine Bürogebäude der Holzgenossenschaft Cosylva besteht aus gänzlich unbehandeltem Vollholz. Der Einsatz natürlicher Materialien war für die Architektin Pauline Chauvet und Archiekt Emanuele Moro aus Carcassonne ebenso selbstverständlich wie das Entwickeln sinnlicher, präzise durchkomponierter Details.

Um es gleich vorwegzunehmen: La Maison de la Forêt – das Haus des Waldes – liegt nicht im Wald, sondern am Rand eines ausufernden Gewerbegebiets mit Lagerhallen, Autowerkstätten, einem Shoppingcenter und Schnellrestaurants. Dennoch haben die Forsttechniker der kleinen Holzgenossenschaft Cosylva beim Blick aus den großen Fenstern ihrer neuen Büros das Gefühl, auf eine idyllische Waldlichtung zu schauen. Dieser Kunstgriff gelang dem Architekturbüro, indem es den Gebäudewinkel so auf dem Grundstück platzierte, dass er das Gewerbegebiet auf subtile Weise ausblendet. Charakteristisch für den Entwurf ist auch die ästhetische Inszenierung von Holz als natürlicher, sinnlicher Baustoff – vollkommen ohne Leim, Lasuren und industrielle Beschichtungen.

Lange bevor er sich auf die Suche nach einem geeigneten Standort machte, war für Philippe Gamet, Geschäftsführer von Cosylva und Bauherr, klar, dass das Haus des Waldes ein Holzhaus sein würde. Schließlich zählt die Waldbewirtschaftung in den Privatwäldern der südfranzösischen Departements Aude, Tarn, Hérault, Ariège und Pyrénées-Orientales zu den Hauptaufgaben der Genossenschaft. Sie berät Waldbesitzer:innen, plant und realisiert gemeinsam mit ihnen Waldarbeiten und Holzfällungen und vermarktet das geschlagene Holz.

Ausschlaggebend für die Wahl dieses Standorts am westlichen Stadtrand von Carcassonne waren der waldartige Baumbestand im Südteil des Grundstücks, dem im Norden eine einst als Autowaschplatz genutzte Brachfläche gegenüberstand. Dafür sprach aber auch, dass er sich unweit der Wohnorte der Mitarbeiter:innen und zugleich in der Nähe der Wälder befindet, die sie betreuen. Nicht zuletzt, weil die Genossenschaft hier immer wieder Mitglieder und Gäste empfangen würde, die es von der ganzheitlichen Qualität ihrer Arbeit zu überzeugen gilt, wollte Gamet mit dem Neubau beispielhaft gleichsam die Essenz des Baustoffs Holz präsentieren. Aus diesem Grund initiierte er 2019 einen geladenen Wettbewerb für Teams aus Architekt:innen und Zimmerer:innen aus der Region. Das Raumprogramm umfasste neben sieben Einzelbüros auch einen großzügigen Empfangsbereich, Sanitärräume mit Dusche sowie einen Besprechungsraum.

Spektakulär unprätentiös

Der Wettbewerbsbeitrag von PAUEM Atelier vereint die Bedürfnisse der Genossenschaft und die Eigenheiten des Grundstücks zu einer architektonischen Symbiose. Resultat ist ein eingeschossiger Gebäudewinkel mit gleich langen Seitenflügeln und einem Eingang an der Außenecke. Diesen Winkel platzierten die Architekten – ohne einen Baum fällen zu müssen – so auf dem dreieckigen Grundstück, dass sowohl ein großzügiger Vorplatz mit gedeckten Parkplätzen als auch ein abgeschirmter Hof entstanden.

Nord- und Ostfassaden verfügen über hoch liegende Bandfenster, die keine Einblicke gewähren. Dass die Fassaden dennoch nicht abweisend wirken, ist den feinen vertikalen Zinkblechstreifen zu verdanken, deren unterschiedlich breite Felder eine dezente Eleganz ausstrahlen und zugleich Hinweise auf die schottenartige Tragwerksstruktur geben. Die eher hermetische Blechfassade harmoniert dabei gut mit den umliegenden Gewerbebauten, sodass das Holzhaus bei Ankunft auf dem Gelände zunächst nicht kunstvoll elaboriert erscheint, obwohl es das in Wirklichkeit ist, sondern angenehm unprätentiös und selbstverständlich in sein Umfeld eingebettet.

Nach Passieren des gedeckten Eingangsbereichs eröffnet sich ankommenden Gästen ein faszinierendes Schauspiel. Sie verlassen die sich noch eben in der Glastür spiegelnde Wüste belangloser Lager- und Verkaufsbauten und betreten eine liebevoll in warmem Holz gestaltete Welt. Der erste Eindruck: Das unwillkürlich als behaglich empfundene Gebäudeinnere verfügt über wesentlich mehr Tageslicht als gedacht. Ursache hierfür sind die hoch liegenden Fenster in den Außenwänden der beiden Erschließungsflure entlang der Blechfassade sowie die großflächige Verglasung sämtlicher Innenräume in Richtung des Hofs. Hinzu kommt eine herrlich klare Grundrissgestaltung, durch die sich unmittelbar die Grundriss- und Tragwerksstruktur erschließen. Sofort ablesbar sind beispielsweise die 2,45 m breiten Raumachsen – alle 4,90 m sind abwechselnd die in den Flur ragenden Untergurte der Dach-Fachwerkträger bzw. die Stirnseiten von Sichtbetonwänden zu erkennen, die gemeinsam das zum Hof abfallende Pultdach tragen. Die Betonwände dienen als Aussteifungselemente und Speichermasse und verbessern den Schallschutz zwischen den Büros. Gleichzeitig stehen sie im angenehmen Kontrast zu den allgegenwärtigen Holzoberflächen.

Nachhaltig und beispielhaft bis ins Detail

Teil des Qualitäts- und Nachhaltigkeitsanspruchs, den PAUEM Atelier und Bauherr gleichermaßen verfolgen, sind der ausschließliche Einsatz von unverleimtem, auch im Außenbereich gänzlich unbehandeltem Vollholz und die mit minutiöser Präzision durchkomponierten und umgesetzten Details. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Holzstütze am Eingang, die in einer dreidimensionalen Verschränkung mit dem Sichtbetonfuß zu verschmelzen scheint. Um dieses skulpturale Detail realisieren zu können, entwickelten und bauten Pauline Chauvet und Emanuele Moro einen Schalungskörper aus Holz, der das exakte Gegenstück zur Holzstütze bilden musste. Die kraftschlüssige Verbindung dieser Materialien erwies sich als echte Herausforderung, da sie sich aufgrund völlig unterschiedlicher Toleranzbereiche (Millimeter versus Zentimeter) üblicherweise kaum je so eng aneinanderschmiegen wie hier. Minimale Toleranzen gab es auch bei den in den Gebäudeachsen direkt auf den Sichtbetonwänden aufliegenden Holzbalken, was – weil die Architekt:innen generell auf kaschierende Deckleisten verzichteten – eine extrem hohe Präzision beim Gießen der geneigten Ortbetonkanten erforderte.

Konstruktive Bauteile bestehen im ganzen Gebäude grundsätzlich aus Douglasie – jenem hochtragfähigen Holz aus den Wäldern rund um Carcassonne, für dessen Pflanzung sich Cosylva bei den Waldbauern besonders stark macht. Sämtliche Bauteilverbindungen sind zimmermannsmäßig und stets mit minimalem Schraubenanteil ausgeführt. Douglasienholz findet sich z. B. in den Dach-Fachwerkträgern, in der Holzständerkonstruktion der gipskartonbekleideten Bürotrennwände oder in den als Rahmenkonstruktion vorgefertigten Außenwand- oder Dachelementen. Erforderliche Aussteifungen erfolgen dabei nicht etwa mit industriellen OSB-Platten, sondern mittels diagonal aufgebrachter Bretterschalungen.

Natürliche Materialien waren für die Architekt:innen auch bei der Wärmedämmung des Bereichs unter der Betonbodenplatte selbstverständlich. Hier setzten sie auf Platten aus portugiesischer Korkeiche – ein Material, das zwar über ideale Druck- und Wasserfestigkeitseigenschaften, nicht aber über eine französische Zulassung für diesen Anwendungsfall verfügt. Überzeugt von der dauerhaften Materialperformance von Kork übernahmen die Architekt:innen kurzerhand selbst die Verantwortung. Als Dachdämmung wählten sie Holzwolle.

Verschiedene Holzarten als Einheit

Neben dem Konstruktionsholz aus Douglasie kamen gemäß ihrer spezifischen Eigenschaften noch einige weitere Holzarten zum Einsatz. Der Parkettboden beispielsweise wurde ebenso wie die sämtlich von PAUEM Atelier entworfenen Einbaumöbel und Tische in Eichenholz ausgeführt. Und die Fensterrahmen und Wandbekleidungen der Innenräume sowie die Fassade und der Boden der gedeckten Veranda bestehen aus verschiedenen Arten von Lärchenholz. Die dabei entstehende Variationsbreite zeigt Gästen und Genossenschaftsmitgliedern beispielhaft die vielfältigen Farbtöne, Oberflächen und Verwendungsmöglichkeiten der einzelnen Holzarten. Die Veranda dient zugleich als Musterbeispiel für den konstruktiven Sonnen- und Holzschutz.

Die Einzigartigkeit dieses Projekts liegt nicht zuletzt in der kongenialen Zusammenarbeit zwischen den Architekt:innen und Philippe Gamet, dem Planungsprozesse so vertraut sind wie die heimischen Wälder und der Baustoff Holz. Cosylva bezog daher das meiste Bauholz direkt aus den von seinen Mitgliedern bewirtschafteten Forsten, während die Weiterverarbeitung in Partnerbetrieben erfolgte, sodass die Transportwege des Holzes meist weniger als 30 km betrugen. Hinzu kommt jene Poesie der Präzision, mit der sich Pauline Chauvet und Emanuele Moro jeder noch so kleinen Einzelheit des Hauses widmeten. Beispielsweise bauten sie 1:1-Modelle der geschwungenen Büroschreibtische in den Rohbau ein, um deren ergonomische Eignung für die nur 9 m² großen Büros zu testen. Eine solche Sorgfalt, die weniger Pedanterie als vielmehr Ausdruck einer Liebe zur Architektur ist, zeigt sich auch in dem aus den Anfangsbuchstaben der Architektenvornamen zusammengesetzten Büronamen PAUEM, der im Französischen wie »poème« – Gedicht – ausgesprochen wird. Welch eine Poesie.

8. Januar 2024 deutsche bauzeitung

Zentrum für Kunstproduktion »Powerhouse Arts« in New York City

Durch die Sanierung und Erweiterung eines ehemaligen Kohlekraftwerks entstand ein 15 800 m² großes multidisziplinäres Zentrum für die Kunstproduktion. Alt und neu bilden ein kraftvolles, konsistentes Bauensemble, das sich uneitel und unprätentiös in den Dienst der Kunst stellt.

Der Gowanus-Kanal ist ein verzweigter Seitenarm der Upper Bay, angelegt Mitte des 19. Jahrhunderts, um ein Industrieareal im Stadtteil Gowanus in Brooklyn an das Wasserstraßennetz New Yorks anzubinden. Inzwischen sind die meisten Betriebsgebäude abgebrochen und die giftigen Altlasten aus dem Kanal entfernt, sodass die benachbarten Wohnviertel zusammenzuwachsen beginnen – erste Wohnhochhäuser sind bereits fertiggestellt. Einer der wenigen erhaltenen baulichen Zeugen der Industriegeschichte des Areals ist das 1904 fertiggestellte Kohlekraftwerk der Brooklyn Rapid Transit Company, das einst U-Bahnen mit Strom versorgte. Umstrukturierungen und modernere Energieerzeugungsmethoden führten in den 50er Jahren zum Abbruch des Kesselhauses und 1972 zum Betriebsschluss auch in der direkt angrenzenden Turbinenhalle. Letztere wurde anschließend von Hausbesetzern und der Graffitiszene eingenommen und war Veranstaltungsort für Underground-Raves.

Dieser Teil der Kraftwerksgeschichte endete 2015, als Joshua Rechnitz die Non-Profit-Organisation Powerhouse Arts gründete, die das Kraftwerk mit seiner tatkräftigen finanziellen Unterstützung kaufte, um hier ein multidisziplinäres Zentrum für die Kunstproduktion einzurichten. In den Produktionsanlagen und Werkstätten für Holz, Metall, Keramik, Textilien und Druckgrafik können Künstler und Kultureinrichtungen ihre Werke selbst herstellen oder produzieren lassen. Zudem stehen ihnen Ausstellungs- und Eventflächen zur Verfügung. Mit der Planung betraute die Organisation die Architekten des Büros Herzog & de Meuron, die die Turbinenhalle behutsam sanierten und um einen Neubau erweiterten.

Identitätsstiftende Landmarke

Eines der wichtigsten Ziele der Architekten war es, die alte Bausubstanz der Turbinenhalle und die Spuren ihrer wechselvollen Geschichte zu erhalten und nahtlos in den Kunstbetrieb des Powerhouse Arts zu integrieren. So blieb nicht nur das äußere Erscheinungsbild des als Stahlbau mit feingliedriger Ziegelfassade errichteten Gebäudes bestehen, sondern auch ein Großteil der in den letzten 50 Jahren darin entstandenen Graffiti. Als augenscheinlich neue Elemente sind heute von außen lediglich die bogenförmigen Fenster und der Haupteingang an der Ostseite auszumachen. Unverkennbar neu ist natürlich auch der auf den alten Fundamenten des Kesselhauses in Stahlbetonbauweise errichtete Kubus, dessen Grundfläche und Höhe ebenso mit dem Vorgängerbau übereinstimmen wie die Größe und Lage der Bogenfenster in der Ost- und Westfassade. Dass die Erweiterung nicht mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als die Turbinenhalle, obwohl sie diese um einige Meter überragt, liegt an der schlichten, schmucklosen Gebäudehülle und am rötlich durchgefärbten Sichtbeton, der unverkennbar Bezug auf die Ziegel des Altbaus nimmt.

Der Haupteingang des Powerhouse Arts liegt – von der 3rd Avenue und mit mehreren U-Bahn-Linien leicht erreichbar – an der Ostseite der Turbinenhalle, während sich der Anlieferungshof an der Gebäuderückseite am Gowanus-Kanal befindet. Angesichts der Gebäudegröße wirkt der kaum 5 m breite und 3 m hohe Eingang auf den ersten Blick vergleichsweise bescheiden. Für die Dimensionen der neu in die Außenwand gebrochenen Öffnung gibt es jedoch gute Gründe: beispielsweise den Wunsch nach einem minimalinvasiven Eingriff, der es ermöglichte, so viel wie möglich von der historischen Bausubstanz zu erhalten. Eine Rolle spielten aber auch Nebenräume und Fluchttreppenhäuser, die die Architekten gebündelt im Bereich über und neben dem Eingang anordneten, um so die Kernfläche der Turbinenhalle frei gestalten zu können. Der wichtigste Grund resultiert jedoch aus der von Anfang an verfolgten Entwurfsidee, mit dem Eingang eine starke räumliche Sequenz aus komprimierten und dekomprimierten Räumen zu schaffen, sodass das Gebäudeinnere nach Passieren des Windfangs umso großzügiger erscheint.

Klare Strukturen

Haben Künstler:innen, Mitarbeiter:innen und Gäste das Eingangsfoyer erst einmal erreicht, finden sie sich in einem schmalen, hohen Raum, der mit Empfangstresen, Cafébereich und Sitzstufen die gesamte Breite der Turbinenhalle einnimmt und voller Geschichte(n) steckt. Sorgfältig restaurierte genietete Stahlstützen und -träger sowie behutsam gereinigte Betonbögen und Ziegelwände mit Graffiti zeugen von vergangenen Zeiten. Dagegen verweisen ein neuer Holzdielenboden, eine mächtige neue Sichtbetonwand und neue Stahltreppen zu den OGs auf die heutige Nutzung – beim Blick nach oben ist ein Teil der Stahl-Dachkonstruktion zu erkennen. Der zunächst nur gefühlte Eindruck eines extrem klar strukturierten Raums bestätigt sich bei der Lektüre der Grundrisspläne. Dabei wird beispielsweise klar, dass die Sichtbetonwand Teil eines zweigeschossigen Betonskelettkörpers ist, der – gleich einem Schiff in der Flasche – in die Turbinenhalle implantiert wurde. Im überhohen EG befinden sich Werkstätten für großmaßstäbliche, schwere Objekte insbesondere aus Metall, die über die Anlieferung leicht abtransportiert werden können. Im OG des Betonkörpers sind v. a. Büros und ein kleiner Vortragssaal untergebracht.

Die im Neubau in allen sieben Geschossen entlang der nördlichen Außenwand der Turbinenhalle angeordnete Nebenraumzone mit Aufzügen, Treppen und Sanitärräumen ermöglicht die flexible Nutzung der Werkstattbereiche für Holz, Keramik, Druckgrafik und Textilien sowie der zweigeschossigen Eventhalle. Ebenfalls in diesem Bereich untergebracht sind Lüftungsgeräte, die die Abluft der emissionsintensiven Nutzungen der obersten Geschosse (Druck und Keramik) auf kurzem Weg zu den Absauganlagen auf dem Dach befördern. Diese Anlagen befinden sich neben weiterer Gebäudetechnik in zwei langen rechteckigen Einhausungen, die an die Schornsteine des historischen Kesselhauses erinnern.

Die Gestaltung sowohl des Betonkörpers in der Turbinenhalle als auch des Erweiterungsbaus basiert auf derselben Architektursprache und denselben Materialien. Tragwerkselemente sind in Sichtbeton ausgeführt, für den weder Zeichnungen angefertigt noch besondere Anforderungen definiert wurden. Hinzu kommen gewöhnliche Betonsteine für Mauerwerkswände, Glas-Trennwände mit Rahmen aus verzinktem Stahl, graue Estrichböden und an Wänden und Decken stets sichtbar geführte Installationen. So entsteht eine unprätentiöse, robuste Werkstattatmosphäre, die dank des Verzichts auf exaltierte Sonderlösungen zugleich half, die Kosten im Zaum zu halten. Einziger, immer wiederkehrender Farbakzent ist der rote Farbton, der seit jeher zur Grundierung von Stahlbauteilen verwendet wird – auch die Stahlkonstruktion des alten Gebäudes war hiermit versehen. Heute erscheinen nicht nur diese, sondern auch sämtliche neuen Stahlbauteile, Fensterrahmen, Geländer, Leuchten, Technikelemente und die Fassade des Neubaus in dieser Farbe. Letztere besteht aus durchgefärbtem Beton, bei dem die Schalung mit einer speziellen Flüssigkeit behandelt wurde, die das Abbinden verzögert und es so nach dem Ausschalen möglich machte, die obere feine Zementschicht abzuwaschen. Resultat ist eine angeraute, vorgealterte Betonfassade, die perfekt mit der Ziegelfassade der Turbinenhalle harmoniert.

Lebendige Geschichte

Die Grand Hall im obersten Geschoss der Turbinenhalle dient als Ort für Ausstellungen, Aufführungen, Kunstinszenierungen, Kunstmessen und andere öffentliche Veranstaltungen und fasst bis zu 1 234 Besucher. Sie füllt den kompletten Raum über der in die Halle implantierten Betonskelettkonstruktion und lässt das eng verzahnte Miteinander von altem Kraftwerk und neuer Nutzung so intensiv wie nirgendwo sonst im Powerhouse Arts erleben. Die überwältigende Raumwirkung basiert auf der gleichermaßen wuchtigen wie filigranen historischen Stahl-Dachkonstruktion, die so gut in Schuss war, dass nichts komplett ersetzt werden musste, und die dank der Sprinkleranlage unbekleidet bleiben konnte. Eine Rolle spielen natürlich auch die vielen großflächig erhaltenen Graffiti, die nur dann in Mitleidenschaft gerieten, wenn neue Wanddurchbrüche für Installationen oder Türen unerlässlich waren. Herausgebrochene Ziegel wurden jedoch nicht entsorgt, sondern zum Aufmauern neuer Wände oder zum Ausbessern alter Wände verwendet. Da die farbigen Vorderseiten dann nicht immer perfekt zusammenpassten oder nur unvollständige Bilder zeigten, entstanden einige skurrile Graffiti-Puzzles. Diese zeugen – ebenso wie die sichtbaren Schnittflächen abgeschnittener Stahlträger – von einem gewissen Pragmatismus der Architekten sowie von ihrem Wunsch nach Authentizität. Mit beidem feiern sie die Geschichte des Orts und schaffen Bezüge zur Kreativität des hier stattfindenden handwerklich-künstlerischen Geschehens. Ging es früher um die Erzeugung von Energie für U-Bahnen, sprüht das Powerhouse Arts heute nur so vor kreativer Energie. Zugleich sorgt es aber auch für den Verbleib des verarbeitenden Gewerbes in diesem Viertel und wirkt so der in Brooklyn allgegenwärtigen Gentrifizierung entgegen.

6. Juli 2023 deutsche bauzeitung

Wahrhaftig nachhaltig

Neues Besucherzentrum von Rapunzel

Das neue Besucherzentrum eines Herstellers für Bio-Lebensmittel von Haas Cook Zemmrich Studio 2050 ist sowohl Begegnungsort als auch Bildungsstätte. Vor allem aber bietet es vielschichtige Erlebnisräume in einer authentischen und nachhaltigen Materialwelt.

Wenn einer der Pioniere für Bio-Lebensmittel ein Besucherzentrum mit Museum, Supermarkt, Restaurant und Räumen für Events und Veranstaltungen eröffnet, dann wirft das Fragen auf. Noch dazu in einem ziemlich unscheinbaren Ort im Unterallgäu zwischen Memmingen und dem Bodensee. Wozu braucht »Rapunzel« so etwas überhaupt? Und wie lassen sich die ideellen und ökologischen Ansprüche in ein Gebäude übersetzen?

Angefangen hat alles im Jahr 1974 auf einem Bauernhof 50 km westlich von München. Ohne Businessplan, aber voller Ideen gründeten Jennifer Vermeulen und Joseph Wilhelm eine Landkommune. Ihre Motivation war allumfassend: Sie wollten die industrialisierte Ernährung hinter sich lassen und stattdessen einen Beitrag für eine gesündere Welt leisten.

Ideale statt Nabelschau

Ein Jahr später produzierten sie Müsli, Nussmuse und Fruchtschnitten und eröffneten in Augsburg den Naturkostladen »Rapunzel«. Den Namen entlehnten sie dem in Süddeutschland verbreiteten Wort für Feldsalat. Auf der Welle der gerade entstehenden Bio-Bewegung expandierte man so Schritt für Schritt zu einem Unternehmen mit heute 500 Mitarbeitern. Als Stammsitz und wichtigster Produktionsstandort dient seit 1985 ein ehemaliges Milchwerk in Legau.
Joseph Wilhelm, noch immer geschäftsleitend tätig, spricht davon, ein »Testimonial für einen anderen und mutigeren Lebensstil an den Schnittstellen zwischen ökologischem Landbau, gesunder Ernährung und sozialer Verantwortung zu schaffen«.

Dass es bei der »Rapunzel«-Welt um mehr als eine Nabelschau geht, zeigt die aktuelle Veranstaltungsvorschau. Neben Ayurveda-Kochkursen und Yoga stehen auch Kino, Lesungen und »Hippie-Partys« auf dem Programm. Von der Hauptstraße Legaus kommend, treffen die Besucher auf ein im Grundriss Y-förmiges Gebäude, das auf Anhieb eine angenehme Wärme ausstrahlt. Dieser Eindruck entsteht insbesondere durch das wellige, bis auf die im Erdgeschoss umlaufende Glasfassade heruntergezogene Dach. Hinzu kommt die Dachdeckung.

Authentische Materialien

Sie besteht aus 120 000 Schindeln, die dank der Vielzahl verschiedener Farbtöne von Ocker bis Rostbraun eine flirrende Kleinteiligkeit erzeugen. Dass es sich hierbei nicht um Holzschindeln, sondern um Biberschwanzziegel handelt, ist erst auf den zweiten Blick auszumachen. Diese Überraschung macht neugierig auf mehr. Über den zum Ort orientierten »Marktplatz« mit leise plätscherndem Brunnen gelangen die Gäste direkt in die zentrale zweigeschossige Eingangshalle. Hier herrscht geschäftiges Treiben. Denn die Halle ist im Erdgeschoss zugleich Restaurant mit rund hundert Sitzplätzen sowie Dreh- und Angelpunkt für die räumliche Verknüpfung aller Bereiche im Haus.

Vielfältige Sichtbezüge ins Freie und zu den durch Glaswände einsehbaren Erdgeschossnutzungen, vor allem für die Kaffeerösterei, die Bäckerei, sowie den Bio-Supermarkt sind wichtig für die behagliche Atmosphäre. Sie verschaffen den Gästen sofort einen guten Überblick und erleichtern die Orientierung. Entscheidend für die Raumwirkung ist aber der authentische Materialeinsatz.
Die Architekten des Stuttgarter Büros Haas Cook Zemmrich Studio 2050 verwenden sämtliche Oberflächen materialsichtig – verunklärende Anstriche oder undefinierbare Verbundwerkstoffe sind nicht auszumachen. Der Boden ist als geschliffener Terrazzoestrich mit grünen Andeer-Steinsplittern ausgeführt. Wände und Decken erscheinen in Sichtbeton. Die lange Ausgabetheke des Restaurants, die Brüstungen zur Galerieebene im 1. OG und die Untersicht der Dachschräge sind mit Eichenholz bekleidet.

Hinzu kommen von einem Allgäuer Möbelschreiner angefertigte Massivholz-Sitzbänke, -Stühle und -Tische. Letztere verfügen zum Teil – ebenso wie die Ausgabetheke – über Marmor-Tischplatten. Im Zusammenspiel ergibt sich ein wohltemperiertes Ensemble, das zugleich gemütlich und geradlinig-modern, unprätentiös und gewollt wirkt. Und das alles in einer sinnlichen Präzision, die die Wertschätzung für das Material und das traditionelle Handwerk eindeutig zum Ausdruck bringt.

Attraktion Wendeltreppe

Den wichtigsten gestalterischen Akzent in der Eingangshalle setzt die 12 t schwere, zugleich federleicht wirkende Wendeltreppe in der Raummitte. Sie ist 14 m hoch und besteht aus tragenden Außen- und Innenwangen aus Fichten-Brettschichtholz, die mit 5 mm starkem Eichenholzfurnier bekleidet sind. Einerseits erschließt sie die Besucherbereiche im UG, also Weinkeller, Bar, Garderobe und Toiletten. Andererseits führt sie ins 1. OG zu drei Veranstaltungsräumen und einem Museum rund um das Thema Bio. Die Bereiche sind von den Architekten und vom Atelier Markgraph in derselben Leichtigkeit und Detailverliebtheit gestaltet wie der Rest des Hauses. Interaktive Stationen zu ökologischem Landbau, gesunder Ernährung und fairem Handel sind hier ebenso zu finden wie zum Thema Lebensmittelverschwendung.

»Nachwachsenden oder wiederverwertbaren Baustoffen wurde, wann immer möglich, der Vorzug gegeben«, sagt Architekt Martin Haas in einem Interview für eine Art Reisetagebuch, mit dem »Rapunzel« die Entstehungsgeschichte des Besucherzentrums dokumentiert. Der Terrazzoestrich ist über einer Ausgleichsschicht aus Glasschaumzement angelegt und nicht mit kunststoffbasiertem Epoxidharz, sondern mit einer Schutzschicht auf silikatischer Basis versiegelt. Zur Wärmedämmung der Dachflächen kam Zellulosedämmung zum Einsatz.

Der Beton für das Tragwerk des Gebäudes stammt aus einem nur 14 km entfernten Sand-, Kies- und Transportbetonwerk. Und für das mit natürlichen Ölen behandelte Parkett im 1. OG wurden Eichenholzabfälle verwendet, die beim Bau der Treppe anfielen - und das, obwohl ein Angebot für billigeres neues Holz vorlag.

Ziegel statt Lärchenholz

Jede Materialentscheidung kam bereits während der Entwurfsphase auf den Prüfstand. »Wir haben eine Ökobilanz erstellt und die Materialien nach eingebundener Energie, der Wiederverwertbarkeit und dem Transport gewählt«, so Haas.

Dies führte bei der Wahl der Dachdeckung zur Entscheidung für die gebrannten Tonziegel und gegen den ursprünglichen Favorit Lärchenholz. Bezogen auf den gesamten Lebenszyklus erwiesen sich die Ziegel als nachhaltigere Lösung: Sie bestehen ebenfalls aus einem Naturprodukt (Ton), sind aber wetterfest, langlebig und nicht brennbar. Zudem eignen sie sich besser für die weniger stark geneigten Bereiche. Die typische variationsreiche Farbigkeit der Dachflächen entstand einerseits durch die unregelmäßige Beschichtung mit einer flüssigen Tonmineralmasse (Engobe), andererseits durch das unregelmäßige Untersortieren etwas längerer Ziegel.

Den Gästen der »Rapunzel«-Welt steht nicht nur mehr als drei Viertel aller Innenräume offen. Im Sinne eines ganzheitlichen Besuchererlebnisses ist auch die komplette, großflächig begrünte Dachfläche zugänglich. Im Wortsinn den Höhepunkt bildet die Dachterrasse über den Mehrzweckräumen im 2. OG. Hier, im höchstgelegenen Gebäudeteil, ordneten die Architekten ein »Krähennest« an, von dem aus sich die direkt benachbarten Produktionsanlagen ebenso gut überblicken lassen wie das Allgäuer Umland. Umgekehrt definiert dieser Bereich mit einer bis zu 21 m hohen Fassade eine weithin sichtbare Landmarke in der Landschaft.

Vom Dach führt der Weg über Treppen schließlich schrittweise zu den rückwärtigen Freiflächen und von dort zurück zum Haupteingang. Dieser architektonische Rundgang steht sinnbildlich für das Ideal von Rapunzel, in Kreisläufen zu denken und den Menschen mit gutem Beispiel voranzugehen. Insofern ist das Besucherzentrum tatsächlich mehr als eine Nabelschau. Es ist vielmehr der ernst gemeinte, aber eher spielerisch als überheblich formulierte Versuch, die Menschen zu sensibilisieren: für einen respektvollen Umgang mit ihren Mitmenschen und den endlichen natürlichen Ressourcen unseres Planeten.

4. April 2023 deutsche bauzeitung

Maßstäbe setzen ohne Allüren

TUM Campus in München

Ein Gebäude für Sport, Lehre und Forschung legt die Latte des im Holzbau Machbaren höher – mit einem Vordach, das als reine Holzkonstruktion auf 150 m Länge spektakuläre 18,6 m frei auskragt und zugleich subtile Bezüge zu den legendären Olympiabauten aufnimmt.

Die sanft wogenden Zeltdachkonstruktionen und Hügellandschaften des Münchener Olympiaparks bilden eines der bedeutendsten baulichen Gesamtkunstwerke Deutschlands. Weniger bekannt, aber nicht weniger wichtig, ist der nördliche Teil des Parks. Dort befinden sich das Olympische Dorf, das sich unter den heute 6 000 Bewohnern enormer Beliebtheit erfreut, sowie eine der größten deutschen Hochschulsportanlagen. Letztere diente ursprünglich als zusätzlicher Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 1972 sowie als Pressezentrum und wurde danach von der Fakultät für Sport- und Gesundheitswissenschaften der Technischen Universität München (TUM) sowie vom Zentralen Hochschulsport (ZHS) genutzt. Nach knapp einem halben Jahrhundert intensiver Nutzung wiesen die Sporthallen und Institutsgebäude insbesondere gravierende Brandschutz- und Platzprobleme auf. Um der TUM und dem ZHS optimal nutzbare Räume bieten zu können, fiel 2015 die Entscheidung, die Bauten abzubrechen und an ihrer Stelle nach einem Architektenwettbewerb den neuen »TUM Campus im Olympiapark« zu errichten.

Verzahnung von Alt und Neu

Das Siegerprojekt des Architekturbüros Dietrich | Untertrifaller zeigt einen 150 x 180 m großen Baukörper, der sich zweigeschossig und mit zahlreichen Innenhöfen gut in die rechtwinklige Struktur der umliegenden Außensportfelder einfügt. Da dessen Realisierung bei laufendem Betrieb erfolgen sollte, konzipierten die Architekten zwei diagonal verschränkte Hallen- und Bürocluster, die sich in zwei Bauabschnitten errichten lassen sollten und so einen schrittweisen Abbruch des Gebäudebestands ermöglichten. Im ersten Bauabschnitt, der nun fertiggestellt ist, entstanden die beiden Hallencluster: Sporthallen mit insgesamt 14 Sportfeldern, Büro-, Seminar- und Vorlesungsräume, eine Mensa, eine Bibliothek sowie Werkstätten und Labore. Nach Abbruch der Bestandsgebäude, an die der Neubau zentimetergenau herangerückt war, laufen nun die Arbeiten am zweiten Bauabschnitt auf Hochtouren. Die Fertigstellung der beiden komplementären Bürocluster mit Verwaltungs- und Institutsräumen ist für 2024 geplant.

Zentrales Element des Neubauprojekts ist die 165 m lange »Rue intérieure«, die die Architekten im 1. OG platzierten, wo ein Steg am Haupteingang die Anbindung an die erhöht angelegten Wege des Olympiaparks Nord übernimmt. Die Haupterschließungsachse bietet vielfältige Einblicke in die großflächig verglasten Sporthallen, Hörsäle und Seminarräume sowie in die Seitenflure und Innenhöfe der Bürocluster. Dank der durchgängigen Breite von 12 m und der vollflächigen Sprinklerung ist sie zugleich großzügiger Aufenthalts-, Lern- und Veranstaltungsbereich.

Prägnant und doch unaufdringlich

Wesentlich für die räumliche Qualität der in Ost-West-Richtung verlaufenden Rue intérieure ist neben ihren großen Nutzungsspielräumen das Farb- und Materialkonzept. Die Oberflächen spielen sich eher in den Hintergrund: ein polierter Betonfußboden, graue Sichtbetonwände, viel Glas sowie eine Decke mit zurückhaltender Fichtenholzbekleidung. Im Mittelpunkt stehen die Menschen, die den Raum mit Farbe und Leben füllen. Was auffällt, gerade weil es nicht auffällt, ist das Tragwerk. Stützen, Pfeiler oder Unterzüge, die das Lastabtragen offensichtlich machen würden, stechen nicht ins Auge. Stattdessen bestimmen große raumbegrenzende Flächen das Bild. So entsteht ein angenehmes Gefühl von Leichtigkeit – die Stützen vor den verglasten Seitenwänden sind so schlank und zudem dunkel gestrichen, dass sie vor den ebenfalls dunklen Fensterprofilen kaum auffallen. Sichtbar ist das Dachtragwerk aus Fichten-Brettschichtholzträgern mit 5 m Achsabstand lediglich an den Seitenrändern, wo Oberlichter reichlich Tageslicht in den Raum bringen.

Rue intérieure, Treppenkerne, Hörsaal, Teile der Sporthallen und das UG sind im Sinne brandschutztechnischer und statischer Kriterien als Stahlbetonkonstruktion ausgeführt, während Sporthallen, Institutsbereiche und die komplette Dachkonstruktion in Holzbauweise errichtet sind. In den Sporthallen prägt eine klare Struktur aus Brettschichtholzträgern, Oberlichtelementen und präzise gesetzten Sport- und Technikeinrichtungen das Bild. Erstere sind über allen Sportfeldern nur 16 cm breit, 27 m lang, in Feldmitte 1,80 m und am Auflager 1,40 m hoch und im Achsabstand von 2,5 m angeordnet. Dazwischen liegen einfache Kantholzpfetten, die mit einfachen OSB-Platten eine aussteifende Dachscheibe ausbilden. Im Zusammenspiel mit den Seitenwandbekleidungen aus Weißtanne entstehen standardisierte, maßstäblich gegliederte und unaufdringlich bewegte Räume mit behaglicher Raumatmosphäre. Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang sind die konischen Oberlichtelemente aus Dreischichtplatten, die dank integrierter Blendroste viel blendfreies Tageslicht einfallen lassen.

An der Grenze des im Holzbau Machbaren

Am westlichen Ende der Rue intérieure befinden sich die Bibliothek und die Mensa sowie eine große Außenterrasse, zu deren Füßen die orthogonal kreuzende Haupterschließungsachse der Außensportflächen – die Rue extérieure – sowie eine Leichtathletik-Außenanlage liegen. Der eigentliche Hingucker ist jedoch das über der Außenterrasse schwebende Vordach: eine vollverleimte Holzkonstruktion, die über die gesamte Gebäudebreite bemerkenswerte 18,6 m frei auskragt. Maßgeblich für dessen Gestaltung waren jene Vorgaben, die die Architekten schon im Wettbewerb zusammen mit den Holzbauingenieuren von merz kley partner definierten: Zum einen sollte die Höhe des Dachs der Höhe des umlaufenden Dachrands entsprechen, woraus eine Konstruktionshöhe von maximal 1,60 m resultierte. Zum anderen waren die Untersicht des Vordachs flächig auszubilden und sichtbare Unterzüge unbedingt zu vermeiden. Selbstredend musste die Lösung bei allen bautechnischen Herausforderungen wirtschaftlich umsetzbar sein. Aus diesen Vorgaben resultierten insgesamt vierzig 28 m x 3,75 m x 1,60 m große, jeweils selbstständig tragende Hohlkästen. Diese wurden komplett mit Oberlichtöffnungen, Entwässerungsleitungen und Wärmedämmungen vorgefertigt, angeliefert und per Autokran zunächst auf ein Hilfsgerüst eingehoben. Die Vordachelemente bestehen aus Längsrippen und Querträgern in Brettschichtholz sowie aus bis zu 20 m langen Furnierschichtholz-Beplankungsplatten, die zusammen für eine hohe Steifigkeit und geringe Verformungen sorgen. Beeindruckend ist angesichts der enormen Auskragung v. a. die Leichtigkeit, mit der die Elemente im Gebäude rückverankert sind – zumal der Teil über dem Innenraum lediglich 9,3 m lang ist und jeweils auf vier Punkten aufliegt. Die druckbelasteten Pendelstützen in Fassadenebene dienen je zwei benachbarten Elementen als Auflager. In die Hohlkästen integrierte verstärkte Querträger sowie Kopfplatten mit Querdruckverstärkungen gewährleisten dabei die erforderliche Lastverteilung. Die Auflager entlang der fassadenparallelen Glaswände zur Sporthalle bzw. zum Innenhof nehmen hingegen nur Zugkräfte auf, die mittels Zugstangen in Rückverankerungen im Boden eingeleitet werden. Rund 1 m lange Schrauben in den Querträgern der Hohlkästen übernehmen dabei die Kraftübertragung. Kleiner Wermutstropfen: Brandschutzbestimmungen führten dazu, dass die Zugstäbe mit Brandschutzbekleidungen aus Holz versehen werden mussten, die sie massiver erscheinen lassen als die druckbelasteten Pendelstützen. Die horizontale Aussteifung erfolgt über die Anbindung des Dachs an Treppenhauskerne und andere Betonwände.

Neue Landmarke im Olympiapark

Der TUM Campus ergänzt den denkmalgeschützten Olympiapark um ein selbstbewusstes, ikonisches Bauwerk, das auf den ersten Blick keinen Bezug auf die denkmalgeschützten Olympiabauten nimmt. Mit seinen dunkel lasierten Holzfassaden und der zurückhaltenden Gestaltung erscheint der TUM Campus, der von 125 000 Studierenden und 30 000 Beschäftigten aller Münchner Universitäten und Hochschulen genutzt wird, vielmehr auf angenehme Weise geerdet. Entwurfsentscheidungen basierten hier immer auch auf funktionalen Aspekten. Das zeigt sich nicht zuletzt am Vordach: Im EG unter der Mensa sind Sportlabore untergebracht, in denen Forscher die Leistungsperformance von Sportlern während und nach den Trainingseinheiten untersuchen. Dank des weit über der Außenterrasse und Teilen der Laufbahnen schwebenden Vordachs können diese Messungen witterungsgeschützt stattfinden. Zugleich lässt das Dach einen geschützten Zuschauerbereich für Sportveranstaltungen auf der Leichtathletik-Außenanlage entstehen. Auf den zweiten Blick offenbart der TUM Campus dann doch subtile Parallelen zu den legendären Zeltdachkonstruktionen: die Alltagstauglichkeit, die weitläufige räumliche Offenheit und die Leichtigkeit eines Tragwerks, das die Grenzen des Machbaren austestet. Es ist diese Art der bescheidenen Reduktion auf das Wesentliche, die den Neubau zum selbstverständlichen, integralen Teil des Olympiaparks werden lässt.

12. September 2022 deutsche bauzeitung

Ein Park klettert über die Häuser

Wohnbauten in Nizza (F)

Mit dem Quartier Le Ray schuf das Pariser Architekturbüro Maison Edouard François ein einzigartiges Wohnumfeld. Der Gemeinschaftsgedanke steht dabei ebenso im Vordergrund wie eine Begrünung, die den benachbarten Park gleichsam bis in die Wohnungen holt.

Nizza verzeichnet nach Paris die meisten Städtetouristen in Frankreich, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass es als die französische Großstadt mit den meisten Sonnenstunden gilt. Im Sommer wird jedoch genau das oft zum Problem, weil sich die Straßen und Gebäude über den Tag auch ohne Hitzewelle so aufheizen, dass die Temperaturen selbst nachts kaum unter 30 °C fallen. Darunter leiden v. a. jene innerstädtischen Bereiche, die nur über wenige Grünflächen verfügen. Das neue Quartier Le Ray liegt nur ein paar Kilometer nördlich der mondänen Promenade des Anglais am Mittelmeer, dort, wo die dichte Bebauung der Stadt in die geschwungene Hügellandschaft der Seealpen übergeht. Bis vor fünf Jahren befand sich hier noch das Stade du Ray des Erstliga-Fußballvereins OGC Nice, der heute in einem Neubau am Stadtrand spielt.

Um das Gelände nach Abriss des alten Stadions neu zu ordnen, initiierte die Stadt einen Wettbewerb für Partnerschaften aus Bauunternehmen und Architekten. Neben einem 2 ha großen öffentlichen Park sollten – ohne konkrete ökologische Vorgaben – auf einem weiteren Hektar insbesondere Ladenflächen und Wohnungen entstehen. Zum Raumprogramm gehörten ein Supermarkt und Einzelhandelsflächen (insgesamt 6 000 m²), ein Trainingsraum für japanische Kampfkünste (1 000 m²), 650 Stellplätze und insgesamt 350 Wohnungen.

Dass das Pariser Architekturbüro Maison Edouard François das Verfahren gemeinsam mit den Landschaftsarchitekten von La Compagnie du Paysage und dem Baukonzern VINCI für sich entscheiden konnte, hatte v. a. eine Ursache: Die Architekten entwarfen ein Projekt, das so eng mit den urbanen und klimatischen Eigenheiten der Stadt sowie mit den Besonderheiten des Grundstücks verwoben ist, dass es seinerzeit wie heute noch schwerfällt, sich hier alternative Lösungen vorzustellen. Wesentlich hierbei ist die Tatsache, dass sich die Neubebauung nicht als eitle architektonische Landmarke präsentiert. Im Gegenteil: Sie verschwimmt subtil sowohl mit dem bestehenden städtischen Umfeld als auch mit dem neuen, ebenfalls von der Compagnie du Paysage geplanten Park.

Wohnen im Mittelpunkt

Wer sich aus der Innenstadt auf den Weg zum Quartier Le Ray macht, beispielsweise mit der Straßenbahnlinie 1, ist angesichts der Kleinteiligkeit zunächst einmal überrascht. Am Boulevard Gorbella gibt es weder Hinweise auf die Präsenz eines großen Supermarkts noch auf eine Parkgarage mit 650 Stellplätzen. Während das EG wegen der wenigen bescheidenen Schaufenster und der einfachen Markisen einen kleinen Lebensmittelmarkt erwarten lässt, entpuppt sich das Ganze beim Eintreten als Hypermarché mit allem Pipapo. Dass dieser Markt von außen nahezu unsichtbar bleibt, hat damit zu tun, dass der größte Teil seiner Fläche dank des sorgfältig modellierten Geländes unter der Erde liegt – ebenso wie die beiden Tiefgaragengeschosse, deren Zufahrt in einer Nebenstraße angeordnet wurde. Im Mittelpunkt stehen stattdessen die insgesamt zehn Wohnhäuser mit 260 Eigentums- und 90 Sozialwohnungen, die sich mit überbordender Boden-, Fassaden- und Dachbegrünung allesamt über der Ladenfläche befinden. Sie, und nicht der Kommerz oder das Auto, definieren das weithin sichtbare, einprägsame Erscheinungsbild des neuen Quartiers.

Zwei dieser Wohnhäuser, die wegen der Erdbebengefahr in der Region alle in Stahlbeton konstruiert sind, nehmen eine Sonderposition ein. Sie beherbergen an der Gebäudeecke über dem Eingang zum Hypermarché die Sozialwohnungen und suggerieren durch die unterschiedliche Fassadengestaltung drei unprätentiöse Einzelgebäude, die einen vermeintlich im Lauf der Jahre gewachsenen Blockrand ausbilden. In Wirklichkeit handelt es sich (auch bei dem Bau mit den historisch anmutenden Klappläden) um Neubauten von Edouard François, die nur scheinbar nachträglich um ein bis zwei OGs aufgestockt wurden. Diese Geschosse verfügen über die gleiche begrünte Gebäudehülle und die gleichen weit auskragenden Balkonplatten wie die meisten der anderen Neubauten und definieren so den fließenden Übergang zwischen Stadt und Park. Bis ins EG begrünte Fassaden hätten hier deplatziert gewirkt, und ohne dieses Bindeglied wären die Blockränder nicht als Teil der Gesamtanlage erkennbar gewesen.

Begrünung als integraler Teil des Gebäudeentwurfs

Der zentrale Zugang zum Quartier liegt am Boulevard Gorbella. Von hier gelangen alle Bewohner zunächst in eine mondäne Eingangshalle mit Devotionalien des OGC Nice und über eine breite Treppe schließlich nach oben in den Freibereich zwischen den in drei Zeilen angeordneten Häusern. Was beim Vor-Ort-Besuch angesichts der sengenden Julihitze sofort spürbar ist: Dank der engen Stellung der Häuser und der üppigen Begrünung herrscht ein sehr angenehmes Kleinklima. Nicht zu übersehen ist auch, dass die Bepflanzung sowohl am Boden als auch an der Gebäudehülle heute sehr viel dichter geschlossener ist als auf den Fotos, die ziemlich genau ein Jahr zuvor entstanden. Dieser Erfolg ist insbesondere den Landschaftsarchitekten der Compagnie du Paysage zu verdanken. Sie haben in enger Abstimmung mit den Architekten mehrere Hundert Pflanzenarten ausgewählt, die optimal an das mediterrane Klima angepasst und zugleich robust und anspruchslos sind.
Außer den zwei Blockrandhäusern gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Typen von Gebäuden. In der Mitte stehen zwei aufgeständerte Laubenganghäuser mit Fassaden, die an Staketenzäune erinnern. In deren EGs liegen von allen Bewohnern genutzte Bereiche: Fahrradabstellplätze, eine E-Bike-Ladestation sowie ein Gemeinschaftsraum. Ebenfalls gemeinschaftlich genutzt sind die beiden Dachflächen. Sie sind als Dachgärten angelegt, die von einem externen Verein betreut werden und mit Hochbeeten den Anbau von Gemüse, Salat, Beeren etc. ermöglichen. Zwei Gewächshäuser dienen als zusätzliche Pflanzfläche bzw. als Ort zur Aufbewahrung von Gartenutensilien.

Die Kubatur der sechs seitlichen Gebäude ist geprägt von den lebhaft vor- und rückspringenden Sichtbetonwänden sowie von den unterschiedlich weit auskragenden Balkonplatten. Ihr Erscheinungsbild wird dennoch wesentlich von einem filigranen Gerüst aus robustem unbehandeltem Kastanienholz bestimmt, das die Architekten vor den Wänden und Balkonen platzierten. Teil des Gerüsts sind unregelmäßig in unterschiedlichen Höhen angebrachte Holz-Pflanztröge mit Kletterpflanzen, die am Holzgerüst und an diagonal gespannten Edelstahlseilen entlangwachsen. Um die darin eingesetzten Pflanzen müssen sich die Bewohner ebenso wenig kümmern wie um die Grünflächen am Boden. Nach rund fünf Jahren sollen die Pflanzen ein in sich geschlossenes Ökosystem ausgebildet haben, in dem sie so zusammenwirken, dass sie nicht mehr gegossen werden müssen. Bis dahin übernehmen Landschaftsgärtner zweimal pro Jahr die notwendige Pflege. Ohne die Wohnungen betreten zu müssen, gelangen sie mit Hubsteigern an die Pflanztröge. Deren Bewässerung erfolgt – sofern es Niederschläge gibt – mittels Regenwassers, das in einer zentralen unterirdischen Zisterne gesammelt und über ein sichtbares Schlauchsystem verteilt wird. Was das Erscheinungsbild der begrünten Gebäudehülle so faszinierend und zugleich kostengünstig macht, ist die angenehm unprätentiöse und luftige Konstruktion: Die Kanthölzer sind simpel verschraubt, völlig unregelmäßig gemasert und häufig nicht im Lot.

Typisch Nizza

Ein weiterer Grund, weshalb sich das Quartier Le Ray so selbstverständlich in sein Umfeld einfügt, sind die vielen kleinen Details, die die Gebäude klar als nizzaisch kennzeichnen: die azurblauen Stühle in den Freiflächen, die seit Jahrzehnten die Promenade des Anglais säumen; die mit einem Trompe-l’Œil bemalte Fassade – eine Hommage an die vielen historischen Pendants, die einst in der Stadt entstanden, um die für echte Fenster fälligen Steuern zu sparen; oder die sand- und erdfarbenen Putz- und Steinfassaden zum Boulevard Gorbella, die den typischen Fassaden der Stadt entsprechen.

Auch wenn gut drei Viertel der 350 Wohnungen Eigentumswohnungen sind, die bei einer Vermietung gute Preise erzielen dürften, handelt es sich bei dieser Neubebauung nicht um ein elitäres Luxusquartier. Dafür sorgt eine Architektur des Augenmaßes und der Maßstäblichkeit, bei der nicht die einzigartige Außenwirkung im Vordergrund steht, sondern die Gemeinschaft der Menschen und das Miteinander von Stadt und Natur. Und das sollte in Wohnquartieren kein Luxus, sondern vielmehr die Regel sein.

4. September 2020 deutsche bauzeitung

Im Dialog mit der Stadt

Apartmenthaus in Porto (P)

Der Neubau in Portos Altstadt ist kein Manifest des Betonpurismus. Er schlägt vielmehr eine Brücke zwischen den Jahrhunderten und trägt zur Heilung städtebaulicher Wunden bei. Dreh- und Angelpunkt in diesem Zusammenhang sind die Loggien. Sie lassen eine fast 2 m tiefe Raumschicht entstehen, die als feinsinniger Filter zwischen innen und außen vermittelt.

Portos Altstadt genießt seit 1996 Weltkulturerbestatus, und innerhalb des hügeligen Stadtgebiets liegt auch der vor gut 100 Jahren eröffnete Bahnhof São Bento. In unmittelbarer Nähe des Gebäudes befindet sich eine große Brachfläche, die recht irritierend wirkt, wenn man bedenkt, dass die UNESCO explizit das »städtische Gefüge« unter Schutz stellte. Doch städtebauliche Brüche haben an diesem Standort Tradition: Dem Bau des Bahnhofs fiel ein Kloster aus dem 16. Jahrhundert zum Opfer, und um eine prächtige Achse zur berühmten Stahlbogenbrücke Ponte Luís I anzulegen, wurde in den 50er Jahren eigens ein ganzes Altstadtviertel abgerissen und eine breite Schneise in den Fels gesprengt. Dieses ambitionierte Projekt verlief freilich ebenso im Sand wie die inzwischen 20 Jahre alten Pläne Álvaro Sizas, das Areal an der Avenida Dom Afonso Henriques wieder zu verdichten. Bis vor Kurzem prägte den nordöstlichen Rand jener felsigen, kaum vernarbten Wunde im Stadtkörper, noch ein unbebautes Grundstück mit der ruinösen Straßenfassade eines Wohnhauses aus dem 18. Jahrhundert.

Durch eine Konstellation, deren Erläuterung hier zu weit führen würde, ­erhielt ein Investor die Möglichkeit einer Baurechtsprüfung für eben dieses Grundstück. Der von Alexandra Coutinho und Nuno Grande vom Architekturbüro Pedra Líquida hierfür erstellte Vorentwurf eines Wohnhauses wurde zwar nicht umgesetzt, bildete aber den Ausgangspunkt für das von den Architekten stattdessen realisierte Apartmenthotel São Bento Residences. Das Grundstück ist, wie bei Wohnbebauungen in der Altstadt Portos üblich, schmal und lang und war früher mit mehreren Hinterhäusern bebaut. Diese waren bei Planungsbeginn bereits ebenso verschwunden wie die Räume ­hinter der Fassade und auch die einst westlich direkt angrenzenden Nachbarhäuser, sodass sich die völlige Neuinterpretation des Orts geradezu auf­drängte. Entstanden ist ein Neubau aus zwei optisch eigenständigen, gestal­terisch jedoch einheitlichen Bauvolumen, die an einem haushohen Spalt, in dem sich der Hoteleingang befindet, aufeinandertreffen.

Neu interpretiert

Die alte denkmalgeschützte Natursteinfassade musste penibel genau wiederhergestellt werden, und für die Aufstockung um ein leicht rückspringendes DG in Sichtbeton gab es verbindliche Auflagen. Zum einen war ein Dach­gesims vorzusehen, das die Fassade analog zu den Nachbargebäuden optisch nach oben abschließt. Dem entsprachen die Architekten mit einer einfachen auskragenden Betonplatte. Zum andern mussten beide Volumen über ein geneigtes Ziegeldach verfügen – dieses Dach verbirgt sich hinter den über den Traufpunkt hochgezogenen Sichtbetonaußenwänden.

Prägnantester Teil des Neubaus ist das große Bauvolumen an der Avenida Dom Afonso Henriques. Was beim Blick auf dessen Sichtbetonfassade sofort auffällt, sind zwei Dinge: Erstens weisen die gleichförmigen Fassadenöffnungen über dem Restaurant im EG jene Vertikalität auf, von der auch alle alten Häuser Portos gekennzeichnet sind. Zweitens erscheint das Haus durch die tiefen Einschnitte sehr massiv und plastisch. Fenster im herkömmlichen Sinn sind nicht zu erkennen – sämtliche Öffnungen sind, außer im Restaurant im EG, als Loggien ausgebildet. Aus der Entfernung mag diese »Massivität« vielleicht ein wenig unnahbar anmuten. Beim Näherkommen wirkt der mit Stockhämmern großflächig aufgeraute Sichtbeton jedoch angenehm vertraut. Nicht zuletzt deshalb, weil durch die Oberflächenbearbeitung ein wichtiger Zuschlagstoff freigelegt wurde: eine lebhafte Mischung von Körnern verschiedener Granitsorten. Und Granit ist in Porto allgegenwärtig – in Kopfsteinpflastern und Hausfassaden ebenso wie im freigelegten Felsen neben dem Neubau.

Geheimnisvolle Nischen

Die mit versetzt offenen und geschlossenen Feldern präzise komponierte ­Fassade erscheint auf den ersten Blick als neutrale, zurückhaltend elegante Bauskulptur. Was sich in ihrem Innern verbirgt, wird vielen Passanten auch beim zweiten Blick ein Rätsel bleiben – allein anhand des am Eingang an­gebrachten Schriftzugs »S. Bento Residences« gibt sich das Haus jedenfalls nicht eindeutig als Hotel zu erkennen. Hotelgäste sehen darin wohl eher den Reiz des Geheimnisvollen als einen Nachteil.

Hat man eines der zwölf Apartments mit Loggia gebucht, begibt man sich nach Passieren der kleinen Lobby (weitere öffentliche Bereiche gibt es nicht) nach oben. Wie aber sehen die Räume hinter der massiven Außenwand aus, insbesondere der Übergang zu den Loggien? Wie fühlen sich die Loggien an? Wie viel Licht fällt durch sie in die Innenräume? Von dieser Neugier getrieben, zieht es einen zuallererst in Richtung Straßenfassade. Auf dem Weg dorthin fällt auf, wie wunderbar asketisch die Räume mit nur wenigen Materialien definiert wurden: Betonestrich, Sichtbetondecken und -außenwände, Fensterrahmen aus Kambala-Holz und Messinggeländer. Wirkt die Loggienfassade von außen monolithisch und ruhig, so erscheint sie von innen feingliedrig und bewegt. Die Abfolge aus unterschiedlich dimensionierten Nischen spiegelt im Innern nicht das gleiche Regelmaß wider, das noch von außen zu sehen war. Das liegt daran, dass die Seitenwände der Nischen jeweils entweder kurz oder lang, aber nie gleich lang sind, und die Verglasung – von außen kaum erkennbar – stets übereck geführt ist. Dadurch öffnen sich die Loggien zum Raum und es entstehen unerwartete Durchblicke und Spiegelungen.

Die Loggien sind recht klein und für herkömmliche Balkonmöblierungen nicht geeignet. Dennoch sind sie so groß, dass zwei Personen dort entspannt sitzen und den Ausblick genießen können. Zu manchen der für 2-4 Gäste geeigneten Apartments gehört eine Doppelloggia mit zwei Öffnungen. Je nach Größe verfügen die Apartments über zwei oder drei Öffnungen, die – nachdem das Haus zur Rückseite komplett geschlossen ist – zugleich die einzigen Tageslichtquellen bieten. Von räumlicher Enge kann dennoch keine Rede sein, eher von einer kontemplativen Konzentration auf den Innenraum, der durch die tiefen Öffnungen gerahmte Ausblicke in die Altstadt zeigt. Einen besonders geborgenen Rückzugsort bieten die meist als Sitzecken genutzten ­Nischen, deren Raumhöhe hinter einem breiten Betonunterzug jener des Apartments entspricht. Angeregt vom Raumerlebnis dieses unkonventio­nellen Raums kommt unwillkürlich die Frage auf, wie das Gebäudetragwerk funktioniert.

Ein Abschnitt des Gebäudeteils mit den Loggien liegt oberhalb der unterirdischen Metrostation São Bento, sodass Stützen nur links und rechts der breiten Glasfront des Restaurants zur Avenida Dom Afonso Henriques möglich waren. Über diesen Stützen spannt in Gebäudelängsrichtung in jedem Geschoss ein langer Unterzug, der die Vertikallasten sowohl aus den Apartments als auch aus den um fast 2 m auskragenden Loggien aufnimmt. Diese Rahmenbedingungen erforderten ein komplexes Tragsystem, bei dem die Scheibenwirkung der straßenseitigen Außenwand ebenso wichtig ist wie die Unterzüge, die betonierten Geschossdecken und das Gewicht der rückseitigen, geschlossenen Betonwand. Im Zusammenspiel entsteht ein dreidimensionales Tragsystem, das lediglich in puncto Wärmebrücken Defizite aufweist. So gibt es zwar kerngedämmte Außenwände und Nischen, doch die Übergänge von Balkon- zu Deckenplatten blieben ­ungedämmt, weil der Bauherr die Kosten für die thermische Trennung scheute. Bauphysikalisch ist dies weniger brisant als es scheint. Schließlich sinken die Temperaturen in Porto auch im Winter nicht einmal bis in die Nähe des Gefrierpunkts.

Bindeglied zur Altstadt

Es ist eine Binsenweisheit, dass die Außenwände eines Hauses die Innenwände der Stadt bilden. Sie erklärt aber, warum die Loggien nicht wesentlich breiter hätten sein dürfen. In diesem Fall hätten sie den Rahmen gesprengt und den Dialog des Neubaus mit den Häusern der Altstadt zerstört. Ein Gebäude mit vorgehängter Glasfassade hätte hier geradezu obszön gewirkt. Fenster in Fassadenebene kamen für die Architekten schon allein deshalb nicht infrage, weil Denkmalschutzvorgaben dann nach Fenstersprossen verlangt hätten. Zurückgesetzte Fenster, wie jene in den Loggien, sind von dieser Regelung hingegen nicht betroffen.

Wie selbstverständlich sich São Bento Residences in sein urbanes Umfeld einfügt, ist gut vom nur wenige Gehminuten entfernten, 75 m hohen Torre dos Clérigos zu erkennen. Dort zeigt sich auch, dass die leicht verspielt hin und her hüpfenden Loggien nicht wie Fremdkörper wirken. Im Gegenteil, sie machen bewusst, dass die Stadt nicht aus einer, sondern aus vielen verschiedenen steingewordenen Zeitschichten besteht – insofern tritt der dezidiert aus der heutigen Zeit stammende Neubau als Brücke zwischen den Jahrhunderten auf. Mit diesem Bild spielt schließlich auch die um die Ecke geführte Natursteinfassade des »Altbaus«, aus dem der Neubau herauszuwachsen scheint. Würde auch die restliche Brachfläche am Bahnhof São Bento mit der gleichen Sorgfalt neu bebaut werden, wäre diese Wunde in Portos Stadtkörper rasch verheilt.

7. Mai 2020 deutsche bauzeitung

In den Hang komponiert

Schulcampus in Neustift im Stubaital (A)

Das Miteinander steht im Schulcampus Neustift an erster Stelle. Das zeigt das pädagogische Konzept der ­offenen Lerncluster, aber auch das Schulhaus selbst: Nach Plänen von fasch&fuchs.architekten entstand eine faszinierende Architekturlandschaft, die viel Bewegungsfreiheit bietet und zugleich behutsam in die Tiroler Bergwelt eingebettet ist.

Die Gemeinde Neustift im Stubaital befindet sich auf rund 1 000 m Seehöhe einige Kilometer südlich von Innsbruck, ganz in der Nähe des Skigebiets ­Stubaier Gletscher. Sie setzt sich aus zahlreichen Ortsteilen zusammen, die als gleichmäßig verteilte Bebauungsinseln aus Wohnhäusern und Hotels fast nahtlos ineinander übergehen. Prägend für das Erscheinungsbild des Tals ist jedoch nach wie vor die weitläufige Wald- und Wiesenlandschaft. Am westlichen Rand des Ortsteils Kampl, am Übergang zu eben dieser Naturlandschaft, realisierte die Gemeinde im Rahmen eines zweistufigen, EU-weit offenen Architektenwettbewerbs den Schulcampus Neustift. Ziel des von ihr ausgelobten Verfahrens war die Zusammenführung mehrerer bislang auf dem Gemeindegebiet verstreuter Schulen mit insgesamt rund 450 Schülern der 1.-9. Klassenstufe. Teil des Campus sind die Volksschule, die Neue Mittelschule, die Polytechnische Schule und die Skimittelschule mit Ski-Trainingszentrum (inklusive Internat) und Mensa sowie eine auch für Breitensportaktivitäten und andere Veranstaltungen konzipierte Sporthalle. Sieger des Wettbewerbs wurde das Wiener Büro fasch&fuchs.architekten, das die Konkurrenz so klar für sich entschied, dass die Jury keinen zweiten, dafür aber zwei dritte Preise vergab.

Schule mit Weitblick

Das 12 000 m² große, zuvor unbebaute Grundstück liegt gut erschlossen direkt an einer Landesstraße am Rand des Ortsteils Kampl. Es fällt nach Westen leicht ab und bietet eine geradezu kitschig schöne Aussicht auf die Wälder, Almwiesen und Heuschober der nur spärlich bebauten westlichen Talflanke. Dass dieses einzigartige Umfeld eine bauliche Lösung erforderte, die die Landschaft in besonderer Weise würdigt, war für die Architekten schon nach der ersten Begehung klar. Entsprechend entwarfen sie ein kleinteiliges, sensibel mit einem eingeschossigen und zwei höheren Bauvolumen in den Hang komponiertes Gebäudeensemble. Dies ermöglicht von fast jedem Innenraum Blickbezüge in die Umgebung, ohne gleichzeitig mit den Baukörpern den dörflichen Maßstab zu sprengen. Zur Einbettung in die dörflichen Strukturen tragen auch die unaufdringlich eleganten Holzfassaden bei. Die OGs der beiden höheren Gebäude verfügen über Fassaden aus grazilen vorvergrauten Lärchenholzstäben, während das beide Gebäude verbindende EG mit einer einfachen Schalung aus Fichtenholzbrettern bekleidet ist.

Auch wenn im Bewerbungsverfahren der ersten Wettbewerbsphase explizit nach Referenzprojekten mit hoher Qualität in Bezug auf »maßstäbliches und landschaftsbezogenes Bauen« verlangt wurde, ist der Landschaftsbezug nicht der einzige Grund für das Konzept einer gebauten Landschaft. Vielmehr übersetzten die Architekten damit auch den Wunsch der Ausloberin nach einer »Schule von morgen«, die vielfältige pädagogische Ansätze und insbesondere einen »offenen« und »verschränkten« Unterricht mit ineinander übergehenden Lern- und Freizeitphasen ermöglichen soll. Zu den unerlässlichen Voraussetzungen zur Umsetzung solcher Ansätze zählt nicht zuletzt eine hohe Aufenthaltsqualität der Innen- und Außenräume, über die der Schulcampus heute zweifellos verfügt.

Auf Entdeckungsreise

An der Landesstraße tritt die Schule zunächst als zweigeschossiger Baukörper in Erscheinung. Dass dieser Kopfbau neben der Volksschule im OG auch eine gut 8 m hohe Dreifachturnhalle mit Zuschauertribüne beherbergt, lässt sich nur anhand der Glas-Oberlichter auf dem Vorplatz zur Straße erahnen. Von hier aus ebenfalls kaum auszumachen sind die sechs eingeschossigen Lerncluster, die terrassenartig gestaffelt links und rechts einer mittigen Erschließungsachse angeordnet sind. Die Polytechnische (Berufs-)Schule und die Skimittelschule für junge Ski- und Snowboardtalente belegen jeweils einen der oberen Cluster; die Neue Mittelschule ist in den unteren vier Clustern ­untergebracht. Den talseitigen Abschluss des Gebäudeensembles bilden schließlich eine von allen Schülern gemeinsam genutzte Mensa und das fünfgeschossige Trainingszentrum der Skimittelschule.

Wer den Schulcampus über den Haupteingang am Vorplatz betritt, taucht in ein lichtdurchflutetes Gebäude ein, das sich sofort als vielschichtige Architekturlandschaft entpuppt. Faszinierend ist dabei keineswegs nur die Präsenz der umgebenden Natur, sondern auch die strukturelle Offenheit – im EG selbst, aber auch von hier zu den darüber und darunter liegenden Geschossen. Das macht neugierig und weckt die Lust, sich auf Entdeckungsreise zu begeben. Den Auftakt bildet die Aula mit Schulbibliothek und Lesearena in der Eingangsebene. Wirklich interessant wird es aber erst, wenn man eine der zahlreichen Treppen und Rampen begeht. Letztere sind mit 9,5 % Steigung nicht wirklich rollstuhlgerecht, aber für Selbstfahrer in der Regel noch machbar. Um den Vorschriften Genüge zu tun, gibt es an jeder der vier Treppen in der mittigen Erschließungsachse einen Treppenlift – im Kopfbau und im Ski-Trainingszentrum gibt es zudem Aufzüge. Die Wahrscheinlichkeit, sich im Haus zu verlaufen, ist denkbar gering; und das liegt v. a. an zwei Aspekten: an der Hanglage und an der Erschließungszone in der Mitte. Im Zusammenspiel bilden sie perfekte Orientierungselemente, die stets vor Augen halten, wo man sich gerade befindet.

Wie in einem Bergdorf

Prinzipiell führen von jedem Ort im Gebäude zwei Wege nach oben oder unten. Da gibt es einmal die Möglichkeit, sich auf dem Dach im Freien zu bewegen: Grasflächen, Holzdecks, flache Treppen sowie Sitzgelegenheiten an Bäumen dienen hier zudem als kleinteilige Aufenthaltsbereiche. Hinzu kommen die sechs Innenhöfe der Lerncluster, die jeweils einen Zugang ins Gebäudeinnere bieten und zusammen mit den Wegen eine Art dezentralen Pausenhof bilden. Räumlich ganzheitlich erlebbar wird der Schulcampus aber erst, wenn man auch die mittige innere »Straße« einbezieht. Sie schließt den Kreis und lässt ein engmaschig vernetztes Wegesystem entstehen, das den Schülern und ­Lehrern viel Bewegungsfreiheit beschert. Das Besondere an diesem Rückgrat ist zum einen der leichte Knick, der dafür sorgt, dass von einem Ende nicht das andere zu sehen ist, zum anderen ist es nicht einfach als abgetreppter Flur konzipiert; wie auf dem Dach gibt es auch hier Treppen, Rampen und Sitzstufen sowie als Garderoben genutzte Auf­weitungen unmittelbar vor jedem Cluster, die den Weg wie in einem Bergdorf in Straßen, offene und eher zurückgezogene Bereiche gliedern. Großzügig wirkt die innere Straße aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil die zahl­reichen Glasfelder der Fassade zu den Innenhöfen für viel Tageslicht sorgen.

Flexibilität und Farbverläufe

Alle Lerncluster sind gleich aufgebaut: Es gibt zwischen zwei und vier Klassenräume, die dem zum Innenhof orientierten Bereich für offenes Lernen gegenüberstehen, sowie seitlich je ein Lehrerzimmer und einen Gruppenraum. Große Glaswände zwischen den einzelnen Räumen unterstützen den Austausch. Zugleich gewährleisten sie, dass die Schüler auch dann beaufsichtigt werden können, wenn sie sich zum Lernen, Arbeiten oder Erholen auf den ganzen Cluster oder die Innenhöfe verteilen. Eine Besonderheit des offenen Lernbereichs ist seine Ausstattung mit eigens von den Architekten entworfenen Möbeln. Dazu zählen etwa unterschiedlich hohe, aufklappbare und mit Rollen versehene Schränke, in denen sich u. a. Unterrichtsmaterialien befinden, und die sich auch als Stehtisch oder Raumteiler eignen. Hinzu kommen frei im Raum verteilte Sitzsäcke und rechtwinklige Sitz- und Liegepolster. Resultat ist ein flexibel nutzbares Umfeld, das offene Lernformen ebenso fördert wie alternative Körperhaltungen. Die angenehme Offenheit und die inspirierende Vielfalt der Ausstattung sind nur möglich, weil sämt­liche Bereiche über eine Sprinkleranlage verfügen.

Im Wesentlichen prägen fein verarbeiteter Sichtbeton sowie weiße Geländer, Holzfußböden, Akustikelemente und Einbauten die Innenräume. Dass bei aller Gleichförmigkeit der Cluster und der Haupterschließungsachse dennoch individuelle Bereiche entstehen, liegt am feinsinnigen Farbkonzept der Künstler Hanna Schimek und Gustav Deutsch. Auf Grundlage des Naturphänomens, dass Farben mit zunehmender Entfernung immer mehr verblassen, gestalteten sie die mittige Straße mit sanften Verläufen von hellen zu dunklen Farbtönen. Von oben nach unten lässt die Farbintensität z. B. der roten Akustikdeckenfelder zusehends nach, während die türkisfarbenen Setzstufen und Rampen von unten nach oben immer heller werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Mobiliar in den Clustern, dessen Farbigkeit gemäß dieser Idee ebenfalls variiert.

Die insgesamt eher zarte Farbgebung unterstreicht den Natur- und Ortsbezug der Schule ebenso wie das im pädagogischen und räumlichen Sinne inklusive Gebäudekonzept: In einer sorgfältig in die Topografie und Dorfstruktur eingebetteten Architekturlandschaft treffen Kinder aus vier Schularten und neun Klassenstufen aufeinander, die sich hier völlig selbstverständlich und frei bewegen können und sollen, und die nicht zuletzt dank der in jeder Hinsicht offenen Gestaltung eine große Gemeinschaft ausbilden.

12. November 2019 deutsche bauzeitung

Haus in der Natur – Natur im Haus

»Grüne Erde Welt« in Pettenbach (A)

Beim Flagshipstore mit Produktionsstandort des Ökolabels Grüne Erde steht nicht allein das aus natürlichen Baustoffen errichtete Gebäude im Vordergrund. Im oberösterreichischen Pettenbach wurde viel Wert auch auf die Einbeziehung eines natürlichen Umfelds gelegt. Es entstanden Wohlfühlräume mit geringem ökologischen Fußabdruck.

Grüne Erde wurde in Österreich Mitte der 80er Jahre mit dem Ziel gegründet, nachhaltig zu wirtschaften, ohne Mensch und Natur auszubeuten. Gab es zu Beginn nur ein Matratzenmodell, verfügt das Unternehmen heute über ein großes Sortiment aus Massivholzmöbeln, Modeartikeln, Naturkosmetik sowie Produkten der Bereiche Wohnen und Schlafen. Anfänglich erfolgte der Warenverkauf nur mittels Katalog, später kamen Läden in österreichischen und deutschen Städten sowie das Internet hinzu. Trotz 50 Mio. Euro Jahresumsatz bestehen noch immer unverändert hohe Ambitionen. So werden nur natürliche, nachwachsende Rohmaterialien eingesetzt, die ohne petrochemisch erzeugte Kunststoffe und genmanipulierte Stoffe auskommen; Produkte toter Tiere, wie z. B. Leder, sind tabu; Möbel bestehen aus Vollholz und enthalten keine Metallbauteile; und Rohstoffe wie Naturlatex werden im Ursprungsland des Kautschuks verarbeitet, um die Wertschöpfung vor Ort zu belassen. Hinzu kommen handwerklich geprägte Arbeitstechniken und eine schlichte, puristisch zeitlose Gestaltung. Doch wie ist es gelungen, diese Ansprüche in einen Flagshipstore zu übersetzen?

Einbindung in die Landschaft

Pettenbach im oberösterreichischen Voralpenland erwies sich als Standort für die »Grüne Erde Welt« aus mehreren Gründen als geeignet. Von hier ist es nicht weit zum Firmenhauptsitz in Scharnstein, und es gab ein Grundstück, das genug Platz bot, um das gesamte Produktangebot zu präsentieren, aber auch um Produkte wie z. B. Matratzen, Möbel und Textilien herzustellen.

Wesentlich war zudem die Lage inmitten von Wäldern, Wiesen und Bergen in einer dünn besiedelten Gegend unweit der Autobahn Wien-Salzburg. Um ihre Geschichte mithilfe eines neuen Hauses in der Natur möglichst stimmig ­erzählen zu können, suchten die Bauherren einen Planer, der sich mit der Natur genauso gut auskennt wie mit Häusern. Fündig wurden sie bei Klaus K. Loenhart – jenem Architekten und Landschaftsarchitekten, der 2015 mit seiner Planung für den österreichischen Pavillon auf der Expo Mailand Aufsehen erregte. Dort legten er und sein Studio Terrain einen gut 500 m² großen Wald mit Wassernebelanlage an, der für ein angenehmes Mikroklima, frische Luft und eine spürbare Temperaturabsenkung sorgte.

Der Weg ist das Ziel

Auf dem Weg zur Grüne Erde Welt ist das fast 200 m lange, eingeschossige Gebäude erst einmal kaum auszumachen, weil es vor einem bewaldeten Hügel von zahlreichen Bäumen, Büschen und Sträuchern verdeckt wird. Vom Kundenparkplatz aus müssen die Besucher 200 m zu Fuß zurücklegen. Dabei durchqueren sie eine üppig u. a. mit 450 Bäumen neu bepflanzte Grünfläche, die zuvor landwirtschaftlich genutzt war und heute aussieht wie eine ­Mischung aus Naturlandschaft, Bauerngarten und Gartenschau.

Vorbei an Gewächshäusern, Gemüse- und Blumenfeldern führt ein Schotterweg in organischen Schwüngen in Richtung Eingang, bis schließlich zur äußeren Stille eine mit Wohlgefühlen gepaarte innere Ruhe hinzutritt und das unspektakulär in den Baukörper eingeschnittene Entree zu sehen ist. Nach und nach wird deutlich, dass viele der Bäume lediglich ein Spiegelbild in der Glasfassade sind. Die schachbrettartig flirrenden Grautöne im Glas entstehen durch die Spiegelung des Himmels in den unterschiedlich stark geneigten, geschuppt angeordneten Scheiben – ein Effekt, der an ein Landart-Projekt denken lässt.

Schöne weite Welt

Der Eingangsbereich ist unscheinbar und kommt völlig ohne Werbebotschaften aus. Blicke von außen ins Gebäudeinnere sind allerdings nicht möglich, weil die Glasfassade kein Raumabschluss ist, sondern eine Holz-Ständerwandkonstruktion bekleidet. Wirkten die Grautöne aus der Ferne noch spielerisch leicht, erscheinen sie aus der Nähe abweisend. Dass die drei anderen Gebäudeseiten mit identisch großen Schuppen aus stimmungsvoll verwittertem, unbehandelten Weißtannen-Brettschichtholz bekleidet sind, erschließt sich erst, wenn man das Haus umrundet oder auf die Bistro-Terrasse hinaustritt.

Angesichts des als spiegelnde Barriere erscheinenden Gebäudes umso über­raschender ist die offene Durchlässigkeit im Innern. Da ist erst einmal der Geruch: frisch, unaufdringlich, mit einer leichten Note sanfter ­Naturkosmetik. Vor den Besuchern liegt ein lichtdurchfluteter Raum, geprägt von einem Tragwerk aus weiß lasierten Holzstützen und Leimholz-Dach­trägern aus Fichte. Basierend auf einem Rastermaß von 2,4 x 2,4 m sind die statisch als Rost wirkenden Deckenfelder und die Stützen ungleichmäßig verteilt, was ­eine flexible Nutzung zulässt und eine angenehme Mischung aus Klarheit und Unordnung ergibt. Der ebenso simple wie ästhetische, geschliffene Betonboden erscheint dank des verwendeten Weißzements ebenfalls hell. Hinzu kommen hell lasierte Holzmöbel, Warenträger und Produkte sowie insgesamt 13 von bodentiefen Glasfassaden umschlossene und üppig bepflanzte Innenhofinseln. Dass der sinnliche Ruhe ausstrahlende Raum offensichtlich weitläufig ist, aber dennoch nicht als Ganzes erfasst werden kann, lässt die Besucher unwillkürlich sofort auf Entdeckungsreise gehen.

Wald im Haus

Die jeweils mit österreichtypischen »Waldgesellschaften« bepflanzten Inseln übernehmen viele wichtige Aufgaben: Als sattgrüne Felder im durchgängig milchig-erdfarbenen Innenraum schaffen sie angenehme Kontraste. Sie gliedern auf subtile Weise den Weg durchs Haus und grenzen die offenen Bereiche voneinander ab. Sie bringen Tageslicht in die gestalterisch identischen Verkaufs- und Produktionsflächen und sorgen dafür, dass die Besucher nicht den Bezug zur Außenwelt verlieren. Zweifellos stehen die Waldinseln aber auch symbolhaft für die ökologische Ausrichtung und den Baum als Markenlogo des Unternehmens. Außerdem leisten sie (wie auch schon die Freiflächen vor dem Eingang) einen wichtigen Beitrag zur CO2-Kompensation und zur Verbesserung des Mikroklimas. Durch öffenbare Schiebefenster strömt ­frische würzige Waldluft ins Innere, die die Luftqualität verbessert. Die darüber hinaus nötige Belüftung stammt aus einer Lüftungsanlage, die Frischluft von einem Luftbrunnen am Waldrand direkt in die Bodenauslässe an den Fenstern bringt.

Die von Biologen genau definierten, teilweise mit Wassernebel besprühten Waldgesellschaften unterstützen zudem die natürliche sommerliche Kühlung. Den Rest des Kühlbedarfs übernehmen Heiz-Kühlschleifen im Boden, deren temperiertes Wasser aus einer Tiefenbohrung stammt. Der für die damit verknüpfte Wärmepumpe und für den Gebäudebetrieb erforderliche Strom kommt in ausreichender Menge von einer flächendeckend auf dem Dach ­installierten Photovoltaikanlage mit einer Nennleistung von rund 310 kWp.

Roter Faden Nachhaltigkeit

Die Ökologie- und Nachhaltigkeitsaspekte ziehen sich – meist für Besucher kaum merklich – als roter Faden durch das ganze Haus. Beispielsweise als Konstruktions- und Fassadenholz aus lokalen Wäldern, als langlebige Holz-Alu-Pfosten-Riegel-Konstruktion, als mit Schafwolle gedämmte Außenwände, aber auch in Form der Verwendung von Naturkautschuk statt erdölbasierter Kunststoffe oder der lösungsmittelfreien Lasuren der Holzoberflächen. Hinzu kommt noch ein Aspekt, der den Besuchern völlig verborgen bleibt: Auf dem Grundstück befand sich ehemals ein rund 50 Jahre altes Fabrikationsgebäude, das bis auf eine Lagerhalle komplett abgebrochen wurde. Die Halle blieb samt gespeicherter grauer Energie erhalten und wurde – ebenso wie eine potenzielle Erweiterungsfläche daneben – mit neuer Fassade in den Neubau integriert. Erhalten blieb auch der Footprint des Vorgängerbaus, sodass das heutige Gebäudeensemble nicht mehr Fläche versiegelt als zuvor. Außerdem wurden die Betonteile der abgebrochenen Bauten vor Ort geschreddert und als Unterboden für die geschotterten Wege wiederverwendet.

Vielleicht ist die Architektur der Grüne Erde Welt nicht ganz so hundertprozentig konsequent wie etwa die metallfreien Vollholzmöbel – das Holztragwerk ohne sichtbare Verbindungsmittel kam jedenfalls nicht gänzlich ohne Metallverbindungsteile aus. Letztlich ist sie aber ­tatsächlich genau das, was sie sein soll: ein Statement für die ganzheitliche Verbindung zwischen Haus und Natur. Und so zeigt das Gebäude wesentlich mehr Möglichkeiten auf als die meisten anderen Neubauten unserer Zeit.

Zugleich weckt es den Entdeckergeist und bietet gesunde Verkaufsflächen und Arbeitsplätze. Wie wohl sich die Gäste dort fühlen, könnten die Umsatzzahlen zeigen, die allerdings ebenso wenig öffentlich sind wie die Baukosten. Ein aussagekräftiger Indikator ist jedoch die Tatsache, dass die Küche des Bistros in naher Zukunft so umgebaut werden soll, dass sich dort mehr Speisen zube­reiten lassen. Die Gästezahlen scheinen also auf jeden Fall zu stimmen.

12. Juni 2019 deutsche bauzeitung

Nur scheinbar unscheinbar

Bürogebäude »Green Office® ENJOY« in Paris Batignolles (F)

Vergleichsweise unscheinbar steht das neue Bürogebäude an einer breiten Bahnschneise in einem neuen Viertel am nördlichen Pariser Stadtrand. Dabei hat das mit bescheidener Eleganz über einem begrenzt tragfähigen Bahndeckel errichtete Plusenergiehaus mit hybrider Holz-Leichtkonstruktion durchaus einiges zum Thema Suffizienz und somit zukunftsweisendem Bürobau zu erzählen.

Obwohl er noch nicht ganz fertiggestellt ist, präsentiert sich der Martin-Luther-King-Park schon heute als bemerkenswert urbane Grünfläche. Der insgesamt 10 ha große Park ist nicht nur voller großer Bäume, Wiesen und Wasserflächen, sondern auch voller Menschen und Aktivitäten. Er bildet die Mitte des neuen Viertels Clichy-Batignolles, das sich – wie der Park selbst – seit gut zehn Jahren vom stillgelegten Güterbahnhof in einen offenbar wirklich vitalen Stadtteil mit 7500 Einwohnern und fast doppelt so vielen Arbeitsplätzen verwandelt. Östlich des Parks befindet sich ein altes Quartier aus Haussmann’scher Zeit, im Norden und Süden stehen dicht an dicht bis zu 18 Geschosse hohe Wohnhäuser (nebst Schulen, Kindergärten, Läden etc.), und den Blick nach Westen dominiert Renzo Pianos abgetreppter Glasturm der neuen Cité judiciaire. Wäre der Vergleich nicht so vermessen, man könnte sich hier atmosphärisch fast an den Central Park in New York erinnert fühlen, zumindest an dessen äußersten nördlichen Rand.

Fluch und Segen des Standorts

In zweiter Reihe, hinter den südlichen Wohnhäusern befinden sich einige neue Bürohäuser, die dem Viertel gleichsam als Sicht- und Lärmschutz zur breiten Bahnschneise zum Bahnhof Saint-Lazare dienen. Hier steht auch das neue, von Baumschlager Eberle Architekten mit dem Partnerbüro Scape Architecture geplante Bürogebäude, das vom Bauherrn unter dem euphemistischen Namen »Green Office® Enjoy« vermarktet wird.

Das Baugrundstück ist durchaus privilegiert. Zum einen profitiert es von ­einer exponierten Randlage und verfügt über eine polygonale Umrisslinie, die die Ausbildung eines differenzierten Baukörpers begünstigt, zum anderen liegt es – leicht erhöht – an einem der breiten Hauptzugänge zum Park, was den nördlichen Büroräumen einen herrlichen Blick ins Grüne beschert. Diese erhöhte Lage hat jedoch ihren Preis, denn sie entsteht durch einen brückenartigen Betondeckel, unter dem noch immer Züge verkehren, sodass der Neubau an keiner Stelle den Boden berührt. Außerdem waren sowohl die Form als auch die Auflagerpunkte und Gesamtlasten des bereits vor zehn Jahren errichteten Deckels unveränderbar. Insofern lag eine der Hauptaufgaben der Architekten darin, das Gesamtgewicht ihres Gebäudes mit 17.400 m² Nutzfläche so gering wie möglich zu halten.

Haus und Park

Besucher und Mitarbeiter (momentan ist das ganze Haus an einen Versicherungskonzern vermietet) ahnen nichts von diesen Herausforderungen, wenn sie sich dem Haus vom Park aus nähern – in zwei Jahren öffnet dort zudem eine neue Métro-Station der Linie 14. Sie gelangen an ein unaufgeregtes Bürogebäude mit elegant cappuccinofarbener Aluminiumfassade und Ladenlokalen zur Straße. Dessen Gliederung in drei horizontale Schichten mithilfe von einzelnen bzw. geschossübergreifenden, hochrechteckigen Fensteröffnungen wird vermutlich nur wenigen auffallen – ebenso wie die Tatsache, dass die Laibungen der Fenster zur Bahntrasse aufgrund der verschiebbaren Lochblech-Sonnenschutzelemente wesentlich tiefer und damit plastischer sind als jene zum nördlichen Park. Details wie diese tragen aber dazu bei, das Haus insgesamt wesentlich differenzierter erscheinen zu lassen als die meisten der benachbarten Investorenprojekte.

Die große Eingangshalle an der Rue Mstislav Rostropovitch zeigt sich repräsentativ. Weniger wegen der Eichenholzbekleidung und des Natursteinbodens (Bleu de Hainaut) als vielmehr durch die angenehme Weite. In Verlängerung der Achse vom Park zum Haus führt eine breite Himmelsleitertreppe hinauf ins 1. OG – u.a. in einen begrünten Innenhof, der sich terrassenförmig bis auf eine Dachfläche im 3. OG entwickelt. Das Panorama von hier über die Bahngleise und die Stadt ist imposant, nicht zuletzt, weil sich dieses Geschoss dank des gut 10 m hohen Betondeckels bereits 19 m über den Gleisen befindet. Noch spannender ist jedoch der Blick zurück auf eine verwinkelte Terrassenlandschaft, die auf drei Ebenen völlig verschiedene Außenräume bietet – für Pausen und zurückgezogene Gespräche ebenso wie für kleine Events. Bedauerlich nur, dass dieser Raum, der in gewisser Weise den Park ins Haus fortführt, ausschließlich den Büromitarbeitern offensteht.

Hybride Konstruktion aus Beton, Holz und Stahl

Da ein Bürogebäude aus Stahlbeton allein aufgrund des zu hohen Gewichts nicht infrage kam, entschieden sich die Architekten für Holz als wesentliches Tragwerksmaterial. Auf Grundlage eines eher pragmatischen als dogmatischen konstruktiven Ansatzes entstand ein hybrides Gebäude, dessen untere beide Ebenen in Beton errichtet wurden. Diese Betonkonstruktion, die zum Abfangen der Schwingungen aus dem Bahnbetrieb vollständig auf dämpfenden Federn aufliegt, war unerlässlich, um die erheblichen Höhenunterschiede auf dem Betondeckel zu nivellieren und eine geeignete Basis für die nahezu identischen Bürogeschosse auszubilden. Für den Skelettbau ab dem 2. OG kamen dann hauptsächlich Holz, aber auch Stahlbeton für die Erschließungskerne und Stahl für die Aussteifungselemente und den Dachaufbau zum ­Einsatz.

Bürogeschosse in Holzbauweise

U.a., weil der Mieter zum Zeitpunkt der Planung noch nicht feststand, sollten die Bürogeschosse frei aufteilbar sein. Dies gelingt durch die Gebäudeform, die dank der mittigen Anordnung von Eingangshalle und Haupterschließungskern drei große, voneinander unabhängige Mieteinheiten pro Geschoss erlaubt und zugleich relativ wenige innenliegende Bürobereiche schafft. Für Flexibilität sorgt natürlich auch das Büroraster von 1,35 m, das entlang der Außenfassaden die in heutigen Büros üblichen Raumgrößen ermöglicht.

Die wesentlichen Tragwerkselemente sind: Fichten- und Tannen-Brettschichtholz (BSH)-Stützen in Fassadenebene und im Gebäudeinneren, die Deckenelemente aus Kiefern-Brettsperrholz tragen. Letztere sind im Bereich der Fassadenstützen mithilfe von Stahl-Einbauteilen an den BSH-Randbalken und -Stützen montiert, während sie auf der anderen Seite auf Stahl-I-Trägern bzw. direkt an den Betonwänden der Erschließungskerne befestigt sind. Horizontal ausgesteift wird das System zum einen durch die Kerne, zum anderen durch die in jeder Fassade im Innern über alle Geschosse hinweglaufenden Stahl-Diagonalen.

Baustellenfotos zeigen ein sehr klar strukturiertes, hybrides Skeletttragwerk. Insgesamt dominiert Holz zwar das Bild, dennoch ist es auf selbstverständliche Art und Weise nur einer von vielen Baustoffen. Die Architekten verspürten jedenfalls nicht den Drang, Holz ostentativ zeigen zu müssen. Hierzu passt, dass der Holzbau von außen nur am Abend bei illuminierten Büros zu erkennen ist, aber auch, dass die Fassadenelemente im Kern zwar aus Holz ­bestehen, dieses allerdings ebenfalls unsichtbar bleibt.

Green Office® Enjoy

Der Anteil von Sichtholzflächen im Innenraum ist angesichts der teppichbelegten Doppelböden und der weißen Leichtbauwände und Heiz-Kühldecken zwar relativ gering.

Dennoch prägt es auf angenehme Weise maßgeblich den Raumeindruck. Überall sind die Holzrippen der Deckenelemente und die Holz-Fassadenstützen und -Randbalken zu sehen, die v.a. in den kleinen Büros mit nur 2,7 m Achsbreite einen wohltuend warmen Rahmen bilden. Zur Nutzerfreundlichkeit tragen auch die öffenbaren Fensterflügel bei, deren vorgelagerte Lochbleche vor Wind, Wetter und Insekten schützen. Direkten Kontakt ins Freie ermöglichen dagegen die drei zweigeschossigen Loggien im 6. OG. Sie bieten geschützte Außenräume mit Blick zu Montmartre, Eiffelturm und Cité judiciaire und dienen – gleichsam als Störelemente – der Auflockerung der Fassade. Noch erhebender ist naturgemäß nur der Blick vom Dach.

In diesem Fall lohnt aber auch der Blick aufs Dach. Über einer leichten Stahlkonstruktion und den dort untergebrachten haustechnischen Anlagen befinden sich gut 1700 m² Photovoltaikelemente, die mit einer Gesamtleistung von 22 kWh/(m²a) nicht nur den niedrigen Energiebedarf von 19,1 kWh/(m²a) decken. Vielmehr machen sie das ans Pariser Fernwärmenetz angeschlossene Bürogebäude zudem zum Plusenergiehaus.

Dies alles ist von der Straße genauso wenig zu sehen wie die Ökozertifizierungen, über die das Gebäude verfügt (z.B. HQE, BREEAM, BBCA), oder die Tatsache, dass es durch die Verwendung von 2700 m³ Holz hilft, 520 To CO2 zu binden. Dennoch machen sie das nur scheinbar unscheinbare Gebäude unverwechselbar. Und sie lassen noch einmal über den Projektnamen nachdenken. Am Ende muss man zugeben, dass darin vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit steckt: dass es sich hierbei um ein grünes Büro handelt, in dem sich Menschen wohlfühlen können.

5. März 2019 deutsche bauzeitung

Ein Haus wie ein Chamäleon

Büroturm »La Marseillaise« in Marseille (F)

Das Bürohochhaus »La Marseillaise« sieht von jeder Seite, zu jeder Tageszeit und bei jedem Wetter ein wenig anders aus. Was sich allerdings nicht verändert, ist die unmittelbar auf das Umfeld abgestimmte Farbwirkung. Ein expressiv bildhaftes Gebäude, das aber keineswegs nur wegen der Farben eng mit Marseille verbunden ist.

Kurz bevor das Flugzeug in Marseille landet, bietet sich beim Blick aus dem Fenster eine wahrlich spektakuläre Aussicht. Während in südlicher Richtung bis zum Horizont nichts als das blaue Mittelmeer zu sehen ist, liegt auf der anderen Seite der Parc national des Calanques. Schroffe Kalksteinfelsen mit karger Vegetation prägen das Bild – bis unvermittelt Frankreichs zweitgrößte Stadt auftaucht. Überraschenderweise ist der Übergang von der Natur zur Stadt nicht so abrupt wie erwartet, weil die meisten Häuser in den Erdtönen erscheinen wie gerade noch die Felslandschaft. Ganz gleich, ob es sich um die im ganzen Stadtgebiet verteilten Wohnhochhausscheiben oder das Fort Saint-Jean am alten Hafen handelt – helle Kalkstein- und Putzfassaden sorgen für ein erstaunlich homogenes Stadtgefüge. Trotz, irgendwie aber auch gerade wegen seiner blau-weiß-roten Gebäudehülle ist Jean Nouvels Büroturm selbstverständlicher Teil dieses Gefüges geworden.

La Tricolore

Macht man sich, in der Stadt angekommen, vom Fort Saint-Jean auf den Weg nach Norden zum Passagier- und Industriehafen, gelangt man zunächst in das an der Stelle einer Industriebrache entstandene Viertel Quais d’Arenc. Theater, Büro- und Wohngebäude finden sich hier ebenso wie hipsterschick revitalisierte Silos und Lagergebäude, und rasch gelangt auch »La Marseillaise« ins Blickfeld. Mit 135 m Höhe überragt das größtenteils von der Stadtverwaltung und anderen öffentlichen Einrichtungen genutzte Gebäude die umliegenden Häuser um ein Vielfaches. Ein wenig höher ist nur der benachbarte, inzwischen fast zehn Jahre alte Büroturm von Zaha Hadid. Während dieser mit ­seiner glatten Glasfassade beliebig wirkt und problemlos auch in Frankfurt, Shenzen oder Atlanta stehen könnte, entsteht bei Jean-Nouvels-Turm sofort das Gefühl, er sei speziell für diesen Standort entworfen. Ist auf der Südfassade nicht schemenhaft eine Tricolore zu erkennen? Handelt es sich dabei etwa um eine Anspielung auf Eugène Delacroix’ berühmtes Gemälde »Die Freiheit führt das Volk«, das die Nationalfigur Marianne mit blau-weiß-rot wehender Fahne zeigt? Kaum ein Kunstwerk ist so eng mit der französischen Nationalhymne, der Marseillaise, verknüpft wie dieses.

Um es vorwegzunehmen: Der Projektname stammt nicht von findigen Marketingstrategen, sondern von Jean Nouvel selbst, der vom Bauherrn direkt zur Planung des Turms beauftragt wurde. Assoziationen zu nationalen Symbolen sind durchaus beabsichtigt, aber keineswegs der Grund, weshalb das Gebäude so selbstverständlich mit seinem Umfeld harmoniert. Maßgeblich hierfür sind andere Faktoren.

Farblandschaft

Insgesamt verfügt die Hochhausfassade über 30 verschiedene blau-weiß-rote Farbtöne, die von den Architekten computergestützt so angeordnet wurden, um ein atmosphärisch flirrendes Bild mit sanften Übergängen zu schaffen. Das Blau bezieht sich dabei auf den Himmel, das Weiß auf den Horizont und die Wolken der Provence und das Rot auf die Dachziegel und Hauswände der Stadt. Egal, von welcher Seite man sich nähert – die Gebäudefassade ist chamäleonartig stets an das angepasst, was sich jeweils hinter ihr befindet. So ist die Ostfassade überwiegend blau, damit der Turm beim Blick auf das weite Meer mit dem Himmel verschwimmt, während die Nord- und Westfassaden – mit den Häusern Marseilles im Hintergrund – überwiegend rot sind. Für einen fließenden Übergang zum Himmel nimmt die Farbsättigung nach ­oben grundsätzlich ab. Die Integration des Hochhauses ins Stadtgefüge funktioniert. Das zeigt sich beim Blick aus dem Flugzeug ebenso wie von anderen Aussichtspunkten der Stadt.
Kleid aus filigranen ultrahochfesten Faserbetonfertigteilen.

Farbig sind nicht nur die Fensterrahmenprofile, sondern auch alle vor die Fenster gehängten Fertigteilelemente aus ultrahochfestem Faserbeton (UHPC). Dieser Beton ist dank seiner feinporigen Struktur luft- und wasserdicht und somit beständig gegenüber salzhaltiger Meeresluft und witterungsbedingten Kapriolen. Außerdem ermöglicht das Material hochfeste und zugleich extrem filigrane und leichte Bauteile. Konstruktiv ist das Hochhaus ansonsten wenig spektakulär: Rund um einen Kern aus Beton entwickelt sich ein 30 Stockwerke hoher Stahlskelettbau mit Stahl-Beton-Verbunddecken und jeweils rund 1200 m² pro Geschoss in die Höhe.

Die hier eingesetzten UHPC-Fassadenelemente erfüllen wichtige Aufgaben. Als mineralisches Material nehmen sie Bezug auf die Felslandschaft der Calanques und die zum Häuserbau in Marseille früher oft dort abgebauten Kalksteine. Im Zusammenspiel mit den drei zurückspringenden mittleren Geschossen und der sich nach oben auflösenden Stahl-Dachstruktur verleihen sie dem Gebäude räumliche Tiefe und sorgen für ein lebendiges Licht- und Schattenspiel. Außerdem hüllen sie das Hochhaus in ein farbenfrohes, gleichsam luftig flatterndes Kleid und ermöglichen die Ablesbarkeit der Geschosse, wodurch es trotz seiner Höhe maßstäblich bleibt. Und schließlich sorgen sie für den in der südfranzösischen Metropole zwingend benötigten Sonnenschutz.

Außen und innen als farbliche Einheit

An der Nord- und Ostfassade besteht der UHPC-Sonnenschutz aus 8 cm dicken, immer gleich schräg stehenden Paneelen. Diese wurden im Büroraster von 1,35 m an L-förmigen Fertigteilen montiert, die den seitlichen Deckenabschluss bilden und die Deckenunterkante als dünne Platte nach außen verlängern. Optisches Ergebnis sind filigrane Betonrahmen rund um jede raum­hohe Verglasung, die im Sinne des optimalen Sonnenschutzes bei tiefstehender Sonne in eine nördliche Richtung weisen.
Weitaus raumgreifender sind die rund 2 m tiefen UHPC-Elemente der Süd- und Westfassade, die einen guten Sonnenschutz v. a. bei hochstehender Sonne bieten. Hier entstanden zweiachsig breite Rahmen, bestehend aus einer leichten vertikalen Gitterstruktur (die fast an Gartenlauben erinnert) sowie schräg liegenden Lamellen, die außen in ebenfalls L-förmige Fertigteile eingeklebt sind. Unmittelbar entlang der Fenster bilden diese Fertigteile eine leichte Rippendecke aus. Die geschlossene Fläche verhindert den geschossweisen Brandüberschlag und kann zudem von Fassadenreinigern zum Fensterputzen begangen werden. Die einzigen Bauteile, die hier nicht aus Beton bestehen, sind die Stahl-Absturzsicherungen.

Wie wichtig das Betonkleid nicht nur für die Außenwirkung, sondern auch für die Innenräume ist, macht ein Blick aus dem Fenster eines Büros deutlich. Aus der Nähe betrachtet, strahlen die UHPC-Elemente eine eigentümlich wohnliche Wärme aus, die sowohl auf die konstruktive als auch die farbliche Kleinteiligkeit zurückzuführen ist – manche Elemente verfügen an verschiedenen Seiten über verschiedene Farben. Eine Rolle spielen hierbei auch die für Beton typischen Poren, die das Material im Gegensatz etwa zu industriell wirkendem Stahl angenehm handwerklich erscheinen lassen. Einen etwas aufgesetzten Eindruck machen hingegen die farbigen Gipslamellen und Deckenstreifen bzw. -paneele, die die Fassadenelemente optisch in die Büros fortsetzen sollen. Angesichts der farblichen Vielfalt, die die Büronutzung ohnehin mit sich bringt, fallen diese am Ende aber kaum mehr ins Gewicht. Den gleichsam nichtfarbigen Ruhepol im Innern des Turms bildet der elegant mit bewusst sichtbar ausgeführten Ausbesserungsspuren gestaltete Sichtbetonkern. Hier befinden sich neben Erschließungsflächen auch gemeinschaftlich genutzte Bereiche und die Toiletten.

Nachhaltig auch im Bauprozess

Jedes Betonbauteil trägt Edelstahlmarken, auf denen der NCS-Farbcode der hierfür jeweils verwendeten Farben eingeprägt ist. So können bei eventuellen Instandhaltungsarbeiten auch in vielen Jahren noch problemlos die gleichen Zweikomponenten-Wasserlacke zum Einsatz kommen wie zur Entstehungszeit des Gebäudes. Hergestellt mit insgesamt nur 16 Schalungsformen in einem Betonwerk in der Nähe des Flughafens, wurden sämt­liche Bauteile vorwiegend in einer Halle direkt neben der Baustelle von Hand geschliffen und anschließend mit gewöhnlichen Farbrollern gestrichen. U.a. hierfür kamen Marseiller Arbeiter zum Einsatz, die an einem eigens mit der Stadt entwickelten Beschäftigungsprogramm teilnahmen.

La Marseillaise verfügt über einen Anschluss an das gerade für das ganze Quartier neu errichtete Meeresgeothermiekraftwerk, das die sommerliche Fernkühlung des Gebäudes ermöglicht. Zudem ist es LEED-Gold- und HQE-Excellence-zertifiziert. Wirklich nachhaltig ist es jedoch v.a. deshalb, weil es spürbar lokal und damit in den Köpfen der Menschen verankert ist. Davon zeugen die Fassaden, die Materialien und die Bauprozesse, aber auch die hauseigene Kinderkrippe und das Restaurant im 2. und 3. OG, das auch externen Gästen offensteht. Sowohl die zurückgesetzten mittleren Geschosse als auch die Dachterrasse sind leider nur zu Wartungszwecken zugänglich.

Könnten die Menschen hinauf aufs Dach, würden sie dort ebenfalls die Pinien riechen, fühlen und im Wind rauschen hören wie überall an der Mittelmeerküste.

5. November 2018 deutsche bauzeitung

Licht, Luft und Holz

Bergkapelle bei Kendlbruck (A)

Diese Bergkapelle im Salzburger Lungau ist ein Statement – für konstruktive Klarheit, für die Ausdrucksmöglichkeiten eines archaisch anmutenden Raums und für den nachhaltigen Umgang mit Ressourcen. Zugleich macht der Strickbau das Material Holz auf eine Weise spürbar, die unwillkürlich zum Nachdenken über das menschliche Sein in der Natur anregt.

Allein der Weg zu dieser Bergkapelle ist schon ein Ereignis. Von Ramingstein bis dorthin sind es Luftlinie zwar nur 4 km, allerdings liegen zwischen den beiden Punkten 900 Höhenmeter, die sich nur in einer zwei bis drei Stunden langen Wanderung oder im Auto auf einer serpentinenreichen, 14 km langen Forststraße zurücklegen lassen – vorausgesetzt man verfügt über den Schlüssel für die Schranke im Tal.

Der Forstweg führt zu einem 200 ha großen Waldgrundstück, das Johann Müllners Familie seit vielen Generationen bewirtschaftet. Die Familie lebt seit jeher im Tal, hat aber vor 150 Jahren in 1 850 m Höhe ein Steinhaus errichtet, das seitdem als Alm dient. Der Standort von Haus und daneben in Holz ­gebauter Scheune direkt unterhalb eines Bergrückens ist klug gewählt, sind die Gebäude in einer kleinen, von Felsen flankierten Senke doch vor heftigen Winden und winterlichen Schneestürmen geschützt, während sich zugleich der Blick auf ein atemberaubendes Alpenpanorama eröffnet. Nutznießer dieses Ausblicks sind vereinzelte Wanderer und Tourenskigeher sowie allsommerlich die in den Wiesen rund um die Häuser grasenden Jungkühe eines benachbarten Bauern. Seit Mai letzten Jahres steht etwas oberhalb dieses Ensembles eine stets offene Bergkapelle, deren Bauherr Johann Müllner ist.

Diese Kapelle hat keinen Namen. Und sie ist, obwohl gesegnet, kein konsekrierter Gottesdienstraum im kirchlichen Sinn. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass sie keine spirituelle oder architektonische Bedeutung als ­Sakralraum hätte. Dass das Gegenteil der Fall ist, hat mit ihrer Geschichte zu tun, und mit den Menschen, die sie geformt haben.

Nutzung lokaler Ressourcen

Am Anfang stehen die Jugendfreunde Johann Müllner und Hannes Sampl, die sich vor einigen Jahren nach langer Zeit zufällig wiederbegegnet sind. Der eine studierte Holz- und Naturfasertechnik und hatte als Waldbauer kürzlich den elterlichen Hof übernommen, der andere begann nach einer Ausbildung zum Möbeltischler sowie einem Architekturstudium gerade mit dem postgradualen Lehrgang »überholz« an der Kunstuniversität Linz. Das Gespräch fiel schnell auf die Idee einer Kapelle, die Müllner gewissermaßen als Ersatz für die in den 60er Jahren wegen eines Straßenneubaus abgebrochene Hofkapelle errichten wollte. Als Baugrundstück hatten die beiden von Anfang an nicht etwa den Hof als vielmehr die Alm im Sinn – jenen Ort, der im Wortsinn über eine natürliche Erhabenheit verfügt. Sampl, der aus dem Projekt schließlich seine Abschlussarbeit machte, war begeistert, nicht zuletzt wegen der zwei einzigen Vorgaben, die zur Umsetzung der Idee im Raum standen: Erstens sollten sowohl das Baumaterial als auch sämtliche Ressourcen, wie z. B. Arbeitsmittel und -leistungen, im lokalen Umfeld verfügbar sein. Zweitens musste der Bau in Selbstbauweise realisiert werden können – aus eigenem Holz und gemeinsam mit der Familie und Freunden.

Es spielt keine Rolle, ob die Besucher, die den Weg zur Kapelle gefunden haben, von diesen Geschichten wissen oder nicht. Was sie dort so oder so sofort spüren, ist jene unprätentiöse Dezidiertheit, von der schon die Idee geprägt war. Ziel war ja kein opulenter Kirchenraum, der für wirtschaftliche und religiöse Potenz stehen sollte. Ja, es ging noch nicht einmal darum, die Kapelle allein dem christlichen Glauben zu widmen. Vielmehr sollte sie einen zwanglosen und in jeder Hinsicht stillen Andachtsraum für alle bieten, Raum der Kontemplation, des In-sich-Gehens und des Zu-sich-selbst-Findens. Dieses jedem Glauben innewohnende Streben nach Ursprünglichkeit und Reinheit widerspiegelt der fensterlose, ungedämmte Neubau ohne außen angebrachte religiöse Symbole nicht zuletzt in seiner einfachen Konstruktion.

Gleiche Holzbalken für Boden, Wand und Dach

Über einem schlichten Sockel aus unweit des Bauplatzes gefundenen Natursteinen und einer umlaufend leicht zurückspringenden Lärchenholzschwelle erhebt sich die 3,24 m breite und 5,52 m lange Kapelle als reiner Holzbau. Wände, Boden und die Dachkonstruktion bestehen aus unbehandelten, sägerauen einheitlich 12 x 12 cm großen Fichtenholzbalken mit doppelter Nut-Feder-Verkämmung, die ohne zusätzliche Verbindungsmittel – wie z. B. Leim, Metallnägel oder -schrauben – zu einem Blockbau »verstrickt« wurden.

Mittels Schwalbenschwanzverzinkung übereck verbunden, bilden die Balken vier verwindungssteife Wände. Für zusätzliche Stabilität sorgen 16 mm dicke, vertikale Lärchenholzdübel, die immer zwei Balken miteinander verbinden. Ins abgebundene, aber noch feuchte Holz eingebracht, quollen die trockenen Dübel auf und sorgten dadurch für eine noch festere Verbindung. Zur Ausbildung des 63° steilen Satteldachs wurden die längsgerichteten Balken dann von Lage zu Lage jeweils um die halbe Balkenbreite nach innen versetzt, bis sie schließlich zwei geschlossene, abgetreppte Dachflächen ausbildeten. Den Witterungsschutz für das Dach übernehmen zweilagig auf eine Unterkonstruktion genagelte Lärchenholzschindeln.

Genaue Ausrichtung nach Osten

Zwischen den äußeren Holzlamellen im Giebeldreieck und der um 84 cm zurückversetzten Außenwand entsteht an der westlichen Eingangsseite ein leicht erhöhter Vorraum. Dieser kann von Wanderern als Rastplatz genutzt werden, v. a. aber bietet er Kapellenbesuchern die Möglichkeit, vor Eintritt ins Gebäudeinnere noch einmal kurz innezuhalten und im Schutz der Seitenwände die Berglandschaft wirken zu lassen. Wer nun durch Anheben eines runden Holzgriffs die schlichte Holztür öffnet, findet sich in einem vollkommen leeren Raum wieder, der nur aus geschichteten Holzbalken und Licht besteht. Die östliche Außenwand ist in gleißend helles Licht getaucht, das durch eine weitere Schicht aus Holzlamellen im äußeren Giebeldreieck auf den Boden fällt – ebenso wie eine sanfte Brise würziger Bergluft, die den Raum durchströmt und im Winter auch Schnee in den Raum weht. Die Lamellen werden – vom Eingang aus betrachtet – von einem massiven, ebenfalls um 84 cm eingerückten Giebeldreieck verdeckt, sodass hier ein dem Vorraum ganz ähnlicher Zwischenbereich entsteht. In dieses Giebeldreieck ist ein Kreuz einge­arbeitet, durch das dank der genauen Ausrichtung der Kapelle jedes Jahr am 15. August bei Sonnenaufgang direktes Sonnenlicht eintritt. Dieser Tag, das Fest Mariä Himmelfahrt, hat für die Familie eine besondere Bedeutung und wird daher alljährlich feierlich begangen. Als Kreuzform wurde bewusst nicht das an die Kreuzigung Jesu erinnernde lateinische Kreuz gewählt, sondern ein griechisches Kreuz, eines der einfachsten und ältesten Symbole religiösen Glaubens.

Spiritualität und Geborgenheit

Auch wer nicht selbst wahrgenommen hat, dass dieser Standort von einem Radiästheten als Kraftplatz identifiziert wurde, spürt doch die von diesem Raum ausgehende Spiritualität, die kraftvolle Stille, die Reduzierung auf das Sein in der Natur – das leise Rauschen der Bäume ist zu hören, sanfte Windstöße bewegen die Luft und halten das fantastische Landschaftsbild vor der Tür in der Vorstellung präsent. Das Gefühl von Entrücktheit bei gleichzeitiger Geborgenheit ist beim Verlassen der Kapelle fast noch stärker als beim Betreten, denn der Kontrast zum reduzierten Innern könnte kaum größer sein. Der Blick auf den umliegenden Wald rückt die Wirkung der im Umkreis von wenigen Kilometern geschlagenen Bäume ins Bewusstsein, als befinde man sich im Innern des Waldes, im Innern der Bäume gar. Das macht nicht der Raum allein, sondern auch die Tatsache, dass alles unmittelbar aus dem Umfeld stammt.

Wie geplant, haben Müllner, Sampl sowie einige Familienmitglieder und Freunde die Kapelle gemeinschaftlich und unentgeltlich errichtet. Genauso sorgfältig wie den Bauplatz haben sie die Bäume ausgewählt und in der saftarmen Zeit im November bei abnehmendem Mond gefällt und anschließend bearbeitet. Die Frage, was die Kapelle kostete, können weder Sampl noch Müllner beantworten. Nicht weil sie diese für unangebracht halten, sondern schlicht weil eine solche Summe kaum berechenbar ist, wenn sämtliche Ressourcen und Arbeitsleistungen selbst eingesetzt werden. Das Teuerste am ganzen Bau, sagt Müllner scherzhaft, sei am Ende wohl die Verpflegung der Helfer gewesen.

4. September 2018 deutsche bauzeitung

Vielfältiges Kontinuum

»Musée d’arts de Nantes« (F)

Stanton Williams restaurierten und erweiterten das »Musée d’arts de Nantes« mit größter Sorgfalt. Dabei gelang es ihnen, Freiflächen, Kunstwerke, Bestand und Neubauten zu einer Einheit zu verknüpfen, deren Reiz gerade in ihrer Vielfalt liegt. Für den Besucher entsteht so ein Zugewinn an Kunstgenuss, der weit über die reine Erweiterung der Ausstellungsflächen hinausgeht.

Sieben Jahre nach Baubeginn öffnete das »Musée des Beaux-Arts« in Nantes im Jahr 1900 erstmals seine Pforten. Fast genauso lang dauerte die Res­taurierung und Erweiterung des Museums, ehe es vor gut einem Jahr als »Musée d’arts de Nantes« wiedereröffnet wurde. Von außen hat sich das Palais im ­Beaux-Arts-Stil kaum verändert. Allein der kleine Ehrenhof zur Rue Georges Clemenceau zeigt sich sichtlich neu gestaltet: Statt der einzelnen Treppen, die einst zu den drei Eingängen führten – wie Landungsbrücken zu einem Schiff – laden nun breite Sitzstufen zum Verweilen ein. Hinzu kommen zwei Glaskuben, in denen sich ein Aufzug bzw. temporäre Kunstinstallationen befinden, sowie eine Freiraumgestaltung mit parkettartig verlegten Pflastersteinen, die die Straße in einen einladenden Vorplatz verwandeln. Angesichts der langen Bauarbeiten am Museum und der zugleich nahezu unveränderten Fassaden ist klar: Das Entrée stellt nur einen kleinen Teil der Umbau­maßnahmen dar. Dass auch die Chapelle de l’Oratoire aus dem 17. Jahrhundert und ein schmaler Neubau an dieser Straße sowie ein weiteres neues Gebäude an der rückwärtigen Rue Gambetta ebenfalls Teil des Museums sind, offenbart sich dem Besucher erst nach und nach bei seinem Ausstellungsrundgang.

Durchgängig

In der Eingangshalle weist das Nebeneinander aus jahrhundertealten Marmorfiguren, einer bunten Pop-Art-Leuchtskulptur und zeitgenössischen ­Gemälden auf eine Besonderheit des Kunstmuseums hin: Es widmet sich nicht nur einer einzigen Epoche, sondern zeigt Exponate der bildenden Kunst vom 13. Jahrhundert bis heute. Diese große Bandbreite und eine von Anfang an rege Sammlungstätigkeit haben dazu geführt, dass das Haus in den letzten Jahrzehnten aus allen Nähten zu platzen begann. Da es zudem sowohl hinsichtlich seiner Haustechnik als auch museumspädagogisch in die Jahre gekommen war (z. B. gab es weder einen Vortragssaal noch Räume für Seminare oder Workshops), erwies sich eine umfassende Modernisierung und Erweiterung als unumgänglich. Den hierfür 2009 ausgelobten Wettbewerb gewann das im Museumsbau erfahrene Londoner Architekturbüro Stanton Williams mit einem Entwurf, der die vielfältigen Kunstwerke ebenso zelebriert wie die Vielfalt der Wege, Räume, Materialien und Lichtstimmungen. Die Architektur drängt sich dabei nirgendwo in den Vordergrund. Sie sorgt vielmehr dafür, die unterschiedlichen Bereiche durch eine einheitliche Gestaltungssprache zusammenzubinden.

Dreh- und Angelpunkt des Musée d’arts ist der zentrale Patio. Als neutraler weißer Innenhof bietet er Platz für temporäre Ausstellungen, während sich um ihn herum im EG die ständige Sammlung des 13. bis 18. Jahrhunderts und im OG jene des 19. und 20. Jahrhunderts entwickeln. Da die filigranen Stuckarbeiten und Malereien der Wand- und Deckenflächen bereits einer früheren Renovierung zum Opfer fielen, entspricht sein heutiges Erscheinungsbild in etwa dem vor der Modernisierung. Ort eines massiven baulichen Eingriffs war der Patio dennoch: er wurde aufgegraben und – wie der Rest des Palais – komplett neu unterkellert.

Der Weg ins UG führt über zwei Treppen zunächst in eine Zwischenebene mit Schließfächern und von dort schließlich ganz nach unten. Dort befinden sich neben einem Auditorium mit 150 Sitzplätzen auch der museumspädagogische Bereich, Garderoben, Toiletten und ein weiterer Wechselausstellungsraum (Salle Blanche). Letzterer dient aufgrund seiner Lage im Westteil des ­Palais gleichsam als unterirdisches Bindeglied zum »Cube«, dem Museumsneubau zeitgenössischer Kunst an der rückwärtigen Rue Gambetta.

Empfängt das Museum den Besucher im Palais mit den beiden äußerst sorgfältig restaurierten Räumen der Eingangshalle und des prachtvollen Haupttreppenhauses, so vermittelt das UG fast den Eindruck, sich in einem Neubau zu befinden: Im Zuge der Bauarbeiten an der neuen Bodenplatte wurden sämtliche Fundamente freigelegt, weshalb sich das UG heute deutlich vom Rest des Bestands abhebt. In den öffentlichen Bereichen entstanden elegante Räumlichkeiten mit Sockeln und Rippendecken aus Sichtbeton sowie Eichenholz-Wandbekleidungen, deren zurückhaltend natürliche Farb- und Formensprache perfekt mit den freigelegten Bruchsteinfundamenten harmoniert.

Ein weiterer Bereich massiver Umbaumaßnahmen ist das Dach. Genauer gesagt handelt es sich hierbei um eine höhengestaffelte Landschaft aus unterschiedlich geneigten Glasflächen verschiedener Abmessungen (insgesamt 3 500 m²), die die natürliche Belichtung aller Ausstellungsräume des OGs sowie des Patios und des Haupttreppenhauses ermöglichen. Der elegante Stahl-Dachstuhl des Bestands blieb unangetastet, während Dachdeckungen und Verglasungen ausgetauscht und um ein automatisch steuerbares Verschattungssystem mit Textilbahnen ergänzt wurden.

Hiermit lässt sich die bisher unkontrolliert einfallende Tageslichtmenge erstmals präzise regulieren und nach Bedarf auch Kunstlicht zuschalten. Was die Besucher davon wahrnehmen, ist das sinnliche Schattenspiel der historischen Dachkonstruktion, das sich bei Sonnenschein schemenhaft an den Glasdecken abzeichnet.

Bei der technischen Ausstattung des Palais setzten die Architekten auf möglichst »passive« Maßnahmen: Neben der intensiven Tageslichtnutzung sorgen LEDs und innen wärmegedämmte Außenwände für Energieeffizienz. Hinzu kommt der Ansatz, bei der Raumtemperatur und -feuchte keine fest einzuhaltenden Werte zu definieren, sondern größere, sich langsam verändernde ­saisonale Schwankungen zuzulassen.

Durchscheinend

Wer auf dem Rundgang durch das Palais in der Kunstsammlung des 20. Jahrhunderts angelangt ist, dem bietet sich die Möglichkeit, die Tour im nordwestlich benachbarten Cube fortzusetzen. Der Weg dorthin führt über eine breite Brücke, die dank geschlossener Seitenwände und eines Oberlichts als Ausstellungsraum erscheint – damit sich die Besucher dennoch orientieren können, ordneten die Architekten direkt neben der Brücke ein schmales Fenster mit Blick auf die dem Museum angegliederte Kapelle an. Wie die anderen Ebenen ist auch das teilweise zweigeschossige 1. OG des Museumsneubaus als neu­traler White Cube konzipiert, der mit nicht tragenden Trennwänden eine ­flexible Bespielung der Flächen gewährleistet.

Die Brücke führt aber auch in einen lichtdurchfluteten Treppenraum, der sich in seiner Erhabenheit, wenn auch auf völlig andere Art und Weise, auf die Haupttreppe des Palais bezieht. Maßgeblich für diese Wirkung ist die Südfassade mit ihrer filigranen Stahlkonstruktion und der außen mit dünnen Platten aus portugiesischem Marmor versehenen Verglasung, deren Farbton und horizontale Fugenabstände mit der sandgelben Natursteinfassade (Tuffeau nantais) des Palais korrespondieren. Während des Tags sorgen die Platten für ein weiches, warmes Licht im Innenraum, während sie von außen den Eindruck einer massiven Wand erzeugen. Am Abend, bei beleuchtetem Innenraum, kehrt sich das Bild um. Dann beginnt die Fassade zu glühen, sodass sie in Richtung des begrünten Innenhofs eher als Lichtinstallation denn als Treppenhaus erscheint.

Im EG des Cube gelangen die Besucher in den neuen Skulpturenhof und von dort über einen verglasten Treppenraum in die Kapelle. Die Chapelle de l’Oratoire dient schon seit Längerem als Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst und blieb, abgesehen von der neuen Erschließung, von den Um­baumaßnahmen unberührt. Den südlichen Abschluss des Skulpturenhofs bildet das für Besucher nicht zugängliche Archivgebäude, das neben Werkstätten v. a. Lagerräume beherbergt und daher an seiner Natursteinfassade nur wenige Öffnungen aufweist.

Der Weg wieder zurück zur Eingangshalle im Palais führt entweder über den Garderobenbereich im UG oder über die Brücke im OG – eine Verbindung im EG ist nicht möglich, weil sich zwischen Cube und Palais der Anlieferungsbereich befindet.

Es gibt zahlreiche Gründe, warum der Rundgang durch das Musée d’arts de Nantes so spannend ist. Zunächst sind da die erstklassigen Exponate aus dem 13. bis 21. Jahrhundert – von Künstlern wie Perugino, Gustave Courbet, ­Claude Monet, Auguste Rodin, Wassily Kandinsky oder Anish Kapoor. Dann gibt es den erfrischenden Ansatz, Werke verschiedener Entstehungszeiten gezielt nebeneinander zu stellen, um oftmals irritierende, neue Querbezüge zu schaffen. Eine Rolle spielt auch das Miteinander der Gebäude aus vier ­Jahrhunderten. Wesentlich ist, dass die Architekten nicht nur für die Gebäudeplanung und die Freiraumgestaltung am Haupteingang zuständig waren, sondern auch die Gelegenheit hatten, den Großteil der Möblierung, der Einbauelemente in den Ausstellungsräumen, das grafische Erscheinungsbild sowie die Signaletik des Museums zu entwerfen. Auf diese Weise wird der Museumsbesuch zu einem ganzheitlichen Erlebnis.

2. Februar 2018 deutsche bauzeitung

Ordnende Räume

Montessorizentrum in Freising

Das Gebäudeensemble aus Kita und Schule des Montessorizentrums in Freising bei München zeigt sich nach außen hin eher unscheinbar. Im Innern der beiden Baukörper jedoch offenbaren sich klar strukturierte und gut gestaltete Räume, die neben dem Lernen insbesondere das kreative Miteinander von Pädagogen und Kindern in den Mittelpunkt rücken.

Pisa-Schock, überfrachtete Lehrpläne, zu große Klassen, Lehrer- und Platzmangel haben das Vertrauen in öffentliche Schulen erschüttert. Laut Bildungsbericht 2016 besuchen inzwischen fast 9 % aller Schüler in Deutschland Schulen freier Träger. Neben kirchlichen Einrichtungen und Waldorf-Schulen verzeichnen insbesondere die Montessori-Schulen, wachsenden Zulauf. Der pädagogische Ansatz, den die Ärztin, Reformpädagogin und Philosophin Maria Montessori zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründete, hat auch gut 100 Jahre später nichts von seiner Gültigkeit verloren. Er betrachtet Kinder als individuelle Persönlichkeiten, die keine standardisierten Lehrpläne, sondern freie Entfaltungsmöglichkeiten brauchen. Wesentliches Merkmal dieser Pädagogik ist daher das Eingehen auf die wechselnden, entwicklungsabhängigen Lerninteressen und sensiblen Lernphasen jedes einzelnen Kindes. Zusammen mit den eingesetzten Montessori-Unterrichtsmaterialien, wie z. B. numerische Stangen, Perlen oder trinomische Würfel, übernimmt das Schulhaus dabei die Rolle der »vorbereiteten Umgebung«, die das selbstständige, selbstbestimmte und soziale Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung fördert. Träger des Montessorizentrums in Freising ist ein gemeinnütziger Verein, den engagierte Eltern 1986 gründeten, um kurz darauf in den Räumen des katholischen Palotti-Hauses in Freising zunächst eine Grundschule und einen Kindergarten zu betreiben. Einige Jahre später folgten eine Spielgruppe und eine Mittagsbetreuung der ersten vier Klassenstufen sowie eine Montessori-Mittelstufe in einem vormaligen Gewerbegebäude am Stadtrand.

Steigende Kinder- und Schülerzahlen sowie auslaufende Genehmigungen für den Betrieb an zwei Standorten führten 2011 zum Beschluss, einen Neubau zu errichten, in dem sowohl ein Kinderhaus mit Krippe und Kindergarten als auch eine Grund- und Mittelschule Platz finden. Nach langer Suche im Stadtgebiet stieß der Verein auf ein geeignetes Grundstück zwischen einem Wohn- und einem Gewerbegebiet im Südosten Freisings und lud fünf Architekturbüros zur Bearbeitung der Aufgabe ein. Auf Grundlage der Entwurfsplanung des Berliner Büros Numrich Albrecht Klumpp, das für Kinderhaus und Schule je ein separates Gebäude vorsah, lobte der Verein schließlich ein EU-weites VOF-Verfahren aus. Dieselben Architekten konnten abermals überzeugen und wurden somit auch mit der umfassenden Objektplanung beauftragt.

Äußere und innere Ordnung

Um fördermittelrelevante Fristen einzuhalten, begannen die Planungen und Baumaßnahmen beim eingeschossigen Kinderhaus. Dieses liegt im rückwärtigen Grundstücksbereich und umschließt zusammen mit dem L-förmigen Schulgebäude einen gemeinsamen Spiel- und Pausenhof, der sich nach Westen hin zu einem kleinen Wäldchen mit Bachlauf orientiert. Ein zu diesem Naturraum offener eingeschnittener Innenhof gliedert das Kinderhaus am Eingangsfoyer in zwei Bereiche, dient zugleich aber auch als verbindende Terrasse. Auf der einen Seite ist eine Krippe mit maximal 13 Kindern zwischen einem und drei Jahren untergebracht, auf der anderen Seite befinden sich zwei Kindergartengruppen für insgesamt 50 Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Jede der Gruppen verfügt über einen Gruppen- und einen Nebenraum, hinzukommen ein Mehrzweckraum für gemeinsame Veranstaltungen und sportliche Aktivitäten sowie Nebenräume und Räume für die Erzieher. Dass das Kinderhaus sehr klar strukturiert ist, entspricht dem Montessori-Prinzip, nach dem eine äußere Ordnung auch zur inneren Ordnung führt.

Die Innenraumgestaltung basiert auf wenigen, farblich angenehm zurück‧haltenden Oberflächen: weiße Wände und Decken (im Eingangsbereich Sichtbetonwände), Holz-Alu-Fenster, Naturholzmöbel, hellgrüner Linoleum-Bodenbelag. Leuchtend gelbe Farbakzente hingegen setzen insbesondere die Garderobenwände im Eingangsbereich und die freistehenden Küchenblöcke in den Gruppenräumen des Kindergartens. Hier können die Kinder Erfahrungen im Zubereiten von Essen sammeln. Ungeachtet dessen wird das Mittagessen – ebenso wie in der Mensa der Schule – von einem Caterer geliefert. Für eine klare äußere Ordnung des Gebäudes sorgt eine zweigeteilte, mit dem Schulhaus korrespondierende Fassade aus grauen Faserzementplatten und vertikalen Lärchenholzbrettern. Übernehmen die Faserzementplatten beim Kinderhaus v. a. die Aufgabe eines robusten, widerstandsfähigen Gebäudesockels, machen sie beim dreigeschossigen Schulhaus zudem noch das Innenraumkonzept ablesbar. Dort bekleiden sie das gesamte EG, in dem sich neben der Sporthalle und den Büros der Schulleitung auch eine Mensa und ein Schülercafé befinden – sämtliche Unterrichtsräume für die insgesamt 320 Schüler der Jahrgangsstufen 1 bis 10 befinden sich im 1. OG (Grundstufe) und 2. OG (Mittelstufe). Hinsichtlich der Farb- und Oberflächengestaltung entspricht das Schulhaus fast vollständig dem Kinderhaus – allein die Klassenzimmer und die Klassenzimmerflure verfügen über dunkelgraue Teppichböden.

»Raum der Mitte«

Obwohl das Schulgebäude in Bezug auf die Flächen grundsätzlich einer vergleichbaren Regelschule entspricht, stellt sich schon im Foyer das Gefühl ein, sich in einem besonders großzügigen und einladenden Gebäude zu befinden. Das liegt v. a. an der offenen Haupttreppe und der großen Pausenhalle mit ihren jeweils über drei Geschosse reichenden Lufträumen, die sowohl für weite Durchblicke als auch für viel Tageslicht sorgen. Darüber hinaus signalisieren Sitzstufen entlang der Straßenfassade und ein an eine Kanzel erinnerndes Treppenpodest, dass die in Gebäudemitte platzierte Pausenhalle auch als Bereich vielfältiger Aktivitäten dient. Und tatsächlich finden hier im »Raum der Mitte« neben Schulfesten und Präsentationen auch Veranstaltungen von Sportvereinen und anderen Gästen statt, die je nach Raumbedarf zusätzlich noch die Sporthalle oder die Mensa anmieten können. Diese Bespielungsmöglichkeiten, der dezidiert »öffentliche« Charakter und die kleinteilige Gestaltung schaffen eine wohltuende räumliche Qualität und lassen das klar gegliederte EG außerdem größer erscheinen als es in Wirklichkeit ist. Diese Großzügigkeit ist auch deshalb möglich, weil die dreigeschossige Pausenhalle kein Bestandteil des Rettungswegekonzepts der drei Unterrichtsbereiche im OG ist. Sie sind mit jeweils einem eigenen Fluchttreppenhaus ausgestattet und von dem über alle Geschosse offenen Bereich mit Glas-Brandschutztüren abgetrennt.

Aktives Lernen

Wie alle bayerischen Montessori-Schulen orientiert sich auch die in Freising an den Bildungs- und Erziehungszielen für staatliche bayerische Schulen. Im Unterschied zu diesen kann sie jedoch frei über die Lehr- und Erziehungsmethoden, die Lehrinhalte und die Formen der Unterrichtsorganisation entscheiden. Und so gibt es statt Frontalunterricht und starren, abgeschlossenen Klassenzimmern jahrgangsgemischte Klassen (1-3, 2-4, 5-7 und 8-10) und flexible Lernräume, die den Kindern vielfältige Erfahrungs- und Bewegungsspielräume eröffnen. Hier können sie sich frei gewählten Aufgaben widmen, die sie sich nach dem Montessori-Leitsatz »Hilf mir, es selbst zu tun« in Begleitung der Pädagogen selbst erschließen. Als Teil der Lernumgebung sind die Flure so gestaltet, dass sie aktiv in den Unterricht miteinbezogen werden können, z. B. wenn sich die Schüler zur Freiarbeit oder zur Arbeit in kleineren Gruppen zeitweise aufteilen. Sie verfügen (ebenso wie die Unterrichtsräume) über weiche Teppichböden und große Sitz- und Sichtfenster in den Klassenzimmerwänden. In den Klassenzimmern – vorgesehen für max. 25 Schüler – gibt es leichte Stühle sowie dreieckige Tische auf Rollen, die sich schnell und mühelos umkonfigurieren lassen, um auf diese Weise alle denkbaren Unterrichtsformen zu unterstützen. Einige der Klassenzimmer verfügen noch über die alte Möblierung aus dem Vorgängerbau, die jedoch in den nächsten Jahren ersetzt werden soll.

Die Schüler erhalten im Verlauf der 9. Klasse den Montessori-Abschluss und legen anschließend die Prüfungen für den Haupt- und den Realschulabschluss ab. Die Fachhochschulreife und Hochschulreife können die Schüler dann an der Montessori Fachoberschule in München erwerben, die der Verein als einer von acht Gründungsgesellschaftern mitgegründet hat. Bislang gibt es keine Pläne, das Montessorizentrum um eine Oberstufe zu erweitern, um vor Ort ein vollständiges Schulangebot bereitstellen zu können – eine wesentliche Rolle in der Schullandschaft Freisings nimmt dieser Standort zweifellos dennoch ein. Nicht nur, weil der Landkreis direkt nebenan gerade eine Realschule errichtet, sondern v. a., weil das Schulhaus ebenso unprätentiös wie beispielhaft aufzeigt, wie Architektur die Kommunikation und das gemeinschaftliche Lernen und Arbeiten fördern kann – jene Fähigkeiten, die sowohl im privaten Bereich als auch im Berufsleben eines jeden immer wichtiger werden.

2. November 2017 deutsche bauzeitung

Gemeinsam stark

Sozialzentrum »Häuser der Generationen« in Koblach (A)

Die Komposition aus drei unterschiedlichen Baukörpern bringt an einer Art Dorfplatz Pflegeheim, soziale Dienste, verschiedene Formen des Altenwohnens und sogar geförderten Wohnraum für Familien zusammen. Natürliche Belichtung mit Blickbeziehungen zur Außenwelt, sinnesanregende Farbgestaltung und die ortsüblichen Materialien Putz und Holz sorgen dabei für Übersichtlichkeit und Behaglichkeit.

Integration gelingt selten so gut wie beim neuen »Haus der Generationen« in Koblach. Ausgangspunkt war ein in die Jahre gekommenes Versorgungsheim, das umfunktioniert und um ein Pflegeheim wie auch um einen integrativen Wohnungsbau ergänzt wurde, und heute tatsächlich Menschen aller Altersgruppen als Ort zum Leben bzw. als Beratungsstelle dient.

Vor nunmehr 15 Jahren schlossen sich die vier rund um den Kummenberg ­situierten Vorarlberger Gemeinden Altach, Götzis, Koblach und Mäder zur Region »amKumma« zusammen. Unter dem Motto »Vier Gemeinden – ein Lebensraum« verfolgen sie seitdem das Ziel, die Lebensqualität durch eine ­enge Zusammenarbeit und eine »umsichtige, langfristige, nachhaltige und aktive Planung« zu stärken. Inzwischen kann die Region auf viele gemeinsame Projekte und Erfolge zurückblicken: auf dem Gebiet des öffentlichen Nahverkehrs und auf wirtschaftlicher Ebene ebenso wie beim Umweltschutz, in der ­Jugendarbeit oder im Umgang mit Flüchtlingen.

Das vom Bregenzer Architekturbüro Cukrowicz Nachbaur nach einem Architektenwettbewerb realisierte Haus der Generationen in Koblach ist ein weiteres Projekt dieser bemerkenswerten Erfolgsgeschichte. Es befindet sich im Ortskern unweit des neuen Gemeindezentrums »DorfMitte« und bildet als Sozialzentrum nun einen weiteren wichtigen Treffpunkt für Jung und Alt.

Geleitet wird das von der Vorarlberger gemeinnützige Wohnungsbau- und Siedlungsgesellschaft gebaute Ensemble aus zwei Neubauten und einem Altbau von den Sozialdiensten Götzis, eine Gesellschaft der Gemeinde Götzis, die eine vergleichbare Einrichtung bereits bei sich im Ort betreibt.

Vernetzung von Innen und Aussen

Dass das zweigeschossige Pflegeheim, das dreigeschossige Wohnhaus und das ehemalige Versorgungsheim nicht zufällig nebeneinander stehen, ist auf den ersten Blick zu sehen. Alle drei sind architektonisch ähnlich zurückhaltend gestaltet und verfügen über warmtonige grau-beigefarbene Putzfassaden mit hell gerahmten Fenstern. V. a. aber bilden die frei stehenden, unterschiedlich großen und hohen Gebäude einen zur Landesstraße offenen Platzraum, der zum Verweilen einlädt. Dafür sorgen z. B. neutrale EG-Zonen, Bäume, ein Brunnen, Sitzbänke und nicht zuletzt der großzügige, überdeckte Eingangsbereich des Pflegeheims, der mit gelbgrünen Stühlen und Sonnenschirmen an den Außenbereich eines Cafés denken lässt. Dass dieser Eindruck nicht ganz falsch ist, wird beim Betreten des Gebäudes klar. Gleich nach dem Passieren des Foyers stehen Besucher nämlich in einem zum Platz und zu einem Innenhof raumhoch verglasten Raum mit weiteren Tischen und Stühlen, Kuchen­vitrine und Ausgabetheke. Und tatsächlich ist dies weniger der Eingangs­bereich eines Pflegeheims als vielmehr eine Art Cafeteria und Treffpunkt, an dem sich sowohl die Bewohner und Besucher des Pflegeheims als auch Menschen aus der Nachbarschaft aufhalten – zum Mittagessen, das hier nach Vorbestellung für jedermann möglich ist, zu Kaffee, Kuchen und kleinen Snacks am Nachmittag, oder zu Veranstaltungen.

Bei letzteren werden in der angrenzenden, professionell ausgestatteten Küche Speisen zubereitet.

Drei Raumschichten rund um einen Innenhof

Die bereits im Eingangsbereich spürbare Offenheit ist auch das wesentliche Merkmal im Innern des Pflegeheims. Grundsätzlich erfolgt die Grundriss­organisation um einen zentralen Innenhof, um den sich insgesamt drei Raumschichten anlagern: zunächst Nebenräume und kleine offene Gemeinschafts- bzw. Rückzugsbereiche, dann ein ringförmiger Erschließungsgang, der sich in der Südwestecke zu einem großen Wohnbereich aufweitet, und schließlich die 36 Zimmer der beiden nahezu identisch übereinander liegenden Wohnbereiche. Durch die Aufweitungen des Flurs – mal zum Dorfplatz bzw. zum rückwärtigen Dorfbiotop mit Bachlauf, mal zum Innenhof – ent­stehen vielfältige Raum- und Sichtbezüge, die das einfache quadratische Bauvolumen durchlässig machen und viel komplexer erscheinen lassen als es ­tatsächlich ist. Dank der räumlichen Unterschiede ist für die Bewohner immer nachvollziehbar, wo sie sich gerade befinden.

Für Klarheit sorgt auch die Tatsache, dass sämtliche zum Innenhof orientierten Flurwände verputzt und weiß gestrichen sind, und sämtliche Zimmerwände auf der anderen Seite – ebenso wie der Boden und andere Einbauten – in geölter Eiche erscheinen. Die angenehme Wohnatmosphäre in den gemeinschaftlich genutzten Bereichen entsteht durch die natürlichen Materialien und die abwechslungsreiche räumliche Kleinteiligkeit, aber auch durch die vielen alten Möbelstücke, die teils von Bewohnern stammen, teils hinzugekauft wurden. Ebenso sorgfältig ausgeführt sind die einzelnen Zimmer. Wie der Rest des Gebäudes, verfügen auch sie über hochwertige Detaillösungen: z. B. präzise eingepasste Eicheneinbaumöbel, die zugleich als Bad-Trennwand dienen. Diese Wände reichen nicht ganz bis zur Decke – einerseits, um das ­innenliegende Bad mit Tageslicht zu versorgen, andererseits, damit die Pflegekräfte bettlägerige Bewohner mithilfe eines Deckenlifters zum Duschen ins Bad bringen können. Die für den Lifter entlang der Zimmerwände nötigen Decken-Laufschienen sind in allen Zimmern vorhanden, Querbalken und Hebevorrichtung werden aber nur bei Bedarf eingebaut. Diese Einrichtung stört zwar das ansonsten harmonische Bild, bietet den Mitarbeitern jedoch ­eine erhebliche Erleichterung in der täglichen Pflege. Versöhnlicher ist da der Blick in die umliegende Natur, der dank der tiefen Brüstung der Fichtenholzfenster auch vom Bett aus gut möglich ist.

Aktive Gemeinschaft und teilnehmende Beobachtung

Unabhängig vom Pflegebedarf steht im Pflegeheim die Förderung der Gemeinschaft im Vordergrund. Und so gibt es im Wohnbereich neben viel Platz für Tische, Stühle, Sofas und eine Terrasse bzw. einen Balkon auch jeweils eine große offene Küche mit frei stehender Theke. Während die Hauptbestandteile des Mittagessens aus wirtschaftlichen Gründen im Haus der Generationen in Götzis gekocht und angeliefert werden, erfolgt die Zubereitung der Beilagen vor Ort. Die Küche wird natürlich ebenso zum gemeinsamen Backen, für Frühstück und Abendessen und Anderes genutzt. Selbst wenn sich Bewohner aus gesundheitlichen Gründen nicht direkt beteiligen können, so sind sie doch Teil des Ganzen.

Von dieser Art der teilnehmenden Beobachtung dürften viele Bewohner ebenfalls profitieren, wenn es im nächsten Jahr auf der dem Pflegeheim südlich vorgelagerten Wiese Hochbeete und Hühner geben wird. Gemeinsame religiöse Erlebnisräume eröffnet eine kleine Kapelle. Sie befindet sich am Gemeinschafts- und Veranstaltungsbereich über dem Haupteingang, vom dem aus eine Brücke den Übergang zum ehemaligen ­Versorgungsheim ermöglicht.

Das ehemalige Versorgungsheim als Teil des neuen Ensembles blieb baulich nahezu unverändert, wurde aber bei gleicher Raumaufteilung grundlegend renoviert und mit neuen Böden, Fenstern, Türen und Anstrichen versehen. Hier befinden sich die Büros der Hauskrankenpflege, des Mobilen Hilfsdiensts, der Elternberatung, der Gruppe »z’Kobla dahoam« und der Beratungsstelle für Gesundheit, Pflege & Koordination sowie Besprechungsräume.

Das dritte Gebäude am Dorfplatz ist ein Wohnungsbau mit 16 um einen zentralen Lichthof gruppierten, barrierefreien Wohnungen in den beiden unteren Geschossen und einer betreuten Wohngruppe für zwölf Personen mit maximal mittlerem Pflegebedarf im 2. OG. In den Wohnungen leben Menschen ­jeden Alters, auch junge Familien, die größtenteils ohne direkten Bezug zum Pflegeheim stehen. Es besteht für sie aber die Möglichkeit, einen Betreuungsvertrag abzuschließen und zeitweise oder dauerhaft verschiedene Angebote des Pflegeheims oder des Mobilen Hilfsdiensts zu nutzen: z. B. Funknotruf, Mittagessen oder kleinere Pflege-Dienstleistungen.

In der betreuten Wohngruppe mit Bewohnern verschiedenen Alters, aber ähnlichen Bedürfnissen geht es nicht in erster Linie um körperliche Pflege, sondern um die Unterstützung im Alltag. Aus diesem Grund stehen zwischen 7 und 21 Uhr Fachkräfte in der Wohnung für Hilfeleistungen zur Verfügung – nachts sind für Notfälle die Mitarbeiter des Pflegeheims zuständig. Die Ausstattung der Wohnbereiche entspricht den Standards des Pflegeheims – auch hier prägt geöltes Eichenholz das Bild. Die Zimmer werden von den Bewohnern komplett selbst eingerichtet.

Verantwortung für Mensch und Umwelt

Durch die Nutzungsmischung innerhalb der drei Gebäude ist in Koblach ein wirklich generationenübergreifendes Sozialzentrum entstanden, das Beratungs- und Betreuungsangebote für fast alle Altersgruppen bereithält. Und selbst wer hier keine Antworten findet, begegnet fachlich kompetenten Menschen, die wissen, wohin man sich mit Fragen wenden kann. Das gleiche Verantwortungsgefühl, das die Region »amKumma« für ihre Einwohner zeigt, hat sie seit Jahren auch für den Umweltschutz. Und so erscheint es den hiermit gut bekannten Architekten beim Rundgang fast schon nebensächlich zu erwähnen, dass Passivhaus-Standard erreicht wurde und selbstverständlich ökologische, heimische Baumaterialien zum Einsatz kamen. Errichtet wurden die Neubauten in Massivbauweise aus Tonziegeln mit Vollwärmeschutz aus Mineralwolledämmung und Fensterrahmen aus Fichtenholz. Heizwärme und Warmwasser werden mithilfe von Erdwärme erzeugt.

Und da sich die Einwohnerzahl Koblachs in den letzten 40 Jahren auf rund 4 500 fast verdoppelt hat, gibt es selbst für den Fall, dass der Bedarf an Pflegeheim­plätzen weiter steigt, schon eine Lösung. Weil eine Aufstockung des Pflegeheims städtebaulich unverträglich wäre, haben die Architekten die Baukörper so platziert, dass in nördlicher Richtung auf dem eigenen Grundstück ein ­Erweiterungsbau errichtet werden könnte.

2. Oktober 2017 deutsche bauzeitung

Holzschatulle im Prinzessinnenpalais

Stadtbücherei wird Stadtmuseum: Umbau des Wilhelmspalais

Von der Ausstellung ist zwar noch nichts zu sehen, denn das Stadtmuseum öffnet erst im April 2018 seine Tore, dafür ist die ins entkernte Wilhelmspalais eingepasste Architektur derzeit in voller Klarheit erlebbar. Das Raumgefüge aus hellem Birkenholz, Sichtbeton und dunklen Terrazzoböden überrascht hinter der klassizistischen Fassade zunächst.

Als das Wilhelmspalais 1840 fertiggestellt war, bildete es den östlichen ­Abschluss der Planie – eine von Alleen gesäumte Grünachse, an der einige der historisch wichtigsten Gebäude Stuttgarts aufgereiht sind, z. B. das Alte Waisenhaus, die Alte Kanzlei sowie das Alte und Neue Schloss. Dass diese Achse heute kaum mehr als solche erkennbar ist, hat v.a. mit dem Ausbau Stuttgarts zur autogerechten Stadt zu tun. Und so ist hier seit den 60er Jahren kein ­Vogelgezwitscher mehr, sondern Autolärm zu hören, ausgehend von zwei Bundesstraßen, die sich kreuzungsfrei begegnen und die Sicht- und Fußwegeverbindungen kappen. Direkt vor dem von Hofbaumeister Giovanni Salucci für die beiden Töchter von König Wilhelm I. geplanten Wilhelmspalais befindet sich die rechtwinklig zur Planie (B27) verlaufende Konrad-Adenauer-Straße (B14) – jene Stadtautobahn, die seit Jahrzehnten das Entstehen einer fühlbaren Kulturmeile vereitelt.

Zahlreiche hochkarätige Kulturinstitutionen (z.B. Landesbibliothek, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Haus der Geschichte, Staatsgalerie und Staatstheater) liegen neben dem »Prinzessinnenpalais« dicht an dicht, ein Ort zum Flanieren ist die Verkehrsschneise freilich nicht.

Seit 1918 im Besitz der Stadt und im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, wurde das Wilhelmspalais Mitte der 60er Jahre entkernt und durch den ­Architekten Wilhelm Tiedje zur Stadtbücherei umgebaut. Erhalten geblieben sind dabei lediglich die Außenwände.

Das neue Innere folgte funktionalen Gesichtspunkten und nahm mit dem von hohen geschlossenen Wänden flankierten Foyer in der Mittelachse und der dort platzierten, unrepräsentativen Haupttreppe nur wenig Bezug zur Altbausubstanz. Einige Jahre vor dem 2011 erfolgten Umzug der Stadtbücherei in den würfelförmigen Neubau (Architekt: Eun Young Yi) im Europaviertel fiel der Entschluss, hier das Stadtmuseum unterzubringen und einen Architektenwettbewerb auszuloben.

Offenheit und Aktivität statt bloßen Präsentierens

Den Zuschlag der Jury erhielt in der zweiten Runde einstimmig der Beitrag der Arbeitsgemeinschaft der Architekten Lederer Ragnarsdóttir Oei (LRO) und der Ausstellungsplaner jangled nerves. Während der Entwurf die Gremien des Gemeinderats passierte und ehe 2014 schließlich Baubeginn war, wurde das Haus fast eineinhalb Jahre lang als Ort für Kulturevents und täglichen Cafébetrieb zwischengenutzt. Dies war keineswegs nur als temporäre Bereicherung der Gastronomie- und Veranstaltungsszene gedacht, sondern sollte gezielt dazu beitragen, das Gebäude als offenes, kommunikatives Haus in den Köpfen der Menschen zu verankern. In die gleiche Richtung zielte das ebenfalls schon vorab aktive Stadtlabor, das seinen Platz nun im Gartengeschoss des Stadtmuseums finden wird. Zu dessen Aufgaben zählt es, Kindern und Jugendlichen grundlegende Aspekte von Architektur und Stadtplanung zu vermitteln.

Das Selbstverständnis des Stadtmuseums, nicht nur Artefakte zu konservieren und zu archivieren, sondern ein lebendiger Ort der Begegnung zu sein, verlangt nach einem Gebäude, das sich in besonderer Weise offen und durch­lässig zeigt. Da Veränderungen an der denkmalgeschützten Fassade nicht ­zulässig waren, kam zur Umsetzung dieser Idee nur der Innenraum infrage. Weil die vorgefundenen Räume hierfür zu hermetisch und daher ungeeignet waren, entschlossen sich die Planer, das Wilhelmspalais abermals vollständig zu entkernen und den Bestand durch einen selbsttragenden Stahlbetonbau zu ersetzen.

Wie schon die Stadtbücherei verfügt auch das Stadtmuseum über zwei Eingänge, durch die die Besucher ins erdgeschossige Foyer gelangen:­ ­einen Haupteingang mit Kutschenauffahrt von der Stadtseite und einen Eingang von der rückwärtigen Gartenseite. Letzterer führt von der erhöht liegenden Urbanstraße über eine bereits von Tiedje geschaffene, nun aber erneuerte Brücke ins Haus. Das Gebäudeinnere nimmt direkt Bezug auf das ursprüng­liche klassizistische Raumgefüge Saluccis. Zum einen durch die zwei an ähnlicher Stelle symmetrisch im vorderen Gebäudeteil gesetzten offenen Treppenräume, die eine von Einbauten freie Sichtachse zwischen Garten- und Stadtseite und dadurch eine enge visuelle Verknüpfung zur Stadt entstehen lassen, zum anderen durch das sich in jedem Geschoss wiederholende Motiv eines von tragenden Stützen gerahmten Bereichs in Gebäudemitte – eine Reverenz an die einstige Säulenhalle, die aber nur bedingt funktioniert, weil es keinen durchgängigen Luftraum gibt.

Neue Holzschatulle in klassizistischer Gebäudehülle

Das EG wirkt deshalb so erstaunlich großzügig, weil die beiden Haupt- und die beiden gartenseitigen Fluchttreppenräume derart geschickt angeordnet sind, dass ebenso offene wie klar definierte Bereiche entstehen: Empfangsbereich, Café, Museumsshop sowie zwei zur Planie orientierte Säle für Vorträge bzw. Diskussionen. Hinzu kommt, dass sich Garderoben, Schließfächer und Toiletten in einem darüber liegenden, niedrigen Zwischengeschoss befinden. Das zum Foyer im Bereich der »Säulenhalle« offene Zwischengeschoss, aber auch die großen Raumhöhen der oberen Ausstellungsgeschosse, erforderten aufgrund der aufeinander abzustimmenden Geschossdecken und Fassadenöffnungen minimierte Deckenaufbauten. Aus diesem Grund liegen – hier wie auch in den OGs – sämtliche haustechnischen Anlagen, Leitungen und Geräte nicht in abgehängten Decken, sondern im Zwischenraum von Neubau und alten Außenwänden. Die dadurch sehr tiefen Laibungen wirken dank der von innen kaum sichtbaren Fensterrahmen wie Vitrinen, die eine jeweils andere Ansicht der Stadt zeigen.

Alle vertikalen Oberflächen im Haus sind einheitlich mit einer hellen, präzise bündig eingepassten Birkenholzbekleidung versehen. Die Architekten sprechen in diesem Zusammenhang bildhaft von einer Schatulle, die das Innere einer »leeren Schachtel« auskleidet. EG und Zwischengeschoss bilden zusammen einen Bereich, den das Museum als »erweitertes Wohnzimmer der Stadt« betrachtet und der für abendliche Veranstaltungen genutzt oder auch vermietet werden kann.

Ausstellungsgestaltung noch geheim

Im 1. OG befindet sich der Dauerausstellungsbereich, der sich auf 900 m² »Stuttgarter Stadtgeschichte(n)« des 18. - 20. Jahrhunderts widmet – für die weiter zurückreichende Geschichte ist heute wie auch in Zukunft das Museum im Alten Schloss zuständig. Wie die Ausstellungsgestaltung im Detail aussieht und welche Objekte, Dokumente, Fotos und Filme hier genau präsentiert werden, will das Stadtmuseum heute, ein halbes Jahr vor Eröffnung, ­leider nicht veröffentlicht sehen. Fest steht allerdings, dass die Exponate aufgrund des Außenwandaufbaus, in dem auch die Lüftung untergebracht ist, nicht an den Wänden hängen, sondern frei im Raum stehen werden.

Im Gang zwischen den Haupttreppenräumen und dem großen Balkon am Haupteingang sollte ursprünglich das Café untergebracht werden, was ihm zweifellos eine einzigartige Präsenz zur Planie und Kunstmeile beschert hätte. Diese Idee blieb letztlich unrealisiert, v.a., weil die Lage im Foyer einige Vorteile bietet: Dort ist mehr Platz für Gäste und Küche, und auch der Veranstaltungs- und Ausstellungsbetrieb lässt sich so klarer trennen.

Außerdem erlaubt diese Lösung einen von Cafébesuchern unbeeinträchtigten Rundgang durch die Dauerausstellung. Ein Überbleibsel dieser erst spät im Realisierungs­prozess gefallenen Entscheidung sind die in die Fensternischen zum Balkon eingelassenen Sitzbänke.

Eine Außenbewirtung wird es statt auf dem Balkon nun auf der breiten Brücke am rückwärtigen Eingang geben. Von hier aus gelangen Besucher dann auch zu Veranstaltungen im neu gestalteten Garten – vor allem die Fläche ­unter der Brücke soll dem Stadtlabor als geschützter Freibereich für Aktivi­täten dienen. Eine mit Pflastersteinen befestigte Fläche ermöglicht dank ­vorgerichteter Anschlüsse auch hier die Bewirtung von Gästen.

Der Sonderausstellungsbereich im 2.OG beschränkt sich auf den gartensei­tigen Gebäudeteil und ist räumlich ebenso wie das EG stark geprägt vom ­Motiv der Säulenhalle. In diesem Fall wird der Raum innerhalb des Säulenkarrees von neun runden Oberlichtern bestimmt, die sich zur Steuerung der Tageslichtmenge von jeweils zwei halbkreisförmigen Klappflügeln schritt­weise schließen lassen. Bei geschlossenen Klapp­flügeln und zugleich ­geschlossenen, bündig in die Laibung integrierten Holz-Klappläden lässt sich der Raum bei Bedarf auch weitgehend ohne Tageslicht bespielen. Der Blick zur Planie bleibt in diesem Geschoss leider nur den Mitarbeitern des Stadtmuseums vorbehalten, deren Büros sich hier befinden.

Stadtreparatur in kleinen Schritten

Anders als die Stadtbücherei dürfte das Stadtmuseum als dezidiert mit der Öffentlichkeit interagierende Einrichtung nicht zuletzt wegen seinem einladend offenen Raumgefüge zum vollwertigen Baustein der Kulturmeile werden. Und mit dem bisher unerfüllten Wunsch der Architekten nach einer bis zur ­Konrad-Adenauer-Straße reichenden, flachen Sitztreppe, dürfte es auch ­gelingen, ein Stück Stadtraum zurückzuerobern. Wie gut es tut, wenn sich ­Gebäude der Verkehrsschneise zuwenden anstatt sich abzuschotten, zeigt auch der Entwurf einer solchen Treppe beim Erweiterungsbau der Landesbibliothek, den LRO ebenfalls gerade realisieren. Bleibt nur noch abzuwarten, wann und wie es gelingt, das Straßenmonster selbst zu bändigen. Ein neuer städtebaulicher Wettbewerb soll bald weitere Ideen liefern.

1. September 2017 deutsche bauzeitung

Eins mit Ort und Menschen

Kapelle Salgenreute in Krumbach (A)

Die rund 1 000 Einwohner zählende Gemeinde Krumbach liegt 15 km östlich von Bregenz im Bregenzerwald und hat mit Arnold Hirschbühl einen Bürgermeister, der seit gut 20 Jahren aktiv daran arbeitet, jener Abwanderung junger Menschen entgegenzuwirken, die vielen Dörfern die Existenzgrundlage entzieht. So entstanden rund um die Kirche z. B. ein neues Dorfhaus mit Nahversorgern, Café und Bank (1999), die Modernisierung des Gemeindehauses (2002) und ein neues Pfarrhaus mit Bibliothek und Mehrzwecksaal (2013) – allesamt nach Plänen des Architekten Hermann Kaufmann, letzteres in einer Arbeitsgemeinschaft mit Bernardo Bader und Bechter Zaffignani Architekten. Diese und noch einige andere Projekte treten dabei nicht als isolierte Einzelprojekte auf, sondern bilden ein bemerkenswertes architektonisches und funktionales Ensemble, das auf einer umfassenden, von Bernardo Bader, Rene Bechter und Hermann Kaufmann durchgeführten Ortskernstudie basiert.

Große Aufmerksamkeit erhielt Krumbach auch durch das Bus:Stop-Projekt, bei dem im Jahr 2014 sieben internationale Architekten – darunter Sou Fujimoto, Ensamble Studio und der Pritzker-Preisträger Wang Shu – jeweils ein Bushaltestellen-Häuschen planten. Das wirklich Besondere dabei sind keineswegs die ausgefallenen Bauwerke selbst, sondern vielmehr der Rahmen, in dem sie realisiert wurden. Weil es zur Umsetzung der vom Verein »Kultur Krumbach« an die Gemeinde herangetragenen Idee der Zusammenarbeit mit namhaften Architekten nur so viel Geld gab wie für die ohnehin nötigen ­Standard-Häuschen, erhielten die Architekten kein Honorar, sondern je eine Woche Urlaub in der Gegend. Darüber hinaus wurden die Projekte ehren­amtlich betreut und von regionalen Architekten und lokalen Handwerkern z. T. aus gespendetem Material gebaut.

Gemeinschaftswerk

Diese Vorgeschichte ist wichtig, um das Projekt der Lourdes-Kapelle Salgenreute besser einordnen zu können. Denn ursprünglich errichtet wurde sie nicht etwa von der Gemeinde oder der Kirche, sondern auf Eigeninitiative ­einer ortsansässigen Familie. Sie hatte um 1880 auf einem Nagelfluh-Berg­rücken eine Holzkapelle gebaut, die von Einwohnern der umliegenden Ortsteile Zwing, Au und Salgenreute genutzt wurde: zur stillen Einkehr, für Maiandachten und Marienfeste, als Wetterglocke und um insbesondere im Winter nicht mehr zur einige Kilometer entfernten Dorfkirche gehen zu müssen. Nachdem die nicht denkmalgeschützte Kapelle im Lauf der Zeit marode geworden war, entschieden sich die Bewohner 2014 für einen Abriss und Ersatzneubau – ohne zu diesem Zeitpunkt genau zu überblicken, was im Folgenden zu tun war. Um in Krumbach an einem solchen Punkt weiterzukommen, ­bedurfte es freilich keiner öffentlichen Bekanntmachung. Nicht zuletzt, weil die Dorfgemeinschaft dank der vorherigen Projekte gut funktionierte, fanden sich schnell kompetente Helfer. Einer von ihnen war Bernardo Bader, der hier nicht nur aufgewachsen ist, sondern auch lebt. Dass er das Projekt gern in Form einer unentgeltlichen Projektplanung und -koordination unterstützen würde, war ihm sofort klar.

Nach gemeinsamen Exkursionen zu vergleich­baren Projekten und zahlreichen, quasi öffentlichen Besprechungen im Gasthaus Löwen, begann Bader mit der Arbeit – einen Vertrag, eine konkrete Beschreibung der Bauaufgabe oder ein definiertes Budget erhielt er bis zum Schluss nicht. Die einzigen Entwurfsvorgaben betrafen den Standort: die ­Kapelle sollte, wie zuvor, über 24 Sitzplätze verfügen, sie musste aufgrund der exponierten Lage auf dem Bergrücken sowohl gleich breit und in etwa gleich lang als auch möglichst nicht höher als der Vorgängerbau sein. Die daraufhin präsentierten Modellstudien fanden rasch breite Zustimmung und zeigten im Prinzip das heutige Projekt: ein monolithisch wirkendes Gebäude mit steilem Dach und vollflächiger, von einer Tropfkante in Traufhöhe gegliederten Holzschindelbekleidung.

Ortsverbundenheit

Von einer schmalen Straße führt kein richtiger Weg, sondern ein breiter, mit dichtem Gras bewachsener Trampelpfad aus verdichtetem Kies in weitem Schwung zur Kapelle hin. Eine solche Lösung war einerseits nötig, weil die Kapelle nur über eine private Wiese erreichbar ist, deren Bewirtschaftung nicht durch asphaltierte Flächen, Bordsteine o. ä. beeinträchtigt werden ­durfte. Andererseits zeugt dieser Fußweg auch von der sensiblen Einbettung der Kapelle in die örtlichen Gegebenheiten: sie wird in mehrfachem Wortsinn nicht auf einen Sockel gehoben, sondern ist selbstverständlicher Teil ihres landschaftlichen und sozialen Umfelds.

Ein niedriger, offener Vorraum mit einer festlichen Tür aus gehämmerten Messingstreifen empfängt die Besucher und bremst ihren Bewegungsfluss sanft ab – über dem Vorraum befindet sich, in einem geschlossenen Hohlraum, die Glocke. Sollte die Tür für Menschen, die hier innehalten möchten, je verschlossen sein, erlauben zwei große, seit­liche Fest­verglasungen zumindest den Blick ins schlichte Innere der Kapelle.

Der dem äußeren Gebäudevolumen entsprechende Innenraum ist zweigeteilt. Im vorderen Bereich mit den Tannenholz-Bänken bestehen die unmittelbar in die geneigten Dachflächen übergehenden Wände und die zwölf grazilen Spanten – ebenso wie der Boden – aus unbehandelter Tanne. Anders als diese auf traditionelle bäuerliche Stuben bezugnehmende Materialität erscheint die dreiecksförmige, um eine Stufe erhöhte Apsis als eine Art Schmuckkästchen in weiß getünchter Tannenholztäfelung. Der Raum wirkt sehr natürlich, was nicht nur an seinen Holzoberflächen, sondern v. a. auch an seiner archaischen Form liegt. So verengt sich die Apsis trichterförmig nach Osten hin bis zu ­einer mittig angeordneten, rahmenlos verglasten Öffnung, die den Blick auf eine nahe Baumgruppe, sowie auf die Felder, Wälder und Wiesen des Bregenzerwalds freigibt. Die stille Symmetrie des Raums wird von der asymmetrischen Platzierung des Altarblocks, der Kerzenständer und der aus der alten Kapelle stammenden Marienfigur – deren blaue Schärpe den einzigen Farbakzent im Innenraum bildet – überlagert: Im Raum ergibt sich eine unaufgeregte Spannung, die der durchweg feinsinnig ­detaillierten Komposition mit denkbar wenigen Mitteln ein hohes Maß sakraler Würde verleiht. Über einem Betonsockel, bekleidet mit Bregenzerwälder Sandstein, ist die Kapelle konstruktiv als Holz-Faltwerk aus 6 cm dicken Fichten-Kreuzlagenholzplatten (mit innerer Tannenholz-Deckschicht) konzipiert, das durch die polygonale Dachform ausgesteift wird. Die Spanten minimieren hierbei lediglich die Durchbiegung der Massivholzwände. Eine offene Fuge zwischen Sockel und Holzaufbau ermöglicht eine natürliche Luftzirkulation sowohl im unbeheizten Innenraum als auch im Bereich der gesamten Holzkonstruktion und verhindert so in der kalten Jahreszeit die Kondensatbildung.

Handeln statt reden

Der Bau der Kapelle erfolgte v. a. mithilfe von Geld- und Materialspenden ­sowie durch verbilligt bzw. kostenlos erbrachte Arbeitsleistungen. Sowohl der Abbruch der alten Kapelle als auch der Neubau erfolgten weitgehend in ­Eigenregie, wobei sich Menschen aus Krumbach, aber auch aus umliegenden Gemeinden, entsprechend ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten einbrachten: Schreiner, Metallbauer, Holzschindelhersteller, aber auch die Restauratorin der Marienfigur sowie eine Bank, die ein zinsloses Darlehen ermöglichte.

Durch das von Anfang an zelebrierte Miteinander entwickelte sich die Kapelle zu einer identitätsstiftenden öffentlichen Angelegenheit. Und so war es geradezu selbstverständlich, dort bereits während der Bauphase gemeinschaftsfördernde Veranstaltungen durchzuführen.

Insgesamt betrugen die Baukosten für die Kapelle knapp 100.000 Euro, von denen lediglich ein Fünftel von der Gemeinde beigesteuert wurde. Ein kleiner Teil der heute noch offenen Rechnungen wird durch den Erlös aus dem Verkauf eines von Bernardo Bader herausgegebenen, ebenso informativen wie ­ästhetischen Buchs (sowohl im Gemeindeamt als auch in der Kapelle erhältlich) beglichen. In der Kapelle ist hierfür ein kleiner Opferstock aufgestellt und die Chancen stehen gut, dass auch der Restbetrag in nicht allzu ferner Zukunft abbezahlt sein wird.

Was die Kapelle Salgenreute neben ihrer archaischen Ausstrahlung so faszinierend macht, ist ihre raumgewordene Haltung, die für etwas steht, was ­heute mehr denn je wünschenswert ist: das vertrauensvolle gemeinsame ­Handeln anstelle des ebenso end- wie ergebnislosen Redens.

1. März 2017 deutsche bauzeitung

Die Kultur des zweiten Blicks

Wohnhaus »Haus D« in Mering bei Augsburg

Ideale Voraussetzungen: Die jungen Bauherren verfügten über ein brachliegendes Grundstück, hatten klare Wohnvorstellungen, wenig Zeitdruck und waren offen für Neues. Im engen Austausch mit dem nach einjähriger Eigenrecherche ausgewählten Büro Eberle Architekten entstand ein Wohnhaus, das sich – nicht nur wegen seines weißen Kammputzes – auf eine angenehm bescheidene und bodenständige Art experimentierfreudig zeigt.

Als weißer, dreigeschossiger Würfel mit knapp 9 m Kantenlänge steht das letzten Sommer bezogene Wohnhaus inmitten eines suburbanen Umfelds aus drögen, zweigeschossigen Ein- und Mehrfamilienhäusern mit Satteldach. Dank des maßstäblichen Bauvolumens und der Lochfassade erscheint es zwar als selbstverständlicher Baustein im Ortsgefüge, wegen seiner Gebäudeform und der Lage an einer Straßenkreuzung erhält es aber zugleich wesentlich mehr Aufmerksamkeit als seine Nachbarn. Unterstrichen wird der besondere Charakter des Hauses auch durch die in zwei quadratischen Formaten unregelmäßig gesetzten Fenster, insbesondere aber durch die Kammputz-Fassade. Die erst beim Näherkommen allmählich erkennbare vertikale Rillenstruktur ist eine Reminiszenz an diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitete Form des Putzauftrags. Sie zeugt aber auch von einem Entwurf, der an vielen Stellen im und am Gebäude auf subtile Weise eine Kultur des zweiten Blicks pflegt.

Die Grundrissorganisation des Gebäudes ist leicht erklärt: Im EG befinden sich neben der Gästetoilette und einer Speisekammer eine offene Küche und ein Wohnzimmer. Das 1. OG bietet Platz für die beiden Kinder- und ein Fernsehzimmer, während das 2. OG mit Schlafzimmer, kleiner Bibliothek und Arbeitsplatz eher den Eltern vorbehalten bleibt. Abgesehen von dieser Verteilung der Räume auf drei Ebenen hatten die Bauherren kaum etwas vorab festgelegt, als sie auf Architektensuche gingen. Den dadurch entstandenen Freiraum nutzten Architekten und Bauherren, um sich während der Planungsphase immer wieder gegenseitig den Ball zuzuspielen. So entstand etwa aus der Idee eines »richtigen« Kellers, der sich gut zum Einlagern von Kartoffeln eignen sollte, der Vorschlag der Architekten, die Kellertreppe nicht im Haus, sondern in der direkt östlich anschließenden Garage zu platzieren. Die enge Verknüpfung von Keller und Garage ist in vielerlei Hinsicht sinnvoll: beide sind unbeheizt und ungedämmt und dienen als untergeordnete Nebenräume – der Keller mehr noch als die Garage, die den leidenschaftlichen Radfahrern auch als Werkstatt dient. Hinzu kommt, dass der im EG freigewordene Raum unter der Treppe zur wertvollen Abstellfläche wurde und außerdem die Möglichkeit für eine dem Wohnzimmer zugeordnete Wandsitznische eröffnete.

Massgefertigte handwerkliche Lösungen

Ebenso klar, sinnlich und zurückhaltend wie die Einrichtung der Familie ist auch der von den Architekten gesteckte gestalterische Rahmen: Aluminiumfenster, die durch rahmenlose Fensterflügel in der Außenansicht extrem schlank wirken, raumhohe Türen mit zweigeteilten Stahlzargen, die die Decken ungehindert von einem in den nächsten Raum übergehen lassen, sowie bündig in den Deckenputz eingelassene Vorhangschienen und Einbauleuchten. Letztere sind von den Architekten eigens entwickelt und so eingebaut, dass neben einer extrem schmalen Fuge zum Putz lediglich das weiße Abdeckglas des Leuchtmittels zu sehen ist – Abdeckringe, Rahmen und Ähnliches sucht man vergeblich, sodass die Leuchten eigentlich nur dann in Erscheinung treten, wenn sie eingeschaltet sind.

Von der Freude am handwerklich präzisen Denken und Machen zeugen auch die vor Ort mit Bretterschalung gegossenen Sichtbetontreppen, die im wohltuenden Kontrast zu den ansonsten vorherrschenden weißen, glatten Oberflächen stehen. Mit all ihren Lunkern, Verfärbungen und Holzmaserungen erscheint vor diesem Hintergrund v. a. die Faltwerk-Treppe ins 2. OG als minimalistisches Kunstwerk. Einen ähnlichen Eindruck hinterlassen die äußeren Betonfertigteil-Fensterbänke. Damit diese außenwandbündig ohne Tropfkanten an der Putzfassade anschließen können, verfügen sie über ein Innengefälle und einen mittigen Abfluss, durch den das Regenwasser in einen Entwässerungsspeier gelangt – Wasserschlieren in der Fassade werden auf diese Weise dauerhaft erfolgreich vermieden.

Experiment Kammputz

Handwerklich besonders anspruchsvoll und aufwendig war bei diesem Projekt sicherlich der an den Außenfassaden realisierte Kammputz. Ins Spiel gebracht wurde diese Lösung von den Bauherren, die sich eine schlichte, zeitlos elegante Fassade wünschten. Während die meisten historischen Vorbilder horizontale Kamm-Strukturen aufweisen, kamen bei diesem Wohnhaus vertikale Rillen zur Ausführung – insbesondere um den turmartigen Charakter des Gebäudes zu unterstreichen und um eventuelle Probleme mit stehendem Wasser ausschließen zu können.

Da diese Technik in den letzten Jahrzehnten etwas in Vergessenheit geraten ist, gestaltete sich das Verputzen als herausforderndes Experiment für alle Beteiligten. Das monolithische Ziegelmauerwerk von 42,5 cm Dicke versah die ausführende Firma zunächst mit einem Grundputz und einer vollflächigen Gewebespachtelung. Nach Fertigstellung und Austrocknung dieser Schicht wurde abschnittsweise ein faserarmierter Kalkzementputz aufgespritzt und mit einer eigens hergestellten, ca. 1 m breiten Metallschiene von unten nach oben mehrmals »durchkämmt«, bis die 1 x 1 cm breiten Rillen deutlich zu sehen waren. Zur Beseitigung von Unregelmäßigkeiten wurde der noch nasse Putz schließlich mit einem nassen Schwamm geglättet. Die Größe der Bearbeitungsfelder ergab sich aus der maximalen, gerade noch mit zwei Händen bedienbaren Breite des Kamms und der Lage der Gerüstebenen. Das Verputzen erfolgte bahnenweise von der Attika zum Boden und von der Mitte des Hauses hin zu den Ecken, und erst nachdem eine gesamte Bahn getrocknet war, kamen die benachbarten Bahnen an die Reihe. Fertiggestellte Rillen dienten dabei ebenso zur gleichmäßigen Führung des Kamms wie temporär im Mauerwerk befestigte Metallschienen. Besondere Sorgfalt war insbesondere an den Bereichen rund um die Fenster nötig, deren unregelmäßige Abstände mitunter den Einsatz schmalerer Schienen erforderten. Nach Ende der Putzarbeiten erhielt die Fassade einen wasserabweisenden, gebrochen weißen Anstrich aus Silikonharzfarbe.

Wenn heute sowohl die Arbeitsfelder- und -bahnen als auch unregelmäßige und gebrochene Putzrillen zu erkennen sind, so tut dies der eindrucksvollen Wirkung des Kammputzes keinen Abbruch. Im Gegenteil: beide zeugen von einem gesunden Verhältnis zwischen architektonischem Gestaltungswillen, verfügbarem Budget und handwerklich Möglichem. Insofern, und weil die Familie nun in einem Haus wohnt, das sie nach eigenen Angaben rundum glücklich macht, ist dieses Gebäude in jeder Hinsicht beispielhaft und gelungen.

10. Januar 2017 deutsche bauzeitung

Elegant eingekleidet

Umbau eines Büro- und Wohngebäudes in München

Die neue Gebäudehülle des Münchner Büro- und Wohngebäudes der 70er Jahre zeigt beispielhaft, wie sehr ein Haus sich selbst, aber auch sein Umfeld mit einer neuen Fassade verändern kann. Dünne Glasfaserbeton-Fertigteile spielen dabei die entscheidende Rolle. Von der umfassenden Neugestaltung haben auch die neu strukturierten Bürogeschosse profitiert.

Wer sich vom erhabenen Hügel der Bavaria-Statue quer über die Theresienwiese auf den Weg nach Osten macht, gelangt in ein gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandenes Stadtviertel mit repräsentativen, meist frei stehenden Villen. Direkt am gegenüberliegenden Rand der »Wiesn«, am Esperantoplatz, entstand 1976 ein Büro- und Wohngebäude für den Verband baugewerb­licher Unternehmer Bayerns nach den Plänen Kurt Ackermanns. Die eigenwillige Gebäudeform resultiert aus dem Grundstückszuschnitt, der durch zwei spitzwinklig auf den Platz zulaufende Straßen entsteht. Als kompakter Baukörper mit Zeltdach korrespondierte das Haus gut mit seiner Umgebung, während es architektonisch immer ein Fremdkörper blieb. Ursache hierfür war insbesondere eine vorgehängte Fassade, die sich aus kleinteilig gerasterten, teils transparenten, teils opaken Glasfeldern zusammensetzte. Diese ­Fassade war fast 40 Jahre später sanierungsbedürftig geworden, und weil sich der Bauherr ohnehin ein neues Innenraumkonzept für die unteren drei Büroetagen wünschte, initiierte er im Jahr 2012 einen geladenen Architektenwettbewerb zur umfassenden Neugestaltung des Gebäudes.

Aus diesem Verfahren ging der Architekt Andreas Ferstl, damals verantwortlicher Partner im Büro Muck Petzet und Partner Architekten, siegreich hervor. Sein Entwurfskonzept sah neben der neuen Gebäudehülle aus vorgefertigten Betonelementen im Wesentlichen eine Kernsanierung und Neustrukturierung der unteren drei Büroebenen vor. Das vormals weitgehend von Lager- und Archivräumen geprägte, halb im Boden liegende EG dient nun als offene Konferenzebene, die sich mithilfe akustisch wirksamer Vorhänge in unterschiedlich große, auch für externe Veranstaltungen genutzte Raumeinheiten aufteilen lässt. Völlig neu präsentieren sich auch die beiden darüber liegenden Bürogeschosse: An die Stelle dunkler, um den Erschließungs- und Sanitärkern herumgeführter Flure und aneinandergereihter ­Zellenbüros rückte eine Raumstruktur mit abwechselnd offenen und geschlossenen Bereichen. Die so neu entstandene Offenheit erlaubt nicht nur vielfältige Blickbezüge in die Umgebung, sondern auch ein kommunikatives Miteinander. Der Grundriss der vierten Ebene mit insgesamt vier Wohnungen blieb ebenso unangetastet wie die beiden Wohngeschosse unter dem erst im Jahr 2004 erneuerten Blechdach. Als bewusste Reminiszenz an die Entstehungszeit des Gebäudes, verfügt das unveränderte Treppenhaus noch heute über einen Bodenbelag aus röt­lichen Klinkern, schwarze Handläufe und Glas-Brüstungselemente.

Vielfältig ambivalent

Egal von welcher Seite man sich heute nähert – das Gebäude reiht sich maßstäblich in die ensemblegeschützte Villenstruktur ein, obwohl es sich zugleich deutlich davon abhebt. Einerseits ist das Grau des Sichtbetons ebenso unfarbig wie die meisten Putzfassaden des Viertels, andererseits gibt es weit und breit keine weiteren Sichtbetonflächen. Einerseits erscheint die Gebäudehülle wie bei den Nachbargebäuden als massive Lochfassade, andererseits ist deren Glasanteil aber mehr als doppelt so hoch. Einerseits wirkt die Fassade so geordnet und ruhig wie bei all den eklektizistischen Villen nebenan, andererseits zeigt sich auf den zweiten Blick, dass die unterschiedlich breiten, bodentiefen Fenster innerhalb der passepartoutartigen Betonrahmen hin und her springen. Dank dieser subtilen Ambivalenz lässt das Gebäude arglose Passanten unbehelligt passieren – sie nehmen nur den selbstverständlich wirken wollenden Stadtbaustein wahr.

Architekturinteressierte hingegen werden neugierig – v. a. jene, die den Bau noch vor der Neugestaltung in Erinnerung haben – und beginnen unwillkürlich, sich über die Fassadenkonstruktion Gedanken zu machen. Ihre Blicke bleiben beispielsweise an den Gehrungsfugen der Betonrahmen hängen, die sofort zu erkennen geben, dass die vermeintliche Massivität ein mit vorgefertigten Elementen realisiertes, gestalterisches Mittel ist.

Material der Wahl

Dass die Fassade aus Beton bestehen würde, stand für Andreas Ferstl schon früh in der Wettbewerbsphase fest – nicht zuletzt weil der Bauherr als Lobbyist für das Baugewerbe eine besondere Affinität zu diesem Material hat. Im Zuge der Entwurfsplanung stellte sich heraus, dass die Verwendung gewöhnlicher Betonfertigteile nicht infrage kam. Wegen der nötigen Betonüber­deckung der Stahlbewehrung wären sie für das skelettartige Tragwerk, aus Deckenplatten, mittigen Rundstützen, breiten Rand­pfeilern und einem aussteifenden Kern, zu schwer gewesen. Ausgeschlossen war aber auch eine auf eigenem Fundament vor das Gebäude gestellte Fassadenkonstruktion – diese hätte zusätzliche Unterzüge in der bis unter die Grün­flächen reichenden Tiefgarage erfordert, die sowohl zu kostspielig als auch räumlich einschränkend gewesen wären. Da eine Lösung mit nur 13 mm Materialdicke der dreidimensional geformten Faserbetonelemente nicht zum gewünschten Eindruck von Massivität geführt hatte, entschieden sich Bauherr und Architekt am Ende für die Ausführung der Elemente mit einer Dicke von rund 30 mm.

Elf Varianten

Da die Herstellung der Schalungen zu den wesentlichen Kostenfaktoren bei der Produktion von Betonfertigteilen zählt, entwickelte der Architekt eine Art Baukastensystem aus lediglich elf unterschiedlichen Elementen, mit denen sich – einschließlich gedrehter und gespiegelter Varianten – letztlich die ­gesamte hinterlüftete Fassade bespielen ließ. Während die Fertigteile entlang der Deckenstirnseiten durchgängig die gleiche Form haben (eine Ausnahme bilden lediglich die halbierten Elemente am Dachrand), gibt es bei den vertikalen Teilen eine größere Variationsbreite. Grundlage für die Einteilung der einzelnen »Rahmenfelder« ist sowohl die Lage der bestehenden Randpfeiler als auch der gleichmäßige Abstand der Bürotrennwände im Innern. Die unterschiedlichen Größen der Öffnungen hängen zudem noch von der jeweils dahinterliegenden Raumnutzung ab: Offene Bürobereiche verfügen bei gleichem Achsabstand über breitere Fensterflächen, d. h. die Betonelemente sind vergleichsweise schmal. Bei Einzelbüros hingegen ist der Fensteranteil etwas geringer, sodass am Ende ein lockerer Wechsel aus Winkeln, Flächen und Kanten entsteht, der dem Gebäude – trotz aller »Massivität« – eine elegante Leichtigkeit verleiht.

Fassade auf Probe

Die Fassade lebt jedoch nicht nur von der Plastizität der Betonteile, sondern auch von einer hohen Ausführungsqualität. Besonders auffällig sind beispielsweise die dank einer fein justierbaren Stahl-Unterkonstruktion sehr präzise aufeinander zulaufenden Betonkanten. Bei der Beschaffenheit der Fertigteile ist es ausnahmsweise sogar wirklich legitim, von einer samtigen Betonober­fläche zu sprechen, sind bei genauem Hinsehen doch tatsächlich feine Härchen der Glasfaserbeimischung zu erkennen. Perfekt im Sinne eines absoluten Gleich- und Ebenmaßes ist der im Werk gesäuerte und vor Ort hydrophobierend beschichtete Beton nicht. Wie so oft sind auch hier durch fehlerhafte Zwischenlagerungen oder Witterungseinflüsse entstandene Verfärbungen zu sehen. Dass keine Tropfkantendetails ausgebildet wurden, lässt sich anhand stellenweise sichtbarer Schlieren ebenfalls erkennen. Doch genau das macht den mit einem hellen, feinkörnigen Zuschlagstoff versehenen Beton auf eine sympathische Art authentisch. Diese Wirkung ist freilich kein Zufall, sondern das Ergebnis eines gut neunmonatigen Tests, den ein Mock-up vor Ort – gleichsam am Original-Schauplatz – durchlief. Als wei­tere, daraus hervorgehende Erkenntnis stellte sich heraus, dass sich die Betonoberflächen am besten mit einem Schwamm und nicht etwa mit Hochdruckreinigern säubern lassen.

Die sorgfältige Planung hat den Bewohnern des 3. OG nicht nur einen Fas­sadentausch in bewohntem Zustand innerhalb von nur wenigen Wochen ­beschert, v. a. hat sie dieses Gebäude zum neuen repräsentativen Aushängeschild für den Verband Baugewerblicher Unternehmer Bayern gemacht – an einem Standort, der während des Oktoberfests alljährlich von gut 6 Mio. Menschen besucht wird.

5. November 2016 deutsche bauzeitung

Gestalt gewordenes Zusammengehörigkeitsgefühl

Ortsplatzgestaltung in Handenberg (A)

Mit Geduld und durch die Bündelung des politischen Willens geriet die Neugestaltung der dörflichen Ortsmitte zu einer architektonischen Erfolgsgeschichte. Sinnfällig zoniert und ebenso gefällig wie nutzbar möbliert hebt der Platz die örtlichen Besonder­heiten hervor und hat mit der frei auskragenden Stahlbetonkonstruktion des Schutzdachs nun ein weiteres staunenswertes Unikum zu bieten.

Viele Autofahrer, die den oberösterreichischen Ort Handenberg auf dem Weg von Salzburg nach Braunau am Inn durchqueren, nehmen die Qualitäten des neuen Dorfplatzes oberhalb der Landesstraße 156 vermutlich gar nicht wahr. Und zwar nicht obwohl, sondern gerade weil der neue Platz zwischen Kirche und Gemeindeamt so gut gelungen ist.

Die 1453 geweihte Pfarrkirche St. Martin ist mit Abstand das dominanteste, höchste und vermutlich auch älteste Gebäude Handenbergs. Umgeben von ­einer ringförmigen Friedhofsmauer liegt sie am höchsten Punkt des Orts, unmittelbar neben einem Teich, auf dem sich, der Sage nach, einst eine Ente mit Hostie im Schnabel zeigte. Eine solche Ente ziert zwar das heutige Gemeindewappen, Historikern zufolge geht der Ortsname aber nicht aus »Antenberg« hervor, sondern ist auf einen Mönch namens Hanto zurückzuführen, der hier um 1100 das erste Gotteshaus errichten ließ. Geschichte und Geschichten spielen im gut 1 000 Einwohner zählenden Handenberg bis heute eine große Rolle, und so ist es umso erstaunlicher, dass es gerade hier zu einer Ortsplatzgestaltung kam, die sich als dezidiert zeitgenössisches, weit über den Ort ­hinaus wirkendes Statement lesen lässt.

In diesem Zusammenhang steht eine schnörkellose Sicht­betonkonstruktion im Mittelpunkt: Sie besteht aus einer 8,5 m langen, sich nach oben verjüngenden Wandscheibe, auf die eine 12 m frei auskragende, rund 80 m² große Dachfläche scheinbar nur aufgelegt ist. Für sich betrachtet sind diese Abmessungen so gewaltig, dass unwillkürlich Fragen zur Statik des Bauwerks aufkommen. Errichtet wurde es gänzlich ohne vorgespannte Bauteile, dafür aber mit einbetonierten I-Stahlträgern in nur einem Betonierabschnitt, wobei aufgrund der langen Anfahrtswege für die geforderte Betonqualität C40/50 B5 ­lediglich eine Einbauzeit von 60 Minuten zur Verfügung stand. Die Über­höhung der Auskragung betrug vor dem Betonieren 26 cm.

Flugdach als Vermittler

So herausfordernd die Konstruktion des Betondachs für den Statiker und das Bauunternehmen aber auch gewesen sein mag, so selbstverständlich steht es heute vor der Pfarrkirche St. Martin. Das liegt einerseits daran, dass es als ein auf das wirklich Nötigste reduziertes Bauwerk erscheint: vollkommen glatt und monolithisch, ohne jegliche Ornamentik und ohne sichtbare Details und aufgesetzte Bauteile wie z. B. Leuchten, Verblechungen oder Rinnen. Die Entwässerung erfolgt durch seitliche Betonaufkantungen und innenliegende Fallrohre, zur Beleuchtung wurden an den Stößen der Schaltafeln flächenbündige Leuchtkörper einbetoniert. Andererseits lässt sich das Flugdach aber auch keiner Bauwerkskategorie – wie z. B. Haus, Pavillon, Dach – zuordnen. Vielmehr ­erscheint es als künstlerische Freiform, der es gelingt, gestalterisch ­zwischen einer gotischen Kirche mit barock anmutendem Turm, schmuck­losen Wohngebäuden und einem in den 70er Jahren mit volkstümlichen Sgraffiti verzierten Gemeindeamt zu vermitteln.

Integration des städtebaulichen Kontexts

Wesentlich wichtiger noch als die Gestalt des Flugdachs ist seine konzeptionelle Einbindung in den städtebaulichen, aber auch politischen Gesamtkontext. Ausgangspunkt war ein von der Gemeinde Mitte 2014 ausgelobter geladener Architekturwettbewerb für eine Fläche, die erst durch den ein Jahr zuvor erfolgten Abbruch des nicht erhaltenswerten »Lamprechthauses« entstand – ein Altbau, der den westlichen Kirchenvorplatz zwischen Friedhofsmauer, Landesstraße und dem damals völlig überwucherten Teich besetzte. Die in der Auslobung formulierten Ziele, »die Nutzungsmöglichkeiten gemeinschaftlichen Lebens und Begegnens im öffentlichen Raum zu stärken« und einen neuen »Mittelpunkt des Dorfgeschehens« zu schaffen, erfüllte das siegreiche Projekt des Linzer Architekten Andreas Heidl am besten. Er sah ­eine einheitlich gepflasterte Platzfläche vor, die durch lang gestreckte Holz-Sitzbänke, den neu in Szene gesetzten Teich und das am ehemaligen Standort des Lamprechthauses platzierte Flugdach in drei Bereiche gegliedert wird.

Formelle und informelle Platzbereiche

Der östliche Bereich zwischen Kirche und Gemeindeamt dient v. a. als formeller Vorplatz für Kirche und Friedhof – sowohl für Beerdigungen als auch für Hochzeiten – sowie als Veranstaltungsfläche z. B. für Feuerwehr- und Musikfeste. Eher informell wirkt dagegen der westliche Teil der Platzfläche, der mit einem großflächigen Holzdeck mit Sitzstufen zum Teich orientiert ist. Hier treffen sich sonntägliche Kirchgänger, Hochzeitsgäste, aber auch Passanten oder die Kinder der unmittelbar benachbarten Volksschule für einen Moment der Ruhe. Das Flugdach grenzt diese beiden Platzflächen voneinander ab, ­ohne sie jedoch räumlich oder visuell zu trennen – aus der Fußgängerperspektive erscheint es ja lediglich als dünner horizontaler Beton­streifen. Trotzdem bietet es einen 80 m² großen, vor Witterung und gegenüber der Landesstraße geschützten »Raum«: für Standkonzerte der Kapelle Handenberg, für Bars und/oder Verpflegungsstationen bei Festen und für Jugendliche, die hier abends »chillen« wollen.

Integration des politischen Kontexts

Selbstverständlich bildet der Entwurf von Andreas Heidl den dreidimensionalen Rahmen für dieses Miteinander. Maßgeblich daran beteiligt ist aber auch die jahrelange Grundlagenarbeit des Bürgermeisters Gottfried Alois Neumaier, die bereits 2009 ihren Ausgang nahm als die Gemeinde das Grundstück des Lamprechthauses kaufte und zugleich die Ortsumgestaltung beschloss. Zu seinen wesentlichen Zielen zählte einerseits die Einbeziehung aller politischen Kräfte im Ort.

Aus diesem Grund stellte beim Architekturwettbewerb jede im Gemeinderat vertretene Partei ein Jurymitglied, andererseits wurde aber auch ein Dorf- und Stadtentwicklungsverein gegründet und an der Erstellung der Auslobungsunterlagen beteiligt. Beides diente dazu, die gesamte Bürgerschaft in die Planung einzubinden, damit am Ende möglichst wenig Konfliktpotenzial und kein bauliches Flickwerk entstehen. Der Wett­bewerb selbst war dabei als Instrument unverzichtbar. Er brachte den unverstellten, neutralen Blick eines auswärtigen Architekten ins Spiel, v. a. aber konnten nach der einstimmigen Juryentscheidung Ziele festgezurrt werden, die sich im Hin und Her des von persönlichen Interessen geprägten poli­tischen Tages­geschäfts nie hätten erreichen lassen. Hinzu kommt die aus den unterschied­lichen Regional-, Landes- und Bundesfördermitteln zusammengesetzte ­Finanzierung des am Ende mit 420 000 Euro (brutto) bezifferten ­Projekts, die sich durch dieses Verfahren wesentlich vereinfachte. All diese Aspekte zusammen haben dazu geführt, dass der Platz von den Handenbergern heute als ­Gestalt gewordenes Zusammengehörigkeitsgefühl wahrgenommen und genutzt wird. Als nächstes Projekt steht nun die Neugestaltung des Umfelds von Leichenhalle und Kindergarten an. Die Chancen stehen gut, dass auch diese Planungen die Dorfgemeinschaft weiter stärken werden.

1. Mai 2016 deutsche bauzeitung

Große Geste am Meer

Schiffsterminal in Porto (P)

Mit diesem Gebäude ist dem Architekten Luís Pedro ­Silva zweifellos ein großer Wurf gelungen: ein ästhetischer Fels in der Brandung der Belanglosigkeit, aber auch ein eng mit seiner Umgebung vernetztes, funktionales Bauwerk, das sich mühelos gegenüber den »schwimmenden Hochhäusern« am Landungssteg behaupten kann.

Gegründet vor gut zwei Jahrtausenden an einem Ort am Atlantik, der schon von Steinzeitmenschen und Kelten bewohnt war, zählt Porto zu den ältesten Städten Europas. Sie ist die namensgebende Stadt des Landes und des Portweins, ihre Altstadt gehört zum Weltkulturerbe, zugleich ist sie aber auch ein wissenschaftliches, kulturelles und industrielles Zentrum von internationalem Rang. Kein Wunder also, dass Porto längst auch ein wichtiges touristisches Ziel ist. Während der weitaus größte Teil der Touristen immer noch mit dem Flugzeug anreist, stieg in den letzten Jahren auch die Zahl derer, die die Stadt mit großen Kreuzfahrtschiffen ansteuern. Bis Mitte 2015 stand hierfür eine Anlegestelle im Industriehafen Porto de Leixões zur Verfügung. Die relativ schlechte Anbindung an die Innenstadt, die unattraktive Lage zwischen Frachtschiffen, Kränen und Containern, und nicht zuletzt fehlende Platz­reserven führten dazu, dass die Stadt und die Hafenverwaltung im Jahr 2004 erste städtebauliche Überlegungen für eine Neuordnung anstellten.

Empfang und Verbindung

Den kurz darauf ausgelobten Wettbewerb zur Ausarbeitung eines Strategieplans für das Hafengelände konnte der Architekt Luís Pedro Silva für sich entscheiden. Zu seinen Aufgaben zählte u. a., den neuen Standort für ein Kreuzfahrtschiffsterminal zu finden, das er schließlich an einem funktionslos gewordenen, geschwungenen Pier aus dem 19. Jahrhundert an der Hafeneinfahrt vorsah. Was zu dieser Zeit noch kaum mehr als ein schriftlicher Eintrag auf einem Plan war, entwickelte sich im Laufe von zehn Jahren zu jenem einzigartigen Gebäude, das heute von ca. 80 000 Kreuzfahrtreisenden jährlich frequentiert wird. Für die Architekten stand der Wunsch nach einem ebenso einprägsamen wie einladenden Gebäude im Mittelpunkt, das den Hafen nicht als hermetisch abgeschlossenes Areal begreift, sondern wie selbstverständlich in die Stadt integriert ist, indem es sich ihr gegenüber wörtlich und im übertragenen Sinn öffnet.

In einer ersten Realisierungsphase wurde der alte Pier seitlich um einen rund 340 m langen und 18 m breiten Landungssteg erweitert, der zugleich als An­legestelle für ein großes Kreuzfahrtschiff und als Umfassung eines neuen Yachthafens für bis zu 170 Boote dient. Der Bau der entsprechenden Anlege­stege sowie eines kleinen Gebäudes mit Café und Räumen des Hafenmeisters stehen noch aus. Unmittelbar dort, wo sich die Straße vom Festland in den ­alten Pier und den Landungssteg gabelt, befindet sich das neue Terminal. Ganz gleich, ob sich Besucher nun vom Schiff, vom Yachthafen oder vom Festland aus annähern, der erste Eindruck ist aus allen Richtungen fast der­selbe.

Das Gebäude erscheint zunächst nicht als »Haus« mit Wänden, Fenstern und Dach, sondern vielmehr als kunstvoll drapierte Struktur aus ineinander verschlungenen, weißen Bändern, zwischen denen horizontale Glasstreifen liegen. Um die Geometrie dieses eleganten Knäuels zu verstehen (tatsächlich handelt es sich um zwei lange »Schlaufen«, die sich von außen ins Gebäude hinein und wieder hinaus winden), bräuchte man ein Architekturmodell – oder einen Helikopterrundflug. In beiden Fällen würde man in dem opulent geschwungenen Körper unwillkürlich einen riesigen Oktopus erkennen, der drei seiner weichen Tentakeln von sich streckt. ­Bilder wie die des Tintenfischs spielten für Luís Pedro Silva überall im Gebäude eine wichtige Rolle – einfach nur Selbstzweck sind sie dennoch nirgendwo. Die Tentakeln beispielsweise bieten Fußwege ins Gebäudeinnere: von der Straße, vom alten Pier bzw. vom Landungssteg.

Glasierte Schuppen

Beim Näherkommen wird deutlich, dass die Oberflächen der weißen Bänder nicht aus einem Guss sind, sondern sich aus glänzend glasierten Keramikfliesen zusammensetzen, die die Form von flachen, oben schräg »abgeschnittenen« Sechsecksäulen haben. Natürlich erinnern sie sofort an Fischschuppen, aber auch an die in Porto an fast allen älteren Bauten vorzufindenden blau-weißen Azulejo. Nach vielen Voruntersuchungen und Diskussionen mit dem Bauherrn fiel die Wahl aber letztlich aus ganz praktischen Gründen auf die Fliesen – schlicht weil es der verantwortlichen Baufirma nicht gelang, die zuvor favorisierten Lösungen aus Sichtbeton oder weißem Glas fristgerecht zu kalkulieren. Die gegen Wind, Wetter und die aggressive Seeluft unempfindlichen Fliesen hatten den Vorteil, dass sich ihre Herstellung und das Verkleben mit Spezialkleber relativ einfach in Quadratmeterpreisen errechnen ließen. Dass dies dennoch eine besondere Herausforderung bedeutete, zeigt die Tatsache, dass auf einer Fläche von 16 000 m² (Innenräume und Fassade) insgesamt rund 900 000 Fliesen zu verlegen waren, ein Arbeiter pro Tag aber lediglich 5 m² Fläche bewältigte. Verlegepläne gab es nicht, wohl aber die Vorgabe, dass direkt nebeneinander liegende Fliesen mit ihrer schrägen Oberfläche nicht in dieselbe Richtung zeigen durften. Das Ergebnis zeigt sich als unregelmäßige, aber homogene Oberfläche, die durch die schillernden Lichtreflexionen von jedem Standpunkt aus anders anmutet.

Reisen und Forschen

Die fensterlosen Bänder lassen von außen kaum erkennen, wie üppig das Terminal eigentlich dimensioniert ist. Wer z. B. von dem teilweise unter der Tentakel zur Straße situierten Busparkplatz in die Empfangsebene im EG gelangt, steht in einem runden, überraschend großen und hohen Atrium. Von hier aus windet sich, verknüpft mit einem der weißen Bänder, eine Rampe nach oben – in Richtung eines flach geneigten Glasdachs. Im 1. OG befinden sich ins­besondere die Räumlichkeiten zur Abfertigung der ankommenden und abreisenden Kreuzfahrtschiffspassagiere (Zollkontrollen, Gepäckausgabe, Wartebereiche, Cafeteria etc.). Eine der Tentakeln bietet von hier als lang gestreckter Steg die witterungsgeschützte Verbindung zum Schiff. Im 2. OG waren ­ursprünglich Shopflächen vorgesehen, die im Planungsverlauf den Labor- und Büroflächen des »Interdisciplinary Centre of Marine and Environmental Research« der Universität Porto gewichen sind. Insgesamt 250 Forscher widmen sich hier in zweigeschossigen, zum Atrium vollverglasten Raumeinheiten der meeresbiologischen Forschung – im UG sind deshalb, neben einer Tiefgarage, zusätzlich noch etliche Fischzuchtbecken eingerichtet worden. Im 3. OG schließlich liegt ein 600 m² großer Ausstellungs- bzw. Multifunktionsbereich, ein Vortragssaal und ein Restaurant.

Brandschutztechnisch konnten die ­Architekten das sämtliche Bereiche flankierende Atrium wie einen Außenraum behandeln, weil im Dach eine mechanische Rauchabzugsanlage installiert wurde, und zudem hohe Unterzüge an den Geschossdecken den Brandüberschlag zum Atrium hin verhindern. So wurden sämtliche Erschließungsbereiche offen und durchlässig ausgeführt, gänzlich ohne spezielle Brandschutzverglasungen der zum Atrium orientierten Räume.

Detailreich und komplex

Der räumlichen Komplexität und dem im Wesentlichen aus Deckenplatten und unregelmäßig gesetzten, teils geneigten Stützen bestehenden Tragwerk stehen einheitlich weiße Oberflächen gegenüber: Böden mit weißem Industrieestrich, weiß verputzte Wände (teilweise mit dunklen Wischspuren), ­weiße Glaspaneele, weiße Möbel und Theken sowie die auch im Innern prägenden weißen Fliesenbänder. Farbakzente bieten z. B. die knallig roten, in abstrahierter Form als Fische gestalteten Kästen, die zur Unterbringung des Feuermelders, eines Wasserschlauchs und des Feuerlöschers dienen. Aus all dem Weiß stechen einige Räume mit besonderen Funktionen hervor: der Vortragssaal gänzlich mit tiefblauem Samt ausgeschlagen oder das Restaurant mit einer Wand- und Bodenbekleidung aus goldbraunen Alupaneelen.

Noch ist das neue Kreuzfahrtschiffsterminal nicht vollständig in Betrieb. Zwar legen bereits Kreuzfahrtschiffe an, doch sind längst nicht alle ­Labore bezogen und auch das Restaurant ist noch nicht eröffnet. Und weil die Straße zum Festland immer noch als Teil des Hafengeländes gilt, also nicht ­öffentlich zugänglich ist, bleibt auch die in Form eines Amphitheaters angelegte Dachterrasse bislang weitgehend ungenutzt. Das ist nicht nur wegen des atemberaubenden Blicks über den Atlantik, die Strände und den Hafen bedauerlich, sondern weil sie als quasi öffentlicher Raum den bildhaften krönenden und opulenten Abschluss des Gebäudes bildet. Hier können Stadt­touristen, Reisende, Anwohner und Universitätsmitarbeiter gemeinsam ein vielfältiges Stück Stadt leben: sonnenbaden, picknicken, entspannen, sich besprechen, arbeiten. Wie gut die Idee der Vernetzung mit der Stadt aufgeht, zeigte ein letzten September veranstalteter Tag der offenen Tür, an dem 16 000 Besucher gezählt wurden. Der Grund für die bislang fehlende Anbindung an die Stadt ist einfach: für die letzten Umstrukturierungsmaßnahmen (z. B. Yachthafen, Straßenneubau, Verlängerung einer Tramlinie bis direkt zum Terminal) fehlt es schlicht an den nötigen öffentlichen Geldern. In diesem Zusammenhang hat Luís Pedro Silva seinen Beitrag bereits geleistet. Statt der ursprünglich veranschlagten 28,5 Mio. Euro kostete das Terminal am Ende nur 26 Mio. Euro – und das, obwohl es mit großem Detailreichtum als ganzheitlich durchdachtes Baukunstwerk ausgeführt ist.

3. April 2016 deutsche bauzeitung

Einer für alle

Wohnungsbau am Mehrgenerationenplatz Forstenried in München

Eine neue Waldorfschule in München versteht sich als »Mehrgenerationenplatz«, der nicht nur vielfältige Schulgebäude umfasst, sondern auch Geschosswohnungsbau beinhaltet. Mit zahlreichen baulichen und organisatorischen Angeboten zur Ausbildung einer engen Hausgemeinschaft bietet der Neubau beste Voraussetzungen für ein aktives Miteinander verschiedener Bevölkerungsgruppen.

»Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen.« Dieses afrikanische Sprichwort nahm die vor sechs Jahren auf einer ehemaligen Brachfläche in München-Forstenried eröffnete Freie Waldorfschule München Südwest zum Leitmotiv sowohl für ihren pädagogischen Ansatz als auch für die städtebauliche Struktur des Schulgeländes. Da sich die Schule derzeit noch in der Aufbauphase befindet, d. h. es gibt noch nicht alle Klassen bis zur Oberstufe, sind von dieser Gesamtstruktur bislang nur Fragmente realisiert: in Grund- und Aufriss unregelmäßig geformte Bauten, die mit überwiegend kräftigen Fassadenfarben und begrünten Dächern in lockerer Beziehung zueinander stehen. Bereits fertiggestellt sind ein kleines Schulgebäude aus dem Gründungsjahr (2010), ein großes Schulgebäude mit Mensa (2014) sowie ein Kinderhaus zur Betreuung von Ein- bis Sechsjährigen (2015). Teil des Ensembles ist aber auch ein neuer, zickzackförmiger, rund 130 m langer Wohnungsbau am westlichen Rand des Areals.

Initiiert wurde dieser ursprünglich von einigen Mitgliedern des Fördervereins Freie Waldorfschule München Südwest. Sie gingen 2010 auf die Wohnungsbaugenossenschaft Wogeno zu, um mit ihr zusammen die Idee eines »Dorfs« umzusetzen, in dem die »Strukturen der Großfamilie wieder ins Zentrum der Gesellschaft« rücken. Aus der daraufhin entstandenen Kooperation ging das Konzept eines »Mehrgenerationenplatzes« hervor, das ein Jahr später mithilfe eines Architektenwettbewerbs für das gesamte Schulgelände in die Realisierungsphase ging. Zu den erklärten Zielen der beiden Auslober zählen u. a. »vielfältige Synergien, Kooperationen und soziale Impulse«, die sich aus der gemeinsamen Nutzung nicht nur der Freiflächen, sondern auch der Mensa, des Theatersaals, der Turnhalle und der Werkstätten ergeben sollen – die letzten drei Nutzungen werden in den im Lauf der nächsten Jahre noch zu errichtenden Gebäuden untergebracht sein.

Wegenetz aus Treppen und Laubengängen

Der nach Plänen der siegreichen Architekten von bogevischs buero errichtete, größtenteils fünfgeschossige Wohnungsbau (Schulgebäude und Kinderhaus wurden von anderen Architekten realisiert) vermittelt zwischen der Waldorfschule und den westlich benachbarten Wohn- und Bürogebäuden an der Limmatstraße. Während sich die privaten Balkone und Terrassen dorthin orientieren, ist das Gebäude auf der Ostseite nicht zuletzt wegen der offenen Laubengangerschließung eng mit dem Schulgelände verknüpft. Die an drei Treppenhäusern angebundenen Laubengänge können von den Bewohnern der 70 Wohnungen frei »durchwandert« werden. Um zufällige Begegnungen und gemeinsame Aktivitäten im Haus zu fördern, verfügen sie über vereinzelt vor Fenstern aufgestellte Sitzbänke sowie Balkonerweiterungen, die sich z. B. als zusätzlicher Freisitz eignen. Wesentlich mehr Spielräume bieten in diesem Zusammenhang die beiden Dachterrassen, die sich – eingebunden in ein Wegenetz aus Treppen und Laubengängen – wie die Sonnendecks auf einem Kreuzfahrtschiff großflächig nach beiden Seiten und zum Himmel öffnen. Dies gilt insbesondere für die südliche Dachterrasse im 3. OG, an der einer der beiden Gemeinschaftsräume mit Küche sowie ein Gästeapartment liegen. Die enorme Größe der Terrasse, die beiden offenen Treppen zum 4. OG bzw. zur Dachfläche sowie die beidseitig aufragenden Stirnwände des 3. und 4. Wohngeschosses schaffen einen angenehm kleinmaßstäblichen Bereich mit fast dörflicher Atmosphäre. Davon dass die Terrasse tatsächlich viel genutzt wird, zeugen neben Grillutensilien aufgestellte Tische, Bänke und Hochbeete. Gemeinschaftliche Angebote wie diese lassen es verschmerzen, dass die zum Laubengang orientierten Küchen, Wohn- und Schlafräume dank der großen Fenster gut belichtet, aber eben auch gut einsehbar sind. Viele Bewohner betrachten dies als Chance zum offenen Miteinander, während sich andere mit blickdichten Vorhängen und Jalousien eher abschotten.

Vielfältige Gemeinschaft

Ein weiterer Gemeinschaftsraum, der zudem über einen Waschsalon und eine Mobilitätsstation verfügt (hier lassen sich Car- und E-Bike-Sharing-Angebote nutzen), befindet sich zwischen mittlerem Treppenhaus und dem zweigeschossig hohen Durchgang zwischen Limmatstraße und Schulgelände. Einen wesentlichen Beitrag zum Entstehen der heutigen Hausgemeinschaft leistete der Entschluss, die Bewohner gleich nach Vergabe der Wohnungen in den Planungsprozess einzubinden. Selbst wenn es dabei weniger um Grundsätzliches als vielmehr um Ausbaudetails ging, war es im Sinne des Zusammenhalts doch wichtig, die überaus heterogene Bewohnerschaft an einen Tisch zu bringen. Einerseits wohnen dort Lehrer und Schüler der Waldorfschule, die den Mehrgenerationen-Gedanken bewusst leben wollen. Auf der anderen Seite wurde fast die Hälfte der Wohnungen im Rahmen der einkommensorientierten Förderung (EOF, Amt für Wohnen und Migration) bzw. nach dem »München Modell« (Sozialreferat) vergeben. Hinzu kommen eine »familienorientierte traumapädagogische Wohngruppe« für acht Kinder und Jugendliche ab sechs Jahren, acht Apartments für einzelbetreutes Wohnen sowie eine betreute Wohngemeinschaft für insgesamt acht sehbehinderte Menschen.

Konstruktion und Ausbau

Um dieser Vielfalt entsprechend Raum geben zu können, entschlossen sich die Architekten für eine tragende Struktur aus Betonschotten. Diese Bauweise sorgt zwar für klar definierte, unverrückbare Wohnungsbreiten, ermöglicht zugleich aber eine völlig flexible Grundrissaufteilung, bei der übereinanderliegende Abwasserschächte die einzigen Fixpunkte darstellen. Und so gibt es Single-Wohnungen oder zweigeschossige Maisonette-Wohnungen zwischen zwei Betonschotten ebenso wie große Familienwohnungen, die sich über drei Schottenfelder erstrecken. Die Außenwände bestehen zum großen Teil aus nichttragenden Holzrahmenelementen, die mitsamt Fenstern und vorvergrauter Holzfassade aus Weißtanne vorgefertigt wurden – woraus sich relativ kurze Montagezeiten und Kostenvorteile ergaben. Positiv auf die Gesamtkostenbilanz wirkte sich auch aus, dass im gesamten Bauvorhaben, neben Terrassen- und Balkontüren, nur zwei Fensterformate zum Einsatz kamen – teils mit Schwing-, teils mit Drehflügeln. Aufgrund solcher seriellen Lösungen und dank des einfachen konstruktiven Prinzips, zu der auch die aus Fertigteilen vor die Außenwand gestellte Betonkonstruktion der Balkone zählt, war es den Architekten an anderer Stelle möglich, hohe Standards zu verwirklichen: z. B. Holzfenster und Eichenparkett in allen Wohnungen, unabhängig von Größe, Förderungsmodell und Nutzer. Am Ende lagen die Baukosten des im KfW-55-Standard errichteten Wohnungsbaus nach Angaben der Architekten im Münchener Durchschnitt.

Energiekonzept und Synergien

Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe spielt nicht nur in der Fassade, sondern auch beim Energiekonzept eine wesentliche Rolle. So befindet sich im UG des Wohnungsbaus ein mit Holzpellets betriebenes Blockheizkraftwerk mit 40 kW elektrischer Leistung, mit dem sowohl die Wohnungen als auch die Schule mit Warmwasser, Heizwärme und Strom versorgt werden – Betreiber ist ein eigens gemeinsam von der Wohnungsbaugenossenschaft und der Waldorfschule gegründetes Unternehmen. Hinzu kommt eine Photovoltaikanlage auf dem Dach des nördlichen Gebäudeteils, die u. a. zum Aufladen der Elektroautos bzw. E-Bikes in der Tiefgarage beiträgt. Die Tatsache, dass dort überdies Fahrzeuge eines Carsharing-Anbieters zur Verfügung stehen, ermöglichte die Anwendung eines reduzierten Stellplatzschlüssels, sodass weniger Stellplätze gebaut werden mussten als baurechtlich gefordert – was wiederum zu Kosteneinsparungen führte.

Inwieweit die Rechnung des gemeinsamen Energiekonzepts und die gegenseitige Nutzung von Wohn- und Schulräumen aufgeht, wird sich in den nächsten Jahren nach Fertigstellung des Schulcampus’ zeigen. Schon heute sind allerdings zwei Dinge sichtbar. Zum einen bilden der eher rationale, fast monochrom graubraune Wohnungsbau (Akzente setzen grüne Blumenkästen, Sitzbänke und Treppenhauswände) und die eher frei geformten und farblich gestalteten Schulgebäude – trotz ihrer unterschiedlichen architektonischen Haltung – eine harmonische Einheit. Zum anderen machen rege genutzte Balkone, Laubengänge, Dachterrassen und Gemeinschafträume deutlich, dass die kommunikativen Angebote tatsächlich wahrgenommen werden.

1. März 2016 deutsche bauzeitung

Ein Holz-Hohlkastenelement für alle Fälle

Verwaltungsgebäude von Egger in Sankt Johann in Tirol (A)

Grobspanplatten werden von Architekten gern als kostengünstiges Baumaterial für temporäre Bauten verwendet. Wie groß ihr konstruktives und gestalterisches Potenzial aber tatsächlich ist, zeigt nun ein Bürogebäude, das auf einem seit einigen Jahren immer weiter verfeinerten Konstruktionsprinzip für vorgefertigte Hohlkastenelemente basiert.

Wer im März vor zwei Jahren am Stammsitz des Holzwerkstoff-Herstellers Egger in St. Johann vorbeifuhr, sah vor der Kulisse aus Feldern, Wiesen und dem Kitzbüheler Horn v. a. ein dicht gedrängtes Ensemble aus gesichtslosen Produktionsgebäuden und Bergen von Baumstämmen und Holzspänen. Keine zwölf Monate später bot sich an gleicher Stelle eine völlig andere Perspektive. Am nördlichen Ende des Werksgeländes zieht seitdem ein frei stehender Neubau die Blicke auf sich: ein viergeschossiges Bürogebäude mit schachbrettartig gegliederter Fassade aus Glas und Lärchenholzlamellen. In nur einem Jahr Bauzeit entstand hier eines der größten Bürogebäude Österreichs in reiner Holzbauweise.

Genau genommen reicht dessen Geschichte zurück bis ins Jahr 2008, als der Familienbetrieb einen Architekturwettbewerb für ein neues Verwaltungsgebäude am rumänischen Produktionsstandort Radauti auslobte. Ziel war ein nachhaltiger, energieeffizienter, modularer Holzbau, der unter vorwiegender Verwendung firmeneigener Produkte errichtet werden und zugleich Standards für neue Bürogebäude an anderen Unternehmensstandorten definieren sollte. Der siegreiche Entwurf des Tiroler Architekten Bruno Moser basiert auf der Verwendung der größtmöglich erhältlichen Grobspanplatte OSB4Top von Egger, die erst zu 11,40 x 2,80 m großen Wand- bzw. Deckenelementen und schließlich zu 11,40 x 2,80 x 2,80 m großen Raummodulen gefügt wurden. Diese Module verfügen nicht nur über fertige, weiß lasierte Oberflächen, sondern enthalten auch sämtliche Lüftungs- und Elektro-Rohinstallationen. Nach Fertigstellung des mit dem DGNB-Zertifikat in Gold ausgezeichneten Gebäudes entwickelte Moser dieses System an zwei vergleichbaren Folgeprojekten für Egger weiter, sodass das Verwaltungsgebäude in St. Johann das nunmehr vierte dieser Art ist.

Die bisherigen Büroflächen am Gründungsort und Hauptsitz wiesen einige Nachteile auf: Sie waren auf mehrere Gebäude verteilt und befanden sich – für Geschäftspartner und Besucher eher schwierig zugänglich – innerhalb des Werksgeländes. V. a. aber waren sie für ein Unternehmen mit einem stattlichen Jahresumsatz von derzeit 2,26 Mrd. Euro wenig repräsentativ und überdies zu klein geworden. Für einen Neubau sprach zudem, dass sich dadurch die Chance bot, eine Art überdimensionalen Showroom zu realisieren, der – ohne diesen Aspekt penetrant in den Vordergrund zu rücken – einen umfassenden Überblick über die gesamte Produktpalette Eggers vom Konstruktionsholz über Fußböden bis hin zur Büromöblierung liefert.

Konstruktiver Aufbau der Wand- und Deckenelemente

In Bezug auf die Abmessungen der Raummodule und deren konstruktiven Aufbau entspricht der Neubau prinzipiell seinen drei Vorgängern. Die Wandelemente bestehen aus 280 mm dicken Holzriegeln, die – umgeben von einer Wärmedämmschicht – innen mit sichtbaren, weiß lasierten OSB4Top-Platten (22 mm) und außen mit diffusionsoffenen feuchtebeständigen Holzfaserplatten beplankt sind. Die Decken sind als frappierend einfach konstruierte Hohlkastenelemente ausgebildet: Den statisch wirksamen Kern bilden 520 mm hohe Brettschichtholzrippen mit schalldämmender Splittschüttung sowie eine weiß lasierte untere Beplankung (die gleichzeitig die Deckenuntersicht ausbildet) und eine obere Beplankung aus jeweils 30 mm dicken OSB4Top-Platten. Als Bodenaufbau dient eine Schicht aus Weichfaserplatten, über der sich weitere OSB-Platten (18 mm), dünne Trittschallmatten und der Laminatfußboden befinden – mit einer Gesamtaufbaudicke von lediglich rund 60 mm. Die Deckenelemente spannen grundsätzlich über die Längsrichtung, wobei Lasten stets über die vier Eckpunkte abgetragen werden; Installationen liegen auch hier im Innern der Hohlkastenelemente und in speziellen Vertiefungen der Tragbalken.

Zahlreiche baurechtliche Anforderungen, konzeptionelle Vorstellungen des Architekten und Bauherrenwünsche führten trotz vieler Gemeinsamkeiten mit den seit 2008 nach diesem Konstruktionsprinzip realisierten Gebäuden dazu, dass das Stammhaus als völlig eigenständige Variation zum freien »Spiel« mit Raummodulen erscheint. Wesentlich in diesem Zusammenhang sind insbesondere das offene Atrium und die Viergeschossigkeit der beiden seitlichen Gebäuderiegel. ›

Architektur und Brandschutz

Dass der Eingang nicht direkt ins Atrium führt, wie man aus der Entfernung noch vermuten könnte, sondern an der Gebäudelängsseite liegt, hat mit der geplanten Anbindung an den zweiten Bauabschnitt zu tun, der sich eines Tages im Norden befinden soll. Der seitliche Zugang liefert aber auch die dramaturgisch spannendere Lösung, weil der viergeschossige, oben und seitlich voll verglaste Innenraum nach Passieren des vergleichsweise niedrigen Empfangsbereichs dadurch umso eindrucksvoller erscheint. Was im Atrium dann sofort ins Auge fällt, ist einerseits die Offenheit und Großzügigkeit, andererseits die allgegenwärtige Verwendung von Holz bzw. Holzwerkstoffen: Wandbekleidungen aus Lärchenholzlamellen, eine Dachkonstruktion aus Brettschicht- und Lärchenholz sowie Wandoberflächen, Balkone, Aufzugschacht und Haupttreppe aus Grobspanplatten – letztere aus sieben nagelpressverleimten Platten mit je 30 mm. Nicht zuletzt, weil sämtliche Oberflächen ganz offensichtlich brennbar sind, kommt schnell die Frage nach dem Brandschutzkonzept auf. Grundsätzlich gelten das gesamte EG und das Atrium als ein in sich geschlossener Brandabschnitt. Die Abschottung zu den dreigeschossigen Büroflügeln, die zwei weitere Brandabschnitte ausbilden, erfolgt mithilfe einer REI90-Decke zum 1. OG; der 90 minütige Feuerwiderstand wird durch 2 x 20 mm Gipskartonplatten an der Unterseite des Standard-Deckenelements und einer Fassadensprinklerung im Atrium, die zusammen mit auskragenden Balkonen einem Brandüberschlag entgegenwirken, erreicht. Als Rettungswege dienen zwei, außerhalb der brandschutzverglasten Stirnseiten des Atriums liegende Stahl-Treppenhäuser, die über die mittigen Flure der Bürogeschosse erreichbar sind – der Verbindungssteg im Atrium bietet überdies die Möglichkeit, von einem zum anderen Brandabschnitt zu gelangen. Teil des Brandschutzkonzepts ist es auch, dass nicht nur das gesamte UG mit Tiefgarage, Technik-, Lager- und Personalräumen in Stahlbeton errichtet wurde, sondern auch die tragenden Elemente des EGs (Wandscheiben und Stützen). Dadurch reduziert sich die Anzahl der Geschosse mit prinzipiell brennbarem Tragwerk auf drei – optisch ist dies kaum wahrnehmbar, weil lediglich wenige Stützen in der Kantine, im Seminar- und im Verwaltungsbereich nicht mit OSB-Platten bekleidet wurden.

Vielfalt im Raster

Trotz des strikt eingehaltenen Rasters von 11,40 x 2,80 m, das unwillkürlich an schmale lange Industriecontainer denken lässt, erscheinen die aus jeweils insgesamt 5 x 5 Modulen zusammengesetzten Bürogeschosse offen und durchlässig. Erreicht wurde dies zum einen durch die mit Glaswänden voneinander, aber auch zum Flur abgetrennten Büroräume, zum anderen sind Raummodule, wie bereits erwähnt, nur an den Eckpunkten aufgelagert, sodass die Wandelemente – sofern die Gebäudeaussteifung als Ganzes gesichert ist – grundsätzlich völlig frei gestaltet werden können. In diesem Fall ergeben geschlossene Wandflächen, großflächige Verglasungen und breite Kommunikationsflure einen offenen Grundriss, der die Verwirklichung eines zeitgemäßen Bürokonzepts unterstützt. Hierzu trägt auch bei, dass die Maximalabmessungen der OSB4Top-Platten mit einem Grundraster von 71,25 x 70 cm ziemlich genau den ansonsten in der Büroplanung üblichen Rastermaßen entsprechen, so lassen sich am Ende sowohl ein wirtschaftliches Tragwerk als auch ebenso flächeneffiziente wie räumlich vielfältige Grundrisse schaffen.

Dass das in St. Johann realisierte konstruktive Konzept nicht nur in ökologischer, sondern auch in architektonischer Hinsicht wegweisend ist, zeigen die von Bruno Moser und Egger bereits bis ins Detail entwickelte Ideen für »Konzepthäuser« – Wohnhäuser, die innerhalb kürzester Zeit (z. B. als Flüchtlingsunterkunft) errichtet, später demontiert und anderswo wiederaufgebaut werden können. Ein zweigeschossiges Wohnhaus mit insgesamt zwölf Raummodulen und 420 m² BGF lässt sich so innerhalb von wenigen Wochen herstellen und bezugsfertig vor Ort montieren. Die Möglichkeiten der Bauweise mit Holz-Hohlkastenelementen scheinen noch längst nicht erschöpft zu sein.