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Profil

Diplom in Journalismus und freiberufliche publizistische Tätigkeit. Studium der Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, der Kunstgeschichte Ostasiens sowie der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich und an der Architekturfakultät «La Sapienza» in Rom. 2010 Promotion über «Otto Kolb – Architekt und Designer», 2013 gleichnamige Publikation über den schweizerisch-amerikanischen Architekten und 2016/17 Kuratorin zweier Ausstellungen über ihn. 2003-2013 Redaktorin bei tec21. Seither freiberufliche Tätigkeit im Raum Bern und Zürich als Buchautorin, Kuratorin, Dozentin. 2020 Publikation der Monografie «Lisbeth Sachs – Architektin, Forscherin, Publizistin» und Gestaltung einer Ausstellung über sie und ihr Werk.

Lehrtätigkeit

2015 «Poesie der Leichtigkeit – „Nur Fliegen ist schöner!“», FHNW, Hochschule für Architektur, Bau und Geobatik
2016 «Schwebende Architekturkonzepte – Vom Traum des Fliegens zur Realität schwebender Architektur», FHNW, Hochschule für Architektur, Bau und Geomatik

Mitgliedschaften

Vereinigung der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker in der Schweiz (VKKS)
Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschickte (GSK)
Gesellschaft für Ingenieurbaukunst

Publikationen

Otto Kolb – Architekt und Designer, Zürich, 2013
Peter Thalmann – Maler, Zeichner und Lithograf, Aarau, 2016
schwarzflug: Oliver Schwarz – Zeichnungen und Gemälde, Zürich, 2018
«Behausung, Bekleidung, Blösse», in: Raumkleider – dressed for architecture, Bielefeld, 2018
Lisbeth Sachs – Architektin, Forscherin, Publizistin, Zürich 2020

Veranstaltungen

Ausstellung «Otto Kolb - Architekt und Designer, Pionier und Grenzgänger», Architekturforum, Uster (ZH), 2016
Ausstellung «Otto Kolb - Architekt und Designer, Pionier und Grenzgänger», Architekturforum, Zürich, 2017
Lisbeth Sachs, ihr Kurtheater in Baden sowie dessen Renovation und Erweiterung durch E. & M. Boesch Architekten, Baden, 2020

Karte

Artikel

10. September 2024 werk, bauen + wohnen

Markt, Musik und Memoiren

Die Umnutzung der historischen Fabrik in ein Museum hält Erinnerungen wach und ein dreieckiges Holzdach gibt dem Dorfplatz einen neuen Mittelpunkt – ein Ort für neue Geschichten über Alltägliches und Aussergewöhnliches.

Zum vollständigen Artikel im „werk, bauen + wohnen“ Archiv ↗

10. April 2015 Neue Zürcher Zeitung

Bewohnbare Skulpturen

Als Panoptikum kann man die Villa bezeichnen, die Otto Kolb 1982 im Zürcher Oberland vollendete. Kolb war ein Pionier und Grenzgänger – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Er bewegte sich zwischen den Disziplinen Architektur, Ingenieurwesen, Kunst sowie Design und tastete sich auf ökologische Terrains vor.

Zum vollständigen Artikel im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv ↗

4. Oktober 2013 TEC21

Täuschend echt

Die Villa Patumbah im Zürcher Villenquartier Riesbach, die sich der Kaufmann Karl Fürchtegott Grob-Zundel zwischen 1883 und 1885 von den Architekten Chiodera & Tschudy bauen liess, ist eine Schmuckschatulle: In dem Haus verdichten sich Elemente der Gotik, des Barocks und der Renaissance, geben sich Jugend- und Heimatstil ein Stelldichein und mischen sich ost­asiatische Anleihen ein. Konstruktiv ist sie dem Industriezeitalter zugehörig: Zwischen den Stahlträgern sind vorfabrizierte Hourdisdeckenelemente eingelegt. Eingebettet in einen von Evariste Mertens gestalteten Park ist sie aber vor allem ein mittels optischer Täuschung erzeugter, nach innen gewendeter Aussenraum.

Die Villa mit Ökonomiegebäude und Park erstreckte sich auf einem Grundstück von 13 000 m². Karl Fürchtegott Grob-Zundel, mit dem Anbau von Tabak auf Sumatra reich geworden, erwarb es nach seiner Rückkehr 1883 in Zürich-Riesbach, das sich – damals noch nicht eingemeindet – anschickte, sich zum Villenquartier zu entwickeln. Die Villa Patumbah ist in diesem Kontext einzigartig, was Reichtum an Material und Dekor anbelangt. Der Kontrast zu dem im Schweizer Holzbaustil ausgeführten Ökonomiegebäude, in dem die Pferde und Wagen der Familie untergebracht waren, könnte kaum grösser sein. Zwar ist auch dieses keineswegs schmucklos – im Gegenteil: Motive, die zum Inhalt des Hauses passen, zieren es, Reiter und Pferd thematisierend. Doch der rote und gelbe Klinker signalisiert auch eine gewisse, wiederum durchaus inhaltlich begründete Derbheit. Verbunden sind die beiden Gebäude durch einen Pavillon, dem ein Platz vorgelagert ist.

Trompe-l’œil

Stilpluralismus ist zwar typisches Merkmal des Historismus, doch die Art und Weise und das Ausmass der Stilzitate nimmt in der Villa Patumbah eklektizistische Züge an. Die Gestaltung der Fassaden ist von der Renaissance inspiriert: Über dem in groben Steinquadern rustifizierten Sockelgeschoss erhebt sich das Piano nobile, dessen reiches Dekor – Bauschmuck ebenso wie polychrome Keimfarbenmalerei – die Wände fast auflöst. Aufgebrochen wird die Fassade ferner durch zwei Nischen, in denen Merkur und Flora platziert sind – Anspielung auf Grob-Zundels Kaufmannstätigkeit bzw. den daraus geschöpften Reichtum. Das Mezzaningeschoss ist kaum weniger geschmückt als das Piano nobile und wartet ebenfalls mit Trompe-l’Œil-Malereien sowie mit gerahmten Oculi auf. Unterhalb des Dachs ist der Schriftzug «PATUMBAH» zu lesen – gemeinhin als «ersehntes Land» übersetzt.

Während Fenster, Türen und Nischen von Veroneser Kalkstein und Carrara-Marmor gerahmt und teilweise von gesprengten Segmentgiebeln überkrönt sind, erweckt das Dekor lediglich den Anschein, als wäre es aus diesen edlen Gesteinen gefügt: Stattdessen ist es in Keimfarben aufgetragen. Die Malereien bewirken nicht nur eine optische Täuschung, sie nehmen dem Bau auch die Schwere, weil sie keine steinerne Anmutung haben. Aus der Ferne wirken die Fassaden besonders im Sonnenlicht leicht und luftig, aus der Nähe haben sie eine fast samtene Oberfläche: eher eine textile Hülle als ein Steinbruch. Täuschend ist indes nicht nur die Verkleidung, aus Ingenieursicht ist es auch die Konstruktion aus Stahlträgern, Mauer­werk und Hourdisdecken.

Der Pavillon dockt an die Villa an und führt in den Vorraum des Treppenhauses und von da ins Vestibül (vgl. S. 21, Abb. 03). Es erschliesst die zum Park orientierten Räume des Herrenzimmers, des Salons und des Damenzimmers sowie den strassenseitigen Wintergarten (vgl. S. 21, Abb. 04). Die ehemaligen Privaträume der Familie sowie die Dienstbotenkammern im ersten und im zweiten Obergeschoss schliessen sich um die zentrale, zwei Geschosse hohe Halle, die von einer farbigen Glaskuppel bekrönt ist. Die im zweiten Geschoss ­umlaufende Galerie zieren ostasiatisch angehauchte Schnitzereien und an Tuschmalerei ­erinnernde ­Gemälde (Abb. 06 und 08; vgl. S. 15 und S. 25, Abb. 12).

Umkehrung von Innen und Aussen

Auf den ersten Blick läuft das Auge angesichts der Dekorflut sowohl aussen als auch im Innern beinahe über. Es vermag kein Ganzes zu erkennen, sondern springt von einer Stuckatur, Holzvertäfelung, Malerei zur nächsten. Man verliert sich in der schieren Menge an gegenständlichen Figuren (Putten, Vögel, Fabelwesen), verschlungenen Ornamenten ­(Blumen- und Blätterranken) und geometrischen Mustern.

Jedes Element scheint lauter nach Aufmerksamkeit zu rufen als das vorherige, weshalb sich einem zunächst kein übergeordnetes Konzept erschliessen will. Tritt man einen Schritt zurück und lässt den Blick eher schweifen, als sich an den Details festzusaugen, gibt die Villa ihr Geheimnis preis. Sie ist das Behältnis ­eines Aussenraums, bzw. der Aussenraum ist gleichsam nach innen gewendet. Das beginnt beim Eingang, der nicht in der repräsentativen Schauseite der Villa liegt, sondern in dem eingeschossigen Pavillon, der diese mit dem Ökonomiegebäude verbindet. Dessen Materialisierung in Zinkguss lehnt sich an den Rundpavillon im Park an, ist also als dem Grünraum zugehörig zu betrachten. Überdies betonen die reiche Goldverzierung aussen und die Decke innen, die wie gerafftes Tuch den Korridor überspannt, diesen lichten Charakter (Abb. 10). Schliesslich trägt der Spiegel im Vorraum zu diesem Umkehrcharakter bei (vgl. S. 21, Abb. 03), der sich im obersten Abschnitt des Tambours und der Decke des Treppenhauses vollendet (vgl. S. 21, Abb. 02).

Auch der Wintergarten fügt sich in diese Konzeption der Umkehrung von innen und aussen (vgl. S. 21, Abb. 04, sowie S. 23, Abb. 03 und 04). Die Trompe-l’Œil-Malerei erweckt den Eindruck, als löse sich die Decke in Himmel auf und als figuriere der gemalte schmiedeeiserne Bal­dachin als Sonnenschutz. Pfingstrosen hängen von der Decke in den Raum, Möwen und ­Enten flattern fast hörbar. Die Wände dürften ebenfalls einen Blick in die Landschaft simuliert haben und damit an Gestaltungen angelehnt gewesen sein, wie man sie etwa von den ­Fresken der Casa dei cubicoli floreali in Pompeji kennt. Der Springbrunnen, auf dessen einstige Existenz Spuren im Terrazzobelag hindeuten, vervollständigt die Konnotation als Aussenraum. Sein Plätschern könnte mit dem imaginierten Gezwitscher gemalter Vögel – gleichsam die ­Voliere, die es im Park gab, imitierend – den Raum akustisch konditioniert haben.

Ostasiatischer Tempel

Die fernöstliche Motivik im zweiten Obergeschoss scheint einem angesichts von Grob-Zundels Biografie zwar keineswegs abwegig, ihre Verquickung mit Renaissanceelementen mutet indes bizarr an – zumal der Pinselduktus der Malereien verglichen mit der hochstehenden Kunst ostasiatischer Vorbilder grob ist und die Schnitzereien das Gepräge von Laubsägewerk haben. Inhaltlich hingegen ist ihre Qualität unbestritten. Die Ausbildung als Galerie bzw. der Luftraum über der Halle im 1. OG half den Architekten augenscheinlich, die Ränder des nicht nur stilistischen, sondern auch qualitativen Bruchs zu verschleifen – nicht trotz, sondern gerade wegen der optischen Durchlässigkeit zwischen 1. und 2. OG. Die vertikale Verbindung der zweigeschossigen Halle – Pendant zum Treppenhaus – wurde auch über das Dekor erzeugt. So verbindet das Auge die Vögel, die die Türen im 1. OG zieren, mit den Drachen auf jenen des 2., assoziiert die goldschimmernden Tapeten – obwohl von unterschiedlichem Dekor – an den Wänden von Halle und Galerie ­miteinander: üppiger Urwald, aus dem sich kaum merklich eine Figur mit einem Wagen oder einer Sänfte schält, bzw. Fabelwesen, die zu einem einzigen ornamentalen Muster verschwimmen (Abb. 09; vgl. S. 22, Abb. 08). Das Ganze wirkt wie ein in die Villa hineingestellter, vom Baldachin bekrönter ostasiatischer Tempel und zelebriert erneut die Umkehrung von innen und aussen.

Vom Kitsch zum Gesamtkunstwerk

Dass der «Tempel» dennoch ein Fremdkörper ist, lässt sich an den Architektenplänen ab­lesen, in denen er nicht verzeichnet ist – im Gegenteil: Bis ins Detail vermasst zeigen sie ­einen Renaissance-Umgang. Grob-Zundel muss sich während des Baus eines andern besonnen haben. Was ihn bewog, Zeitdruck und Abstriche an der Qualität in Kauf zu nehmen, lässt sich nicht nachweisen. Aber Giovanni Menghini, Denkmalpfleger des Kantons Graubünden und vonseiten der Stiftung Patumbah an den Arbeiten beteiligt, wagt eine Hypothese. In dem Raum im 1. OG, der als ehemaliges Arbeitszimmer Grob-Zundels gilt, kamen nach Entfernung der mit Kaliko verkleideten Decke Malereien zum Vorschein – unter anderem mehrere Medaillons mit Darstellungen, deren realistischer Gestus sich von den sonst ­verspielten Ornamenten abhebt. Auf einem der Medaillons ist der Ausbruch eines Vulkans dargestellt, wobei die Vermutung naheliegt, dass es sich dabei um die Explosion des ­zwischen Sumatra und Java gelegenen Kratakau von 1883 handelt. In den Fluten des anschliessenden Tsunamis versank auch Grob-Zundels Wahlheimat. Menghini wertet das Bild als Fingerzeig und mutmasst, dass der Bauherr, der nicht nur seine Plantage, sondern auch seine Freunde verlor, ihnen gleichsam ein Denkmal setzte – zumal in Tempelform.

Nachdem die Villa auch schon als Kitsch verschrien war, wird sie heute rehabilitiert: Mit der illusionistischen Behandlung von innen und aussen, den reflektierenden Lichteffekten und der suggerierten akustischen Untermalung ist sie ein inszenatorisches Gesamtkunstwerk.

4. Oktober 2013 TEC21

Repariert, retuschiert, rekonstruiert

Die 1883–1885 errichtete Villa Patumbah wurde von 2010 bis 2013 instand gesetzt. Das Credo von Denkmalpflege, Architekten und Restauratoren war, hervorzuholen und zu schützen, was an Substanz vorhanden ist. Auch rekonstruierende Ergänzungen von Fehlstellen waren kein Tabu. Bereiche, deren Behandlung das Budget überstrapaziert hätten, zeigen sich nun als didaktische Referenzflächen: Verschmutzte neben gereinigten Stuckaturen machen den Alterungsprozess sichtbar, übermalte neben freigelegten ­Deckenfeldern offenbaren die Schadstellen, von späteren Eingriffen ­bedrängte Malereien illustrieren die Verluste – in der Übereinstimmung zwischen Bau und Inhalt eine ideale Stätte für das vom Schweizer Heimatschutz eingerichtete Zentrum für Baukultur.

Es waren zwei Aspekte, die die Intervention an der Villa Patumbah zu einem schwierigen Unterfangen machten: erstens die für Zürcher Verhältnisse zum Teil ungewöhnlichen Mate­rialien und zweitens die Unsicherheit darüber, was an originaler Substanz noch aufzufinden sein würde. Chiodera & Tschudy, die – finanziell kaum eingeschränkt – aus dem Vollen schöpfen konnten, taten dies nicht nur, indem sie das Haus mit reichhaltigem, zum Teil vergoldetem Dekor ausstatteten. Sie griffen ausserdem auf – gemessen an der lokalen Bau­tradition – «exotische» oder zumindest nicht heimische Materialien zurück: Carrara-Marmor, Veronese rosso und Solothurner Kalkstein. Als Pioniere agierten sie überdies mit dem ­Einsatz von Keimfarbe, die 1878 eben erst patentiert worden war (vgl. Bauteilkatalog S. 24).

Die mangelhafte Kenntnis des Ausmasses der vorhandenen Originalsubstanz war einerseits der Umnutzung der Villa als Altersheim in den 1970er-Jahren geschuldet, andererseits der nicht eben komfortablen Quellenlage: Detailpläne des Dekors fehlten fast gänzlich, und die vorhandenen Schwarz-Weiss-Fotografien vermittelten naturgemäss nur einen sehr unzulänglichen Eindruck. Zudem wies jeder Raum ein anderes Dekor auf. Für die Restauratoren bedeutete dies, dass sie nicht von dem einen auf das andere schliessen konnten. Da überdies in den letzten Jahrzehnten Wände und Decken im Innern fast ausnahmslos überstrichen oder verkleidet worden waren, mussten sie ausgedehnte Sondierungen vornehmen, um festzustellen, wo mit Malereien zu rechnen sein würde. Auf der architektonischen Ebene und derjenigen des Tragwerks hatte das zur Folge, dass die wohl minimalen, aber notwendigen Eingriffe, um elektrische Leitungen zu ziehen, behutsam geplant und ausgeführt werden mussten.

Work in Progress

Denkmalpfleger, Architekten und Restauratorinnen wählten daher ein situatives Vorgehen für die Instandsetzung. Es gab keine Doktrin, der alles unterworfen worden wäre, mit ­Ausnahme der Vorgabe, so viel wie möglich zu konservieren, zu restaurieren oder gar zu ­rekonstruieren – in Abhängigkeit von Ausmass und Zustand der originalen Substanz, von den finanziellen Ressourcen von 15.5 Millionen Franken beziehungsweise vom zu erwartenden Aufwand und von den technischen/handwerklichen Möglichkeiten. Ausserdem sollte künftig ein ständiger Unterhalt mit einfachsten Mitteln möglich sein, und was im Rahmen der ­Bedingungen nicht freigelegt wurde, sollte gesichert werden, um es – falls Mittel und Wege offenstehen würden – zu einem späteren Zeitpunkt ans Licht holen zu können. Es gab also fünf Interventionsebenen:

– Intakte Flächen galt es mit Massnahmen zu bewahren, die den Reduktions- und Verfallprozess verzögern – möglichst ohne Eingriffe in Struktur, Substanz, Aussehen und Informationsgehalt.

– Restauratorisch sollte interveniert werden, um beschädigte Bereiche – den originalen ­Zustand respektierend – wiederherzustellen. Das bedeutete die vorhandene Substanz wieder zur Geltung bringen und ihren Ausdruck formal und inhaltlich wieder anschaulich und ablesbar machen – etwa mittels Firnisabnahmen und Retuschen.

– Die Rekonstruktion – mit einem Anteil «Neuerfindung» – war Bereichen vorbehalten, deren Lesbarkeit sich sonst nicht erschlossen haben würde bzw. die für das Verständnis der Villa als Ganzes unerlässlich schienen. Hier reichte die Palette vom Ergänzen der Hintergrundfarbe, die es dem Auge ermöglicht, die Fehlstelle zu «übersehen» bzw. das fehlende Stück zu ergänzen, bis zur Rekonstruktion ganzer Elemente bei Fehlstellen, an deren nach­träglichem Anstrich das Auge abgeprallt wäre, wie etwa im Tambour des Treppenhauses.

– Die «Auszeichnung» der Fehlstelle wurde dort praktiziert, wo der Aufwand, das Dekor ­freizulegen, zu gross gewesen wäre – die finanziellen Mittel also Grenzen setzten – oder wo die vorgefundenen Reste zu gering waren. Auch hier gelingt es oft, sich das Ganze vor dem geistigen Auge auszumalen.

– Manche Segmente wurden auch einfach belassen bzw. lediglich gereinigt. Zuweilen schimmern durch solche einst weiss überstrichenen Oberflächen die Malereien durch, oder es wirkt, als fielen von irgendwoher Schatten darauf, und man erahnt ungehobene Schätze.

So bietet die Villa nun Anschauungsunterricht in Denkmalpflege, sie illustriert das gesamte Repertoire auf anschaulichste Weise – ohne Zaunpfahl: Es kann durchaus ­vorkommen, dass man alt mit neu verwechselt …

Neuerfindung im Sinn und Geist der Urheber

Exemplarisch war das Vorgehen in dem von den Nachmietern rosafarben überstrichenen Treppenhaus: einerseits, weil es nahezu kriminalistischen Spürsinns bedurfte, andererseits, weil sich die Denkmalpflege hier an Tambour und Decke die grösste Abweichung von der reinen Lehre gestattete. Die Decke liess erahnen, dass zumindest Reste von ­Malerei zu entdecken waren – sofern sich der Kaliko, mit dem sie bespannt war, würde ablösen lassen. Das Baumwollgewebe, das ursprünglich aus der Buchbinderei stammt, war in der Villa an mehreren Stellen als «Grundierung» für spätere Anstriche verwendet worden. Tatsächlich liess es sich hier relativ leicht entfernen und gab einen passablen Zustand der darunter­liegenden Malereien frei – unter anderem Reste eines gemalten Brunnens. Dessen illusionistische ­Wirkung entfaltete gar etwas arg reale Kraft, gab es doch an der Stelle ­einmal einen Wassereinbruch … Die Brunnenschale wurde denn auch fast vollständig ­rekonstruiert – als reine Schöpfung der Restauratoren. Im Tambour dagegen deutete nichts auf ein darunterliegendes Dekor hin, und auch die ­ersten Sondierungen erbrachten keinerlei Hinweise. Giovanni Menghini, Denkmalpfleger des Kantons Graubünden und vonseiten der Stiftung Patumbah in die Arbeiten involviert, liess sich von diesem Befund indes nicht beirren: Er hielt es für unmöglich, dass aus­gerechnet da, wo die repräsentativen Raumfolgen im EG mit den privaten Gemächern in den Obergeschossen verbunden sind, auf dekorative Malerei verzichtet worden war.

Seine Hartnäckigkeit, ein weiteres Team mit Untersuchungen zu betrauen, lohnte sich: Die nunmehr flächig statt punktuell vorgenommenen Sondierungsschnitte legten Spuren einer Bemalung frei, die sich nach und nach zu einem Gesamteindruck zusammenschliessen ­liessen: die Silhouette eines Löwenkopfs, die Konturen einer Säule und den Schwung einer Volute – alles vor hellblauem, wolkigem Hintergrund. Die einzelnen, zum Teil verstreut ­entdeckten Details wurden auf Pauspapier übertragen, bis die an verschiedenen Stellen gefundenen Reste sich nach und nach zu ganzen Elementen zusammensetzen liessen. ­Dieses Vorgehen sei deshalb verantwortbar, so Menghini, weil schon zur ­Entstehungszeit des Hauses keineswegs jede Säule in freihändiger Manier gemalt wurde – im Gegenteil:
Es gab gelochte Vorlagen, die man – quasi seriell – mit Kohlenstaubbeutel durchpauste.

Die Rekonstruktion inklusive partieller Neuerfindung rechtfertige sich, weil die Art und Weise einigermassen gesichert sei, so Menghini. Ausserdem wäre der Gegensatz einer Unitönung zur Opulenz des Hauses zu gross und für das Publikum nicht plausibel gewesen. Alle ­Innenräume seien in Bewegung – in Farbe, Ornamentik, Stuckatur etc. aufgelöst. Hier aber hätte man vor einer undurchdringlichen Wand gestanden – einem statischen Einschub.

6. September 2013 TEC21

Neugier und Obsession

Die Rezeption Pier Luigi Nervis (1891–1979) erkennt in ihm einen Ingenieur-Architekten, der ganzheitlich an ein Bauprojekt heranging, experimentell arbeitete und Kongruenz von Form und Tragwerk zustande brachte. Carlo Olmo, Professor am Politecnico von Turin, identifiziert dahinter zwei ­hervorstechende Eigenschaften dieses Mannes – seine Neugier und seine Obsession – und vergleicht ihn im Gespräch[01] mit Ahab, dem Protagonisten von Herman Melvilles «Moby-Dick». Wenn von Nervi etwas zu lernen sei, dann dies: sein Metier leidenschaftlich zu betreiben, neugierig zu sein und die Interdisziplinarität in sich selber zu finden.

Für Carlo Olmo, Kurator der Ausstellung «Architektur als Herausforderung», die ab 19. September an der ETH Zürich zu sehen ist (vgl. Kasten), ist das Faszinierende an Pier Luigi Nervis ­Persönlichkeit zum einen seine Komplexität: Er war nicht nur ein Ingenieur, der seiner Sen­sibilität für die Kongruenz zwischen Tragwerk und architektonischem Ausdruck verdankte, als Ingenieur-Architekt bezeichnet zu werden. Er war auch Autor, Lehrer, Sammler, Aka­demiker, Intellektueller – und Promotor seines eigenen Ruhms. Zum anderen zieht er Olmo in seinen Bann, weil sich in ihm auf der persönlichen Ebene ein Paradox manifestiert, das wie der Reflex seines Schaffens und seines Umfelds in der damaligen Zeit erscheint.

Auf der Ebene seines Werks war es Nervis Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit und mit minimierten Kosten immer komplexere Bauten zu realisieren, in denen das Tragwerk für die aussergewöhnliche architektonische Ausformulierung bestimmend war – durchaus auch mit Lösungen, die statisch nicht die Naheliegendsten waren (siehe «Vom Stahl zum Beton», S. 18). So hat man das Stadion Berta in Florenz als «statisches Paradox» bezeichnet, in dem die Stabilität durch die Balance zwischen den Trägern und dem Gegengewicht der Freitreppe erzielt wurde. Analoges gilt für die technologische Entwicklung: Das Mass der technologischen Suche war die Kontrolle und die Effizienz. Das Verfahren aber, um ­dahin zu kommen, war das mit dem Irrtum jonglierende Experiment: «prova-errore» («trial and ­error»). «Effizienz und Irrtum führen eine Koexistenz. Man ist bestrebt, eine Welt zu ­erschaffen, in der der Nutzen maximiert ist, während das mit Fehlern operierende ­Experiment das Risiko austreiben soll. Ohne dieses Paradox zu verstehen, ist es schwierig, das Phänomen Nervi zu erfassen», ist Olmo überzeugt.

Sein persönliches Schicksal habe sich schliesslich in dem Paradox erfüllt, dass er – zu ­Lebzeiten eine Persönlichkeit «von internationaler Statur» – nach seinem Tod sang- und klanglos untergegangen sei, ehe die Erinnerung an ihn im Lauf ungefähr der letzten fünf Jahre wieder erwacht sei und zu einer wahren Flut von Studien, Forschungen, Symposien etc. geführt habe. Auch dies ein Aspekt, den es zu entschlüsseln gelte, wenn man ­Nervi verstehen wolle: «Weshalb verschwindet Nervi, der eine enorme Berühmtheit erlangt hat und dessen grossartige Bauwerke bis heute faszinieren, plötzlich von der Bildfläche? Nervis Sohn Antonio stirbt, beladen mit einer vielleicht zu grossen Verantwortung, vier ­Monate später an einem Herzinfarkt. Nervis Firma wird verkauft und ist zwei Jahre danach ruiniert. Nervi und die ganze Welt, die er konstruiert hat, verschwinden – wie Ahab, der ­Waljäger, mit Moby-Dick in den Fluten des Pazifischen Ozeans untertaucht.»

Der Vergleich mit Kapitän Ahab zielt gleichermassen auf die Parallele der Ausstrahlung, des physischen Versinkens, des metaphorischen In-Vergessenheit-Geratens und des mythischen Wiederauftauchens beider – wiewohl unter umgekehrten Vorzeichen: Ahab hinterlässt ein Werk der Zerstörung. Nervis Vermächtnis dagegen ist ein imposantes Œuvre, das ebenso den Ehrgeiz geweckt habe, es zu erforschen, wie, sich an ihm zu messen. In beiden Fällen ortet Olmo die Ursache in der Obsession. «Besessenheit ist eine Eigenschaft, die hilft, Ziele zu erreichen, eine Eigenschaft aber auch, die das Umfeld unter Stress setzt. Ich denke ­daher, es war diese Obsessivität, die dazu geführt hat, dass sein Tod am Ende als ein ­Moment der Befreiung empfunden wurde.» Als Motor lokalisiert Olmo sie nicht nur in Nervis gebautem Werk, sondern ebenso in seinen Schriften, seinen Vorlesungen, seinen Sym­posien, seinen Reisen und seiner Betriebsführung – «Aktionen» auch um der Mehrung des eigenen Ruhms willen und um sich im jeweiligen Umfeld bewegen zu können. So arbeitet er «bis 1942, während der Zeit des Faschismus, für die Marine, setzt sich andererseits ­während des Zweiten Weltkriegs dafür ein, dass Juden dem Konzentrationslager entgingen. Ende der 1940er-Jahre nimmt er das Pontifikat für sich ein; wird Mitglied der Päpstlichen Akademie. In den 1950er-Jahren setzen die Vorlesungen, Reisen und Konferenzen ein, mit denen er sich als Gelehrter etabliert, und in den 1960ern verführt er die Amerikaner.»

Er fühlte sich nicht der Welt der Ingenieure zugehörig, die sich anschickte, sich zu professionalisieren und eine Vorstellung des Ingenieurwesens hatte, die sich nicht mit der «intuitiven Methode» Nervis deckte. Er ging nicht von der mathematischen Formel aus, die das Verhalten von Materialien und Strukturen präfiguriert, sondern von der Realität, die die Modelle bis zu ihrer Zerstörung strapazierte (siehe «Experiment als Instrument»). «Er lehrt denn auch an einer Architekturfakultät. Seine Ambition ist es, ein Intellektueller zu sein, der unterrichtet, Konferenzen abhält, seine Auftraggeber und grosse Auditorien fasziniert. Zum Teil geht darauf auch zurück, dass er als Ingenieur-Architekt gesehen wird.»

Diese Verbindung faszinierte zu seinen Lebzeiten. Könnte sie eine Option für die Ausbildung heute sein? Olmo rät zur Zurückhaltung. Denn es wäre zu kurz gegriffen, sein Werk nur als Ausdruck dieser Fähigkeit zu sehen. Er habe eine derart komplexe Art der Konzeption seiner Bauten gehabt, dass sich diese nur entschlüsseln liessen, wenn man weitere Faktoren berücksichtige. Seine Arbeit habe auf einer wissenschaftlichen Kultur basiert, die man als aufklärerisch, wenn nicht gar als humanistisch bezeichnen könnte. Die Genese der Formen seiner Bauten lasse sich nicht als Frucht eines «problem solving» erklären, sondern als ­Synthese verschiedener Stränge: «Wenn man wirklich erforschen will, woher diese speziellen Formen kommen, muss man sich mit seiner Sammlung von Blättern und Pflanzen, von ­aussergewöhnlichen Büchern über Mikroorganismen auseinandersetzen, die die Matrize seines Organizismus waren. Man muss seine Fotoalben – ein wahrhaft eklektizistischer ­Fundus an Wiedergaben von Bauwerken – studieren, um die Entwicklung seiner Ikonografie zu entdecken und erforschen, wie beides mit seiner dem amerikanischen Empirismus ­nahen Art des Experimentierens interagierte. Und schliesslich wären die Dialoge einzubeziehen, die er mit Physikern, Biologen, Medizinern, Advokaten und Künstlern[2] führte. Das ist nicht einfach.» Überdies habe die Spezialisierung eine kaum überschaubare Zahl von ­Fachrichtungen hervorgebracht, die sich zunehmend voneinander entfernt hätten – bei den Studenten würden Träume geweckt, die nur in Desillusionierung münden könnten.[3] «Aber ja, eine spezifische Art der Interdisziplinarität ist von ihm zu lernen – allerdings nicht eine mit unendlichen vielen Akteuren und Spezialisten, von denen keiner die Sprache des Andern spricht.» Nervi habe die Interdisziplinarität in sich selber gefunden – leidenschaftlich und neugierig. Diese Lektion sei heute von ihm zu lernen: disziplinenübergreifend wissbegierig zu sein und sein Metier mit Begeisterung zu betreiben.


Anmerkungen:
[01] Ein Kondensat des Gesprächs mit Carlo Olmo im Originalton findet sich auf [...]
[02] Vieri Quilici hat auf die Verbindung zwischen Nervi und György Kepes hingewiesen. Interview mit Vieri Quilici und Ettore Masi, in: Francesca Romana Castelli, Anna Irene Del Monaco (Hg.), Pier Luigi Nervi e l’architettura strutturale, Rom, 2011, S. 194–200, hier: 196. Die farbigen Glasfenster in der St. Mary’s Cathedral in San Francisco stammten von György Kepes.
[03] Sergio Poretti hat hervorgehoben, es sei kein Zufall, dass die experimentellen konstruktiven Systeme Nervis ebenso wie jene eines Eduardo Torroja oder Felix Candelas in Italien, Spanien und Südamerika entstanden – in Ländern, in denen die Lohnkosten zu jener Zeit vergleichsweise tief waren: Vortrag am Giornata di studio L’insegnamento di Pier Luigi Nervi alla Sapienza, 18.2.2011, Museum MAXXI, Rom.

9. August 2013 TEC21

«Die Räumlichkeit von ­Musik: ein Lebensprojekt»

Während Architekten den Raum optisch ausleuchten, lotet der Basler Komponist Beat Gysin ihn akustisch aus. Unter dem Begriff «aurale Architektur» versammelt er Projekte, in denen er Raum, Musik und Szenografie verbindet. Er passt die Musik den Räumen oder die Räume der Musik an. Dabei spielt die Bewegung eine entscheidende Rolle: Im Konzert «Feigels Mosaik» 2012 bewegten sich die Interpreten, ebenso in der aktuellen Produktion «NUMEN». In einem unter dem Titel «Chronos» für 2015 geplanten Festival will Gysin auch das Publikum mobilisieren. Aber nicht nur dieses: Die Aufführungsstätte selber, konzeptionell als Karussell gedacht, soll sich bewegen. Von da ist der Weg nicht mehr weit zum veränderbaren Raum.

Wenn Beat Gysin «Wassermusik» macht, spielt er nicht auf die gleichnamige Komposition von Georg Friedrich Händel an – Gysin meint es wörtlich. 2001 hat er für diese Kunstform die Oper «Skamander» komponiert und im Hallenbad Rialto in Basel zur Aufführung gebracht. Dabei hat er zwei der Disziplinen, die er studiert hat – Musik und Chemie – in kunstvoller Weise miteinander verbunden: Experimente mit flüssigen Substanzen, speziell Wasserbewegungen, mit akustischen Analysen von Wirbelformationen. Als Naturwissenschafter interessiert ihn, wie sich Wasser bei der Schallübertragung von Luft unterscheidet.

Als Musiker setzt er die Stimme ein, um das Medium auszuloten. Die Stimme über das Wasser hörbar zu machen verweist darauf, dass die Stimmbänder in einem Feuchtbiotop liegen. Zusätzlich Perkussion einzusetzen darauf, dass sie beim Singen oder Sprechen aneinanderschlagen. Der Oper vorausgegangen war zwei Jahre davor eine Komposition, die er auf die Akustik eines stillgelegten Wasserreservoirs ausrichtete. In vollkommener Dunkelheit aufgeführt, provozierte es bei den Hörerinnen und Hörern wahre Feuerwerke von inneren Bildern. Heute sucht Gysin die Verbindung zwischen akustischem und visuellem Raum. Er entwirft Szenarien, in denen der Raum – vorgestellt als eine chemische Apparatur aus gläsernen Röhren, Kolben, Flaschen, durch die Wasser fliesst und Luft strömt, angereichert mit Farben und Gerüchen – gleichzeitig das Instrument ist. Das Projekt, ein dreidimensionales akustisches Happening, das ein Raumgefühl wie im Wald, im Dschungel oder in der Stadt, im Gewühl von Geräuschen und Ereignissen jedenfalls, vermitteln soll, liegt fertig durchdacht in der Schublade und wartet auf eine Veranstaltung ...

TEC21: Sie befassen sich seit Jahren mit raumakustischen Phänomenen, komponieren für den Raum, loten akustische Potenziale aus. Ihre Projekte drehen sich um die Beziehung zwischen der Musik, dem Raum und dem Publikum. Woher rührt diese Leidenschaft?

Beat Gysin: Nun, ich hatte einige zündende Erlebnisse: In jungen Jahren pflegte ich beim Velofahren innerlich zu komponieren. Dabei steigerte ich mich eines Tages so sehr in den Orchesterklang hinein, dass er sich aufblähte, bis er in meinem Kopf explodierte. Das Orchester wurde dreidimensional. Ich war so überwältigt, dass ich vom Velo absteigen musste. Denn die 3-D-Vorstellung konkurrierte die 3-D-Rezeption der Umwelt. Inzwischen kann ich dieses Erlebnis der räumlichen Musikimagination heraufbeschwören. Dann spielte ich in einem Schlagzeugensemble, das die Komposition «First Construction (in Metal)» von John Cage aus dem Jahr 1939 einstudierte. Als Aufführungsort schlug ich – nachdem ich ganz Basel abgeklappert hatte – eine Garage vor. Deren Betreiber bauten eine Kulisse aus verschrotteten Autos auf, sodass eine Verbindung zwischen der Raumatmosphäre und der Komposition entstand, die das Publikum begeisterte. Ich wurde also immer wieder mit dem Faszinosum der Beziehung zwischen Klang und Raum konfrontiert. Das hat mich grundsätzlich über dieses Verhältnis nachdenken lassen. Ein Ton lässt sich zwar allein mit den Parametern Frequenz, Dauer, Lautstärke (Amplitude) und Klangfarbe definieren – aber sobald wir als Individuen diesen Ton wahrnehmen, gibt es auch eine Räumlichkeit. Rein physikalisch ist die Räumlichkeit kein Parameter des Tons, aber sobald wir von Kunst reden, geht es um Wahrnehmung, und da gehört dieser fünfte Parameter dazu. Wenn man einmal mit dem Gedanken infiziert ist, kann man nicht mehr anders. Und für die kompositorische Forschung ist es ein offenes Feld; würde ich über Klangfarben forschen, wäre dort schon fast alles gemacht, auch über Dynamik gibt es nicht mehr viel Neues zu entdecken. Daher schätze ich mich glücklich, dass ich durch Zufall auf etwas gestossen bin, das auch im 21. Jahrhundert noch etwas Neues ist in der Musik. Das macht es spannend – so sehr, dass sich das nicht in einem Projekt umsetzen lässt. Die ganze Räumlichkeit von Musik ist für mich ein Lebensprojekt.

TEC21: Damit verbinden Sie wieder, was Johann Gottfried Herder einst geschieden hat: die Raum- und die Zeitkünste. Herder verstand Architektur, bildende Kunst etc. als Raumkünste, Musik dagegen als Zeitkunst. Was er dabei nicht thematisiert hat, ist, dass Musik, Zeitkunst also, hauptsächlich auf die Ohren bezogen ist, Raumkunst dagegen auf die Augen zentriert. Das verweist auf den potenziellen Konflikt zwischen Architekten und Akustikern.

Gysin: Wir werden ausgebildet mit dem Diktum, dass es in der Wissenschaft das Phänomen gibt und den Raum, in dem dieses Phänomen stattfindet. Objektiv gesehen stimmt das, aber, wenn ich Kunst mache, brauche ich den Hörer; und das subjektive Erleben trennt nicht zwischen Ereignis und Raum. Ereignis und Raum ist eine Einheit. Der akustische Raum ist ein Ereignisraum. Es braucht eine Aktivität, eine Bewegung, um einen Ton entstehen zu lassen, einen Windhauch oder ein Lebewesen, das sich rührt und die Luft in Schwingung versetzt. Man hört nicht die Violine, sondern die Violine, deren Saiten angeschlagen werden. Der visuelle Raum hingegen ist ein Daseinsraum, den gibt es immer. Ausserdem hört man in Klangräume hinein, aber sehen tut man immer nur die Oberfläche. Im Gespräch mit Architekten ist das schwierig zu erläutern.

TEC21: Und, wie stellen Sie es an, den Architekten diesen Unterschied nahezubringen?

Gysin: Das in architektonischer Hinsicht spannendste Projekt habe ich in einem stillgelegten Reservoir durchgeführt, das eine enorme Nachhallzeit hat, und zwar in totaler Dunkelheit: Das Publikum sah den Raum nie – weder vor noch nach der Aufführung. Wir geleiteten die Besucher an ihre Plätze, und für die Interpreten spannten wir ein Netz von Seilen und Fäden auf, damit sie sich orientieren konnten. Interessanterweise haben anschliessend alle von ihren visuellen Erlebnissen gesprochen und keiner hat von der Musik geredet. Ausgerechnet wenn Menschen nichts sehen, erleben sie visuell enorm viel. Nun wollten drei Architekten den Raum à tout prix vorher sehen. Sie insistierten so lange, bis wir nachgaben – nicht ohne sie zu warnen, dass sie sich das Erlebnis vermasseln würden. Denn es handelte sich um einen aus optischer Sicht grausigen Raum. Und so kam es denn auch: Die Enttäuschung stand den Architekten ins Gesicht geschrieben, und sie räumten ein: «Oh nein, waren wir dumm.» Wenn ich von Raum spreche, meine ich den gehörten Raum, der Architekt meint den gesehenen Raum. Dem Unterschied zwischen Hören und Sehen auf den Grund zu gehen – das wäre ein unglaubliches Forschungsprojekt: die hörende versus die sehende Wahrnehmung.

TEC21: An Forschungsprojekten herrscht bei Ihnen kein Mangel – allein wenn man sich Ihre aktuellsten Projekte anschaut: 2012 «Feigels Mosaik», 2013 «NUMEN», 2015 der drehbare Raum. Liest man deren Konzeptionen, gewinnt man denn auch den Eindruck einer durchkomponierten Forschungsanlage.

Gysin: Als ausgebildeter Chemiker bin ich auch noch Wissenschafter und denke sehr abstrakt, was für mich kein Widerspruch ist: Wasser besteht aus dreieckigen Molekülen, und das ist kein Widerspruch zu der wunderbaren Flüssigkeit, in der man badet. Ich mag es, Ideen zuerst einmal auf einer ganz abstrakten Ebene festzuzurren. Das hat etwas Kristallines, das sich verbinden und das wachsen kann und das eben auch Assoziationen generiert.

TEC21: Dabei stehen grundsätzlich zwei Forschungsanlagen im Vordergrund, oder?

Gysin: Ja. Auf der einen Schiene liegen Experimente, mit denen wir den vorhandenen Raum akustisch ausloten, auf der anderen Projekte, in denen wir ihn akustisch adaptieren – und zwar, indem wir entweder die Musiker/Sänger, das Publikum oder den Raum bewegen. Drei Ideen stehen dabei im Moment im Vordergrund: Die eine Idee ist, dass man Räume kompositorisch ausleuchtet. Die andere Idee ist, einen echten mit einem virtuellen Raum zu überlagern und die beiden Räume dann miteinander interagieren zu lassen, und die dritte Idee ist, Räume zu bauen.

TEC21: Mit der ersten Idee sprechen Sie auf das Projekt «NUMEN» an, nicht wahr? Mit diesem testen Sie den Raum akustisch aus, indem sie die Sängerinnen und Sänger, Musiker und Musikerinnen an verschiedenen Orten aufstellen. Ausserdem haben sie dafür verschiedene Kirchen gewählt, die wiederum je eigene akustische Qualitäten haben.

Gysin: Mit «NUMEN» möchten wir, das heisst die vier Komponisten Lukas Langlotz, Daniel Ott, Ludovic Thirvaudey und ich, verschiedene Kirchenräume kompositorisch ausleuchten. Wir haben fünf Kirchen ausgewählt: die Jesuitenkirche in Luzern, die Kathedrale in Lausanne, die Leonhardskirche in Basel, das Grossmünster in Zürich und das Münster in Bern. Musiker und Sängerinnen werden nicht gewohnheitsmässig vor dem Publikum stehen, sondern im Raum verteilt und teilweise sogar in Bewegung sein. Wir komponieren die Stücke von Anfang an so, dass sie sich je nach Kirchenraum verändern. Also, wenn jemand fünfmal ins Konzert geht, gewinnt er oder sie idealerweise den Eindruck, fünf verschiedene Kompositionen gehört zu haben. Es ist fast eine Art Forschungsprojekt, weil wir eruieren wollen, wie stark wir beim Komponieren auf den Raum eingehen können, und umgekehrt, wie sich der Raum auf die Komposition auswirkt. Hinzu kommt, dass in einem Kirchenraum mit seiner reichhaltigen szenografischen Kulisse ein solches Platzieren und Bewegen mehr ist als ein rein akustisches oder geometrisches Hinstellen. Es wird eine starke Wechselwirkung zwischen der Musik, der Akustik und dem szenografischen Raum stattfinden. Ziel ist es, das Publikum hörend auf eine Entdeckungsreise des Kirchenraums mitzunehmen.

TEC21: Das zweite Experiment, die Überlagerung verschiedener akustischer Räume haben Sie in «Feigels Mosaik» erprobt – einem äusserst intimen Musikerlebnis.

Gysin: In «Feigels Mosaik» haben wir den realen akustischen Raum mit einem virtuellen Raum überlagert, indem wir Teile der Komposition über Kopfhörer abspielten und die beiden Räume dann miteinander interagieren liessen.

TEC21: Die dritte Idee, die Sie angesprochen haben, verweist auf «Chronos», das Sie 2015 realisieren möchten. Dabei werden sich nicht die Musiker bewegen, sondern die Zuhörer – und zwar auf einer Art Karussell. Dieser drehbare Raum bildet ausserdem die Schnittstelle zum wandelbaren Raum, an dem Sie ebenfalls bereits tüfteln.

Gysin: Der wandelbare Raum, in dem wir akustisch-kompositorisch-räumliche Konzepte verwirklichen können, ist recht weit gediehen. Es bestehen bereits Modelle von Raumkonzeptionen, die ich unter dem Titel «Adyton» – zum Teil in Eigenregie, zum Teil in Zusammenarbeit mit Architekten – entwickelt habe. Die Umsetzung ist indes noch Zukunftsmusik. Konkretere Gestalt nimmt gegenwärtig der Karussell-Gedanke im Projekt «Chronos» an. Stellen Sie sich vor, das Publikum sitzt auf einem Karussell und dreht sich um eine Mitte, wo sich das Ensemble befindet. Nun gibt es folgende Szenarien: 1. Die Leute fahren um das Orchester herum. 2. Einzelne Instrumentalisten oder Sänger treten aus dieser Mitte hinaus auf das Karussell und fahren mit dem Publikum mit. 3. Leute aus dem Publikum verlassen das Karussell und bleiben nun stationär, wie die Musiker – nur ausserhalb des Karussells statt innerhalb. Und die andern Zuhörerinnen und Zuhörer fahren an ihnen vorbei. Wenn man vom Hörer aus denkt, dann hört er eigentlich drei Dinge; 1. jemanden, an dem er, der Hörer, quasi immer wieder vorbeikommt, 2. jemanden der im gleichen Teilraum ist wie er, sich aber in diesem Teilraum verschieben kann, und 3. jemanden, der immer gleich weit von ihm entfernt ist. Interessant daran ist, dass die Leute ganz verschiedene Hörperspektiven auf das Musikstück haben. Ich glaube, daraus resultiert eine andere Art von Musik. Die Zuschauer gehen im Idealfall in ganz verschiedene Welten hinein. Faszinierend wäre auch, das zum Beispiel mit einer Frauenstimme zu kombinieren, die ganz nah am Publikum vorbeikommen, jeweils für einen Moment kaum 20 cm hinter dem Ohr des einzelnen Zuhörers auftauchen und wieder weggehen würde. Wenn das noch dazu eine besonders schöne Stimme ist, wird sich ein intensiver Musikgenuss einstellen. Und dann ist vielleicht ganz in der Mitte ein einzelnes Instrument, eine Geige etwa, als konstantes Element, und ausserhalb der Drehscheibe befindet sich vielleicht noch ein Bläserklang, der wie von weit weg ins Ganze eindringt, usw. Da gibt es wahnsinnig viele Möglichkeiten, wie man das kompositorisch umsetzen könnte.

TEC21: Als Zuschauer hört man die Musik also aus verschiedenen Perspektiven – von nah und von fern, sich nähernd und entfernend. Gibt es auch eine Bewegung in der Vertikalen, wie es das Karussell ja eigentlich beinhaltet?

Gysin: Daran denkt man natürlich auch … Und auch daran, dass jeder Stuhl um sich selbst drehbar sein sollte. Doch versuche ich die verschiedenen Ideen für sich zu behandeln. Jede einzelne davon hat ausreichend Spannung, sodass es gar nicht nötig ist, alles innerhalb einer Aufführungssituation umzusetzen.

TEC21: Wie muss man sich diese vorstellen?

Gysin: Geplant ist, «Chronos» im Rahmen eines zweitägigen Festivals aufzuführen – mit vier Ensembles und jeweils zwanzigminütigen Kompositionen. Es soll so sein, dass man in dieses Karussell nach Lust und Laune einsteigt und selber entscheidet, wann man wieder aussteigt, wie eben an einer Herbstmesse. Das finde ich passend. TEC21: Um die Vielfalt Ihrer Projekte auf ihre Prinzipien zu kondensieren: Sie stimmen die Musik auf den Raum ab – wie etwa bei «NUMEN» –, den Raum auf die Musik – bei Chronos (Karussell) und «Adyton» – oder kombinieren beides, wie bei «Feigels Mosaik». Einmal verändern Sie den architektonischen Raum nicht, wohl aber seine akustischen Implikationen. Das andere Mal greifen Sie auch in den architektonischen Raum ein, um die akustische Qualität zu beeinflussen. Dieses Potenzial wird mit dem Karussell nicht erschöpft sein, nicht wahr?

Gysin: Auf diesem Gebiet gibt es weitere Raumideen. Die Richtung, in die ich vorstossen möchte, lässt sich an einem berühmten Projekt illustrieren, das der in Österreich tätige Schweizer Komponist Beat Furrer 2005 an den Donaueschinger Musiktagen realisiert hat.

TEC21: Sie meinen das Projekt «Fama»1, in dem Furrer einen Raum konstruierte, den er wie ein riesiges Instrument bespielte?

Gysin: Der Raum bestand aus Drehtüren und einer Drehdecke. Eine Seite der Drehtüren war schallhart, die andere schallweich. Je nachdem, auf welcher Seite der Drehtüren man stand, befand man sich in einem halligen oder in einem akustisch «trockenen» Raum. Bedauerlicherweise schlugen die Veranstalter die Limitierung auf 60 Personen, wie sie die Akustiker errechnet hatten, in den Wind. Daher wurde die Schallabsorptionsfläche der Körper, Kleider etc. im Vergleich zur Fläche der Drehtüren so gross, dass man den Unterschied zwischen schallhartem und schallweichem Raum kaum mehr bemerkte, was die intendierte Wirkung beeinträchtigte. Trotzdem war es eine tolle Idee, und die Disziplinen Szenografie, Architektur und Bühnenbild sind so weit, solche Räume zu entwickeln, auch mit Robotertechnik, wie wir es mit dem «Adyton» vorhaben. Das wird auf unsere Hörgewohnheiten einwirken; es wird die Konzertrituale verändern, mit kleineren Gruppen, dafür mehrmaligen Aufführungen; es wird Komposition und Interpretation beeinflussen und mehr ums Intime gehen, weniger um den grossen Star auf der Bühne...

6. August 2013 TEC21

«Wir gaben der Musik eine physikalische Form»

Der Architekt Philippe Rahm interessiert sich weniger für die formalen Aspekte der Architektur als für ihre physiologischen. Er definiert die Qualität von Räumen nicht über ihre Volumetrie und Materialisierung, sondern indem er sie auflädt – elektromagnetisch, chemisch und akustisch. Mit seinen Projekten und Ausstellungen beflügelt er den Architekturdiskurs. Nun wird ein Projekt im grossen Massstab realisiert, das er zusammen mit der französischen Landschaftsarchitekin Catherine Mosbach entworfen hat: ein 68 Hektar grosser Park in Taiwan.

Ausgangspunkt von Rahms Annäherung an die Architektur waren seit je ihre unsichtbaren Aspekte. Die physiologische Komponente stand beim Projekt des «Melatonin Room» (2000) im Vordergrund (vgl. TEC21, 43/2004, S. 7–11), meteorologische bei dem 2002 für den Künstler Fabrice Hybert entworfenen Haus «Jardin d’Hybert», akustische bei dem 2009 projektierten temporären Konzertsaal «Portico Acoustique». In dem nun in Realisierung stehenden Projekt für den Taichung-Gateway-Park in Taiwan verbinden sich die drei Aspekte. Er wurde nach physiologischen, klimatischen und akustischen Kriterien konzipiert.

TEC21: In Ihren Vorträgen verweisen Sie auf den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dessen Diktum, dass die Architektur an die Materialität gebunden ist, heben Sie aus den Angeln, indem Sie Räume entmaterialisieren und Klänge verkörperlichen.

Philippe Rahm: In seiner Kunsttheorie entwarf Hegel eine Hierarchie der Künste: Er betrachtete die Musik als die reinste und schönste aller Kunstformen – im Gegensatz zur Architektur, die er für die niedrigste der Künste hielt. Das Kriterium dieser hierarchischen Klassifizierung leitete er von der Beziehung der jeweiligen Kunst zu ihrer Materialität ab – angesiedelt zwischen Abhängigkeit und Freiheit. Für Hegel galt, dass je mehr eine Kunstform ihre Materialität hinter sich lässt, desto weniger ist sie durch die Phänomene der natürlichen Welt eingeschränkt, beziehungsweise desto mehr erhebt sie sich über und umso näher kommt sie dem reinen, gewichtslosen, transparenten Geist, und umso transzendenter und schöner ist sie. Architektur ist ihrer Materialität verhaftet – ihrer Dichte, Schwere, Undurchdringlichkeit. Das gilt für die Bildhauerei zwar auch, aber bei ihr ist die schöne Form entscheidend. Noch stärker – und zwar auf die Farbe – reduziert ist der materielle Aspekt bei der Malerei. Poesie und Musik sind dieser Materialität gänzlich entledigt. Musik ist nichts anderes als Wellen und Dichtung nichts anderes als Worte. Heute wissen wir, dass Klang und Stimme weder abstrakt noch entmaterialisiert sind, auch wenn sie ätherisch und unsichtbar sind. Sie sind nicht transzendenter als ein Stein oder die Erde, und sie besitzen eine physikalische, chemische und biologische Dimension. Die physikalische Dimension des Klangs ist eine handfeste Luftbewegung entlang einer spezifischen Wellenlänge. Er ist ein Druckpunkt in der Luft in einem definierten Raum. Er ist eine körperliche Temperatur von rund 37° C, die die Lungen in die Luft abgeben als Resultat der Atmung. Die chemische Dimension der Stimme besteht aus einem gasförmigen Inhalt, messbar über den Anteil an Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoffdioxid und einigen anderen, in Spuren vorhandenen Gasen sowie Wasser in Form von Dampf, mit dem die Atmosphäre mit jedem einzelnen Atemzug angereichert wird. Musik und Dichtung haben ausserdem eine biologische Dimension, bestehend aus Pollen, Mikroorganismen, Samen, die in der Luft schweben, Bakterien und Viren.

TEC21: Etwas grösser sind die Organismen – Käfer und Nachtfalter – in dem Traum, den der Komponist György Sándor Ligeti (1923–2006) als Inspirationsquelle für seine Werke nannte.1 Weltweit bekannt wurde er, als Kompositionen von ihm als Filmmusik in «2001 – A Space Odyssee» von Stanley Kubrick verwendet worden waren – unter anderem als Ouvertüre eine knapp dreiminütige Sequenz aus «Atmosphères» von 1961.2 In ihm haben Sie den kongenialen Komponisten zu Ihrer Vorstellung von Raum und Musik gefunden, nicht wahr?

Rahm: Ja, die Komposition «Atmosphères» für Orchester war für uns von besonderem Interesse. Ligeti hat die Musik als ein In-Schwingung-Versetzen und Deformieren der Luft und als eine Art Vibration des Raums verstanden, was physikalisch ja zutrifft. In gewisser Weise hat das eine Beziehung zur Architektur, weil man mit dem Bauen auch die Luft skulpturiert: Man macht hier ein bisschen wärmer, dort ein bisschen kälter. Man skulpturiert das Klima.

TEC21: Ligeti legt diese Analogie umso näher, als er sein Stück als Klangwolken beschrieb …

Rahm: … die sich in der Partitur als Cluster, als Trauben von Noten, abbildeten. Eine solche Gestalt wollten auch wir der Musik geben, wobei wir mit der Physik an sich arbeiten und die Deformation der Luft erfassen wollten. Konkretisiert hat sich dies im Projekt «Pulmonary Space», das wir im Sommer 2009 auf Einladung des Barbican Museum in London in der von Francesco Manacorda kuratierten Ausstellung «Radical Nature» realisierten: Wir gingen davon aus, dass Musik nichts Abstraktes, Entmaterialisiertes ist, sondern dass sie sich in physikalischer Realität – Schwingungen, Wellen, Luftbewegungen – manifestiert. Musik ist also eine Physik der Luft – und es spielen bei ihr auch physiologische Qualitäten mit, wenn man an die Organismen denkt, welche die Atmosphäre bevölkern. Wir liessen also Ligetis 1968 komponiertes Kammermusikstück «Zehn Stücke für Bläserquintett» aufführen. Dazu steckten wir alle Instrumente in luftdichte Verpackungen und liessen diese in einen grossen Kunststoffsack münden. Während des Spiels bliesen die Musiker mit ihrem Atem durch die Instrumente den Sack auf, der im Laufe des Stücks eine gewisse Form und Grösse annahm. Wir konservierten die Musik also in diesem aufgeblasenen Sack gewissermassen. Durch dieses Konservieren fällt die Musik auf das materielle Niveau, sie wird re-materialisiert – durch das Volumen der gespeicherten Luft, durch die darin enthaltenen Viren und Bakterien, ihre Feuchtigkeit etc. Wir gaben der Musik eine physikalische Form, entrissen sie der Vergänglichkeit …

TEC21: … verliehen ihr eine räumliche Qualität – so wie sie umgekehrt der Architektur durch Eingriffe in die Physiologie eine zeitliche Dimension gaben: die Musik als Raumkunst, die Architektur als Zeitkunst. In beiden Fällen gingen Sie von der Naturwissenschaft aus, um die Architektur zu entkörperlichen beziehungsweise die Musik zu verleiblichen.

Rahm: Löchert man aber am Schluss den Sack, entweicht die konservierte Musik wieder.

TEC21: Ob der Sack seine Form verändert hätte, wenn ein anderes Stück intoniert worden wäre? Spielt es eine Rolle, ob tonlos in einen Sack gepustet oder Klänge durch die Schläuche gepresst werden? Das heisst: Verkörpert der Sack zumindest mittelbar ein Klangbild?

Rahm: Vielleicht, das haben wir noch nicht überlegt.

TEC21: Im selben Jahr haben Sie sich mit der Verkörperung akustischer Voraussetzungen befasst, im Projekt «Portico Acoustique», einem temporären Konzertsaal im südfranzösischen Brive-la-Gaillarde, der während der Renovation des Théâtre municipal als Ersatzspielstätte hätte dienen sollen. Aus finanziellen Gründen wurde er nicht realisiert.

Rahm: Hier war die Idee, die Qualität des Innenraums nach aussen zu projizieren, das heisst, um den Inhalt lesbar zu machen, haben wir ihn nach aussen gestülpt – und zwar nicht auf der visuellen, sondern auf der auditiven Ebene. Das heisst, die Akustik sollte vor dem Eingang des Gebäudes ebenso gut sein wie im Innern. Formal übertrugen wir das Prinzip, das die Akustiker für den Innenraum empfahlen – parallele Wände zu vermeiden –, auf die Gestaltung der Gebäudehülle. Vor dem Eingang des Theaters verlaufen zwei Strassen, deren Lärm an den Fassaden reflektiert wird und zu unangenehmen, sich aufschaukelnden Echos führt. Wir haben die Positionen und Formen aller Gebäude in der Umgebung des Theaters analysiert und die Richtungen der stärksten Reflexionen des Strassenlärms in Richtung des Theaters bestimmt. Wir haben also die Akustik des Aussenraums gleich behandelt wie die Akustik des Innenraums und schliesslich auf drei Ebenen interveniert: Reflexion, Isolation und Absorption. Um die Reflexionen des Strassenlärms zu reduzieren, haben wir die Fassaden so deformiert, dass die tiefen Frequenzen reflektiert und gestreut werden. Damit der Strassenlärm nicht ins Innere und die Musik im Saal nicht nach draussen dringt, haben wir gegen die hohen und mittleren Frequenzen eine Isolation aus Steinwolle vorgesehen. Mit diesen Massnahmen versuchen wir, einen Dämpfungsgrad von 60 db zu erreichen. Aussen planten wir dieselbe schallschluckende Leinwand aus poröser Mineralwolle wie im Innern. Um eine möglichst grosse Absorptionsfläche zu erzielen sowie die Distanz zwischen Leinwand und Isolation zu variieren, sollte sie eine komplexe Oberflächenstruktur bekommen – eine, die der Wellenlänge des Schalls entspricht, der absorbiert werden soll. Diese hätte sich auch an der Fassade abgebildet und gleichermassen funktional dämpfend gewirkt wie formal die Identität des Baus signalisiert.

TEC21: In Ihrem jüngsten Projekt, dem Taichung-Gateway-Park in Taiwan1, übertragen Sie die physiologischen Konzepte Ihrer Installationen wie des «Hormonoriums» auf den grossen Massstab.

Rahm: Das könnte man so sagen. Beim Taichung-Gateway-Park, den wir zusammen mit Catherine Mosbach und Ricky Liu planen, sind wir von der Funktion des Parks ausgegangen, wie sie der französische Stadtplaner Georges-Eugène Baron Haussmann verstand, der im 19. Jahrhundert die grossen Alleen und Parks in Paris anlegte: unter utilitaristischem Blickwinkel. Ein Baum war eine Maschine, um Schatten zu erzeugen – und nicht ein Symbol der Natur, wie es romantische Vorstellungen transportierten. Auch der Central Park in New York hat primär eine utilitaristische Funktion: die Reinigung und Erneuerung der Luft. Das ist eine rein physiologische, hygienistische Betrachtungsweise der «Natur», die man seit den 1960er-Jahren aus den Augen verloren hat. Man fasste die städtischen Parks nicht mehr – fast wie ein Antibiotikum – als Medizin auf, um die Städte und ihre Bewohner zu «heilen». Wir verstehen einen Park in den Breitengraden von Taiwan primär als Klimaanlage und betrachten alle Elemente eines Parks des 19. Jahrhunderts – Kiosk, Springbrunnen, Eremitage, Grotte etc. – unter dem Gesichtspunkt der Klimatisierung und haben sie als «climatic devices» adaptiert. Die Hauptparameter des taiwanesischen Klimas sind hohe Temperaturen, hohe Luftfeuchtigkeit, hohe Luftverschmutzung und hoher Lärmpegel. Wir haben drei Karten des Parks mit den relevanten vier Parametern erstellt: je eine gegen die Hitze, gegen die hohe Luftfeuchtigkeit und gegen die Luft- und Lärmverschmutzung. Als «climatic devices» fungieren zunächst die Bäume: Sie leisten den Hauptanteil von drei Vierteln der Klimaregulierung. Sie spenden Schatten, kühlen die Luft durch Verdunstung, absorbieren Wasserdampf aus der Luft, filtern Schadstoffe aus der Luft und dämpfen den Lärm aus der Umgebung. Die technischen Installationen – grosse Ventilatoren, Lufttrockner und Springbrunnen – tragen zu einem Viertel zur Klimaregulierung des Parks bei, wobei die Energie für den Betrieb der Apparate im Park selbst u. a. mit Photovoltaik gewonnen wird. Dann haben wir uns die natürliche Temperaturverteilung zunutze gemacht. Es gibt kühlere Luftströmungen von ausserhalb des Parks, die wir zuführen und für die gezielte Kühlung ausgewählter Bereiche mit «climatic devices», z. B. Windtürmen, unterstützen. Die Luftfeuchtigkeit im Bereich der Seen sollen Entfeuchtungsaggregate oder wasserabsorbierende Materialien reduzieren. Zur Eindämmung der Luftverschmutzung agieren etwa photokatalytische Systeme, aber auch Pflanzen, die bestimmte Schadstoffe absorbieren.

Gegen die Verschmutzung durch Lärm planen wir neben konventionellen Mitteln, wie Akustikwänden und -platten, den Einsatz von Schallgeneratoren, die die störenden Frequenzen durch Interferenz mit Gegenfrequenzen auslöschen.

8. März 2013 TEC21

Chaotisches Ökosystem – geordneter Rahmen

Die Einsicht ist verbreitet, dass ein Grossteil des Gebäudeparks in der Schweiz der Sanierung bedarf. Doch der «Park» im wörtlichen Sinn gerät aus dem Blick: Die Gestaltung von Grünräumen in Siedlungen lässt oft den Einfallsreichtum der architektonischen, ingenieur- und energietechnischen Leistungen vermissen. Ebenso ist der fortschreitende Verlust an Landschaft und die Notwendigkeit zur Verdichtung in aller Munde – zuweilen angereichert mit «Partizipation». Selten aber werden alle diese Aspekte zusammen fokussiert. Eine Synthese versucht hat der Landschaftsarchitekt Hansjörg Gadient in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften: In drei Siedlungen der Genossenschaft Eigengrund ist eine partizipativ entwickelte, verdichtete, ökologisch, sozial, wirtschaftlich und gestalterisch nachhaltige Landschaft entstanden. Im Gespräch erläutert der Landschaftsarchitekt das Vorgehen.

TEC21: Der Aussenraum der drei Siedlungen in Dietikon – an der Glanzenbergstrasse 26–28, der Glanzenbergstrasse 12 und der Schöneggstrasse 159–161 – war mit ausgedehnten monotonen Rasenflächen und der fantasietötenden Standardspielplatzausrüstung aus den 1960er-Jahren wenig attraktiv und ausserdem in einem pitoyablen Zustand. Sie sind ihm radikal zu Leibe gerückt. Man erkennt ihn kaum wieder. Wie haben Sie das gemacht?

Hansjörg Gadient: Zunächst, indem wir einen ganzheitlichen Blickwinkel gewählt haben – einen, der versucht, die verschiedenen Ansprüche an einem Ort zu erfüllen. Man muss heute davon abkommen, ausserhalb des Siedlungsraums ökologisch maximal wertvolle Flächen zu schaffen und innerhalb eher das Design zu pflegen. Stattdessen versuchten wir, beides zusammenzubringen. Denn wir können es uns je länger, je weniger leisten, Flächen nur für einen Aspekt – hier das Ökologische, da die Zierde, dort die Spielfläche – auszuscheiden. Mit zunehmender Verdichtung werden die Ansprüche an den Aussenraum immer höher und immer komplexer.

TEC21: Das ist das Gegenteil dessen, was der Städtebau der Moderne propagierte.

Gadient: Genau. Der modernistische Städtebau zog Grenzen zwischen verschiedenen Funktionen und definierte, wo gearbeitet wird, wo man sich erholt, wo man sich der Kultur widmet etc. In vielen Städtebau-, aber auch in Aussenraumkonzepten wird diese Trennung immer noch vorgenommen. Mit der Verdichtung muss man Wege finden, wie man an einem Ort mehreren und sogar widersprüchlichen Anforderungen Genüge tun kann. Es ist bezeichnend, dass Experten aus völlig entgegengesetzten Hemisphären für diese Mischung der Funktionen einstehen. Am Kongress der International Federation of Landscape Architects von 2011 in Zürich plädierte Joan Nassauer, Professorin für Landschaftsarchitektur an der University of Michigan, genauso dafür wie der Chinese Xiaoming Liu, der in Beijing Landschaftsarchitektur lehrt.

TEC21: Was heisst das auf den Grünraum einer Siedlung übertragen?

Gadient: Einerseits reicht es nicht, die Flächen als Abstandsgrün zwischen den Häusern zu behandeln und mit akkurat geschnittenem Rasen zu füllen. Man muss sie mit einer Aufenthaltsqualität aufladen, die mit derjenigen eines Naherholungsraums konkurrieren kann. Die Menschen wollen müssig entspannen, spielerisch verweilen und sich sportlich betätigen können: Spass, Spiel und Sport. Andererseits bedarf es einer gewissen Nutzungsneutralität. Das heisst, die Elemente, mit denen der Grünraum bestückt wird, müssen flexibel sein, damit sie auch alternative Nutzungen zulassen.

TEC21: Das klingt aber immer noch sehr funktionalistisch …

Gadient: Das mag daran liegen, dass die drei Kriterien ökologisch, ökonomisch und sozial nach wie vor im Vordergrund stehen. Ich würde sie denn auch ergänzen durch «ästhetisch» bzw. «gestalterisch». Das bedeutet, dass die Gestaltung zum einen die drei klassischen Aspekte der Nachhaltigkeit vereinen muss, zum andern aber auch, dass sie nicht zu modisch sein darf. Zukunftsfähige Gestaltungen müssen also nicht nur ökologisch, materiell haltbar und sozial verträglich sein, sondern auch optisch nachhaltig. Denn wenn man das in den Wind schlägt, ist die Dauerhaftigkeit von Landschaftsgestaltungen gering: Sie werden bald wieder abgebrochen – sei es, weil ihre Pflege zu teuer ist, sei es, weil die Menschen sie nicht annehmen und diese Ablehnung durch Littering sichtbar wird, oder sei es, dass man das veraltete Zeug nicht mehr sehen mag.

TEC21: Ist nicht die Furcht vor hohen Pflegekosten der Grund für die Zuflucht zum Rasen?

Gadient: Ein einfacher Vergleich zeigt, dass diese unbegründet ist: Einen konventionellen Rasen muss man 16 bis 20 Mal pro Jahr mähen, eine ökologisch wertvolle Langgraswiese bloss zwei Mal. Ökologisch sinnvolle Anlagen sind auch günstig im Unterhalt. Und meist wird die Biodiversität gesenkt, wenn man zu stark eingreift.

TEC21: Ökologie und Ökonomie lassen sich einigermassen objektivieren, d. h., sie sind in einem gewissen Rahmen messbar. Die soziale und gestalterische Nachhaltigkeit lässt sich hingegen nicht a priori berechnen. Und Ihre Vorstellungen davon hätten sich mit denen der Bewohner als unverträglich erweisen können, nicht wahr?

Gadient: Aus diesem Grund wurde ein partizipatives Verfahren gewählt, die Bewohnerinnen und Bewohner in die Planung einbezogen, ihre Wünsche und Bedürfnisse in einer Befragung ermittelt.

TEC21: Wie war die Resonanz darauf?

Gadient: Knapp zwei Drittel der Personen, die wir angefragt haben – Alleinstehende, Familien, Kinder – beteiligten sich, die anderen verzichteten aus Mangel an Zeit oder Interesse.

TEC21: Welche Erkenntnisse haben Sie aus der Befragung gewonnen? Waren Sie vorhersehbar, oder gab es Überraschungen?

Gadient: Bestätigt hat sich unsere These, wonach die Anforderungen an Grünräume gestiegen sind. Offenbart hat sich ausserdem ein enormer Informationsbedarf.

TEC21: Die grössere Palette an Wünschen geht also einher mit der Verdichtung, hat aber wohl auch mit dem weiten demografischen Spektrum in den Siedlungen zu tun?

Gadient: Ja, wobei die Bedürfnisse sich jeweils auch innerhalb einer Altersgruppe diversifiziert haben. Um ein Beispiel zu geben: Spielplätze. Der überwiegende Teil der Angebote auf Spielplätzen reduziert sich auf eine eingeschränkte Nutzung: Klettern, Rutschen, Schaukeln. Wenn man schaut, wie Kinder wirklich spielen, deckt das nur einen Bruchteil ihrer Bedürfnisse ab. Trotzdem werden immer wieder dieselben konventionellen Geräte aufgestellt, weil sie etabliert sind, weil die grossen Anbieter sie auf den Markt werfen, solange sie sie absetzen können, und aus Sicherheitsüberlegungen. Ich vermute jedoch, dass dahinter noch etwas anderes steckt, und zwar, dass das, was Kinder am meisten interessiert – etwas zu verändern –, nicht sein darf. In unserer Umwelt gelten Veränderungen, die Kinder vornehmen, schnell als Vandalismus. Schneiden sie an einem Zierstrauch einen Ast ab, weil sie einen Pfeilbogen machen wollen, schreitet der Abwart ein.

TEC21: In Ihrem Aussenraum darf man Äste für Pfeilbogen abschneiden? Gadient: Ja, es gibt Zonen, in denen Wildsträucher wachsen, die so ungezähmt gehalten werden, dass es auch nicht auffällt, wenn ein Zweig fehlt. TEC21: Wenn Sie von «Zonen» sprechen, ist das so zu verstehen, dass Sie den Grünraum der drei Siedlungen jeweils in Zonen mit unterschiedlichen Nutzungen gegliedert haben?

Gadient: Der Grundgedanke war, einen Katalog von Modulen zu entwickeln, der für alle Siedlungen der Genossenschaft funktionieren könnte. Ursprünglich beinhaltete er ein Dutzend Module, für die Ausführung haben wir sie auf sieben reduziert: Spielhain, Vogelinsel, Robinson’sche Blumenwiese/Blumenrasen, Langgraswiese, Pergola, Nutzgarten und Kräuterschach. Diese passten wir jeweils den spezifischen räumlichen Verhältnisse einer jeden Siedlung an. Die Idee war, der Genossenschaft ein Instrumentarium an die Hand zu geben, auf das sie dann auch für allfällige weitere Siedlungssanierungen zurückgreifen kann.

TEC21: Welcher Art sind diese Zonen, wie sind sie beschaffen?

Gadient: Um an die vorhin angesprochene Frage der Konzeption eines Spielplatzes anzuschliessen: Diesen haben wir als mit Bäumen bepflanzten «Spielhain» gestaltet, sodass sich die Kinder wie in einem Wäldchen fühlen, eine Welt für sich haben, die Eltern sich aber auch gern da aufhalten, weil sie Sichtschutz und Beschattung geniessen. Was die Spielgeräte selber betrifft, wurde zum einen entschieden, eher solche anzuschaffen, die von mehreren Kindern gleichzeitig benutzt werden können, also Korbschaukeln statt der üblichen Sitzschaukeln zum Beispiel. Es können nicht nur mehrere Kinder hineinklettern – was die Sozialisation befördert –, der Korb kann auch zusätzliche Funktionen ausfüllen, beispielsweise als Hängematte dienen. Zum anderen wurden Geräte gewählt, die auch ältere Kinder oder gar Erwachsene ansprechen. An der Glanzenbergstrasse 26–28 gibt es daher jetzt eine Drehscheibe. Die Spuren, die sich inzwischen im Gras abzeichnen, zeigen, dass es eines der beliebtesten Geräte ist (Abb. 01).

TEC21: Gibt es weitere Elemente, bei denen der soziale Aspekt im Vordergrund steht?

Gadient: Unser Ziel war, überall möglichst alle Aspekte zu berücksichtigen. So haben uns soziale Überlegungen beispielsweise auch beim Modul «Berankte Laube» geleitet. Sitzplätze in herkömmlichen Grünanlagen in Siedlungen werden erfahrungsgemäss kaum genutzt, weil sie meist weder über Witterungs- noch Sichtschutz verfügen. Wir haben Segel aus Planenmaterial machen lassen, die man ganz einfach mit Ringen einhängen kann, wenn man von den Balkonen aus nicht beobachtet und beim Gewitter nicht nass werden will. An der Glanzenbergstrasse 26–28 dagegen haben wir keine neue Pergola gebaut, sondern den bestehenden, von den Bewohnern einst selbst errichteten Unterstand aus Respekt vor der Eigenleistung bewahrt: Er war der Kern der Nutzung des Aussenraums, mithin der Aneignung in dieser Siedlung.

TEC21: Wie weit haben Sie überhaupt mit dem Bestand etwas anfangen können?

Gadient: In der Siedlung Glanzenbergstrasse 26–28 war durch die Baumassnahmen das Grundstück fast leer, und die Bäume waren überaltert oder stark geschädigt. Wir haben aber trotzdem einen bestehenden, arg in Mitleidenschaft gezogenen Nussbaum mit einer Blumenwiese umgeben, damit er sich erholen kann.

TEC21: Was ist mit «Blumenwiese» gemeint?

Gadient: Blumenwiese ist kein fachlich spezifischer Begriff, wir haben ihn für die Gespräche mit den Bewohnern geprägt. Sie ist ebenfalls ein Modul – normalerweise einfach ohne Baum drin. Es handelt sich um eine Robinson’sche Blumenwiese, mit der die Diversität erhöht wird. Das Pflanzenspektrum da drin ist viel grösser als in einer Fettwiese oder einem Sportrasen und das Nahrungsangebot für verschiedene Insekten deshalb üppiger. Um die Erwartung der Bewohner an den Zieraspekt einer Aussenanlage nicht zu enttäuschen, haben wir zusätzlich Blütenstauden eingepflanzt. Damit sind wir dann beim Namensgeber angelangt, beim irischen Gärtner William Robinson, der diese Art Wiese schon im 19. Jahrhundert entwickelt hat.

TEC21: Womit wir beim ökologischen Part wären …

Gadient: Eine Variation dazu ist der ebenfalls als Modul behandelte Blumenrasen, das heisst ein Rasen auf Magersubstrat, der weniger häufig geschnitten wird als ein Sportrasen und der eine andere Einsaat hat, mit mehr Kräutern und Blumen durchsetzt ist und eine relativ lange Blütezeit hat. Er hat viele ökologische Vorteile, aber auch einen Nachteil: Im ersten Jahr ist er eher unattraktiv, was der Akzeptanz der Bewohner hätte abträglich sein können. Um ihnen zu signalisieren, dass da etwas kommt, haben wir ihn in Glanzenberg zusätzlich mit Krokussen bepflanzt, um ihm von Anfang an einen starken Blütenaspekt zu verleihen. Das Gleiche haben wir in den Langgraswiesen mit eingepflanzten Wildtulpen, Narzissen und Zierlauch gemacht.

TEC21: Gibt es auch Bereiche, die der Natur vorbehalten sind, ohne Konzessionen an die Bewohner?

Gadient: Nein, ohne Konzessionen an die Bewohner geht gar nichts. Aber man kann dennoch bei der Ökologie weit gehen. Die Vogelinsel ist ein solches Element. Sie besteht im Wesentlichen aus Vogelnährgehölzen – wilde Kirschen und Holunder, kombiniert mit stacheligen Pflanzen wie Schlehe und Sanddorn. Zunächst bieten sie zahlreichen Vögeln eine Nahrungsgrundlage. Sobald sie sich zu undurchdringlichen Dickichten entwickelt haben, bilden sie ausserdem einen Schutzraum für Meisen, Sperlinge, Amseln, Finken und vielleicht auch für empfindsamere Arten wie Hausrotschwänze oder Stieglitze.

Die Vogelinsel ist das Modul, das vielleicht am stärksten der Biodiversität zuträglich ist, weil sie nicht betreten und nicht «aufgeräumt» wird, das heisst, Totholz, Blätter- und Asthaufen bleiben liegen. Dies wiederum trägt dazu bei, die Unterhaltskosten zu senken, weil innerhalb der Inseln praktisch keine Pflege anfällt. Sitzgelegenheiten an ihren Rändern steigern ausserdem als Nischen, in die sich die Bewohner zurückziehen können, die Aufenthaltsqualität. Und nicht zuletzt sind sie mit der attraktiven Blüte der Kirsche auch optisch ein Erlebnis. So kommen am Ende alle vier Aspekte zusammen: ökologisch wertvoll und wirtschaftlich günstig, sozial nützlich wie auch gestalterisch attraktiv.

TEC21: Auf Ihren Plänen fällt auf, dass alle diese Module mit Steinplatten gerahmt sind: nicht streng geometrisch, aber doch abgezirkelt, wo man doch – mit dem Gedanken an die Biodiversität im Hinterkopf – eher Wildwuchs erwarten würde. Ist das der Tribut an den Gestaltungswillen des Landschaftsarchitekten, den die Genossenschaft leisten musste?

Gadient: Wenn Sie einen Blick auf Abb. 06 werfen, erhalten Sie einen Teil der Antwort. Nicht aus Unwissenheit haben wir übermässig viele Nistkästen installiert und nicht zufällig ihre Farbe derjenigen der Genossenschaft angepasst, sondern vielmehr, um den Bewohnern die Funktion des «Gestrüpps» zu signalisieren, das sich im Innern der Insel zunehmend bilden wird. Neben ihrer eigentlichen haben die Nistkästen eine kommunikative Funktion, die heisst: «Wir vernachlässigen die Pflege dieses Bereichs nicht aus Faulheit, sondern weil wir etwas für die Vögel tun.» Um Akzeptanz und Schonung eines «ungepflegten» Bereichs zu erreichen, ist das eminent wichtig. Aus dem gleichen Grund sind sie klar abgegrenzt, d. h. «sauber» in Grenzen gehalten. Analoges gilt für die anderen Module: Ihre Funktionen müssen kenntlich sein, damit sie akzeptiert werden. Die Landschaftsarchitektin Joan Nassauer kondensiert das in der Formel «Messy ecosystems – orderly frames» einerseits und «Cures to care» andererseits. Und an diesem Punkt kommt auch der Gestaltungswille zum Zug. Wir konnten die Elemente objekthaft in die Freifläche setzen, diese gliedern und gleichsam das Vakuum der ehemals grossflächigen, ungestalten Aussenräume füllen.

TEC21: Bei den Vogelinseln besteht der Beitrag der Bewohner gewissermassen darin, sich herauszuhalten. Gibt es Teilnahme auch im Sinn des Hand-Anlegens?

Gadient: Diesem Bedürfnis tragen der Nutzgarten und das Kräuterschach Rechnung, wobei wir sie auf zwei verschiedene Arten miteinander «gekreuzt» haben. In Nr. 12 haben wir das Kräuterschach innerhalb des eingezäunten Nutzgartens realisiert. Eingezäunt deshalb, weil sich die Leute bei offenen Gärten schamlos bedienen – und um wiederum einen Treffpunkt zu schaffen. Das funktioniert gut. Die Bewohner, die Beete gemietet haben – sie müssen etwas kosten, um die Sorge wert zu sein –, pflegen auch die Kräuterschachs akkurat. In Nr. 26 und 28 haben wir es dagegen in den Grillplatz integriert, wo es ja Sinn machen würde. Dreimal haben wir es angepflanzt, bis wir kapitulierten: Die Leute haben die Kräuter ausgegraben und auf ihren Balkon genommen! Kinder spielten damit, als ob es ein Sandkasten wäre.

TEC21: Ist das der einzige Wermutstropfen?

Gadient: Die Bocciabahn ist nicht gerade eine Erfolgsgeschichte: Sie wird kaum genutzt, obwohl die Bewohner sie sich bei den Befragungen explizit gewünscht haben. Vielleicht ergibt sich daraus aber auch eine Chance: Wenn man nun einfach nicht mehr jäten würde, bekäme man eine ökologisch hochinteressante Sukzessionsfläche. Der Boden ist so verdichtet und so mager, dass nur hochspezialisierte Pflänzchen eine Chance hätten.

TEC21: Die Bilder vermitteln den Eindruck, dass die Anlagen akzeptiert werden. Ist das auch so, wenn der Landschaftsarchitekt mit der Kamera in der Hand wieder weg ist?

Gadient: Eine Anekdote beantwortet diese Frage vielleicht am anschaulichsten: Wir haben die Beete bei den Eingängen zum Hochhaus Nr. 26 jeweils hochwertig bepflanzt: Im Frühling blühen Zwiebelpflanzen, später Sternmangolie, Zwergflieder sowie Rosen und im Herbst Anemonen und Silberkerzen. Das ist vergleichsweise pflegeaufwendig, aber es wird als Visitenkarte wahrgenommen – ausserdem sind es nur kleine Flächen. Dort nun wohnt eine ältere Frau, die diese Rabatten schon früher gepflegt und sich ihrer wieder angenommen hat. Als ich dann aber sah, dass sie unseren in der Fassadenfarbe knallrot gewählten Wildtulpen weinrot-weiss geflammte holländische Hybride beigesellte, bin ich im ersten Moment erschrocken; im zweiten habe ich gedacht: Nun, das ist jetzt Aneignung, so soll das doch eigentlich sein.


Literatur:
zu Joan Nassauer: www.snre.umich.edu/profile/nassauer

12. Oktober 2012 TEC21

Un-common Venice

«Quante Venezia conosce?» (Wie viele Venedig kennen Sie?) Die Frage wird einem am Kiosk gestellt, den Case Studio VOGT an der 13. Architekturbiennale in Venedig bespielt. Darauf gibt es nur eine Antwort: «Una e migliaia» (Eines und tausende). Der Titel des Beitrags des Landschaftsarchitekten Günther Vogt, «Un-common Venice», ist mehr als ein Wortspiel mit dem von David Chipperfield lancierten Motto der diesjährigen Ausgabe, «Common Ground». Er fängt mit den Studierenden des Lehrstuhls Landschaftsarchitektur der ETH Zürich und dem Case Studio VOGT das «Gemeine» ein und fördert das Ungewöhnliche zutage.

«Inside-Outside» heisst das Büro von Petra Blaisse, die die Ausstellung im niederländischen Pavillon gestaltet hat. Kongenial würde dieser Name indes auf den Beitrag passen, den der Landschaftsarchitekt Günther Vogt am Stuhl für Landschaftsarchitektur der ETH Zürich und dem Case Studio VOGT zusammen mit Studierenden der IUAV Venedig erarbeitet hat. Die Installation besteht aus zwei Teilen: einem introvertierten, der den Auftakt der Schau im ­Arsenale bildet, und einem extrovertierten, der eine neuralgische Stelle zwischen den beiden Austragungsorten der Biennale besetzt: die «Landzunge» an der Riva dei Sette Martiri – an welcher der Strom der Biennalebesucher sich mit demjenigen der Touristen vermengt, die aus den Kreuzfahrtschiffen geschwemmt werden, und sich in die Via Garibaldi ergiesst, das feste Terrain der Einheimischen.

«Leuchtturm» ist an beiden Orten ein Kiosk – draussen das zierliche, überkuppelte Oktogon mit dem verblassenden türkisfarbenen Anstrich, der an Patina erinnert (Abb. 1), drinnen, in den Corderie des Arsenale, dessen kupferblechverkleidete Nachbildung (Abb. 2). Original und Mock-up, Patina und Pasticcio, aussen und innen: der Lesarten sind viele, vor allem aber ist es die Verknüpfung beider, ihre Komplementarität. Und so funktionieren sie auch: Die Zeitung, Postkarten und ein Glas Wasser gibt es drinnen, beim Umwandeln des Mock-up. Der Ort der Kommunikation, des Austauschs ist das Original: Hier beantwortet man Fragen, «erwirbt» einen Pass, eine Postkarte, ein Eau de Toilette, ein paar Kiesel als Souvenir.

Den Kiosk als Kommunikations- und Präsentationsplattform zu wählen lag auf der Hand. Kaum ein anderes Objekt ist derart stark im öffentlichen Raum der Stadt verankert wie der Kiosk. Und Vogt nimmt Venedig selbst zum Ausgangspunkt: Das Verständnis des öffentlichen Raums als Allmende («commons») und die Fokussierung auf die Nutzenden – von lokalen Bewohnerinnen und Bewohnern bis zu globalisierten Tagestouristinnen – öffnet einen ungewöhnlichen Blick auf die Lagunenstadt.

Common Ground in der Gated Community

Günther Vogt hat einen differenzierten Blick auf den öffentlichen Raum – und strenge Krite­rien an dessen Definition. Aus diesem Grund war es für ihn kein Thema, die Projekte Landesmuseum, Novartis Campus oder das olympische Dorf in London zu zeigen, an denen sein Büro beteiligt ist oder war. Das eine Gebiet – der Novartis Campus – entbehrt des öffent­lichen Charakters gänzlich und hat mehr mit einer Gated Community gemein. Das andere – der Landesmuseumspark – hat ihn nur eingeschränkt, da er zwischen 22 und 6 Uhr ­geschlossen ist. Das dritte – die Unterkünfte der Athleten in London – war nicht nur abgeriegelt, sondern ausserdem ständig von Videokameras überwacht.

Aus der nämlichen Argumentation heraus beschränkte Vogt die Intervention nicht auf das Biennalegelände. Denn wie auch immer man das Thema «Common Ground» anpackt, der ­Widerspruch bleibt: Das Ausstellungsgelände ist während der Schau gerade nicht öffentlich, sondern nur mit Eintrittskarte zugänglich, was wiederum einer Separierung ­zwischen Fachpublikum, Touristen und Einheimischen gleichkommt. «Wir reden über öffentlichen Raum, aber wir tun das innerhalb einer Gated Community.» Unmittelbar daran schliesst sich die ­Frage nach der Ökonomisierung des öffentlichen Raums an, der zunehmend mit temporären Installationen für eine unüberschaubare Zahl von Events überstellt wird.

Nolli-Plan als Referenz

Die Bandbreite der Interpretation des Begriffs «öffentlicher Raum» ist sichtlich enorm – sie reicht bis zu dem Punkt, an dem er sich ins Gegenteil verkehrt. Um seine Studierenden aber für dessen genuine Qualität zu sensibilisieren, lässt Vogt sie jeweils den Nolli-Plan (1748) aufzeichnen und lenkt das Augenmerk auf die Kirchen, die seinerzeit zum öffentlichen Raum gehörten. «Die armen Leute übernachteten dort» – heute sind sie nachts geschlossen.

Wenn die Einzigartigkeit des Nolli-Plans darin besteht, dass die öffentlichen Gebäude nicht als geschlossene Flächen eingetragen sind, sondern als Grundrisse, dass positiv und negativ eine Verbindung eingehen, Innenraum auch Aussenraum ist – dann machen Vogt und seine Studierenden das Analoge: Der Kiosk an der Riva dei Sette Martiri auf «offener Strasse» ist begehbar, das Pendant im Innenraum des Arsenale ist Attrappe.

Damit huldigt Case Studio VOGT dem Genius Loci: Die Strassen und Plätze Venedigs sind in einem vorbildlichen Mass Common Ground. Das Leben selbst spielt sich auf ihnen ab, Nutzungsoffenheit ist hier alltäglich. Das liegt sogar in der Etymologie. In Venedig heissen die Plätze – mit Ausnahme des Markusplatzes, der den Titel «piazza» trägt – «campo», was auf den Begriff für urbar gemachtes Land zurückgeht und den Platz dem Charakter der Allmende verwandt macht. Er ist Treffpunkt der Jugendlichen, Spielplatz der Kinder; Grossmütter ruhen sich hier aus, Väter unterstreichen gestikulierend die Bedeutung ihrer Worte. Hier ist es ein gutes Zeichen, wenn es noch einen Tabaccaio gibt, weil dann auch die Apotheke nicht weit ist und ein Gemüsehändler noch ein Auskommen findet: «Ha tutto: bar, tabaccaio, una farmacia, un supermercato – come un piccolo paese.»
Und die Kirchen? Zufluchtsstätten für die Armen sind sie nicht mehr, aber manche von ihnen dienen Kindern als Aufbewahrungsort ihrer Spielsachen. Und das Motiv blieb. Vogt lieb­äugelte nämlich ursprünglich damit, eine Litfasssäule einzusetzen – in Anlehnung an den Spielfilm «Der dritte Mann», wo eine solche den Zugang zur Unterwelt bildet, in die Kanalisation, Refugium und Schlafplatz der Obdachlosen.

Ressource Wasser

Bei der Ankunft in Venedig habe ihn die unglaubliche Anzahl der Kioske überwältigt, sagt Vogt, weshalb die Wahl auf einen solchen als Ausstellungsstand fiel.[1] Das geeignete, noch dazu verwaiste Exemplar fand sich an besagtem Ort: am Dreh- und Angelpunkt von Arsenale und Giardini, an der Kreuzung zwischen den Touristenströmen, den Kreisen der Einheimischen und den Trampelpfaden des Fachpublikums.

Bespielt werden durfte er aber nur mit der Auflage, nichts zu verkaufen. Das erwies sich letztlich als Glücksfall insofern, als es an eine ursprüngliche Funktion des Kiosks anknüpft: Im Osmanischen Reich war der als «Sebil» bezeichnete Pavillon der Ort, wo Wasser aus­geschenkt wurde. Die Wohlhabenden hatten die Pflicht, den Armen sauberes Trinkwasser zu spenden. Vogts «Pavillon» thematisiert denn auch Wasser als Ressource, das er als
«Element ohne Eigenschaften» bezeichnet, «farblos, geruchlos, formlos und – endlos?».

Um den Bezug zum Wasser hervorzuheben, gab es in einer frühen Phase denn auch die Idee, den Kiosk auf einem Boot zu platzieren (Abb. 3), das über den Canal Grande gefahren wäre – eine Referenz an Aldo Rossis 1979 für die Theaterbiennale entworfenen Teatro del Mondo, der auf einer schwimmenden Plattform vor der Punta della Dogana ankerte.

Interviews, Mental maps und Fotos

Methodisch war der Ausgangspunkt der Installation in Venedig ein an Vogts Lehrstuhl entwickeltes Tool. Dessen wichtigste Instrumente sind Interviews und Schnappschüsse. Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten haben die Studierenden der ETH, unterstützt von einheimischen Kommilitonen, Gespräche auf verschiedenen Plätzen der Stadt geführt. Auserkoren wurden der Campo del Ghetto Nuovo, der Campo Santa Margherita und die Piazza San Marco. Der Platz im ehemaligen jüdischen Getto ist der vielleicht abgeschiedenste Campo unter den grösseren Plätzen der Stadt. Auch an Tageszeiten, an denen er belebt ist, wirkt er ruhig, in sich gekehrt. Der Campo Santa Margherita war bis vor wenigen Jahren noch ein Geheimtipp für Touristen, die sich nicht als solche fühlen wollten. Und der Charakter der ­Piazza San Marco ist wohl am treffendsten eingefangen in der Antwort, die der älteste ­Kiosk­besitzer der Stadt, Francesco, zu Protokoll gab: Der wichtigste Ort für Venedig sei die Piazza San Marco. Der wichtigste Ort für ihn persönlich hingegen ist: «Tutto ciò che non è Piazza San Marco.»

Die Interviewten zeichneten eine Mental Map auf, aus der hervorgeht, wie sie den Raum ­erinnern, wie sie sich in ihm bewegen, wie sie sich orientieren. Mit einer Kamera haben sie diejenigen Sujets fotografiert, die für sie an den jeweiligen Orten von Bedeutung sind.

Und schliesslich wurden sie mit der Frage konfrontiert, ob man für Venedig Eintritt verlangen und das Wasser kostenpflichtig machen sollte.

Kompass für den Common Ground

Die Resultate der Interviews, welche die Studierenden zusammengetragen haben, wurden in «die Sprache des Kiosks übersetzt» – zuallererst in eine Zeitung. In ihr sind die Gespräche, Fotos und Mental Maps dokumentiert. Eingebettet wurden sie in eine Reihe von Hintergrundartikeln – zur Geschichte des Kiosks, zur Beziehung zwischen dem Untergrund der Stadt Venedig und ihrer Kunst,[2] zum Schutzwehrprojekt «Mose». Dazu kommen verschiedene Gadgets, die als ungewöhnliche Souvenirs fungieren: Da gibt es den Pass, der einen als «Bewohner des grössten Staates der Welt», des Common Ground, ausweist. Im Gegenzug für die Beantwortung einer Frage kann man sich auch eine Postkarte aussuchen, zum Beispiel die, auf der sich die Vedute, der Stadtplan Venedigs, erst offenbart, wenn man sie mit dem Bodensatz der Stadt imprägniert, sprich: auf eine Steinplatte legt und abreibt. Mit dem Führer «Venedig in 89 Tagen» kann man anhand der Mental Maps der Interviewten die Stadt erkunden. Den dafür notwendigen Kompass gibt es ebenfalls am Kiosk.[3] Das Wort für die Orientierungshilfe geht auf das italienische «compasso» zurück, was mit «Zirkelweg» übersetzt werden kann – mithin wohl das treffendste Bild für die kollektive Mental Map Venedigs.


Anmerkungen:
[01] Wie das Pendant dazu erscheint der Beitrag «Venice take away», der im britischen Pavillon Gastrecht geniesst. Dort werden die Resultate einer globalen Recherche von zehn Architekturteams präsentiert, die ausströmten, um den Common Ground der Architekturpraxis in Brasilien, China, Deutschland, Japan, den Niederlanden, Nigeria, Thailand und den USA zu erforschen und die Antworten in Venedig zusammenzutragen
[02] Pieper, Jan, Venezia – un tentativo di rendere abitabile l’acqua tramite l’arte, in: Republic of Common Ground, Sept. – Nov. 2012, S. 12 – 13; www.republic-of-common-ground.com; Nachdruck von: Pieper, Jan, Venedig. Ein Versuch, das Wasser durch Kunst bewohnbar zu machen, in: Anthos, Jg. 31 1992, Nr. 1, S. 26 – 31
[03] Das «Inventar der Republik Common Ground» kann man auch im Internet bestellen unter: www.republic-of-common-ground.com

11. Mai 2012 TEC21

Echo als akustisches Spiegelbild

In der Raumakustik geht es darum, Räume physikalisch-technisch so zu planen, dass sie dem darin erzeugten Schall eine akustische Raumantwort verschaffen, die ein Sinfonieorchester, eine Jazzband, einen Sprechvortrag oder einen Filmsoundtrack optimal hörbar macht. Die Geschichte der Bauwerke für Musik und Sprache zeigt zunächst den umgekehrten Fall: Musik wurde für vorgefundene Räume komponiert. Jürgen Strauss hat sich mit dem Thema intensiv beschäftigt und dabei zwei Pioniere ausgemacht: Athanasius Kircher und Joseph Haydn. Der Universalgelehrte und der Komponist haben mit Echo-Partituren die Akustik in ihre Stücke hineinkomponiert. Ein Gespräch über Musik für Räume und Räume für Musik und über die Opposition von harmonikalem Denken und akustischer Gestaltung.

TEC21: Das rote Tuch für die Akustiker, so haben wir bei unseren Recherchen für die Akustik-Reihe festgestellt, ist Adolf Loos’ Text ‹Das Mysterium der Akustik›, wo es unter anderem heisst, dass sich schöne Musik in die Wände einprägt und sie akustisch verbessert. Loos schrieb sinngemäss dem Material die Fähigkeit zu, Klang zu ‹speichern›.[1] Das ist physikalisch wohl Nonsens, aber poetisch, schön und irgendwie auch stimmig.

Jürgen Strauss: Das sind zwei wichtige Stichworte harmonikaler Vorstellungen: schön und stimmig. Damit haben Sie Ausdrücke gebraucht, die ins Zentrum akustischer und visueller Mysterien verweisen. Grundlegend für das harmonikale Denken in der europäischen Kulturgeschichte sind die vorsokratischen Kosmologien und Ontologien, etwa von den griechischen Philosophen Heraklit und Parmenides, für unseren Zusammenhang ist es aber vor allem Pythagoras und seine Gefolgschaft, die eine esoterische (Geheim-)Lehre von der Verfasstheit des Kosmos und des Seins vertreten und die durch Platons ‹Timaios›[2] auf uns gekommen ist (Abb. 1). Darin legt er die Grundlage für das, was wir heute mit dem Begriff des harmonikalen Denkens beschreiben, eine spezifisch ausgeprägte Metaphysik, die sich wesentlich an dem Phänomen der Wahrnehmung der Konsonanz orientiert. Ausgangspunkt ist das Hörphänomen, dass eine Saite, die im Verhältnis 1:1 geteilt wird, exakt die Oktave zur ungeteilten Seite und damit zum Grundton erklingen lässt und dass wir dieses Zusammenspiel als wohlgeformten Klang wahrnehmen – wobei Wohlklang nur ein anderes Wort für schön, stimmig oder eben harmonisch ist. Basierend auf dieser auditiven Wahrnehmung, verknüpft mit dem visuellen Eindruck der geometrischen Teilung in zwei Hälften, verbunden mit der arithmetischen Darstellung in Brüchen ganzer Zahlen, resultierte eine Vorstellungswelt, in der der gesamte Kosmos durch Proportionen wohlgeordnet erscheint. Jetzt kann man das Idealbild zusammenfassen – daher habe ich vorhin auf das Stichwort ‹schön› reagiert: Im schönen Kosmos schwimmt die schöne Erde, auf der schöne Menschen in schönen Häusern leben, die schöne Musik hören und schöne Literatur lesen. Bis in die Neuzeit, ja bis in unsere Gegenwart ist diese metaphysische Ästhetik als Theorie des Schönen virulent.

TEC21: Inwiefern wirken sich diese Vorstellungen auf das Verhältnis zwischen Raum und Klang aus? Denn diese proportionalen Phänomene bringen einen Raum ja noch nicht zum Klingen – das ist eher die sprichwörtliche ‹erstarrte Musik›.

J.S.: Genau, das harmonikale Denken ist für die akustische Gestaltung des Raum-Musik- bzw. des Architektur-Akustik-Verhältnisses praktisch bedeutungslos. Das ist aber auch nicht intendiert, denn die Schönheitsvorstellung zielt auf ein innerweltlich unhörbares Ideal. Musik, d.h. die tatsächlich gespielte, aufgeführte Musik, ist für die katholische Theologie und Liturgie ein untergeordnetes Ereignis seit Anicius Manlius Severinus Boethius, der spätantike Gelehrte und Politiker im 5. Jh. sinngemäss festgestellt hat, dass die affektiven Wirkungen von Musik zwiespältig ausfallen: man kann nicht sicher sein, ob die Musik nur klangsinnlich genossen wird, oder ob sie zur theologisch wertvollen Erbauung und Erhöhung der Seele beiträgt. Die erste Rückversicherung gegen die klangsinnlichen Versuchungen der Musik (Hörlust/Schaulust) bildet die Rückbindung an verstehbare Sprache und damit an den Logos – das Musikprogramm der Kirchenmusik des Mittelalters wurde daher wesentlich in den alttestamentarischen Psalmen und deren Vertonung verankert.

TEC21: Und deshalb gelang es Palestrina – so man sich an die Legende hält –, die polyphone Kirchenmusik auf dem Konzil von Trient (1545–1563) zu retten, indem er den Papst mit seiner sechsstimmigen, ‹in höchstem Grade textverständlichen› Missa Papae Marcelli[3] von ihrem Potenzial überzeugte, einen angenehmen Höreindruck zu hinterlassen und gleichzeitig der Erhebung zuträglich zu sein?

J.S.: Ja, denn solange das göttlich inspirierte Wort der heiligen Schrift in der Musik deutlich vernehmbar bleibt, können die Gefährdungen/Versuchungen des Klangsinnlichen nicht dominant werden. Und mehr noch: Die zweite Abwehrlinie der Theologie gegen die zweifelhaften, skeptisch zu betrachtenden Angebote des Klangsinnlichen ist die harmonikale Musiktheorie, die einen einheitlichen, wohlgeformten Schöpfungsplan durch Notation einsehbar werden lässt: Seit Pythagoras ist Musik nicht mehr nur oder gar ausschliesslich aufgeführte, hörbare Musik, sondern auch unhörbare, arithmetisch darstellbare Sphärenharmonie und damit Theorie der Weltordnung (Abb. 8). Diese griechisch-heidnischen Vorstellungen fanden durch die alttestamentarischen Weisheiten König Salomos – Gott hat die Welt nach Mass, Zahl und Gewicht geordnet; Salomons Tempel als Ideal harmonikaler Bauproportion – Einlass in die christliche Lebenswelt und wurden als lateinisch-christliche Konzepte der Harmonia mundi, etwa bei Johannes Kepler, tradiert (inneres Titelbild). Diese ist geboren aus der einen Schöpfervernunft, die in sich perfekt ist. Denn der Schöpfergott hat nicht chaotisch gewürfelt, sondern aus einem Guss, mit einer Vernunft, mit einem Plan diese Welt hervorgebracht – das wird theologisch verteidigt. Robert Fludds’ Bild von Gottes Hand, die aus einer himmlischen Wolke an die Schnecke des ‹Welt-Kontrabasses›[4] greift, an ihr schraubt und so die Welt stimmt, zeigt diesen Zusammenhang in einer neuzeitlichen Form (Abb. 2).

TEC21: Auf der Sphärenharmonie basiert dann ja auch die Venezianische Mehrchörigkeit, die sich ab 1430 etabliert, um den Raum mit Klang zu füllen – eine Art Vorläufer von Athanasius Kirchers[5] Echo-Experimenten oder nehmen sie diese gar vorweg?

J.S.: Nun, im Gegensatz zu den getrennt aufgestellten Chören, den Cori Spezzati, die – über sphärenharmonische Motive vermittelt – lediglich die Richtungen einfallenden Schalls gestalten, rückt Kircher bis zu einem gewissen Grad vom harmonikalen Imperativ ab. Die Echo-Experimente basieren auf hörbaren Phänomenen, nicht auf arithmetisch geprägten theoretischen Modellen. Seine hörbaren Klangpotenziale des Echoeffektes kontrastieren zu den theologisch-harmonikal inspirierten Kompositionen, deren wohlgeordnete Harmonien man hörend längst nicht immer nachvollziehen kann. Kircher ist den harmonikalen Traditionen weitgehend verpflichtet, aber eben nicht ausschliesslich. Er beginnt, den tatsächlichen Raum der Aufführungsstätte bzw. deren akustische Raumantwort in die Konzeption seiner musikalischen Klangvorstellungen zu integrieren.

TEC21: Was veranlasste ihn zu diesen Experimenten, was war ihr Auslöser?

J.S.: Es gibt für Kirchers Interesse an Echo verschiedene Ansatzpunkte: Er hat vor den Stadtmauern Avignons den Effekt eines Mehrfachechos bemerkt und dann Hörexperimente veranstaltet, und er hat Vitruv gelesen, sich mit der antiken Akustiktheorie zur Echobildung vertraut gemacht. Zudem ist er der literarisch-mythologischen Spur von Narziss und Echo gefolgt. Ovid kennt man im 17. Jh. aus dem Lateinunterricht, und sobald Opern eine Rolle spielen, sind Ovids ‹Metamorphosen› eine der wichtigsten Quellen für Libretti. Die antike Stoffwelt interessiert, weil sie Liebesmotive in einer bukolischen Welt um den Gott Pan, die Satyren und Nymphen ansiedelt. Es sind Naturszenarien, die entweder lustvoll oder gefährlich sind, das heisst sich zwischen locus amoenus und locus horribilis abspielen, den beiden topischen Schäferszenarien. Und diese finden in der Opernliteratur ihren Widerhall. Zum literarischen gesellt sich der akustische Aspekt: Heute lesen wir ‹stumm›, aber bis zu Goethes Zeiten las man zumeist laut vor – erst recht lyrische Werke, wie es die Metamorphosen sind. Gedichte sind, jedenfalls solange sie in Reimen verfasst sind, ans Klangliche gebunden, man muss sie laut vortragen, um Melodie und Rhythmus hörbar zumachen und im Binnen- und Endreim die akustische Figur des Echos zu hören. Das Echo ist empirisch erfahrbar – hauptsächlich auf dem Land, im Gebirge, was wiederum mit dem Bukolischen verknüpft ist – es lässt sich literarisch und musikalisch nachbilden. Das bedeutet: Man hat eine wahrnehmbare Dimension im Erleben der künstlerisch verwendeten Echoeffekte (Abb. 6, 7).

TEC21: Beides, Echo und Schäferszene, spielt sich nun aber ausgesprochen nicht im theologischen Kontext ab – weder dem Inhalt noch dem Ort nach.

J.S.: Stimmt, aber die Kirchenräume, in denen sich Kircher in Rom bewegt – Il Gesù, San Pietro – sind von grosser Halligkeit, was Kircher nicht entgeht. San Pietro etwa mit seiner gewaltigen Kuppel und den vielen Nischen, die eine akustische Bündelung des Schalls bewirken. Kircher bemerkt, dass, wenn man Schall in die Kuppeln spricht, er mit veränderten Klangfarben und zeitlich verzögert reflektiert wird und dass, je nach geometrischer Positionierung des Sprechers, ein Echoeffekt hörbar wird. Wenn man ruft, wird gleichsam aus dem Raum geantwortet. Das ist theologisch interessant, besonders dann, wenn das Echo von oben kommt. Das nutzt Kircher und schlägt vor, die Gläubigen aufzufordern, sich in den Kapellen auf den Boden zu knien und ihr Gebet gegen die Nischen zu sprechen: Der Schall würde dann von der Kuppel reflektiert und die Antwort ‹von oben› unmittelbar erfolgen. Kircher kombiniert eigene Erfahrung, Kunst und Technik der Musikproduktion so, dass sie den gegenreformatorischen Bestrebungen einer zum Protestantismus konkurrenzfähigen Musikästhetik und Aufführungspraxis dienen. Um affektiv initiierte Andacht und Rührung auf grosse und stark hallige Kirchenräume zu übertragen, kommt Kircher auf die Idee, Musik so zu komponieren, dass Echo selber zum musikalischen Ereignis einer komponierten Musik wird: ‹Musik durch das Echo›. Er schlägt Chöre für San Pietro vor mit bestimmten geometrischen Aufstellungen und Relationen zum Publikumsbereich, um die Bündelungseffekte der Nischen und Kuppeln zu nutzen. Der Chor singt, dann Pause, und nun kann der Raum, die Nische oder Kuppel antworten, jetzt erscheint das Echo als Teil der Komposition. Zunächst in der ‹Musurgia universalis› von 1650, dann 1673 in der ‹Phonurgia nova› und 1684 – notabene von Protestanten – übersetzt, in ‹Neue Hall- und Tonkunst› hinterlegt Kircher das Konzept der ‹Musik durch das Echo› und damit die Verbindung von Musik und architektonischem Raum.[6]

TEC21: Wo liegt die Schnittstelle zwischen Kircher und Joseph Haydn[7]?

J.S.: In der Bibliothek von Joseph Haydn befand sich eine Ausgabe der ‹Phonurgia nova›, d. h., physisch ist sie leider verschwunden, aber wir wissen, dass er sie besass. Und wir kennen die Musik, die er komponiert hat, für welche Räume und Besetzungen des Orchesters. Wir wissen auch, dass er Stücke wie die ‹Echosymphonie› oder das mit ‹Echo› betitelte Divertimento in Es-Dur geschrieben hat.[8] Er schlägt darin eine kammermusikalische Aufführungssituation mit zwei kleinen Ensembles zu je drei Musikern vor, die in zwei verschiedenen Räumen spielen. Die einen fangen an, die anderen hören zu. Durch eine Holzwand – eventuell steht die Türe auch leicht offen – hört man sich gegenseitig und ist damit Spielender und Zuhörer. Dann spielen die Anderen und so ist man im dialogischen Spiel je das Echo füreinander. Es ist gut belegbar, dass es die Abstimmung zwischen Musik und Raum bei Haydns Kompositionen gibt, dass er inhaltlich das macht, was Kircher beschrieben hat. Das heisst, er nutzt die akustische Raumantwort (Echo ist im Konzertsaal störend; diffuser Nachhall jedoch nicht), den Nachhall des Raumes als Teil der symphonischen Komposition und gestaltet Klangbilder durch dynamische Steigerungen und den Einsatz von Kontrabässen und Pauke, was den Raum zu langem Nachhall anregt und bestimmte Raumeindrücke möglich macht.

TEC21: Da die ‹Phonurgia nova› erst nach der Komposition des Divertimento erschien, muss Haydn noch eine andere Inspirationsquelle gehabt haben.

J.S.: Die Entstehungszeit – 1761 – des Divertimento ist tatsächlich interessant – ein Jahr nach dem Beginn seines Engagements bei den Fürsten von Esterházy, wo er in der Residenz in Eisenstadt (Abb. 9) und dann ab 1766 im neuen Schloss in Fertöd (Ungarn) wirkte, von dem heute nur noch das Hauptgebäude übrig ist. Der Fürst leistete sich ein Orchester mit ca. 40 Personen, mit dem Haydn 30 Jahre lang fast täglich für Sinfonie, Oper, Marionettentheater und auch für Kammermusik geprobt hat. Es war die Abgeschiedenheit und der Umstand, dass er jeden Tag ein Orchester zur Verfügung hatte, Aufstellungen ausprobieren, mit der Instrumentierung experimentieren konnte, was es ihm ermöglichte, für ganz bestimmte Räume ganz bestimmte klangliche Vorstellungen umzusetzen. Und dann kommt etwas hinzu: Eines Tages kommt eine Militärkapelle vorbei. Normalerweise verfügt Haydn nicht über Pauken, die gibt es nur im Militärspiel. Er lädt Paukisten in den Konzertsaal ein und komponiert eine Sinfonie, in der erstmals die Pauke erscheint. Und da merkt er, welches Potenzial da drinsteckt. Das besondere Hörerlebnis, das man in einer Schuhschachtel hat – wie es Haydns Saal in Eisenstadt war und ist – zeigt sich, wenn man Kontrabässe und Pauken spielen lässt. Man stelle sich folgende Situation vor: Man sitzt in einem solchen quaderförmigen, lang, schmal und hoch proportionierten Saal, vorne spielen leise Töne – eine Flöte, eine Geige. Schliesst man die Augen, kann man den Standort sowohl der Geige als auch der Flöte fast exakt bestimmen. Diese Lokalisation gelingt selbst in einem halligen Raum wie in Eisenstadt ziemlich gut. Nun steigert das Orchester Dynamik und Lautstärke, es kommen weitere Instrumente hinzu, bis auch die Kontrabässe und schliesslich die Pauken einsetzen. Diese Dynamisierung und Steigerung wird ein Kernelement von Haydns Musik bis zur 105. Symphonie bleiben. Und das ist das hörbare Phänomen: Die Musik beginnt einen zu umhüllen, man ist im klanglichen Geschehen drin, die Musik wird physisch, wird plastisch-räumlich, bevor sich dann der Klangraum wieder zum lokalisierbaren Klangbild durch Abnahme des Schalldruckes verflacht. Die überaus reizvollen Raumklangeffekte seiner Musik sind mit der architektonisch-raumakustischen Aufführungssituationen des ‹Haydn-Saals› verbunden. Im Freien etwa funktioniert das nicht, egal wie viele Pauken man aufstellt, weil es ein durch Schallreflexionen erzeugter akustischer Raumeindruck ist, der die klangästhetisch reizvollen Kompositionen erst zur Geltung bringt.

TEC21: Haydns Musik scheint kaum unter diesem Aspekt beleuchtet worden zu sein?

J.S.: Der Fall Haydn ist tatsächlich in der historisch orientierten Musikwissenschaft unter diesem Aspekt kaum beachtet worden, noch erscheint er in der Theorie und Geschichte der Konzertsaalakustik besonders prominent. Eine Ausnahme bildet die wegweisende Studie von Jürgen Meyer[9] über Haydns Konzertsäle; ein Text, der leider auch unter aufführenden Musikern kaum bekannt ist – die sich überhaupt erstaunlich wenig um die Optimierung eines Klangbildes für ihr Publikum in bestimmten Räumen kümmern.

TEC21: Woher rührt das?

J.S.: Wesentlichen Anteil daran hat die Kunsttheorie in der Nachfolge von Gotthold Ephraim Lessings ‹Laokoon› und dessen Gliederung der Künste in Raumkünste (Malerei, Plastik, Architektur) und Zeitkünste (Literatur, also Rede, Drama und die Musik). Eine Unterscheidung, die wir heute noch oft und unbedacht benutzen. Damit gehören Architektur und Musik grundsätzlich getrennten Kunstsphären an.

TEC21: Wie würden Sie denn Karlheinz Stockhausens Experimente – z.B. der ‹Gesang der Jünglinge› 1955/56 oder 1968 die Performance ‹Musik für ein Haus› – mit der Klangbewegung im Raum qualifizieren, oder Bernhard Leitners Klanginstallation ‹Ton-Raum› 1986 an der TU München, die darauf abzielten, die Architektur zu einer Zeitkunst zu machen, indem der Raum nur solange existierte, als die Musik erklang?

J.S.: Diese Reihe können wir um die Cori Spezzati (Gabrieli in Venedig) und den Philips Pavilion von Le Corbusier/Xenakis erweitern: Das sind Initiativen einer räumlich vorgestellten Musik, die durch frei konstruktiv zusammengestellte Lautsprecherorchester – Stichwort: Akusmatik[10] – bzw. getrennt aufgestellte Chöre oder Instrumentengruppen Raumeindruck zu vermitteln suchen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass primär Lokalisations- und Bewegungserlebnisse von Schallquellen dargeboten werden. Die dezidiert gestaltete Interaktion von Schallquelle, Raumakustik und Komposition, wie sie etwa Haydn vorgenommen hat, findet sich nicht. Im Gegenteil: Gerade der Philips Pavillon zeugt in seiner Konzeption von harmonikalen Vorstellungen, die Architektur und Musik noch einmal über Geometrie und Arithmetik in Verbindung bringt (Abb. 3, 4, 5). An diesem ästhetisch retardierenden Moment ändern die Integration von aperiodischen Geräuschen und die neuartige zeichnerische Notation von Musik nichts. Die Architektur vor diesem Hintergrund als Zeitkunst vorzustellen oder umgekehrt die Musik als Raumkunst zu apostrophieren, scheint mir lediglich die ästhetisch nicht haltbare lessingsche Unterscheidung von Raum- und Zeitkünsten zu perpetuieren. Demgegenüber versuche ich einen Beitrag zu leisten, dass Akustik über den für die Architektur zentralen Begriff des Raums in den Entwurfsprozess integriert wird, und so als akustische Gestaltung erscheint. Architektur ist eben nicht nur eine Raumherstellungstechnik, sondern eine Raumgestaltungskunst. Und wenn man beides für die Architektur in Anspruch nimmt, so finden wir auf der einen Seite technische Raumakustik, die es erlaubt, akustische Aspekte zu parametrieren und in Simulationen zu testen. Da sind wir hervorragend ausgerüstet mit Theoriebildung, Materialkunde, Designtools etc.; von der Beschallung einer Kirche bis zur raumakustischen Gestaltung einer Toilette. Aber das ist nicht der kritische Punkt. Der liegt darin, dass manche Architekten den sinnesmodalen Implikationsreichtum des Raumbegriffes – hier die Wahrnehmung von Raum durch räumliches, auf zwei Ohren basierendenes Hören – nicht zur Kenntnis nehmen und diesen primär als visuelles Phänomen verstehen. Hier versuche ich in meinen Forschungen weiter zu gehen, denn mich interessiert einerseits die Physik, die Akustik und ihre Anwendung in der Raum- und Elektroakustik, anderseits die Wahrnehmung. Und mit der Wahrnehmung verbunden alles, was mit Muster, mit Sprache, mit Kultur zu tun hat – die Natur-Kultur-Verbindung, die bei jeder Wahrnehmung stattfindet. Diese ist komplex, dicht, evolutionär unabgeschlossen, und solange wir eine humane Kultur haben, unabschliessbar – und, in vielen Künsten und ihrer Technik, wenig untersucht.


Anmerkungen:
[01] «Im Mörtel des Bösendorfer Saales wohnen die Töne der grossen Komponisten. Das Material […] wurde mit den Klängen unserer Philharmoniker […] imprägniert.» Vgl. Adolf Loos, Das Mysterium der Akustik, Wien, 1912; in: ders., Trotzdem 1900 – 1930. Die Schriften von Adolf Loos, Bd. 2, Innsbruck, 1931, S. 125ff.
[02] Platon, Timaios, um 360 v. Chr. Die titelgebende Figur tritt als Referent über die Erschaffung des Kosmos auf, dessen Entstehung auf dem vernünftigen Wirken eines Schöpfergottes basiert. Dieser hat den chaotischen Charakter der Ur-Materie in eine geordnete Komposition verwandelt.
[03] «[…] im 16ten Jahrhundert […], war der Papst nahe daran, die Musik durch ein förmliches Breve ganz aus der Kirche zu verbannen, wenn Palestrina sie nicht noch gerettet hätte.» Vgl. Allgemeine musikalische Zeitung, Bd. 4, Nov. 1801, Leipzig, S. 115. Giovanni Pierluigi da Palestrina (1510eroder 1520er-Jahre bis 1594) wurde Anfang des 17. Jhs. als Retter der Kirchenmusik betitelt, weil er mit der seinem Gönner Papst Marcellus II. gewidmeten Missa Papae Marcelli die Verbannung der Musik aus der Kirche verhindert hat, die auf dem Tridentiner Konzil 1562 / 1563 drohte. In der Kritik war die nach Meinung der Kurie der Textverständlichkeit abträgliche Polyphonie. Palestrina gelang es, die Vielstimmigkeit so zu gestalten, dass sie textverständlich blieb. Relativiert wird der singuläre Charakter von Palestrinas Komposition und mithin der Einfluss auf das Konzil, in: Horst Robert Balz, Theologische Realenzyklopädie, Band 25, Walter de Gruyter, Berlin, 1995, S. 600 f.
[04] Das göttliche Monochord, 1617.
[05] Der deutsche Jesuit Athanasius Kircher (1602 – 1680) verbrachte den grössten Teil seines Lebens als Universalgelehrter am Collegium Romanum in Rom. Er befasste sich – nicht zuletzt im Dienste der Gegenreformation – mit zahlreichen Wissenschaftsgebieten, u. a. Ägyptologie, Geologie, Medizin, Mathematik und Musiktheorie.
[06] Musurgia universalis, sive ars magna consoni et dissoni, 1650. Phonurgia nova, sive conjugium mechanico-physicum artis & natvrae paranympha phonosophia concinnatum, 1673.
[07] Der österreichische Komponist Joseph Haydn (1732 – 1809) war von 1760 – 1790 Hofmusiker der ungarischen Fürsten Esterházy am Familien- sitz in Eisenstadt, im Winterpalast in Wien und auf Schloss Eszterháza.
[08] Die Sinfonie No. 38 hat den Zunamen Echosinfonie; das kammermusikalische Divertimento in Es-Dur («Echo»; Hob II : 39) von 1761 «für zweimal 2 Violinen und Bass, in verschiedenen Zimmern aufgestellt».
[09] Jürgen Meyer, Raumakustik und Orchesterklang in den Konzertsälen Joseph Haydns, in: Acustica 14, 1978, S. 145 – 162.
[10] Akusmatik (griech. Akousma «auditive Wahrnehmung ») bezeichnet Klangerereignisse, deren Quelle nicht sichtbar ist. Der Begriff geht auf die Überlieferung zurück, wonach Pythagoras neue Schüler hinter einen Vorhang verbannte. Im Gegensatz zu den «Abitués» fehlte ihnen das Visuelle von erklärenden Gesten. Sie mussten sich den Stoff allein durch intensives Hören erschliessen.

16. Dezember 2011 TEC21

Ceci n’est pas …

Der «Garten des Poeten», mit dem Uwe Schmidt-Hess sein Diplom an der Bartlett School of Architecture in London absolviert hat, ist keine Grünanlage, sondern ein poetischer Maschinen-Park. Der Titel der Installation verweist denn auch auf ihre surrealistische Heimat.[1] Die Apparatur erschüttert Denk- und Sehgewohnheiten, wenn sie in einem komplexen Transformationsprozess Schrift in Raum verwandelt. Ideell ist Johann Wolfgang von Goethe der Bezugspunkt des in Weimar sozialisierten Architekten. Inhaltlich ist es der Argentinier Julio Cortázar und dessen Kultroman «Rayuela». Mit ihm verbindet den Baukünstler die Suche nach dem Garten Eden.

«Hier atmet alles; Diese Schatten auf dem Gesims; das Zimmer hat Lungen, etwas schlägt und pulst. Ja, die Elektrizität ist eleatisch, sie hat uns die Schatten versteinert. Jetzt sind sie nur noch Teil der Möbel und der Gesichter. Aber hier ist es anders … Sehen Sie mal diesen Sims, wie sein Schatten atmet, wie die Volute auf und ab steigt.»[2] Die Passage stammt aus dem Roman «Rayuela» von Julio Cortázar (1914–1984, vgl. S. 20). Der Titel des 1963 publizierten und alsbald zum Kult avancierten Romans verweist auf das Himmel-und-Hölle-Spiel, das Kinder auf der Strasse spielen. So surreal oder ’pataphysisch und gespenstisch wie das Zitat mutet die Szenerie im «Garten des Poeten» an3: Vier aus einem scheinbar wirren Haufen von Gestängen zusammengebaute, diffizil anmutende, leicht wackelige Maschinen rattern leise vor sich hin. Nur eine der Apparaturen weist ein auf den ersten Blick identifizierbares Gerät auf: eine Schreibmaschine. Sie signalisiert das narrative Potenzial der Installation. Allerdings, um Kurzschlüssen vorzugreifen: Die Schreibmaschine schreibt nicht, sie liest. Sie liest, was Maschine Nr. 1 und Nr. 2 schreiben, um das Produkt – durchaus im mathematischen Sinn – auf die vierte Maschine zu übertragen. Diese formt daraus ein räumliches Gebilde, eine Art Wachsmodell, auf das der Begriff «Bau-Körper» in besonderer Weise zutrifft: sich aufblähend und zusammenziehend, scheint er zu atmen …

Schreibrhythmus als Impulsgeber

Vertraut mit den Installationen Jean Tinguelys oder Roman Signers erwartet man ein Zusammenwirken der Maschinen in einer Kausalkette. Doch die innere Logik der Maschinerie von Uwe Schmidt-Hess (vgl. Kasten S. 30) ist komplexer, vielschichtiger. Der Wachsklumpen der ersten Maschine findet ein Pendant in der Kerze der zweiten, dessen Glasscheiben tauchen in der dritten, der umfunktionierten Schreibmaschine, wieder auf. Und diese ist ihrerseits bestückt mit einem Stoffband, das schon an der ersten Maschine aufgefallen ist. Das unförmige Etwas der vierten Maschine, das sich bläht und wieder in sich zusammenfällt, hingegen wirkt zunächst autonom bzw. von Geisterhand betrieben.

Den Stoff (durchaus im Doppelsinn von Material und «Geschichte», «Erzählung») schreiben Maschine Nr. 1 und Nr. 2. Die erste Maschine erzeugt auf einem Rollband eine Spur aus Wachs. Dieser tropft von einem Paraffinklumpen, der von einem Lötkolben zum Schmelzen gebracht wird (Abb. 1). Analoges geschieht auf Maschine Nr. 2. Hier liefert eine brennende Kerze den Rohstoff. Als «Malgrund» dienen diesmal zwei rotierende Glasscheiben.

Das Wachs ist nun nicht, wie bei Maschine Nr. 1, sowohl «Tinte» als auch Zeichen, sondern bildet nur die Grundierung. Das eigentliche «Schriftbild» graviert eine Art Grammophonnadel, die an einem Schwenkarm montiert ist (Abb. 2). Ist das Band der ersten Maschine bzw. eine der Glasplatten der zweiten beschrieben, werden sie in die dritte, die Schreibmaschine, eingespannt (Abb. 3). (Gleichzeitig werden Band und Glasscheibe in Maschine Nr. 1 und Nr. 2 durch unbeschriebene «Blätter» ersetzt.) In Gang gesetzt wird die Schreibmaschine ganz klassisch durch Tippen auf die Tastatur. Dabei spielt es keine Rolle, welche Tasten man wählt, entscheidend ist der Rhythmus, in dem getippt wird. Dieser bestimmt den Takt des Motors, der Band und Scheibe bewegt. Die auf ihnen fixierte Wachsspur taktet nun ihrerseits über zwei Laserpointer und zwei Lichtsensoren den Motor der vierten Maschine (Abb. 4): Die Laserstrahlen sind auf das Band und die Glasscheibe gerichtet. Werden die Strahlen von «vorüberziehenden» Wachspartikeln unterbrochen, fällt auch das Signal auf den Sensor aus, bis eine Leerstelle auf Band bzw. Scheibe den Kontakt wieder schliesst. Dieser Wechsel zwischen Ein und Aus wird via Kabelverbindung auf die beiden Motoren – je einen für die Impulse, die durch das Band und die Scheibe ausgelöst werden – der vierten Maschine übertragen und bewirkt dort das Sich-Aufblähen und -Zusammenziehen der Wachshaut: Schriftzeichen werden in einen Baukörper übersetzt. In einem labyrinthischen Umformungsprozess transformiert sich Schrift in Raum – noch dazu in einen beweglichen Raum!

«Gärtner» als Operateur

Uwe Schmidt-Hess spielt mit Analogien und unterwandert sie gleichzeitig. Er evoziert die Illusion eines Perpetuum mobile, doch eine eigentliche Initialzündung, die den ganzen Prozess in Gang setzt, gibt es nicht. Es bedarf mehrerer Eingriffe, die von einem «Gärtner» besorgt werden. Die Kerze muss entzündet und der Strom für den Lötkolben angeschlossen werden. Wenn die Kerze heruntergebrannt ist bzw. der Lötkolben den Paraffinklumpen abgeschmolzen hat, muss das Wachs ersetzt werden. Die Tastatur der Schreib-Lese-Maschine muss bedient werden, und die Glasplatten sowie das Band wollen nach Vollendung eines Zyklus ausgewechselt sein. Dieser Akt wiederum erinnert an ein anderes Medium – an eine Filmrolle, die, wenn sie abgespult ist, aus dem Projektor entfernt und durch eine neue Rolle ersetzt wird. Und Kinematografie bedeutet nichts anderes als das Aufzeichnen von Bewegung.

«Enigma»: Dechiffriermaschine und Morseschreiber

Auch ist nicht die durch die Kerze freigesetzte Energie das Agens, sondern ihr Rohstoff (der fossile Brennstoff) – nicht aber als Energielieferant, sondern als Medium. Das Wachs ist auf mehreren Ebenen der Informationsträger: Erstens ist es das Signal, um die Maschine Nr. 2, d.h. die Bewegung der Glasplatten und des Schwenkarms, in Gang zu setzen. Denn erst, wenn eine ausreichende Menge Wachs auf eine Glasplatte getropft ist, wird der Bewegungsmechanismus ausgelöst. Zweitens bildet es den Malgrund für die Einritzungen des Schwenkarms und fungiert drittens als Impulsgeber für den Takt der vierten Maschine. Schliesslich figuriert das Wachs auch als Membranhülle, die die Frequenz des Signals aufsaugt und die «Botschaft», sich aufblähend und in sich zusammenfallend, verräumlicht – eine Medienhülle. Die Schreib-Lese-Maschine verschlüsselt ebenso wie sie decodiert. Sie operiert wie ein Morseschreiber, der beliebige Zeichen in Rhythmen verwandelt, welche die Drehzahl des Motors bestimmen, der die Bewegung von Band und Scheibe antreibt. Als Dechiffriergerät funktioniert sie, wenn sie entziffert, was auf Band und Scheibe «geschrieben steht», indem sie diese auf Wachsspuren abtastet, die das Signal auf den Sensor «steuern».

Architektur: «Unscharfe» Imagination statt messbares Nichts

Wenn sich Uwe Schmidt-Hess auch nicht auf Marshall McLuhan beruft, so erweist sich die Installation doch als Inkarnation von dessen 1967 postulierter These «das Medium ist die Botschaft» – und vice versa.4 Das Wachs fungiert als Medium und verkörpert die Botschaft. Gleichzeitig untergräbt er das Fundament von McLuhans Theorie, die Metapher, wonach Medien, verstanden als Artefakte – vom steinzeitlichen Faustkeil bis zum elektrischen Licht – als Ausweitungen des Körpers zu verstehen sind: das Rad als Prothese (oder Amputation) des Fusses oder die Kleidung als Ausweitung der Haut (anstatt in Geschichten wie in Kleider zu schlüpfen, wie in Frischs «Mein Name sei Gantenbein», vgl. «À la recherche …») Im Zeitalter der elektronischen Medien amputiert der Mensch gar sein Zentralnervensystem und damit sein Bewusstsein. Schmidt-Hess will das Bewusstsein sensibilisieren und die Automatenmonotonie aufbrechen. Er knüpft an McLuhans Beispiel der Uhr an, die nicht nur ein Messinstrument ist, sondern die Form von Zeit als linearen, gleichförmigen Ablauf von identischen Einheiten «erschafft» und die ursprüngliche Vorstellung von Zeit als Zyklus verdrängt – der Jahreszeiten, des Wechsels zwischen Tag und Nacht, der Mondphasen, der Sonnenwenden. In seiner Diplomarbeit hat Schmidt-Hess dem Berufsstand ins Stammbuch geschrieben: «With the escape of the machines out of the factory architecture itself turned into a factory producing absence in space – contamination of nothingness behind fancy facades. […] architects have to turn into watch makers developing new devices against synchronization for the navigation through the territory of shifting spaces.»[5]

Die vier Apparaturen laufen nicht synchron. Jede hat ihren eigenen Rhythmus. Verzögerungen unterlaufen die Präzision. Der ureigenste Charakter der Maschine, die – sobald sie eingeschaltet ist – in einem regelmässigen Rhythmus taktet, wird aufgeweicht. Diese Unschärfen öffnen Imaginationsräume. Schmidt-Hess hat sie in Plänen und Fotografien festgehalten und die «Geschichte» so noch einmal transkribiert (Abb. 5–7, 9, 10).

Écriture automatique

Es ist eine «écriture automatique»[6], eine von Automaten erzeugte «Erzählung», die Raum greift. Die Installation erinnert denn auch ebenso an Max Ernsts Experimentieren mit der alten Drucktechnik der «Frottage» (Durchreiben), die als Adaption des automatischen Schreibens in der Kunst gilt, wie an die ebenfalls von dem surrealistischen Künstler geübte «Grattage», bei der übereinander aufgetragene Malschichten mit einer Klinge weggekratzt bzw. abgeschabt werden. Die Assoziation mit einem Reissbrett, auf dem früher Architektenpläne entstanden, liegt ebenfalls nah, zumal bei der zweiten Maschine mit den Glasplatten und dem Schwenkarm. Diese lässt aber auch an eine Planchette denken, die Mitte des 19. Jahrhunderts als «Medium» für spiritistische Sitzungen aufkam. Gertrude Stein und Leon M. Solomons experimentierten mit einem solchen «Brettchen» – bestehend aus Glas und mit einem metallenen Schwenkarm versehen als Halterung für einen Bleistift –, um das «unbewusste » Schreiben zu provozieren, und publizierten die Ergebnisse 1896 unter dem Titel «Normal Motor Automatism». In der Literatur fanden sich die einflussreichsten Apologeten der «écriture automatique» in Surrealistenkreisen.

Poesie: Das Geistige, das in der Raumhülle atmet

Mit Cortázars «Rayuela» beruft sich Schmidt-Hess aber auf ein Werk, das dem magischen Realismus zugerechnet wird. Wohlverstanden: «Rayuela» ist nicht die Matrize (siehe Editorial) für den «Garten des Poeten». Aber die Beziehungen sind eklatant. So sind die Anspielungen im Roman auf die «écriture automatique» in geradezu emblematischer Weise sprechend für die Maschinen-Installation: «In jener Zeit war es so gewesen, als sei das, was er schrieb, bereits vor ihm ausgebreitet gewesen, schreiben hiess, eine Lettera 22 über unsichtbare, aber vorhandene Worte zu führen wie den Diamanten über die Rille einer Schallplatte.»[7] Nämliches gilt, wenn Cortázar von seinem Alter Ego berichtet, dessen Schreiben werde von Impulsen ausgelöst und von einem Rhythmus angetrieben.[8] Das Resultat gipfelt in einem Satz, der, ohne Interpunktion auf einem Blatt Papier endlos wiederholt, eine Wand bildet. Als Mauer kann sie nur dehalb wahrgenommen werden, weil an einer Stelle ein Wort fehlt und eine «Öffnung zwischen Ziegelsteinen»[9] lässt, durch die Licht einfällt. Das Resultat des rhythmischen Tippens ist also keine Erzählung, sondern eine Architektur. Der Schlüssel aber, der ins Schloss passt, liefert die Struktur des Romans, dessen Kapitel man nicht in ihrer linearen Abfolge lesen soll, sondern von 73 zu 1, von 2 zu 116, von 3 zu 84 etc. hüpfend, um am Ende nicht in den Himmel zu kommen, sondern in einer Endlosschlaufe hin- und herzuspringen zwischen 58 und 131. Analog bricht Schmidt-Hess die Linearität, die logische Verknüpfung der Textelemente auf, und der maschinelle Prozess mündet im Poetengarten im binären Ein-Aus, das die Wachshaut anschwellen und in sich zusammenfallen lässt.

Das Problem der Figuren in «Rayuela» ist, dass die Wissenschaft mit ihrer Entdeckung der physiologischen Natur unserer Hirnleistungen den jahrhundertealten Gegensatz zwischen Geist und Körper aufgehoben, uns mithin aus dem Paradies der Fantasie, des Traums, der Imagination und ihrer Sprache, der Poesie, vertrieben hat: «Das Gedächtnis entspräche demnach der Anordnung der Nukleinsäuremoleküle im Gehirn, die die Rolle von Lochkarten in den modernen Computern übernehmen» (vgl. Editorial). «Das Cogito […] unterscheidet sich vermutlich weniger, als wir dachten, von solchen Dingen wie Nordlicht oder einem Foto mit Infrarotstrahlen. […] womöglich (ist es) genau umgekehrt, und am Ende ist das Nordlicht ein geistiges Phänomen, und dann haben wir, was wir haben wollten …»[10]: Und zwar Uwe Schmidt-Hess’ Garten Eden, in dem er die poetische Maschine geschaffen, der Materie Geist eingehaucht hat: wenn sich sein Imaginationsraum pneumatisch bläht, widerhallt sowohl die am Anfang dieses Beitrags zitierte Passage als auch: «cogito, das wie ein Atmen wäre […]: Pneuma und nicht Logos.»[11]


Anmerkungen:
[01] Der Verweis zielt auf René Magrittes Werk «La trahison des images (Ceci n’est pas une pipe)», in dem er die Pfeife naturalistisch wiedergab, mit der Bildunterschrift aber betonte, dass es sich eben nur um die gemalte Wiedergabe handelte. Magritte ging es darum, Denk- und Sehgewohnheiten ins Wanken zu bringen. Die für die Surrealisten wichtigen Träume sollten daher «nicht einschläfern, sondern aufwecken». René Magritte, «Die Wörter und die Bilder» in, ders., Sämtliche Schriften, München / Wien 1981, S. 41 ff.
[02] Julio Cortázar, Rayuela (dt. Rayuela: Himmel und Hölle) 1963, hier: Suhrkamp 2010, S. 57. Das Zitat stellte Schmidt-Hess einem Essay voran, das er 2005 im Janus Head publizierte: Uwe Schmidt-Hess, «Spatial Melancholia: The Construction of Sensitive Machines», Janus Head, Winter 2005, S. 212–230, hier: 225. Eleatisch: Eine der vorsokratischen Schulen war die der Eleaten. Ihr Begründer Parmenides betrachtete die wirkliche Welt als unvergängliches und unveränderliches Sein, im Gegensatz zu Heraklits «panta rhei»
[03] Zum ersten Mal war «Poet’s Garden» 2010 im Architekturforum Ostschweiz in St. Gallen zu sehen, zusammen mit einer verkleinerten Fassung von Markus Seifermanns «Lost Space of Stiller» (siehe «À la recherche …», S. 30)
[04] Marshall McLuhan, The Medium is the Massage: An Inventory of Effects (1967). Über den Druckfehler im Titel beim Erscheinen des Buches soll McLuhan sich amüsiert und ihn zu einer Ausweitung seiner These bewogen haben, wonach Medien modellierende Massagen menschlicher Wahrnehmung seien
[05] Uwe Schmidt-Hess, «Spatial Melancholia: The Construction of a Sensible Machine», Thesis, 2005, S. 22
[06] Der Begriff «écriture automatique» geht auf Pierre Janet zurück, der ihn 1889 prägte als Bezeichnung für seine Methode, Patienten in der Psychotherapie unter Hypnose oder in Trance zum Schreiben anzuhalten, um das Unbewusste zu thematisieren. André Breton avancierte in den 1920er-Jahren zum pointiertesten Verfechter der Technik, mit der das Potenzial des spontanen Schreibens ausgelotet werden sollte
[07] Julio Cortázar, Rayuela (dt. Rayuela: Himmel und Hölle) 1963, hier: Suhrkamp 2010, S. 502
[08] wie Anm. 7, S. 460
[09] wie Anm. 7, S. 428
[10] wie Anm. 7, S. 420, 512
[11] wie Anm. 7, S. 486

26. August 2011 TEC21

Im Kanon mit der Struktur

Mit ihrer fast weissen Fassade tritt die neue Universität Luzern von Enzmann + Fischer Architekten aus dem Schatten des Kunst- und Kongresshaus Luzern (KKL). Die expressive Topografie der Hülle hat dem Bau bereits Bezeichnungen von Eiswürfel bis Eierkarton eingetragen. Er hat von beidem etwas und mehr: Er transponiert den Genius Loci des Verpackens in die höhere Sphäre des Origami.

Nach dem Scheitern des Projekts für eine Universität am Kasernenplatz kam der Entscheid der Post, ihr Betriebsgebäude hinter dem Bahnhof bis auf eine Poststelle aufzugeben, wie gerufen (vgl. «Neue Saiten aufziehen», S. 38). Ein Wermutstropfen war indes die undankbare Lage des 1985 von Hans-Peter Amman und Peter Baumann errichteten Baus – demselben Architekturbüro, das auch den Bahnhof Luzern nach dessen Brand projektiert hatte – hinter dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Einer Uni einen präsentablen Auftritt zu verpassen, eine Identität zu verleihen, wenn man gleichsam im Hinterhof eines Baus der Superlative steht, mag zwar Bürde, aber doch auch Ansporn sein. Aber auch noch auf der Ostseite des Inseliquais hinter einem Wohn- und Geschäftsbau in der 2. Reihe angesiedelt zu sein, ja an diesen fast andocken zu müssen (Abb. 1, S. 39), ist eine Knacknuss. Das Schicksal akzeptiert und sich Zurückhaltung auferlegt – vielleicht auch aus Respekt gegenüber den ebenfalls ortsansässigen Urhebern – hatten die im Wettbewerb viertrangierten Lussi Halter. Sie schlugen vor, die Fassade lediglich mit neuen Fenstern, einem neuen, glänzenden Anstrich und einer einheitlich weissen Farbgebung zu versehen – eine Veredelung, die der Fassade, die nicht eben ein Wurf der Bahnhofsarchitekten war, etwas viel Ehre gemacht hätte.

Die meisten Teilnehmer zollten denn auch nur dem 11 m weit auskragenden Vordach Respekt und bewahrten das frühe Werk von Santiago Calatrava – auch Enzmann + Fischer, die den Wettbewerb für sich entschieden. (Überdauert hat es den Umbau dann doch nicht.) Mit ihrem Projekt beschieden sie sich nicht mit der Mauerblümchenrolle, sondern versuchten, mit einer fast weissen Fassade aus dem Schatten des KKL zu treten.

Sie akzeptierten in gewisser Weise auch den Part, die zweite Geige zu spielen. Indem sie das Fenster, das auch beim KKL ein Thema ist, zum Dreh- und Angelpunkt des Fassadenentwurfs erkoren, referieren sie auf den Jahrhundertbau, schielen aber auch daran vorbei. Wo Jean Nouvel das Postkartenpanorama nur noch zu rahmen brauchte, mussten Enzmann + Fischer die Aussicht erst einfangen, indem sie die Fenster wie Erker ausbildeten, d.h. wie horizontale Kippflügel ausdrehten.

Fisac, Breuer et al.

Damit definierten Architekt und Architektin gleichzeitig das Gesicht des Baus, denn von diesem Ausdrehen des Fensters ist die Geometrie der Fassadenelemente abgeleitet. Im Wettbewerbsprojekt waren diese noch als Betonfertigteile geplant – in Anlehnung an das 1972 errichtete Hotel «Tres Islas» auf Fuerteventura (Abb. 34) des spanischen Architekten Miguel Fisac (1913 – 2006), dessen Namen sie auch als Codewort verwendeten. Fisacs Bauten zeugen von dessen Experimentierfreude mit dem Material Beton. Er erprobte dessen konstruktives Potenzial und reizte es für die Formgebung aus. Er testete aber nicht nur seine «Stärke», sondern auch die «stofflichen» Qualitäten (Abb. 30). Die Postsäcke, die das Architektenteam vor dem Umbau fotografierte (Abb.6, S. 40), könnte man sich durchaus à la Fisac in Beton gegossen vorstellen.

Positiv-Negativ-Volumina

Die stoffliche Anmutung der Elemente des Fisac-Baus wich allerdings schon im Wettbewerb einer glatten Oberfläche der Fertigteile, sodass man sich an das von Fabio Reinhardt und Bruno Reichlin 1989 auf dem Gemeindegebiet von Monte Carasso an der Autobahnraststätte Bellinzona Sud errichtete Hotel Mövenpick erinnert fühlte (Abb. 29, 31, 32). Bei diesem aber verschattet die Rustika der Fassade, die aus Pyramidenstümpfen aufgebaut ist, die Fenster. Dies wiederum gibt Aufschluss über den ebenfalls im Wettbewerb signalisierten Verweis auf Marcel Breuer (Abb. 35), wo die kastenförmig ausgebildeten Elemente als skulpturale brise-soleil figurieren. Die Beschäftigung mit dem Alternieren zwischen Positivund Negativform blieb nicht an der Fassade hängen, sondern stiess auch zum Kern des Baus vor.

Dass sich Enzmann + Fischer schliesslich mit einer verputzten Fassade beschieden, hatte vorab statische und finanzielle Gründe: Die Betonelemente wären zu schwer und zu teuer gewesen. Ausserdem bot die Haut aus Putzträgerplatten die Möglichkeit, den Verputz fugenlos aufzubringen (vgl. «Improvisation an der Fassade», S. 52).

Bildsynthese: Fels, Diamant, Origami

Das verleiht dem Bau eine papierne Anmutung und rückt ihn in die Nähe eines konkreten Kunstwerks, vor allem in den geschlossenen Bereichen. Unterstrichen wird diese Wirkung durch die fast weisse Farbe des Verputzes. Tatsächlich ist es ein helles Grau, im Sonnenlicht reflektieren die Elemente aber so stark, dass sie blenden und den Bau entrücken, als wäre er ein Trugbild, eine Imagination – oder ein Rendering. Eine interessante Rückkopplung: Nachdem die Architekturfotografie Gebäude zunehmend so in den Fokus nimmt, dass man sie für Visualisierungen halten kann, konterkarieren Enzmann + Fischer diese Tendenz und bauen ein Haus, das zeitweise aussieht wie eine computergenerierte Bildsynthese. Und im wörtlichen Sinn ist die Fassade das auch – eine Synthese aus Bildern, in der sich die abstrahierte Felsformation mit der geschliffenen Oberfläche eines Diamanten und mit einem Origami überlagern – auch eine Referenz an den einstigen Paket- und Briefpostumschlagplatz. Buchstäblich die stärkste Wirkung entfaltet der Bau in den fensterlosen Bereichen (inneres Titelbild, S. 37), wo das Schattenspiel die Fassade in Bewegung versetzt. Die Fassade dynamisiert sich, wenn der Schatten ins Spiel kommt – als wäre sie ein Himmel-und-Hölle-Spiel (Abb. 10).

Stadt im Haus

Der Bestand hatte Qualitäten, die zugleich vorteilhaft und einschränkend waren: das intakte Tragwerk und die Betonwanne im Grundwasser, die zwei unterirdische Geschosse bot. Den grössten Teil des Tragwerks haben die Architekten denn auch übernommen – Geschossdecken, Stützen und die drei vertikalen Erschliessungskerne. Den Rest haben sie zurückgebaut (Abb. 3, 4, 5, S. 39–40). Dominiert wurde das Innere von einem langgestreckten Lichthof, der sich über drei Geschosse erstreckte, sowie von einer Art Zwischengeschoss, das als Galerie ausgebildet war.

Obwohl die Studierendenzahl seit dem ersten Wettbewerb markant zugenommen hat, bot der Bau mit rund 23 000 m² mehr als ausreichend Platz, um das Raumprogramm unterzubringen: ein grosser Hörsaal mit 381 Plätzen, zwei mittlere mit deren 270 sowie vier kleine mit je 112 Plätzen, Bibliothek mit separatem Lesesaal, Seminarräume, Mensa, Küche, Büros für Professoren und Assistenten der rechtswissenschaftlichen, der theologischen und der geisteswissenschaftlichen Fakultät sowie der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz. Um das riesige Volumen aufzubrechen und mithin auch die Orientierung zu erleichtern, haben die Architekten den Bau in einen Ost- und einen Westflügel und in einen Wechsel von Positiv- und Negativvolumina gegliedert.

Je ein Lichthof ist den beiden Trakten einbeschrieben, dazwischen ist die imposante Treppenanlage platziert. Durch die schmaler werdenden Läufe, verjüngt sie sich kaminartig nach oben. Nicht nur optisch erzeugt das eine Sogwirkung, auch funktional ist sie so konzipiert, dass der Rauch im Brandfall schnell nach oben abzieht. Schlüssig ist die pyramidale Form ausserdem, weil sich der Menschenstrom nach oben ausdünnt, sodass die Treppe auch die hierarchische Pyramide abbildet. Die Verjüngung bricht zudem die Geradlinigkeit; je nach Blickwinkel eignet ihr gar etwas Labyrinthisches (inneres Titelbild). Architektin und Architekt konzipierten das Gebäude als Stadt im Haus; mit Wegen, die sich immer wieder zu Plätzen öffnen, mit Höhenunterschieden sowie Vor- und Rücksprüngen – in der Horizontalen ebenso wie in der Vertikalen (Abb. 1–7, 11). So portionierten sie die Massstabslosigkeit des Gebäudes, vermieden endlose, monotone Korridore und schufen stattdessen eine kurzweilige Abfolge von «urbanen» Zonen und intimen Räumen.

Dissonanz als Kunstgriff

Gleichzeitig liessen sich so aber auch Taktverschiebungen integrieren, wie etwa Stützen, die zuweilen «unsinnig» positioniert sind, weil sich das Tragwerk nicht überall mit der Raumgliederung harmonisieren liess. Diese Dissonanzen wurden denn auch geradezu zum pièce de résistance. Die Architekten haben sich diese Sprünge nämlich nutzbar gemacht, um die Haustechnik zu «bändigen». Deren Installationen hätten die ohnehin schon bescheidene Raumhöhe (270 bis 280 cm) in der auf dem ehemaligen Galeriegeschoss eingerichteten Bibliothek noch mehr verringert. Die Architekten erstellten daher einen ausgefeilten Leitungsplan, indem sie u.a. installationsfreie Zonen definierten. Die resultierenden divergierenden Deckenhöhen widerspiegeln sich in den ebenfalls unterschiedlichen Bodenniveaus, die jeweils mit Treppenstufen überbrückt werden. Bewegte Bodentopografie und dynamisierte Deckenlandschaft (Abb. 11) verstärken die Stadt-im-Haus-Komposition.

Veredelung des Rohen

Dieses widerspiegeln auch Farben und Texturen. Die öffentlichen, «städtischen» Bereiche sind silbernfarben gehalten, die «privaten Inseln» weiss. Dem Westflügel ist Olivgrün, dem Osttrakt – komplementär – Bordeaux zugeordnet, orange ist die Mensa. Die silberne Färbung der Holzwolleplatten der abgehängten Decken oder des Betons der Treppe verstärkt den Maschinencharakter, der dem ursprünglichen Bau eignete, gleichzeitig veredelt sie diese industriellen Materialien. Zwischen Noblesse und Rohheit changiert auch die Textur: Die Rillen, die den Beton der Treppenbrüstungen kannelieren, haben dekorativen Charakter, rühren aber von einer Gummimatte, die auf die Schalung montiert wurde (Abb. 27). Ausserdem vollzieht sich eine Verfremdung des Materials: Der Beton mutet elastisch an.

Eigenartig, die Wahrnehmung täuschend, wirkt zudem die Decke im Konferenzraum, deren Verkleidung aus Holzwolleplatten goldfarben gehalten ist. Prätenziöser ist zudem auch die Gestaltung der Gipsständerwände. Während die weiss gestrichenen einen Glattputz aufweisen, wurden die den Farbkanon reflektierenden Wände mit einem groben Strukturputz – rund oder vertikal – negativ abgerieben. Auf die olivgrün/silbernen, bordeaux/silbernen und orange/silbernen Wände wurde der Anstrich zuerst mit der weichen Rolle appliziert, damit die Farbe auch in die Vertiefungen eindrang. Um die jeweilige Zweitfarbe aufzutragen bzw. die monochromen Partien zu streichen, wurden die Wände mit der harten Rolle abgerieben, um nur (noch) die Höhen zu färben.

Im flachen Winkel betrachtet, «verfliesst» die Farbstruktur zur monochromen Farbfläche, in der Frontalsicht hingegen erzeugt sie einen Sgraffito-Effekt und verankert sich in der in Luzern seit dem 16. Jahrhundert währenden Tradition der Fassadenmalerei.

Eine andere, aber ebenso tradierte Art der Stukkatur zeigen die Wände im Erdgeschoss: Sie springt sofort als Adaption der Aussenhülle ins Auge. Es ist eine Rustifizierung, die man eher an einem Renaissancepalast erwarten würde. Hier kommt denn das Mövenpick-Hotel wieder ins Spiel. Für dessen pyramidal ausgebildeten Fassadenelemente war der Palazzo dei Diamanti in Ferrara eine Referenz (Abb. 26, 28). Das Spiel mit Positiv- und Negativvolumen bekommt so eine weitere Potenz. Innen und Aussen könnten vertauscht sein. Zumal die Hülle sich auch mit einem knitternden Kunststoffkleid assoziieren lässt und mithin eher zu einem Innenraum zu passen scheint.

29. Juli 2011 TEC21

Durchgespielte Ambivalenz

Einen Steinwurf vom Novartis-Campus in Basel entfernt, im Schatten der Planungen rund um den Lothringerplatz, hält eine Häuserzeile dem Immobiliendruck stand. Die Stiftung Habitat hat sie gekauft, um Musikerinnen und Musikern zahlbaren Wohnraum zu erhalten. Behausung und Arbeitsstätte miteinander zu verbinden, war die Idee beim Umbau der einstigen Fabrik Levy Fils AG, den die Stiftung den Basler Buol & Z ünd Architekten anvertraute. Die Architekten haben den Charakter des Konglomerats bewahrt und dessen Widersprüchlichkeiten gleichermassen funktional unmittelbar nutzbar gemacht wie architektonisch mittelbar adaptiert.

Die Lothringerstrasse kommt vom Sankt-Johanns-Ring, mündet auf den Lothringerplatz und führt danach nur noch als Wurmfortsatz rund 200 Meter weiter. Dieses «dead-end» liegt in unmittelbarer Nähe und doch abseits der Neubauten, die das Gesicht der Gegend in den vergangenen Jahren gestrafft haben: die Wohn- und Geschäftsüberbauungen Volta Mitte, erstellt nach einem Projekt von Christ & Gantenbein, Volta Zentrum von Buchner Bründler Architekten und Volta West, nach den Plänen von Degelo Architekten erbaut.

Der Bau Volta West, der entlang von Volta- und Saint-Louis-Strasse wie eine Agraffe einen neuen Park fasst, stösst auch in diesen Wurmfortsatz vor. Und hier weckt er eher die Assoziation mit einem sich um die Ecke schlängelnden Tier, das sich anschickt, sich auch noch den Rest der Häuserzeile einzuverleiben, was der Strasse eine Dramatik verleiht, die mit der Verträumtheit der Wohnbauten aus den 1920er-Jahren kontrastiert. Das wird dem Ort durchaus gerecht. Denn bis 2004 herrschte hier Betriebsamkeit, als die ABB das Domizil der Levy Fils AG, die Nummer 2 im Schweizer Markt für Schalter und Steckdosen, übernahm und das Familienunternehmen in den Konzern integrierte. Nach dem Auszug der Fabrikation übernahm die Stiftung Habitat das Areal. Es umfasste den eigentlichen Betrieb an der Lothringerstrasse 165 und ein angrenzendes Wohnhaus mit der Nummer 147. Dieses haben Buol & Zünd Architekten bereits 2006 renoviert.

Konglomerat

Die ehemalige Fabrik, erstellt 1885, wies eine heterogene Bebauung auf. Während sich der Baukörper entlang der Lothringerstrasse in die Zeile einfügte, war der Hof nahezu flächendeckend überbaut – mit Gebäuden von industriellem Ausdruck. Ebenso heterogen und nicht eben überragend war die architektonische Qualität. Buol & Zünd konzentrierten sich daher auf diejenigen Bauten, deren Bausubstanz ausreichend war und/oder die formal einen gewissen Anspruch hatten. Ersteres galt für das Werkstattgebäude im Hinterhof, einen Backsteinbau, sowie für das Lager, Letzteres für den Baukörper an der Lothringerstrasse, der Verwaltung und Fabrikationsräume beherbergt hatte und sich auf zurückhaltende Weise repräsentativ zeigte. Mindere Bauten, sowohl von ihrer architektonischen Ausdruckskraft her als auch ihres baulichen Zustands wegen, wurden entfernt.

Die Anlage bot zwei Voraussetzungen, die der geplanten Umnutzung zu einem Haus zuträglich waren, das akustischer Eingriffe bedurfte. Bautechnisch war es die durch die einstige Fabriknutzung stark ausgelegte Struktur, die schallisolierende Einbauten verkraftete. Funktional waren es die mit vier Metern überproportional hohen Räume, die den durch die Akustikmassnahmen bedingten Raumverlust ertrugen. Obwohl oder gerade weil die Bauten nicht eigentlich schützenswert waren, brauchte es eine ausgeklügelte, differenzierte Herangehensweise. Weil die Bebauung eher als Konglomerat denn als Ensemble zu bezeichnen war, liess sich dem Gebäudepark keine Strategie überstülpen, sondern es musste für jeden Bau eine je eigene Eingriffskonzeption ersonnen werden. Dennoch eignet den Bauten nun eine stringente Komposition: eine Klaviatur von Disproportionalität, Zwiespältigkeit und «Aus-den-Fugen-Geratenem».

Lagerhalle: Das Innere nach Aussen gewendet

Der eigentümlichste Bau auf dem Gelände war die Lagerhalle. Obwohl die Entstehung in eine Zeit fiel, da sich Stahlkonstruktionen im Industriebau durchsetzten, handelt es sich um einen Mischbau: eine Holzkonstruktion mit einer massiven Aussenmauer. Ausserdem besass der Bau keine eigentliche Fassade. Bis auf die Tore zur Verladerampe hin gab es keine Öffnungen. Die Halle war ganz auf das Innenleben konzentriert und daraus erklärt sich auch der Holzbau: Gelagert wurden Lampen, Schalter etc. auf Holzgerüsten, die – ihres Inhalts entleert – wie minimalistische, serielle Kunstwerke anmuten (Abb.12). Diese Qualität der Halle haben auch die Architekten entdeckt, als sie den Haufen morschen Holzes aufschichteten und in den Fokus nahmen (Abb.15).

Die Ambivalenz rührte aber auch daher, dass die Holzgerüste, die an die Eingeweide alter Speicher erinnerten, einen heimeligen Eindruck machten, ihrer industriell bedingten grosszügigen Ausmasse wegen aber überdimensioniert wirkten. Konsequenterweise «unentschieden » gebärdete sich auch die Struktur, bestehend aus einem ungerichteten System – einem Stützenraster, der Würfel von 4 × 4 × 4 m beschrieb – und einem gerichteten aus Unterzügen, die ihrerseits wiederum einen Bruch in der Tragrichtung aufwiesen. Im Bereich der Verladerampe wechselte sie von Nordost-Südwest, auf Nordwest-Südost (Abb. 9). Die Architekten konzentrierten sich auf diese Charakteristika, um sie für den Umbau nutzbar zu machen. Um dem Bau das fehlende Gesicht zu erstatten – und mithin auch das Tragwerk, wo nötig, zu ertüchtigen –, bildeten sie die innere Holzstruktur auf der Fassade ab, übertragen auf Betonstützen und -träger sowie diagonalen Stahlstreben (Abb. 7). Den Massstabssprung übertrugen die Architekten auf den Verputz – mit einer gegenüber den üblichen 4 mm auf 8 mm vergröberten Körnung.

Auf das Würfelraster reagierten die Architekten, indem sie die Disposition der Wohnungsgrundrisse annähernd deckungsgleich an ihm ausrichteten. Die Tragrichtung bzw. ihr Wechsel bot sich für die Positionierung verschiedener Wohnungstypen an: Auf der Südwestseite Maisonettewohnungen, auf der Nordwestseite Wohngemeinschaften. Zupass kam dieser Gliederung ausserdem, dass die Fläche der Halle im Bereich der Wohngemeinschaften nahezu quadratisch war, bei den Maisonettewohnungen dagegen lang gestreckt. Fast auf der Hand lag es schliesslich, im Südwesttrakt mit seiner «Dreischiffigkeit» im mittleren «Schiff» einen Erschliessungskorridor einzuschneiden. An dieser Stelle hatten sich einst die Umlademöglichkeiten befunden, betrieben zunächst mit einem Handaufzug bevor ein elektrischer Lift eingebaut worden war. Die Architekten haben für den schmalen Hof also die Struktur da entfernt, wo sie ohnehin schon schwach bestückt bzw. von minderer baulicher Qualität war.

Vertikale und horizontale Verbindungen

Wieder begegnet einem das Widersprüchliche, das Komplementäre, das Gegensätzliche, das Hybride: Der Gebäudeteil mit den Maisonettewohnungen gleicht einer Mischung aus Reihenhaus und Hofrandbebauung. Komplementär sind die Gemeinschaftswohnungen. Buol & Zünd haben nicht versucht, die untere Wohnung zu lichten, sondern ihr den «geerdeten », eher verschlossenen, in sich gekehrten Charakter gelassen. Ja, sie haben den Eindruck des Refugiums gar noch verstärkt, indem sie den Boden mit rotbraunen Naturasphaltplatten belegten – eine Referenz ausserdem an die einstige industrielle Nutzung. Nicht nur die von der Beimengung von Eisenoxid herrührende warme Tönung signalisiert den Übergang von der industriellen zur Wohnnutzung, hybrid ist das Material auch, weil es sowohl aus organischen (Bitumen) als auch aus anorganischen (Gesteinskörner) Komponenten besteht sowie weicher ist als Stein, aber härter als Holz. Durch die Gemeinschaftszone der oberen Wohnung hingegen weht eine luftigere Atmosphäre, sie bekommt zusätzliche Helligkeit über ein zenitales Oberlicht, und leichter ist auch der Bodenbelag aus Lärchenparkett. Gemeinsam ist den beiden Wohnungen ein Binnentreppenhaus im Vorraum, über das sie bei Bedarf miteinander verbunden werden können. Diese Stiege irritiert. Sie wirkt gleichzeitig gequetscht und schwungvoll. Tatsächlich mussten die Architekten sie auf den begrenzten Platz «zurechtstutzen», im Gegenzug haben sie einen verdreht wirkenden, auf- und abschwingenden Handlauf entworfen, der erscheint, als habe sich das Holz unter der Einzwängung verworfen. Sie haben gleichsam in dieser Treppe auf engstem Raum den Charakter des Hauses, seine Disproportionalität, verdichtet (Abb. 3). Ähnliches gilt für die Gestaltung der die Wohnungen zum Treppenhaus hin abschliessenden Glaswände als Sichtschutz. Das wie punktiert wirkende Dekor löst sich bei näherer Betrachtung in ein Ornament aus ineinander verschlungenen Kreisen auf. Das Motiv leitet sich aus einem Drahtzaun ab und hätte entsprechend auch nicht «eingraviert», d.h. geätzt, sondern als Metallnetz hinterlegt werden sollen, was aber einen zu kerkerhaften Effekt gehabt hätte. Daher fokussierten die Architekten auf die konstruktive Komponente eines solchen Netzes, auf die Verschränkungen eben, die sie vergrösserten und abstrahierten.

Rückwärtiger Bau – Von der Irritation zur Paradoxie

Paradox mutet die auf einen begrünten Hof orientierte Nordwestfassade des WG-Trakts an (Abb. 6): Die Fassade des Obergeschosses scheint schwer auf der des Erdgeschosses zu lasten, ist sie doch als massive Wand ausgebildet, während die untere aus Holz wie eine leichte Innenwand wirkt. Die Fassadenflucht des Obergeschosses entspricht der Position der Aussenwand des ehemaligen Hallenkörpers und wurde entsprechend wieder als Massivwand ausgebildet. Diejenige des Erdgeschosses dagegen haben die Architekten konzeptionell als Innenwand behandelt. Denn im Bereich der Umfriedung war die Halle ursprünglich nur eingeschossig – noch erkennbar an der Höhe der hinteren Mauer. Sie war einst die Aussenwand und soll weiterhin als solche wahrgenommen werden, sodass der Hof als grünes Zimmer figuriert. Analog gingen die Architekten bei den übrigen Fassaden vor. Die Südwestseite ist wie beim ursprünglichen Bau über beide Geschosse als massive Wand ausgebildet. Die einander gegenüberliegenden, den Hofkorridor flankierenden Glasfassaden des Maisonettetrakts haben optisch wiederum die Leichtigkeit von Innenwänden – unterstrichen durch die Verwendung desselben «Drahtzaun»-Musters, mit dem auch bei den eigentlichen Innenwänden die Transparenz durch den Sichtschutz gedämpft wird (Abb. 4). Dessen bedarf es hier, obwohl zum Hof hin die öffentlicheren Räume – Treppenhäuser, Musikzimmer und Wohnhalle – orientiert sind, rücken die Nachbarn doch wegen der Enge des Hofs einander in ungewohnte Nähe.

Repräsentationsbau – sublimierter Zwiespalt

Das Aushalten des Zwiespalts bzw. seine Sublimation ist auch das Thema beim repräsentativen Zeilenbau entlang der Lothringerstrasse. Denn dem Leichtbau wurde mit den als Raum-im-Raum konzipierten akustischen Einbauten eine konterkarierende Massivität verliehen (vgl. Kasten S. 24). Analog hingegen zur ursprünglichen Nutzung als Verwaltungs- und Fabrikationsort beherbergt der Zeilenbau neben Wohnungen auch Räume von öffentlichem Charakter – Gästezimmer – sowie Arbeitsstätten – vier Übungsräume und ein Tonstudio. Letztere befinden sich im Erdgeschoss. Zwei der Übungsräume sind fix vermietet, die andern beiden sowie das Tonstudio können temporär und auch von Externen genutzt werden, sodass nicht nur Musikerinnen und Musiker, die im Haus wohnen, üben können, sondern auch gemeinsame Proben möglich sind.

Im ersten Obergeschoss wurden Gästezimmer eingebaut, das zweite Obergeschoss beherbergt wiederum Wohnungen: Je höher man steigt, desto privater wird es. Während der Ausbau der Wohnungen dem Standard der Maisonettewohnungen im Hinterhaus entspricht, sind die Gästezimmer etwas einfacher ausgestattet. Auf die temporäre Nutzung ausgerichtet, wurden leichtere Materialien verwendet: Linoleum für die Böden, im selben Farbton allerdings wie die Asphaltplatten der Gemeinschaftswohnungen, und ein nur 3 mm starkes Glasmosaik als Wand- und Bodenverkleidung der Sanitärzelle anstelle der Steinzeugplatten in den Wohnungen.

In doppeltem Sinn kommt hier auch das Raum-im-Raum-Konzept zum Zug. Die Architekten haben die dienenden Funktionen in ein grosses Einbaumöbel gepackt, das ausserdem schallabsorbierend wirkt (Abb. 13, 14). Integriert in dieses Möbel ist die als Galerie ausgebildete Schlafkoje, deren Holzgerüst an die ehemaligen Holzgestelle in der Lagerhalle erinnert. Und gedacht sind die Kojen auch, um sich todmüde aufs Lager sinken zu lassen.

1. Oktober 2010 TEC21

Krustentier und Vogel

Ein imposantes Betonfaltwerk überspannt die Sportanlage Mülimatt in Brugg/Windisch von Vacchini Architekten und Fürst Laffranchi Bauingenieure. Die Falten changieren zwischen V- und -förmig und erzeugen ein optisches Paradox, eine Kippfigur. Der Bau hat die Leichtigkeit eines Origami und die Beweglichkeit eines Akkordeons. Er ändert seine Gestalt je nach Blickwinkel und Tiefenschärfe, sodass er oszilliert zwischen Monolith und Welle, zwischen Massivität und Leichtigkeit, zwischen Geschlossenheit und Transparenz.

Livio Vacchini und seine Tochter Eloisa gewannen 2005 den Wettbewerb um die beiden Dreifachturnhallen zusammen mit Fürst Laffranchi Bauingenieure. Nach dem Tod ihres Vaters 2007 hat Eloisa Vacchini das Projekt nun als ersten realisierten Baustein der «Vision Mitte»1 zu Ende geführt. Die Ausschreibung umfasste neben der Sporthalle auch einen Velo- und Fussgängersteg über die Aare, um die Hallen mit den Sportanlagen im «Schachen» zu verbinden. Da die Jury das Brückenprojekt der zweitrangierten Zulauf & Schmidlin und Conzett, Bronzini, Gartmann bevorzugte (vgl. «Spannband über die Aare», S. 27), wurde nur der Auftrag für die Halle dem Studio Vacchini und den Ingenieuren Fürst Laffranchi erteilt .

Römisches Legionslager und Forum Vindonissa

Den Bau der Dreifachturnhalle des Berufs- und Weiterbildungszentrums der Stadt Brugg und die Dreifachturnhalle für den Fachhochschulsport zwischen Aare und Bahndamm unter einem Dach zu vereinen, hat zunächst historische Referenzen: das Forum in Vindonissa einerseits und ein römisches Legionslager andererseits. Die von den Architekten im Wettbewerb zur Illustration dieser Bezugnahme gewählte Abbildung zeigte den Grundriss des Lagers Novaesium (Neuss). In Mülimatt umfasst die «Mauer» die durch bespielbare Trennwände unterteilbare Halle der Fachhochschule und die mit einer Tribüne ausgestatteten Hallen für die Stadt Brugg, die mittels PVC-«Vorhängen» voneinander separiert werden können. Und die kleinmassstäblichen, vom Foyer «umarmten» Räume unterhalb der Turnhallen – Gymnastiksäle für Judo und Tanz, Fitnessräume, Garderoben sowie Lehrer- und Sitzungszimmer – verweisen auf die Grundrissdisposition der einzelnen Gebäulichkeiten im Innern des Lagers.

Perret als Impulsgeber

Mit dem Bau knüpfte Vacchini auch an eine Recherche an, die zuletzt in der an einen Tempel gemahnenden Sporthalle von Losone (1994–1997) kulminierte: die Suche nach der optimalen Konstruktion eines Daches. Zeit seines Lebens hat sich Livio Vacchini intensiv mit dem Thema «Dach» auseinandergesetzt – verstanden im Sinne des von Auguste Perret (1874–1954) bezeichneten «abri souverain». Der Architekt, so Perret, sei derjenige, der «un portique, un vaisseau, un abri souverain» konzipiere.2 Dessen konstruktives Konzept des aussen liegenden «starren» Skeletts, das im Inneren freies Spiel lässt für die Anordnung der Organe, hatte der französische Architekt und Ingenieur Léonce Reynaud (1803–1880), unter anderem Direktor der «École des ponts et chaussées», auf den Ingenieur gemünzt: «[…] il y (a) progrès toutes les fois que les supports et le parties supportées seront disposés de manière à ce que le rapport du plein et du vide soit diminué, ou à ce qu’on puisse employer de plus petits matériaux.»3 Das Aussschöpfen der konstruktiven Möglichkeiten ist in Mülimatt ein Hauptthema (vgl. «Faltwerk aus Spannbeton», S. 23).

Stütze und mauer, Tragen und Lasten?

Schon in Losone trieb Vacchini ein Vexierspiel. Dort führte ihn die Recherche zu einer rund 56 × 31 m überspannenden Halle, die über dem Rasen zu schweben scheint. Ihre Umfas- sung besteht aus Pfeilern – 27 an den Stirnseiten, 49 an den Längsseiten –, auf denen die Kassettendecke lagert. An ihr hängt der Glasschrein, der wie ein Vorhang von der Decke zu fallen scheint und an der inneren Flucht der Stützen angeschlagen ist. Die Pfeiler sind aber nicht als Punkt-, sondern als Linienlager ausgebildet und wirken so als Mauer, in die grösstmögliche Öffnungen geschnitten sind, was der «machbaren Materialersparnis» entspricht.4 In Losone verwischte Vacchini ausserdem die Trennung zwischen Tragen und Lasten. Obwohl – durch eine Fuge akzentuiert – auf ein Kapitell anspielend, wurden die Kopfenden der Stützen in die Dachplatte integriert. Konstruktiv wird das Dach zwar von den Pfeilern gestützt, konzeptionell aber wird es zwischen ihnen «eingespannt».[5]

Wieder erinnert das an Perret, der, um beim «Musée des Travaux publics» (1936–1948) in Paris zwischen dem runden Querschnitt der Säule und dem rechteckigen des Trägers zu vermitteln, einen Pyramidenstumpf einsetzte, diesen aber nicht als Kapitell bezeichnet wissen wollte, sondern als Bindeglied: «[…] ce n’est pas un chapiteau, c’est un lien […].»6 Verschleiert wird auch die Tempelanalogie: Der Bau verjüngt sich nach oben durch die Pfeiler, deren Querschnitt sich von 43 × 70 cm am Stützenfuss auf 43 × 43 cm am Stützenkopf reduziert. Im Streiflicht setzt sich der repetitive Rhythmus der Stützen in eine endlose, tanzende Bewegung um – ein optisches Paradox, das an Constantin Brâncus¸is «Colonna infinita» (1938) erinnert.

Fünfte Fassade und Origami

Das Sportausbildungszentrum Mülimatt evoziert prima vista das Bild einer gotischen Kathedrale. Wieder ist die innere Hülle, welche die beiden Hallen umfasst, ein Glasbehältnis. Doch das Betonfaltwerk – ein einheitliches, in sich stabiles Tragwerk – überspannt das Feld der beiden Hallen von 79.9 m × 55.4 m in einer ausladenden Geste als eine kontinuierliche Dachfläche, wie ein Tunnel. Als aussenliegendes Skelett überfängt es den Innenraum wie die Schale eines Krustentiers.

Die Komposition aus 27 V-förmigen Rahmenmodulen – gleich vielen wie Stützen auf den Stirnseiten von Losone – erinnert an die Falten der St. John’s Abteikirche (1953–68), Collegeville, Minnesota (USA) von Marcel Breuer und Pier Luigi Nervi, die sich wie Gewölberippen ausnehmen und daher auch mit der rationalen konstruktiven Ästhetik der Gotik verglichen wurden (Abb. 12, 14).7 Die Rahmeneinheiten lassen sich aber auch in Beziehung setzen mit den Jochen, die Perret als die konstitutiven Elemente eines jeden die inneren Organe schützenden «abri» definierte – ohne Unterscheidung nach Art der Bauten, «qui pourraient tous ressembler à des basiliques faites de travées répétitives […].»8 Aber auch der Eindruck des Origami, der sich einem beim Anblick des Baus einprägt, täuscht nicht: Das Dach als fünfte Fassade zu etablieren, drängte sich den Architekten deshalb auf, weil der Bau unterhalb des Bahndamms steht und vom Zug aus Blickfang ist. Im Gegensatz zu Losone, wo das Dach begrünt ist, schien den Architekten dies in Mülimatt ausserdem unnötig zu sein, da sich der Bau inmitten einer stupenden Landschaft befindet. Den Ausblick auf die Flusslandschaft hingegen galt es zu inszenieren und mithin ein schwebendes, ein «‹fliegendes› Dach» (Eloisa Vacchini) zu entwerfen. Bereits im Wettbewerb stand denn auch der gefaltete Bogen Papier Modell. Das Fliegende bietet auch ein Vokabular für die Stützen, die an Federkiele gemahnen. Sie «flattern» in einem Rhythmus, der im Spiel von Licht und Schatten und je nach Perspektive variiert – eine kondensierte Bewegung wie in Brâncus¸is «L’oiseau dans l’espace» (Abb. 15).

Welle und Monolith

Wie in Losone interessierte aber immer noch das Thema der Mauer, obwohl nun also ein Dach kreiert wurde – eines, das gleichsam wie eine Welle über die Hallen schwappt und sich in das Faltwerk ergiesst. Gleichzeitig soll der Bau den Eindruck vermitteln, dass das «Geröll», das die Welle mitführt, bzw. dass der «Stein in der Strömung des Flusses den Fels auskratzt» (Eloisa Vacchini), Schluchten in ihn einfrisst. Das Bild korrespondiert mit der Konstruktion: Das Regenwasser läuft über die Dach- und Stützenfalten – weshalb das Dach ein Gefälle aufweist – und wird über Rinnen am Sockelfuss abgeleitet. Das erzeugt ambivalente Bilder, oszillierend zwischen überschwappender Welle und ausgewaschenem Monolith, zwischen Fliessendem und Statischem.

Auch in dem einstigen Sitzungstrakt des Rathauses in Marl, 1967 von Johannes van den Broek und Jacob Berend Bakema errichtet, laufen die Falten des Betontragwerks, das ebenfalls das Skelett für eine eingestellte Glaskiste bildet, fliessend in die vertikalen Schäfte über (Abb. 11). Sie werden über eine Gehrung verbunden, die das Motiv von Lasten und Tragen verunklären, sodass Dach und Wand als eine Einheit wirken. Ebenso sollte es in Mülimatt keinerlei optischen Unterbruch zwischen Stütze und Dach geben. Wurde in Losone verhindert, die Stützenenden als Kapitelle zu lesen, haben die Architekten hier die Assoziation mit einem Architrav vermieden, indem die Zugkraft in Hallenlängsrichtung «über eine Ortbetondiagonalscheibe über Dach im Gleichgewicht» gehalten wird (vgl. «Faltwerk aus Spannbeton », S. 23).9

Von der optischen Täuschung zum Kippbild

Die beeindruckendste Wirkung entfaltet die Ambivalenz der Sportanlage, wenn sie sich von der optischen Täuschung zum Vexierbild steigert: Die Diagonalen der Schäfte interferieren mit dem Raster der Fensterprofile, sodass die Geraden gekrümmt werden (Abb. 3). Die Transparenz, die der Bau im Innern offenbart, weil bis zu einer Höhe von rund zwei Metern die offenen Partien der Verglasung im Verhältnis zu den geschlossenen des Tragwerks grösser sind, lässt sich von aussen kaum erahnen. Denn von Weitem erweckt der Bau den Eindruck eines geschlossenen Schreins: aus einem seitlichen Blickwinkel bedingt durch die perspektivische Verkürzung, frontal gesehen durch die Tiefe des Skeletts sowie durch die Distanz zwischen diesem und der verschatteten Glasfassade.

Hier wird die Wahrnehmung denn auch multistabil: Man kann die Struktur, der Tragwerkskonzeption entsprechend, als V-oder aber als V-förmig lesen. Je nachdem, worauf man fokussiert, tritt das «Gerippe» oder die Glasmembran in den Vordergrund, wie bei einem Kippbild. Das gibt dem Bau jene bewegliche Anmutung, welche die Assoziation mit einem Akkordeon – sowohl mit dessen Falten und Rippen als auch mit den Stimmzungen – hervorbringt. Verstärkt wird das Bewegungsmoment durch die Zuspitzung der Federkiele, die Vacchini ins Werk setzt. Sie verweist wiederum auf Perret: Dieser verlieh im «Musée des Travaux publics» (1936–1948) in Paris den Säulenschäften an ihrer Basis einen kleineren Querschnitt als an ihrem oberen Ende. Und erneut auf die St. John’s Abteikirche: Anders als in Marl verlaufen dort die Falten der Wände im Inneren ebenfalls nicht vertikal, sondern sind zum Fusspunkt hin abgeschrägt. In der Mülimatt aber werden die Stützen bis auf ein Minimum verjüngt, sodass sie gerade noch auf einer Spitze zu stehen und den Boden nur punktuell zu berühren scheinen – eine Toccata, «gespielt» auf einem Akkordeon.

27. August 2010 TEC21

Strip und Netzwerk

Das Wipkinger Viadukt ist ein höchst hybrides Bauwerk, nachdem EM2N zusammen mit WGG Schnetzer Puskas Ingenieure AG die 52 Bogen zu einer 590 Meter langen Marktgasse transformiert haben. Zwischen Heinrich- und Geroldstrasse entstanden für 32 Millionen Franken in 38 Bogen Laden, Atelier- und Gewerberäume sowie im Spickel der beiden Viadukte an der Limmatstrasse Zürichs erste Markthalle, die sich über 14 Bogen erstreckt. Ihre Eröffnung ist auf Anfang September terminiert. Aus einer städtebaulichen Barriere haben die Architekten eine vernetzende Struktur geschaffen, die dereinst sogar den Strom des Gleisfelds überbrücken könnte. Es ist ein typisches «sowohl als auch»[1]-Projekt von Em2n.

Die 1889–1898 errichteten Aussersihler Bahnviadukte sind Denkmäler der Technikgeschichte und herausragende Zeugen von Zürichs Stadtentwicklung. Im Laufe ihrer 100-jährigen Geschichte bildeten sie sich aber gewissermassen als natürliche Grenze heraus – EM2N bezeichnen sie denn auch als ein von Menschenhand errichtetes Gebirgsmassiv – zwischen dem Industriegebiet «ausserhalb» des Schienen-S (Abb. 1) und den Wohnquartieren auf dessen Innenseite.

Im Zuge der Sanierung der Viadukte (vgl. Kasten S. 34) entschieden sich die Stadt Zürich und SBB Immobilien, eine Neunutzung der Viaduktbögen ins Visier zu nehmen, und schrieben einen Wettbewerb für die Umgestaltung aus. Zusammen mit der zusätzlich von den Auslobern verlangten landschaftlich gestalteten Fortsetzung des Fuss- und Velowegs auf dem Letten-Viadukt sollte das Projekt dem Verkehrsweg eine ganz neue Qualität eintragen: Die Durchlässigkeit sollte sich nicht mehr auf die durch die Bögen vorgezeichnete West- Ost-Richtung konzentrieren, d. h. den «alten» an den «neuen» Kreis 5 andocken, sondern auch die Nord-Süd-Richtung erschliessen und die Aussenräume an der Limmat mit jenen im Kreis 5 verbinden. Statt einer linearen Struktur sollte ein Netz resultieren. Bedingung war ausserdem, die Transformation möglichst kostengünstig ausführen zu können, damit die Stiftung zur Erhaltung von preisgünstigen Wohn- und Gewerberäumen der Stadt Zürich (PWG), welche die Einbauten in Letten- und Wipkinger Viadukt im Baurecht übernommen hat, in der Lage sein würde, die Mieten niedrig zu halten.

«Sowohl als auch»

Im Sommer 2004 überzeugten EM2N Architekten und Zulauf, Seippel, Schweingruber Landschaftsarchitekten (heute: Schweingruber Zulauf) die Jury mit der Konzeption eines «sowohl als auch». Indem die Architekten die Situation einerseits als ein künstliches Gebirgsmassiv auffassten, betonten sie den landschaftlich-topografischen Massstab und kreierten mit dem Letten viaduktweg eine Art Höhenstrasse für Fussgänger und Velofahrer. Anderseits strickten sie an der Vernetzung weiter, um das Viadukt – als Verkehrs v erbindung verstanden – gleichermassen zu einem linearen Park wie zu einer Kultur-, Arbeits- und Freizeitmeile zu transformieren – mit der Markthalle als Auftakt und den Läden, Restaurants und Kultureinrichtungen als serielle Reihung. Die Idee der Architekten war, den «Letten-Viadukt-Strip» zu verlängern, als den sie die nach Funktionen und Öffentlichkeitsstufen gegliederte Abfolge von Einrichtungen entlang der Limmat zwischen dem Hauptbahnhof und der Josefwiese auffassen. Dieser führt vom Landesmuseum über den Platzspitz, das Museum für Gestaltung, den Oberen Letten, das EWZ, den Unteren Letten, die Berufs schule, diverse Clubs und Galerien, Migrosmuseum sowie Sporteinrichtungen bis zur Kehrichtverbrennungsanlage.

Ambivalenz oder zwei Gesichter

Die Ambivalenz, die sie mittels des «sowohl als auch» lösten, orteten EM2N aber auch in der Fragestellung, «wie sich ein denkmalgeschütztes Infrastrukturelement programmieren [lässt], sodass es integraler Teil des Stadtgefüges wird», und «wie man heute in der Schweiz noch günstig bauen [kann], trotz drastisch zunehmender Regulierungsdichte und Komfortansprüchen in Bereichen wie Energie, Hygiene und Brandschutz».

EM2N erhoben das Zyklopenmauerwerk zur prägenden Landmark, rückten sie in den Vordergrund, indem sie die Einbauten zurückhaltend gestalteten. Aber sie stellten diese nicht losgelöst in die Bögen hinein, sondern verbanden sie symbiotisch mit dem Mauerwerk.

Unprätentiös sind die Bögen «zugemauert» und mit Glas (Holzmetallscheiben) ausgefacht, wobei die Bögen des niedrigeren Lettenviadukts auf der «Innenseite» zur Josefwiese hin bis zum Scheitel gefüllt sind, während jene des Wipkinger Viadukts auf der «Aussenseite» zur Hard hin nur etwa zur Hälfte geschlossen sind, sodass sich zwei Gesichter zeigen: Zur Hardbrücke hin bleibt das monumentale Antlitz des Viadukts bewahrt, zur Josefwiese entspricht der «verhüllte» Auftritt dem intimen Charakter des Quartiers, das sich um die Josefwiese drängt.

Im Innern sind Galerien eingezogen – Holzrippenböden, deren Balken roh belassen oder hell gestrichen sind, und die entweder an der stark gedämmten Holzdecke aufgehängt oder auf Stützen abgestellt sind –, erschlossen jeweils von einer Treppe aus verzinktem Stahl, mit Tageslicht versorgt durch die kreisrunden Oberlichtkuppeln (Cupolux). Zu dem Baukasten, den die Architekten für den Innenausbau zusammenstellten und aus dem sich die meisten Mieter bedienten, gehören schliesslich auch die schwarz gestrichenen Toilettenzylinder. Das Restaurant hingegen ist mit einer Flucht von Kabinen ausgestattet, die innen und aussen farblich variieren, sodass sie etwas wie einen Deckstoff und ein Innenfutter haben.

Nahtstelle, Grat, Höhenstrasse

Das Projekt ist für das Werk von EM2N schon fast «klassisch» zu nennen – nicht nur, weil es ein weiteres ist, das sich der Umnutzung von Bestehendem verschreibt, sondern weil es sich auf dem Grat zwischen Architektur und Städtebau bewegt, auf der «Nahtstelle»[2] zwischen Einzelbau und Netzwerk. Tatsächlich ist es eine Aufreihung der einzelnen Einbauten zur Perlenschnur. Doch nicht nur weist jeder Bogen eine andere Geometrie auf, auch die Schnitte und Grundrisse differieren, sodass jeder Bogen ein eigenes Projekt war – so, als hätten 40 Einfamilienhäuser geplant werden müssen. Als Netzwerk beschränkt sich die Erschliessung nicht auf die Ebene, auf die Verbindung in Nord-Süd- und West-Ost-Richtung, sondern erstreckt sich auch über die Vertikale: Einzelne «Häuser» sind als Treppen ausgebildet, um den Lettensteg zugänglich zu machen: Es sind Treppenhäuser im Wortsinn – mithin ebenfalls hybride Bauten.

Der Wechsel von Haus-Brücke-Haus-Brücke als Abfolge verstärkt noch die Assozia tion mit der Höhenstrasse an der Landi 1939, die ebenfalls eine Aneinanderreihung von Pavillons passierte. Diese Analogie wäre noch markanter gewesen, wenn nicht aus Kostengründen auf Aufgänge von den Galerien auf den Lettensteg hätte verzichtet werden müssen. Dann hätte sich ausserdem noch ein weiteres Bild eingestellt: die Referenz an die Berner Lauben und die dortigen Kellerlokale – das Hybride zwischen ober- und unterirdisch wäre demnach noch ausgeprägter zum Tragen gekommen.

Spannring und Membran

Bei aller Durchlässigkeit setzt das Viadukt einer ausufernden Entwicklung aber auch eine klare Figur als Widerstand entgegen, nicht von ungefähr haben EM2N das mittelalterliche Arles als Referenzbild gewählt, auf dem das römische Amphitheater wirkt wie ein Spannring, den die Häuser im Innern fast zu sprengen drohen.

Ähnlich brandet die Josefwiese an das Viadukt – erst recht, nachdem der Zaun und die Hecke zum Viadukt hin im Zuge der Auffrischung gewichen sind, welche die Stadt 2009 für 2.5 Millionen Franken ins Werk setzte. Obwohl die seit 1920 bestehende Josefwiese mit einer Fläche von gut 20 000 m² knapp so gross ist wie drei Fussballfelder, offenbart sie sich aus der Vogelperspektive als grüner Teppich eines Innenraums. Gewissermassen als Erweiterung des Wohnzimmers wird er von den Quartierbewohnern auch genutzt. Ausserdem profitieren sie vom Umbau des 1926 von Stadtbaumeister Hermann Herter errichteten «Kiosks Josefwiese», den Ladner Meier Architekten im selben Zeitraum realisierten.

Balg und Reissverschluß

EM2N interpretieren das Bild der Stadtmauer zeitgemäss – nicht als starre Barrikade, sondern als pulsierende Membran. Tatsächlich ist das Viadukt ein Organismus, der sich bewegt: Je nach Temperatur variieren die Dehnungsfugen (Dilatationsfugen) um bis zu 2 bis 3 cm, was sich in unterschiedlichem Schlagverhalten niederschlägt, das mittels Erschütterungsdämmung nivelliert wurde (vgl. Kasten S. 36).

Das Faltwerk der Markthalle mit der schokoladebraunen genoppten Dachhaut vergleicht Daniel Niggli mit dem Schokoladeaufstrich zwischen zwei Brotscheiben, die auseinandergezogen werden. Es erinnert aber auch an den Balg eines Akkordeons. Das Moment des Beweglichen, das der Markthalle eignet, weckt indes noch eine andere Assoziation: diejenige mit dem Schieber eines Reissverschlusses, in den die beiden sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen auseinanderdriftenden Viadukte einmünden und als dessen Zähne sich die Bogen ausnehmen.


Anmerkungen:
[01] Titel der monografischen Darstellung des Werks der Architekten: Andreas Ruby, Ilka Ruby (Hg.): EM2N: sowohl – als auch. gta Verlag, Zürich, 2009
[02] Stanislaus von Moos, «Versteckspiel am Puls der Stadt», zit. op., S. 198

2. Juli 2010 TEC21

Schallwellenbrecher

Die berühmteste Verbindung zwischen Musik und Architektur im 20. Jahrhundert schufen Iannis Xenakis und Le Corbusier 1958 mit dem Philips- Pavillon an der Weltausstellung in Brüssel. Er ist ein Bezugspunkt für Wolf D. Prix beim Projekt von COOP HIMMELB(L)AU für den Pavillon für die Münchner Opernfestspiele. Doch während der Philips-Pavillon eine Verräumlichung der im Innern aufgeführten Musik, des Poème Electronique von Edgar Varèse, darstellte, fungiert der «Pavillon 21 MINI Opera Space» als gegenkoppelnder Soundscape der aussenräumlichen Geräuschkulisse.

2003 war die letzte, im Zweiten Weltkrieg entstandene Baulücke Münchens mit der Neubebauung des Marstallplatzes im Herzen der Altstadt geschlossen worden. Die Berliner Architekten Gewers, Kühn und Kühn (GGK Architekten) bauten den Maximilianhof, den Bürkleinbau und das Probengebäude der Bayerischen Staatsoper. Dessen Fassade wurde vom Künstler Olafur Eliasson «bespielt». Er hängte der Wand eine Hülle aus Glas vor, die zum Prospekt des Platzes wird. Oben und unten in verschiedenen Winkeln montiert, reflektieren die schimmernden Farbeffektgläser des oberen Bereichs den Himmel über dem Platz, der untere dagegen «bildet» die Menschen und das Geschehen auf dem Marstallplatz «ab». Der Platz wird so zu Auditorium und Bühne, die Fassade zu einem Echtzeit-Raum eines «Theaterstücks», das sich auf dem Platz abspielt. So empfinden sich die Passanten auf dem Platz auch gleichermassen in einem Innen- wie in einem Aussenraum. Das macht sich COOP HIMMELB(L)AU zunutze beziehungsweise verstärkt den Effekt und ergänzt die optische um eine akustische «Täuschung» bzw. Irritation: die auditive Wahrnehmung des Platzes als Innenraum. Zwischen Olafur Eliassons Fassade, dem Marstall und dem Max-Planck-Institut hat das Wiener Architekturbüro den «Pavillon 21 MINI Opera Space» platziert. Er beherbergt im Rahmen der Opernfestspiele noch bis am 31. Juli 2010 experimentelle musikalische Gastspiele.[1]

Partituren wie Grundrisse

In der Genese des Büros COOP HIMMELB(L)AU spielt Musik eine zentrale Rolle. Und auch den Impuls des Entwurfsprozesses ortet der Architekturhistoriker Jeffrey Kipnis, der die Bauten formal in Blasen, Flügel, Wracks und Nebelbänke klassifiziert, in der Musik.[2] Wolf D. Prix selber bezeichnet Musik als Teil seines Denkens: «Wenn ich mir von Cage die Notationen anschaue, lese ich da Grundrisse.»

Dennoch ist der «Pavillon 21 MINI Opera Space» das erste im engeren Sinn «musikalische» Projekt, das die Wiener Architekten je realisiert haben – wenn man von der Inszenierung des «Weltbaumeisters» 1993 zum Festival Steirischer Herbst in Graz absieht. Eine Verbindung zwischen beiden Projekten gibt es: «Damals waren auch Notenbilder in verschiedenen Sequenzen der Ausgangspunkt des Entwurfs». Beim Pavillon sind es je eine Sequenz aus Jimi Hendrix’ «Purple Haze» und Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Don Giovanni».

„Fliegender“ Leichtbau kontra gravitätische Akustik

Doch vor der Kür war die Pflicht zu bewältigen, die darin bestand, den inneren Widerspruch der Bauaufgabe aufzulösen. Gefordert war nämlich ein temporärer, zerlegbarer und transportabler Pavillon für Musikdarbietungen, denen rund 300 Personen beiwohnen können – ein «fliegender» Leichtbaukörper also, was «in absolutem Kontrast zu den Anforderungen an die Akustik steht» (Prix): Dem über einer Unterkonstruktion aus Stahlprofilen mit Aluminiumpaneelen verkleideten Bau fehlt die für eine gute Akustik unabdingbare Masse (vgl. Kasten «Spikes» S. 20). Wolf D. Prix wandte sich daher zunächst dem Aussenraum zu bzw. entschloss sich, die akustische Qualität im Innern zu optimieren, indem er Einfluss auf diejenige des Aussenraums nahm. «Wir mussten ein Volumen schaffen, das die akustischen Eigenschaften im Innenraum erhöht, indem wir das Gebäude vom Aussenraum abschirmen. Wir haben also eine Form generiert, die gleichzeitig zerlegbar und relativ schnell auf- und abbaubar ist und deren Oberfläche den Schall entweder reflektiert oder schluckt.» Als Ideal schwebte Prix ein akustisches schwarzes Loch vor, von dem der Lärm des Motorengeräuschs eines Autos geschluckt würde: «Die Vorstellung war, dass das Geräusch, sobald der Wagen den Pavillon passiert, gleichsam verstummt.»

Die Akustiker von Arup ersannen zusammen mit COOP HIMMELB(L)AU gewissermassen ein negatives Soundscape, eine «Klanglandschaft der Dämpfung» (Prix), und fokussierten auf drei Angriffsflächen: Abschirmung des Platzes von der Strasse, Ausformulierung der Geometrie des Pavillons dergestalt, dass es zwischen seinen Fassaden und denjenigen der umgebenden Bauten nicht zu Widerhall kommt, und Vergrösserung der Oberfläche des Pavillons durch ihre Auflösung in keilförmige Elemente, die Schall absorbieren und reflektieren bzw. ablenken (vgl. Kasten «Spikes» S. 20).

Visualisierter Klang als akustische Gegenkoppling

Neben den Parametern der Lärmabschirmung, der Konstruktion als Leichtbau, den Kosten und der flexiblen Bespielung mit klassischer Bestuhlung, als Arenatheater und mit Bankettelayout war den Architekten auch an einer Form gelegen, die den Platz nicht nur akustisch beeinflussen, sondern auch optisch in einem andern Licht erscheinen lassen würde. Der Pavillon ist daher nicht nur akustisch eine Gegenkopplung, weil die Hülle den Lärm der Strasse «neutralisiert», sondern auch optisch, weil er gewissermassen einen visualisierten Klang zurückwirft.

Diesen haben COOP HIMMELB(L)AU in einem klassischen und einem modernen Musikstück gefunden – Lieblingsstücke von Wolf D. Prix: Wolfgang Amadeus Mozarts Oper «Don Giovanni» und Jimi Hendrix‘ «Purple Haze». Je eine Sequenz haben sie aus den beiden Werken extrahiert: Im Falle «Don Giovannis» ist es dessen Begegnung mit dem steinernen Gast, der Statue des Komtur, dessen Einladung zum Essen er quittiert mit «Non ho timor: Verrò!». Aus «Purple Haze» ist es die Liedzeile «Scuse me while I kiss the sky», die einst auch die Inspirationsquelle für die Namensgebung des Büros COOP HIMMELB(L)AU war.

Die ausgewählten Sequenzen wurden zunächst mittels digitaler Signalverarbeitung in einem Oszillogramm visualisiert. Daraus wurde ein kurzer Ausschnitt von drei Sekunden gewählt und mittels Diskreter Fourier-Transformation (DFT) analysiert. Die resultierende Spektrogramm- Darstellung wurde nun auf die Geometrie des computergenerierten 3D-Modells einer quaderförmigen Box kartografiert. Im nächsten Schritt wurde die spektrogrammatische Darstellung mit der Wellenform des Oszillogramms überlagert, um eine dreidimensionale Oberflächenstruktur aus pyramidenförmigen Spikes zu generieren. Die Höhen und Grundflächen dieser Keile leiten sich aus Lautstärke, Frequenz und Zeit ab.

Glätten, verzerren - tunen

Die von Spikes übersäte Oberfläche des Modells war nun gewissermassen in einen andern Aggregatszustand überführte Musik. Um dieses verkörperlichte Klangspektrum, die «Spikes», so zu manipulieren, dass sie den Soundscape modulieren, wurden sie «wie in einem Feedback zwischen Form, Inhalt, Kosten, Wünschen des Klienten und stadträumlichen Überlegungen» verzerrt, geglättet – getunt. So resultiert etwa die markanteste Verformung auf der Nordseite aus der akustischen Forderung, den Eingangsbereich dahinter überproportional stark abzuschirmen, und aus der funktionalen Bedingung, eine Lounge-Bar zu integrieren. «Das ist es, was ich so liebe; es schaut zufällig aus – aber es ist nicht chaotisch: Der Ansatz ist ein wilder, aber die Durcharbeitung ganz und gar nicht.» «Überformt» wird die akustische Dimension schliesslich noch mit einer elektromagnetischen.

Das Medientechnologie-Unternehmen CAT-X bespielt den Bau mit einer interaktiv konzipierten Lichtinstallation. Die Idee war, dass die Beleuchtung mit den Klängen im Innern «harmoniert», die Musik nach aussen diffundiert. Analog zur formalen Strategie des architektonischen Konzepts, die Oberfläche über die Transformation der Spektralinformation einer Klangsequenz zu generieren, werden die Lichtprojektionen über die Umwandlung der Audiosignale erzeugt – allerdings in Echtzeit. Die als verräumlichter Klang gebildete Form wird dynamisiert. Sie wird flüchtig – wie die Musik, die im Innern gespielt wird.

Akustik als Dimension der Kontextualisierung

Für die Konzeption eines Baus, der als eine Art negatives Feedback funktioniert, als Gegenkopplung, sieht Prix ein bislang unausgeschöpftes Potenzial: «Es würde möglich, Material zu sparen, wenn es gelänge, die Akustik bzw. den Lärmpegel durch die Form so zu beeinflussen, dass nicht mehr tonnenschweres Material verwendet werden müsste.»

Für die Beruhigung des öffentlichen Raums, dessen akustische Verschmutzung Raymond Murray Schafer zwar schon 1977 beklagte,[3] der aber kaum je kreativer als mit Lärmschutzwänden zu Leibe gerückt wird, könnte der Pavillon ein Impuls sein. Und ein Anstoss auch für zwei Dauerbrenner in der Architekturkritik: Die Verschmelzung von Innen- und Aussenraum wäre nicht mehr nur auf die visuelle Ebene beschränkt, sondern könnte auch akustisch ausgelotet werden. Denn die Neutralisierung des Lärms verleiht dem Platz Innenraumqualitäten.

Damit gekoppelt ist Prix’ Wink an die «Kontextfanatiker», deren allfälliger Kritik an dem zerzausten Pavillon er vorgreift: «Wenn man sich nicht auf die visuellen Qualitäten der Proportionen kapriziert, sondern die akustische Dimension – das Geräusch oder den Ton – ebenso in die Beurteilung der Kontextualisierung einbezieht, wie die Bewegung und das Licht, dann schaut die Architektur ganz anders aus.»

A propos «zerzaust»: Als Wolf D. Prix vor gut einem Jahr das Projekt für den temporären Pavillon mit den Worten aus Herman Melvilles «Moby Dick» präsentierte – «Ich wollte, der Wind hätte einen Körper»[4] –, liess dies an einen Cluster von windzerfetzten Segeln denken. Nun, da er gebaut ist, erweckt der «Pavillon 21 MINI Opera Space» optisch eher den Eindruck eines zersplitterten (Schall-)Wellenbrechers. Akustisch erregt er eine andere Assoziation: Vom Jazz-Saxophonisten Sonny Rollins geht die Legende, er habe seinen grossen Sound unter anderem dadurch entwickelt, dass er in den späten 1960er-Jahren auf der Williamsburg Bridge gegen den Verkehrslärm anblies.[5] COOP HIMMELB(L)AUS Pavillon ist (auch) ein Resonanzkörper, der gegen den Lärmpegel «anspielt».


Anmerkungen:
[01] Eröffnet wurde der «Pavillon 21 MINI Opera Space» am 24. Juni mit dem Afrika-Projekt «Remdoogo – Via Intoleranza II» von Regisseur Christoph Schlingensief, das er mit Künstlern aus dem Operndorf in Burkina Faso entwickelte. Die weiteren Veranstaltungen finden sich unter www.bayerische.staatsoper.de. Geplant ist, den Pavillon während vier Spielsaisons zu nutzen. Durch die modulare Bauweise kann er in Container verpackt und andernorts wieder aufgestellt werden. Eine konkrete Anfrage liegt von der Stadt Augsburg vor. Interesse signalisiert haben London und Paris. (www.bayerische.staatsoper.de)
[02] Jeffrey Kipnis, «II. Aufruhr auf der Ringstrasse»; in: Peter Noever (Hrsg.): COOP HIMMELB(L)AU: Beyond the Blue. Prestel, München, 2007, S. 42–50
[03] Raymond Murray Schafer: The Tuning of the World. Knopf, New York, 1977
[04] Wolf D. Prix Prix, Vortrag vom 29. Juni 2009 anlässlich der Eröffnung der Münchner Opernfestspiele: «Would now the wind but had a body [...]» in: Herman Melville: Moby Dick or The Whale, Kap. 135, 1851
[05] Dass die Hängebrücke über den East River einst sein «Probelokal» war, ist nicht nur eine Saga, wie Sonny Rollins in einem Interview mit Beat Blaser bestätigte, welches das Schweizer Radio DRS 2 am 17. April dieses Jahres ausstrahlte

23. April 2010 Christian Holl
TEC21

200 Microcittà – eine Metropole

Die Peripherie Roms litt in den letzten Jahrzehnten unter der Vernachlässigung durch die Stadtverwaltung, die sich auf das Zentrum konzentrierte. Der neue Piano Regolatore Generale (PRG), der 2008 in Kraft trat, revidiert das Bild der Stadt vom Zentristischen zum Polyzentristischen: Die Metropole birgt 200 Microcittà. Die peripheren Quartiere sollen nicht mehr ausfransende, wuchernde Auswüchse der Stadt, sondern identifizierbare Ortschaften sein.

Fünf Piani Regolatori Generali (PRG)[1] hat die Stadt Rom bisher gehabt: Diejenigen von 1873 und 1883 fielen in die Regierungszeit König Umbertos I. Der Plan von 1909 war der erste, der nicht mehr unter aristokratischer Führung, sondern unter der Leitung einer von demokratischen, republikanischen und sozialistischen Kräften getragenen Administration entwickelt wurde, an deren Spitze der Bürgermeister Ernesto Nathan stand. Nach seinem Urheber Edmondo Sanjust als «Piano Sanjust» bezeichnet, wurde der Plan für eine Bevölkerung von einer Million dimensioniert (1908 hatte Rom knapp 600 000 Einwohner). 1931 – die Stadt war nunmehr auf über eine Million Einwohner angewachsen – wurde der Perimeter ausgedehnt und eine Einwohnerzahl von zwei Millionen anvisiert. Roms Gouverneur Boncompagni Ludovisi präsidierte die Kommission, die den Plan ausarbeitete. «[…] die hehren Versicherungen, das historische Zentrum nicht anzutasten, [wurden] den Bedürfnissen des Strassennetzes geopfert», schrieb dazu der Architekt Piero Ostilio Rossi.[2] In der Folge setzten die Faschisten zu den grössten«sventramenti» (Ausweidungen) der Geschichte der Stadt an – unter anderem um die Schneise der Via dei Fori Imperiali zu legen.

1962 schlug die Geburtsstunde der «asse attrezzato» – eine Schnellstrasse, die in Nord- Süd-Richtung die Autostrada del Sole mit dem EUR (Esposizione Universale di Roma) verbinden sollte.[3] An diese Achse sollte das Sistema Direzionale Orientale (SDO) andocken, ein gigantisches Überbauungsprojekt in der östlichen Suburbia der Stadt, in dem die Funktionen der öffentlichen Hand – Ministerien, Verwaltung etc. – hätten konzentriert werden sollen, um das historische Zentrum zu entlasten und durch den frei werdenden potenziellen Wohnraum seiner Verwaisung Einhalt zu gebieten. Man bot Kenzo Tange auf, um das Projekt zu planen, Urheber des Ende der 1980er-Jahre errichteten Centro Direzionale in Neapel. Gegliedert wurde das SDO in vier Zonen: Pietralata, Tiburtina, Casilino, Centocelle. Doch diese Planung bleib in den Anfängen stecken und kam nicht über eine Rumpfbebauung im EUR und auf dem ehemaligen Flughafen von Centocelle hinaus. Daher wurde auch vier Jahrzehnte später und obwohl nun, ab 1993, ein neuer PRG in Arbeit war, noch über die «asse attrezzato» gestritten. Das SDO blieb der Papiertiger einer technokratischen und fortschrittsgläubigen Epoche. Mit dem neuen PRG, über dem nun, da Francesco Rutelli das Bürgermeisteramt antrat, die «grüne» Flagge wehte, wurde das SDO auf eine «centralità urbana» im Quartier Pietralata reduziert, verbunden mit dem Ausbau des Bahnhofs Tiburtina für Hochgeschwindigkeitszüge (Alta Velocità). Gleichzeitig wurde die Nord-Süd- Achse ad acta gelegt und durch ein tangentiales Erschliessungssystem ersetzt, das vor allem auch auf dem Ausbau des öffentlichen Verkehrs basieren sollte.

«19 Städte, eine einzige Metropole»

Motor dieses Richtungswechsels ist die radikale Revision der Idee von Stadt, die nun rund 6 Millionen Einwohner umfasst – mehr als die Hälfte davon in der Peripherie: Ging die Planung im Gefolge des Piano Regolatore der 1960er-Jahre von der Erweiterung nach aussen aus, vom Wachstum durch Neubau und Neuerschliessung, steht hinter dem neuen Planungsinstrument die Devise der Aufwertung nach innen, innerhalb des Stadtgewebes. Und die zentralistische Auffassung von einer Kapitale weicht der Vision eines polizentristischen Stadtgebildes, in dem nun auch die Peripherie stärkeres Gewicht hat. In Anlehnung an die verwaltungstechnische Gliederung in 19 Municipi will die Stadt ihr Image von der Metropole zur «19 città una sola metropoli» («19 Städte, eine einzige Metropole ») wandeln.[4] Die reale Bebauungsstruktur der Stadt findet ihren Niederschlag in dem Bild eines Haufens von «microcittà», deren 200 identifiziert werden (Abb. 2 und 3).

Es werden 18 «urbane Zentren» definiert, nahezu eines pro Municipio (Stadtbezirk), und 60 Ortszentren («Centralità locali») destilliert und im neuen Piano Regolatore festgelegt.[5] Sie bilden die Knotenpunkte der lokalen Identität, der Prozesse der Modernisierung und der Qualitätssicherung der Perpherie – mittels öffentlicher Einrichtungen, Anbindung an den ÖV, Bau von Kulturzentren und Verbesserung der Qualität der Grünzonen. Der neue PRG brachte aber noch eine weitere Einsicht: dass nicht nur das Planungsinstrument von der zentralistischen Doktrin abrücken muss, sondern auch der Planungsprozess kein zentralistisch geführter sein und nicht Top-down verlaufen darf, sondern der Einbindung der Planungsinstanzen der Region und der Municipi sowie der Bewohner bedarf.

Identität und Katalysator

In diesem Kontext sind die verschiedenen Programme des Dipartimento XIX – Politiche per lo Sviluppo e il Recupero delle Periferie zu sehen[6]: territoriale Laboratorien, Quartiervereinbarungen, Plätze und öffentlicher Raum, Zonen mit einst widerrechtlicher Bebauung, Programme zur städtebaulichen Aufwertung, ökologische Entwicklung, Kulturzentren in der Peripherie sowie Landschaft und Identität der Peripherien. Leitmotiv des Programms «Paesaggi e identità delle periferie» (Landschaft und Identität der Peripherien) ist der Gedanke, den traditionellen Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie aufzubrechen. Es verfolgt zwei Intentionen: Zum einen soll die Identität der Ortszentren, der Microcittà, gestärkt, zum andern ihre Integration in die Stadt gefördert und der Segregation vorgebeugt werden. Auf der einen Seite soll also der Charakter der urbanen Inseln im Meer des Grünraums, von dem die Peripherie nach wie vor durchzogen ist, betont, auf der andern sollen sie ans Zentrum der Stadt angedockt werden. Die ausgeworfenen Anker beschränken sich nicht auf die Anbindung an den öV und das Strassennetz. Vielmehr soll durch die Verbesserung der städtebaulichen Qualitäten und die Förderung der wirtschaftlichen Kapazität die Grundlage gelegt werden, um stabile Nachbarschaften zu bilden – Gemeinschaften, die ebenso selbst- wie des Gefühls bewusst sind, Teil eines grösseren Ganzen, der Stadt Rom, zu sein. Die Viertel der Peripherie sollen nicht mehr als auf das Zentrum bezogene Entlastungsstandorte, sondern als eigene «Ortschaften» begriffen werden. Daher wird versucht, auf den Ort einzugehen, sowohl inhaltlich als auch in der Wahl der Mittel. Inhaltlich wird nach Eigenheiten geforscht, die den Orten wieder eine Identität geben können: Landschaftliche Qualitäten wie die Weinberge im Prato Fiorito (vgl. «Blumenwiese», S. 48 ff.), bauhistorische oder archäologische Zeugnisse wie das Aquädukt im Quartier Alessandrino (vgl. «Aquädukt », S. 51 ff.), ein kulturelles Ereignis wie die Friedensdemonstration in den 1960er-Jahren in Colline della Pace oder ein einst prägendes, aber mit den Jahren verwässertes städtebauliches Konzept wie die Brücken im Laurentino 38 (vgl. «Inseln und Brücken», S. 40 ff.). «Paesaggi e identità delle periferie» hat ausserdem eine Katalysatorfunktion für die anderen Programme des Dipartimento XIX. So engagierte sich in Prato Fiorito auch das Programm für Zonen mit einst widerrechtlicher Bebauung und in Laurentino das Programm zur städtebaulichen Aufwertung. Eingebunden ist es ausserdem in die Errichtung von 20 Kulturzentren, die mit je eigenem inhaltlichen Schwerpunkt (Sport, Kultur, Ökologie) als Kristallisationspunkte der Quartiersentwicklung helfen sollen.[7]

PS: Ob und inwiefern die Peripherie nach dem Regierungswechsel einen Spitzenplatz auf der politischen Agenda halten kann? Den Verdacht, dass sich der Brennpunkt verschieben könnte, nährte Bürgermeister Gianni Alemanno mit der Ankündigung, das Kolosseum renovieren und «Fahrende» in Randgebiete umsiedeln zu wollen. Bis zu den Wahlen von Ende März bildete die mitte-links regierte Region Latium, die manche Projekte mitfinanziert, immerhin noch ein politisches Gegengewicht zu Gianni Alemannos Partito delle Libertà (PdL). Nun ist auch sie in der Hand einer Berlusconi-Anhängerin, Renata Polverini, und nur die Provinz Rom ist mit Nicola Zingaretti noch vom Partito Democratico (PD) besetzt.


Anmerkungen:
[01] Der Piano Regolatore Generale (PRG) ist einem Richtplan vergleichbar. Der PRG formuliert das Planungsleitbild und die Entwicklungsschwerpunkte der Stadt. Die Revision, die 2008 in Kraft trat, wurde 1993 an die Hand genommen
[02] P. O. Rossi: Roma – Guida all’architettura moderna 1909–2000. Editori Laterza, 2000, S. 65
[03] EUR (Esposizione Universale di Roma) wird heute ein Stadtviertel im Süden Roms bezeichnet, das nach dem Willen Mussolinis die Weltausstellung 1942 beherbergen sollte. Die ursprüngliche Bezeichnung lautete E42 (Esposizione Universale 1942). Städtebaulich verbindet es das historische Zentrum Roms mit dem Meer bei Ostia. Die Planung wurde Marcello Piacentini übertragen, der 1938 sein definitives Projekt vorlegte. E42 ist geprägt vom Spannungsfeld zwischen der Architektur des Razionalismo und neoklassischen Tendenzen, die auf die römische Baukunst der Antike zurückgreifen, aber auch Elemente der Pittura metafisica aufweisen. Vgl. Anm. 2, S. 248–249
[04] Bis 1992 war Rom in 20 Municipi (Stadtteile) gegliedert. Damals spaltete sich das XIV. ab und bildete die Comune di Fiumicino. Die Nummerierung aber wurde beibehalten und die 14 einfach übersprungen. Es sind nun also 19 Municipi, gezählt wird aber trotzdem bis 20.
[05] Die 18 metropolitanen und urbanen Zentren sind: Alitalia Magliana, Bufalotta, Eur Sud Castellaccio, Fiera di Roma, Ostiense, Pietralata, Polo Tecnologico, Ponte di Nona Lunghezza, Tor Vergata, Acilia, Madonnetta, Anagnina Romanina, La Storta, Massimina, Torre Spaccata, Cesano, Ponte Mammolo, Santa Maria della Pietà, Saxa Rubra. Die 60 centralità locali sind: Piazza Vittorio Emanuele II (Municipio I), Flaminio (II), Città Universitaria (III), Settebagni, Fidene, Conca d’Oro, Talenti, Castel Giubileo (IV), Pietralata, San Basilio, Casal Monastero, Casal Bruciato (V), Pigneto, Teano, Serenissima, Piazza Marranella (VI), Tor Sapienza, Alessandrino, Mirti, La Rustica Centro, Tor Tre Teste, Quarticciolo (VII), Finocchio, Torre Gaia, Torre Angela, Lunghezza (VIII), Assisi/Mandrione (IX), Cinecittà, Casal Morena (X), Giustiniano Imperatore, Grotta Perfetta (XI), Laurentina, Mostacciano, Trigoria (XII), Ostia Antica, Acilia Sud, Acilia/Piazza Capelvenere,Ostia Lido, Axa/ Malafede, Infernetto (XIII), Villa Bonelli, Corviale, Trullo, Magliana, Largo La Loggia, Ponte Galeria (XV), Monteverde, Bravetta, Pisana, Colli Portuensi (XVI), Piazza Mazzini (XVII), Casalotti, Montespaccato, Cornelia (XVIII), Selva Candida, Torrevecchia/ Primavalle (XIX), Labaro, Cassia/Tomba di Nerone, La Storta, Vigna Stelluti, Collina Fleming (XX)
[06] Die Stadtverwaltung ist in 19 Departemente gegliedert. Dipartimento XIX befasst sich mit der Aufwertung und Entwicklung der Peripherie
[07] Die 20 Kulturzentren sind: Fidene, Monte Sacro Talenti, San Basilio, Casal dei Pazzi, Pigneto Biblioteca del Cinema, La Rustica, Torre Maura, Villaggio Prenestino, Appio Latino, Cinecittà Est, Cinecittà Tuscolano, Laurentino Piazzale Elsa Morante, Centro Giano/Acilia, Infernetto, Bravetta, Quartaccio, Volusia, Labaro Prima Porta, Pigneto Nuovo Cinema Aquila, Borgata Finocchio Collina della Pace

23. April 2010 TEC21

Inseln und Brücken

Zwischen 1976 und 1984 errichtet, war «Laurentino 38» das bedeutendste der in Roms Peripherie realisierten, von der öffentlichen Hand gesteuerten Wohnbauprojekte. Vernachlässigung, illegale Besetzung und Verwahrlosung trugen ihm den Ruf einer «römischen Bronx» ein. Die Wende kam mit der Einsicht, dass Rom keine homogene Metropole ist, sondern ein Geflecht aus 200 Microcittà. Heute wird das Quartier wieder gerne als «i ponti» bezeichnet: nach den charakteristischen Brücken, die der Clou des Entwurfs waren.

Das Quartier Laurentino 38, die urbanistische Zone 12d des Stadtteils XII,[1] liegt südöstlich der EUR (Esposizione Universale di Roma, vgl. «200 Microcittà – eine Metropole») und gerade noch innerhalb des als ringförmige Stadtautobahn angelegten Grande Raccordo Annulare (GRA). Es erhebt sich an geschichtsträchtigem Ort: Die Überreste einer antiken befestigten Ortschaft mit einer Nekropole liegen auf dem Hügel, der zum Graben der Acqua Acetosa, einem Zufluss des Tibers, abfällt. Die Funde wurden zwischen das 8. und das 7. Jahrhundert v. Chr. datiert und mit einer der vorrömischen Städte – Tellene oder Politorium – in Verbindung gebracht, die Ancus Marcius, der vierte König von Rom, im 7. Jahrhundert v. Chr. zerstört hatte. Entdeckt worden waren die Relikte bei den Bauarbeiten eines der grössten von der öffentlichen Hand gesteuerten Wohnbauprojekte in Rom. Auf der Basis des 1964 in Kraft getretenen «Piano per l’Edilizia Economica e Popolare» (PEEP) (vgl. Kasten S. 41) stellte die Gestione per le Case dei Lavoratori (GesCal) 1969 ein Finanzierungsprogramm im Umfang von 70 Milliarden Lire auf die Beine für die Realisierung von Wohnbauten in grossem Stil.

Modulsystem aus Inseln und Brücken

Zwischen 1969 und 1970 schied die Administration drei der Piani di zona aus (vgl. Kasten), die in den Genuss einer solchen Planung kommen sollten: Corviale, Vigne Nuove und Laurentino, wobei Laurentino – «piano di zona no. 38» – mit 160 ha und 5500 Wohnungen für 32 000 Einwohner eines der grössten im Rahmen des PEEP überbauten Quartiere war. 1971 beauftragte die GesCal eine Gruppe von fünf Architekten unter Pietro Barucci mit der Ausarbeitung einer Volumenstudie. Vorgabe war, dass die Überbauung von verschiedenen Bauträgern – dem öffentlichen Istituto Autonomo Case Popolari (IACP) und dem privaten Istituto autonomo cooperative di abitazione Lazio (IACAL) – und in mehreren Phasen realisiert werden könnte. Die Lösung, welche die Architekten 1973 vorschlugen, war eine Art modulares System. Erschlossen von einem 4 km langen Strassenring, gebildet aus der Via Filippo Tommaso Marinetti und dem Viale Ignazio Silone, gliederte sich das Gelände in fünf kranzförmig um diesen Ring gelagerte Sektoren: Nordwest, Nord, Nordost, Süd und Südwest. Jeder dieser Sektoren war mit zwei oder drei «insulae» bestückt, der kleinsten Einheit des Modulsystems mit 250 bis 300 Wohneinheiten für 1500 bis 1800 Menschen. Jede dieser Inseln wiederum bestand aus sieben Gebäuden. Sechs waren reserviert für Wohnzwecke – fünf Scheibenhäuser à acht Stockwerke (rund 28 m) und ein Turm mit 14 Geschossen (knapp 47 m), beide jeweils auf Pilotis – und eines für Gemeinschaftseinrichtungen, Läden, Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung, Kindergärten, Restaurants etc., ausgebildet als den Strassenring überspannende Brücke.

In jedem Sektor sollten Grünräume, Spielplätze und Kinderkrippen eingerichtet werden. Zwischen den Sektoren aber waren Schulräume vorgesehen. Im Spickel zwischen dem Strassenring und der Via Laurentina wurde das Quartierzentrum angeordnet. Ausserdem sollte hier die zukünftige Metrostation gebaut werden. Das Tal im Zentrum des Quartiers sollte als grüne Lunge, als eine Art Central Park, funktionieren.zwischen brückenhäusern und -raststätten Das Konzept basierte auf der Idee der autogerechten Stadt, der Trennung der Verkehrsflächen – Autos unten, Fussgänger oben. Die architektonische Inspiration für die Inseln holte sich Barucci beim Plan Pampus, den die Niederländer Jonannes Hendrik van den Broek (1898–1978) und Jaap Berend Bakema (1914–1981) 1964 für die im IJmeer im Osten von Amsterdam gelegene künstliche Insel entworfen hatten (Abb. 4 und 6).[2] Die als öffentliche Passagen konzipierten Brücken verweisen auf die 1956 als Satellit von Glasgow gegründete und bis in die späten 1960er-Jahre entstandene New Town Cumbernauld (Abb. 9). Sie stehen gewissermassen am Ende einer Genealogie, die von der Rialto-Brücke in Venedig (1588–1591), der «interior street», die Andrej A. Ol 1927 für das Wettbewerbsprojekt «split-level dwelling unit of a communal house» entwarf,[3] den «bewohnten» Brücken, die Bernhard Tschumi und Luca Merlini 1989 in ihrem siegreichen Wettbewerbsentwurf zur Umgestaltung des Quartiers Flon in Lausanne aufgriffen (Abb. 10), bis zu der von Raststätten überspannten Autobahn führt. Im Laurentino wurden die Brücken dann aber eher wie mittelalterliche Brückenhäuser genutzt (Abb. 1 und 13), von Zuwanderern und Flüchtlingen notdürftig mit sanitären Installationen bestückt, als Wohnraum zweckentfremdet und besetzt. Denn so ehrgeizig das Konzept, so anfällig die Umsetzung, weil sie auf halber Strecke stecken blieb, sodass sich urbanistische Vision und soziale Realität zu einer fatalen Wechselwirkung hochschaukelten.

Von Baraccopoli nach New Town

Zum einen liess anfänglich nicht nur die technische Infrastruktur – fliessendes Wasser, Elektrizität, Kanalisation – zu wünschen übrig, Makulatur blieben die sozialen Einrichtungen: Schulen, Kindergärten, Gesundheitszentren, Poststellen, Bibliotheken, Theater, Läden, Sporteinrichtungen etc. Zum andern – und teilweise der Grund für die dürftige Alimentierung mit einem Service public – barg die «Besiedlung» sozialen Sprengstoff. Für Pietro Barucci beging die Stadt den Sündenfall, als sie 1979 beschloss, Leute in das Quartier Laurentino umzusiedeln, die das Hotel «Continental» gegenüber dem Hauptbahnhof Termini besetzt hielten. Sie entzweite sich dadurch mit dem Istituto Autonomo Case Popolare, das dagegen opponiert hatte, und weigerte sich in der Folge, die von der IACP erstellten öffentlichen Räume – namentlich die Brückenbauten – mit Schulen und Kindergärten auszustatten. Es war das Fanal für die «operazione borghetti». Um den Barackenstädten («baraccopoli») der Via Genzano, Via Anzio, Via Arco di Travertino und Via del Mandrione (im Südosten der Stadt, auf halber Strecke zwischen dem Zentrum und der Cinecittà gelegen) ein Ende zu setzen, siedelte man die Bewohner von Barackensiedlungen en bloc um. Mandrione hatte Pier Paolo Pasolini literarisch ein Denkmal gesetzt.[4] So wurden die Clanstrukturen mit ihren Hierarchien telquel verlagert und zementiert, eine soziale Durchmischung blieb aus – im Gegensatz zu den von den Kooperativen errichteten Bauten.

Inseln – Identifikation – Isolation

Unter diesen Prämissen förderte das urbanistische Konzept die Segregation. Die Inseln waren nur über den Strassenring miteinander verbunden. Und die Distanzen zwischen den südlichen und den nördlichen Inseln, zwischen Brücke Nr. 6 und Brücke Nr. 9 zum Beispiel, waren nicht nur gross, sondern auch schwer zu überwinden. Der Grünraum in der Mitte des Rings wurde nicht zum Central Park, sondern zum Niemandsland. Das Terrain war abschüssig, von Gräben durchzogen und mit Böschungen von undurchdringlichem Dickicht aus Brombeersträuchern bewachsen. Eine gebaute Barriere entstand ausserdem durch einen von Barucci nicht vorgesehenen Riegel von Terrassenhäusern. Was als nachbarschaftliche Gemeinschaft innerhalb der Inseln geplant war, gipfelte in einer übermässigen Identifikation mit der jeweiligen Insel bzw. mit der je eigenen Brücke. Isoliert waren die Menschen aber nicht nur nach innen, sondern auch nach aussen. Die Verlängerung der Metrolinie B lässt bis heute auf sich warten. Der Busbetrieb, der stattdessen installiert wurde, operierte mit den Nummern 080 und 082 – für die sensibilisierte Bevölkerung eine Ausgrenzung. Denn die vorangestellte Null verweist auf ausserstädtische Linien, sodass sich die Menschen wieder als «extracommunitari» empfanden. Inzwischen wurde die Nummerierung angepasst; es verkehren die Linien der ATAC Nr. 779, 776, 772.

Kaum ökonomisches Gefälle, aber soziale Kluft

Obwohl das ökonomische Gefälle zwischen den in die genossenschaftlich erstellten Bauten einziehenden Arbeitern und denjenigen, die sich in den Wohnungen der IACP einquartierten, nicht gross war, tat sich eine Kluft auf. Erstere, zumeist politisch links orientierte Bevölkerungsschichten aspirierten auf die Zugehörigkeit zur Mittelklasse, während jene in den IACP-Zonen tendenziell einer Arbeiterschicht angehörten, die in manchen Fällen zwischen Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit oder befristetem Arbeitsverhältnis navigierte. Das soziale Gefälle spiegelte sich nicht nur in der Architektur – die Brücken, die in allen Sektoren geplant waren, fielen in dem von den Kooperativen errichteten Sektor Süd weg –, sondern auch im Grad der infrastrukturellen Alimentierung: Anfang der 1990er-Jahre gab es im Sektor Süd einen COOP-Supermarkt, eine Kirche und einen Sitz der Verwaltung des Municipio XII. Auf den IACP-Inseln hingegen mussten sich die Menschen, weil Stadt und Bauherrin die Bewirtschaftung der Brücken versäumen, selber helfen. Zwischen 1987 und 1989 betrieben Jugendliche in einer leer stehenden Scheune das selbstverwaltete «Centro Sociale Occupato e Autogestito» (CSOA), organisierten Konzerte, Happenings, Debatten und dislozierten 1991 als «Laurentinokkupato» auf die Brücke Nr. 6. Zwei Jahre später zogen die Älteren nach und richteten in Brücke Nr. 5 ein Seniorenzentrum ein. Derweil war die Mehrzahl der übrigen Brücken zu diesem Zeitpunkt illegal besetzt – 1987 von rund 500 Menschen. Knapp zwei Drittel von ihnen hatten gültige Papiere und bekamen 1989 IACP-Unterkünfte im Quartier Tor Bella Monaca. Die Brücken wurden geräumt.

Laboratorium und Inkubator

Abreissen lässt die Azienda Territoriale per l’Edilizia Residenziale Pubblica (Ater), Nachfolgeinstitution des IACP, drei der Brücken – Nr. 9, 10 und 11 – aber erst 2006. Sowohl die Initiative dazu als auch der Protest dagegen kommen aus dem Quartier. Dass die Stadt dabei auf den Abbruch der als «Vele di Secondigliano» zu zweifelhafter Berühmtheit gelangten Wohnbauten in Neapel verweist[5], verheisst aus architekturhistorischer Perspektive nichts Gutes. Doch das Konzept «Paesaggi e identità delle periferie» funktioniert differenzierter. Marode Glieder werden nicht einfach amputiert und durch Fremdkörper ersetzt, sondern es werden spezifische Eigenheiten eines Quartiers gesucht und gestärkt. Und das Charakteristikum des Laurentino 38 sind die Brücken.

Die Stadt erarbeitet im Rahmen des Programma di recupero urbano einen Katalog von 39 Massnahmen zur Attraktivierung des Quartiers im Umfang von 50 Millionen Euro. Das Programm umfasst u.a. bessere Fussgängerverbindungen, Strassenbeleuchtungen, neue Kreisel, Grünräume, die Renovation von Sportanlagen etc. An erster Stelle steht aber die Sanierung der Brücken Nr. 1 bis 8 und ihre Alimentierung. Brücke Nr. 1 beherbergt Bibliothek und Ludothek, Nr. 2 ein Gemeinschaftszentrum, Nr. 5 ein Konzertlokal und Nr. 8 einen sogenannten «incubatore d’impresa» – das wichtigste Instrument der «autopromozione sociale» (Hilfe zur Selbsthilfe). Der «incubatore d’impresa» ist eine Art «Start-up» der Mikroökonomie. Kleinunternehmern werden während 18 Monaten Infrastruktur und Logistik zur Verfügung gestellt: Räumlichkeiten, Telefon- und ADSL-Anschluss, Sekretariatsdienste, Fax, Scanner, Fotokopierer.

2002 stösst das Assessorato alle Politiche per le Periferie, lo Sviluppo Locale und vom Dipartimento XIX (Sviluppo e Recupero delle Periferie / Autopromozione Sociale) das Ideenlabor «Officina Laurentino» an, das vom Atelier Ambulant d’Architecture (AAd’A) und von «Il Gabbiano» geleitet wird.[6] Die Bewohner, die sich teilweise in verschiedenen gemeinnützigen Organisationen engagieren, sollen sich an der Planung von Projekten beteiligen.[7] Unter dem Titel «Interno 38» machen sich zehn Jugendliche und zehn Studierende der Kunst und Architekturakademie auf, mittels Video das Verhältnis zwischen physischem und sozialem Raum in ihrem Quartier zu ergründen. Das «Teatro Gulliver» erarbeitet die Performance «L’isola che c’è. Viaggio dentro casa», die im Juni 2006 auf der Piazza Elsa Morante aufgeführt wird. Ausgehend von dem in «Gullivers Reisen» angelegten Thema des von Zuhause Aufbrechens, der Entdeckung anderer Dimensionen und ihrer Relativität, unternehmen die Theaterleute eine Reise ins Innere des Quartiers und verweben Fakten und Fiktion, um die Bewohner/innen zu sensibilisieren: mit Interviews mit Leuten, die hier arbeiten, und solchen, die hier wohnen, für die Geschichte; mit Zitaten aus Werken derjenigen Autoren, die den Strassen ihre Namen geliehen haben, für das poetische Potenzial des Quartiers. Auch auf baulicher Ebene wird die Bevölkerung involviert. Im Rahmen des Projekts «Boulevard Laurentino» wird die Funktionsweise des Systems «Strasse und Brücke» debattiert. Die Geschlossenheit des Strassenrings soll aufgebrochen werden. Dieser blockiert die Durchlässigkeit des Quartiers sowohl in der Horizontalen als auch in der Vertikalen. Er schneidet die Menschen sowohl vom Grünraum im Innern als auch vom aussen liegenden, angrenzenden Quartier Ferratella ab. Der Höhenunterschied von 4 m zwischen Strasse und Fussgängerzone, der die Isolierung der Inseln und ihrer Bewohner bewirkt hat, soll aufgehoben werden. Das partizipative Verfahren gipfelt in einem Projekt, das von Studio UAP ausgearbeitet wird (Abb. 20). Es harrt allerdings noch der Realisierung. Im Bau hingegen ist die im «Laboratorio Territoriale Laurentino» ebenfalls unter Mitwirkung der Bevölkerung projektierte Piazza Elsa Morante. Die von Luciano Cupelloni, Architekt und Professor an der Universität «La Sapienza», entworfene Piazza wird das Kulturzentrum umfassen mit Zeitungslesesaal, Mediathek, Theater mit 200 Plätzen und Arena für rund 300 Personen sowie den Platz und den Park.


Anmerkungen:
[01] Bis 1992 war Rom in 20 Municipi (Stadtteile) gegliedert. Damals spaltete sich das XIV. ab und bildete die Comune di Fiumicino. Die Nummerierung aber wurde beibehalten und die 14 einfach übersprungen. Es sind nun also 19 Municipi, gezählt wird aber trotzdem bis 20. Die Municipi werden ihrerseits wieder in «urbanistische Zonen» und Quartiere unterteilt
[02] Die ebenfalls vom IACP initierten und unter der Leitung von Mario Fiorentino 1975–1982 errichteten Bauten des Quartiers Corviale – piano di zona Nr. 61 – orientierten sich am Vorbild von Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille
[03] Stanislaus von Moos: Le Corbusier, Elements of Synthesis. 010 Publishers, Rotterdam, 2009, S. 137
[04] «[…] La pura vitalità che è alla base di queste anime, vuol dire mescolanza di male allo stato puro e di bene allo stato puro: violenza e bontà, malvagità e innocenza, malgrado tutto.» Associazione Fondo Pier Paolo Pasolini (Hrsg.), Pier Paolo Pasolini: un poeta d’opposizione. Skira, 1995, S. 132
[05] «Le Vele» (die Segel), wie die Bauten im neapolitanischen Stadtteil Scampia im Volksmund genannt wurden, entstanden ebenfalls aufgrund des Gesetzes Nr. 167 in den Jahren 1962–1975. Projektiert von dem Architekten Franz Di Salvo und dem Ingenieur Riccardo Morandi, waren sie eine Mischung aus Zikkurat, Unité d’habitation, Turm, Zelt und eben Segel. Da auch hier die soziale und wirtschaftliche Infrastruktur nie wie geplant installiert wurde und die Camorra alsbald das Regime übernahm, verkamen die Bauten. Zwei der sieben Vele wurden 1997, eine 2003 abgerissen
[06] AAd’A ist ein Netzwerk von Architekten, Urbanisten, Landschaftsarchitekten, Künstlern, Anthropologen und Soziologen, die auf dem Gebiet der Transformation und Revitalisierung von brachliegenden oder vernachlässigten urbanen und ruralen Territorien arbeiten. 2002 gründeten Mauro Manna, Antonello Piccirillo, Luca Piccirillo und Anke Jaeger die römische Niederlassung des Netzwerks und bearbeiten seither das Thema der Peripherie im südlichen Quadranten der Stadt, u. a. indem sie das «Laboratorio Territoriale Laurentino » koordinieren. «Il Gabbiano» ist eine Cooperative, die sich seit zwanzig Jahren um die Integration von sozial benachteiligten Menschen bemüht. 1997 gründete die Cooperative einen Sitz im Laurentino 38, wo sie Arbeitsmöglichkeiten anbietet
[07] Associazione Laurentum Fonte Ostiense, Comitato Inquilini Laurentino, Associazione L’ancora 95, Associazione Ponte d’incontro, Laurentinokkupato, Comunità di Sant’Egidio, Fondazione del Cuore, Banca Del Tempo, Club Hamici, Associazione Donne Insieme

20. November 2009 TEC21

Vom Haus im Haus zur Stadt im Haus

Der Merker-Park in Baden von Zulauf & Schmidlin Architekten ist verdichtet und verwinkelt, verengt sich und dehnt sich aus wie eine mittelalterliche Stadt – gebändigt durch systematische Aneinanderreihung und Stapelung. Die Dichotomie erfasst den ganzen Bau bis hin zum Energiekonzept: Dieses erfüllt die Anforderungen an den Minergie-P-Standard beim Verbrauch, nicht aber bei der Hülle.

Der Wohnungsbau «Merker-Park» ist nach dem «Gelben Viereck» der zweite Baustein der Neuplanung auf dem Gelände der ehemaligen Fabrikationsanlagen der Firma Merker in Baden (siehe TEC21, 23/2009, «Baden gehen»). Auf der Rückseite des Gelben Vierecks erstreckt sich das Gelände, das einst die Hallen des Email-Werks besetzten. Weil sie denkmalpflegerisch nicht als schützenswert eingestuft wurden – diverse Umbauten hatten ihre Integrität beeinträchtigt, und auch die Bausubstanz erwies sich als schlecht –, stand ihrem Abbruch nichts entgegen.

Planerisch lagen Zulauf & Schmidlin Architekten zwei Grundlagen vor: Der Entwicklungsrichtplan «Baden Nord» von Diener & Diener und der Gestaltungsplan aus dem Jahr 2003. Von Seiten des Bauherrn, der Merker Liegenschaften AG, gab es ebenfalls zwei vordringliche Prämissen: Es sollte ein energetisch sinnvolles Gebäude entstehen mit Eigentumswohnungen unterschiedlicher Grösse, von denen keine preislich die Millionengrenze überschreiten durfte. Es sollten also sowohl Alleinstehende und Familien als auch Alte und Junge die eigenen vier Wände erwerben können. Die städtebauliche Situation schliesslich war wiederum durch zwei Hauptfaktoren charakterisiert: Das Grundstück liegt mitten in der Stadt und in komfortabler Fussgängerdistanz zum Bahnhof sowie einerseits in unmittelbarer Nähe zum Alten Friedhof an der Bruggerstrasse, einem Grün- und Naherholungsraum, andererseits angrenzend an die rückwärtige Wohnsiedlung von Burkhard Meyer Architekten.

Planerisch

Der Entwicklungsrichtplan etablierte quasi de jure jene faktische Grenze, welche die Hangkante bildet, zwischen der Baustruktur am Hang des Martinsberges und der Ebene entlang der Bruggerstrasse: Am Hang findet sich ein kleinteiliges städtebauliches Muster, in der Ebene dominiert die Grossform. Daran orientierten sich Zulauf & Schmidlin, propagierten städtisches, verdichtetes Wohnen, definierten den Merker-Park entsprechend als der Stadt zugehörig und planten ihn als Grossform. Was den Gestaltungsplan aus dem Jahr 2003 betrifft, so reduzierte die Bauherrschaft den Druck auf die Nutzung, die 9000 m² BGF erlaubt hätte, auf deren 7000 m². Dadurch konnten die Architekten das ursprüngliche Projekt mit 64 Wohnungen auf eines mit 45 redimensionieren.

Energetisch und ökonomisch

Zu Beginn der Planung stand fest, dass der Neubau mit möglichst wenig Energie auskommen sollte. Den Architekten schwebten die Kriterien der 2000-Watt-Gesellschaft vor. Nach den positiven Erfahrungen beim Gelben Viereck zogen sie auch für den Neubau die Waldhauser Haustechnik AG bei, die ein differenziertes Konzept erarbeitete (vgl. Kasten S. 49). Um die Energiesparmassnahmen nicht durch den Aufwand an grauer Energie zu neutralisieren, luden die Architekten fast ausschliesslich lokale Unternehmer – mit wenigen Ausnahmen aus dem Kanton Aargau – zur Submission. Wie beim Gelben Viereck die Mietzinse limitierte der Bauherr hier die Verkaufspreise, und zwar auf unter 1 Million Franken. Erreicht haben die Architekten Preise von 415 000 bis 895 000 Franken (möglich ist dies auch, weil das Land nur im Baurecht abgegeben wird).

Städtebaulich: Struktur

Der Entscheid für die Grossform mündete in einem einzigen, 27 m tiefen und 70 m langen Baukörper mit fünf oberirdischen Geschossen und einem Untergeschoss mit Einstellhalle – die Bahnhofsnähe war mit ein Grund für den Verzicht auf mehr als einen Parkplatz pro Wohnung. Mit dieser Konzentration spielten die Architekten einen ausgedehnten rückwärtigen Grünraum frei. Diesen Park mit dem angrenzenden Alten Friedhof an der Bruggerstrasse zu verweben, war die landschaftsgestalterische Option. Der 1821 im noch unverbauten Haselfeld als katholischer Friedhof angelegte, ab 1875 auch von der reformierten Kirche zur Bestattung genutzte Gottesacker wurde Anfang der 1950er-Jahre aufgegeben – nicht zuletzt, weil die umgebende Industrie die Abgeschiedenheit vermissen liess, deren solche Stätten bedürfen. Dennoch zeigt die Anlage noch fast den originalen Zustand. Das Verwunschene der einzelnen, teilweise halb zerfallenen Grabsteine und Skulpturen, die als Überreste von Grabbepflanzungen wuchernden Sträucher und der alte Baumbestand werden kontrastiert von den streng aufgereihten, kegelförmig geschnittenen Eiben. Der Friedhof hat sich denn zum Naherholungsraum gemausert und ist ein wichtiges Puzzlestück im Grünraum- und Naherholungskonzept der Stadt geworden.[1] Um den städtischen Grünraum nicht abreissen zu lassen, drängte sich die Verknüpfung des Merker-Parks mit dem Alten Friedhof denn auch geradezu auf.

Städtebaulich: Materialisiserung

Optisch wird der Bau zwischen der Siedlung von Burkhard Meyer Architekten und dem Gelben Viereck eingebettet. Der an Mergel erinnernde warme Ton des Kalksteinbetons vermittelt zwischen dieser und dem «Gelben Viereck». Ausserdem ermöglichte er dem Credo nachzuleben, den bewussten Umgang mit Energie nicht mit langen Transportwegen zu torpedieren, stammt der Beton doch aus dem aargauischen Kleindöttingen.

Architektonisch: strikt und variabel

Das architektonische Konzept besticht durch seine Einfachheit – erzielt mit spielerischer Strenge, mit komplexer Konsequenz. Das Paradox wird sich auflösen: Orientiert man sich an der vertikalen Entwicklung des Baukörpers, ist er aus 5 zusammengeschobenen Häusern mit je 9 Einheiten konzipiert. Zwischen diesen Häusern liegen vier nahezu quadratische Atrien (7 × 6 m), die für natürliche Belichtung sorgen. Sie gaben aber auch das Maximum der Höhe von fünf Geschossen vor. Die horizontale Gliederung weist drei Schichten auf: Die Wohnzimmer sind nach Süden, zu Merker-Park und Martinsberg orientiert, die Schlafzimmer liegen auf der Nordseite und bieten die Aussicht auf das Gelbe Viereck. Dazwischen schiebt sich die Erschliessungs-, Sanitär- und Technikschicht. Sie umfasst die Treppenhäuser und Lifte, die Atrien, die Nasszellen, die Technikräume sowie Entrées und Studios. Der verglasten Fassade sowohl auf der Nord- als auch auf der Südseite vorgelagert ist eine 70 cm tiefe Balkonschicht, vor die sich eine Haut aus perforierten Aluminiumfaltläden ziehen lässt, die auch bei den Atrien als Sicht- und Blendschutz dienen. Die Perforierung nimmt sich wie ein Morse-Code aus und balanciert zwischen optimalem Sichtschutz und maximaler Lichtdurchlässigkeit.

Das Erdgeschoss beherbergt fünf 2 ½-Zimmer-Wohnungen, das 1. bis 4. Geschoss je eine 6-, eine 5-, zwei 5 ½-, vier 4 ½- und zwei 3 ½-Zimmer-Wohnungen – insgesamt eben 45 Wohnungen. Trotz unterschiedlicher Anzahl der Zimmer sind einige Grössen konstant: Mit Ausnahme der 2 ½-Zimmer-Wohnungen im Erdgeschoss sind Wohnen/Essen (36 m²), Küche (10 m²), Bad (9 m²) und Loggia (13 m²) sowie das Studio (14 m²) – ausser die an den Kopfenden liegenden 5- und 6-Zimmer-Wohnungen, die keinen Anschluss an ein Atrium haben – in allen Wohnungen gleich dimensioniert. Variabel gestalten liessen sich somit die Abmessungen der Gebäudeschicht auf der Nord-Ost-Seite, deren Gliederung in Schlafzimmer und mithin die Wohnungsgrössen. Bei grösserer Nachfrage nach 6-Zimmer- Wohnungen beispielsweise hätte eines der Schlafzimmer der 4 ½-Zimmer-Wohnung neben der 5-Zimmer-Randwohnung dieser zugeschlagen werden können. Im Modell präsentierte sich das Gebäude denn auch als ein Baukasten, dessen «Klötze» zu ganz unterschiedlichen Kombinationen gefügt werden konnten und erst mit den Ingenieurplänen definitiv komponiert werden mussten (Abb. 11). Gebändigt wird das Spiel durch das strikte Regime der Schottenbauweise, die bedingte, dass jeweils die gleichen Wohnungsgrössen übereinander zu liegen kamen, und eben die «Sturheit» des Kerns. Dessen ver steifende Funktion haben die Architekten kenntlich gemacht, indem sie Treppenhaus und Lifttüren mit einem anthrazitfarbenen Anstrich versahen.

Stadtstruktur

Die Aneinanderreihung von fünf Häusern machen den Bau zu einem Haus im Haus. Es ergibt sich eine Art Patchwork, ein Verweben der Räume sowohl in Nord-Süd- als auch in Ost-West- Richtung. Die Zimmer von jeweils verschiedenen Wohnungen, um ein gemeinsames Atrium gruppiert, und die spannungsreiche Abfolge der Zimmerfluchten innerhalb einer jeden Wohnung mit Verengungen und Ausdehnungen machen den Bau zu einer Stadt im Haus. (Dass eine der KäuferInnen das Bild vielleicht etwas arg wörtlich genommen und die Wände eines jeden Zimmers mit einem andern Farbton versehen liess, spricht nicht gegen die Konzeption.)

Sozial

Die nachbarliche Nähe ist gewissermassen eine «übereck» Geführte: Diejenigen Nachbarn, deren Wohnungen gleichsam Tür an Tür liegen, die sich also das Treppenhaus teilen und sich dort treffen, können einander nicht in die Wohnung sehen, weil sie kein gemeinsames Atrium haben. Umgekehrt begegnen sich die Bewohner, die über die Atrien visuellen Kontakt haben, nie im Treppenhaus.

Die Befürchtung, die Bauherrschaft könnte auf den Atriumwohnungen sitzenbleiben, weil sie den geringsten Sichtschutz gegenüber den Nachbarn bieten – im Gegensatz zu den Kopfwohnungen –, bewahrheitete sich nicht: Im Gegenteil, sie waren zuerst verkauft.

Analog zur Dichotomie auf der baulichen Ebene zwischen Verdichtung und «Entgrenzung»/ Auflockerung, zwischen Starrheit und Variabilität werden auch die nachbarschaftlichen Beziehungen in der Schwebe gehalten zwischen Intimität und Anonymität. Letztere «entlädt» sich dann eher in Kollektivität, wenn auch die Wohnungen im Erdgeschoss keinen direkten Zugang zum Park haben. Sie sind künstlich angehoben und bilden eine Art Hochparterre. Gleichsam als Schwelle, auf der der private Raum überschritten und in den gemeinsamen Raum getreten wird, sind sie über Stufen mit dem Park verbunden.

Hier lässt sich das Spiel zwischen dicht und transparent ebenfalls – in einer Variation – verfolgen. Die Architekten haben das Erdgeschoss nicht «ausgewrungen». Zu den 2 ½-Zimmer- Wohnungen gesellen sich die Velounterstände, die von einem «Gatter» ummantelt werden, bestehend aus Holzstäben, die zu einer Ziehharmonika ähnlichen Struktur gefügt und mit einem anthrazitfarbenen Anstrich «entmaterialisiert» wurden.

Vielfalt in der Einheit

Auch im Innern haben die Architekten das Konzept der Variabilität innerhalb eines Rasters durchsetzen können. Erreicht haben sie dies, indem sie etwa einheitliche Schrank- und Raumtrennelemente entwarfen, dann aber die Wahl zwischen verschiedenen Schliessmechanismen bzw. verschiedenen Kombinationen (Regale, Schubladen etc.) liessen. Ebenso offerierten sie die Möglichkeit, die Räume gänzlich offen zu lassen, sie mittels Raumtrennelementen partiell oder mit konventionellen bzw. Schiebetüren ganz zu schliessen. Einheitlichkeit erzielten sie ausserdem mit der gemeinsam mit dem Küchenbauer erarbeiteten Küche mit Kochinsel, Sideboard und grosszügiger Schrankwand, die alle Eigentümer übernahmen. Obwohl Manche zum Teil durchaus ins Auge fallende Modifikationen angebracht haben, erweist sich die Ausstattung als derart robust, dass sie diese «schluckt», ohne ihre Integrität einzubüssen.

Mit Ausnahme der erwähnten Wohnung, in der alle Räume verschiedene Farben tragen, und einer anderen, in der Le Corbusiers Farbpalette Einzug hielt, dominieren der Weissputz der Wände und die roh belassenen oder lasierten Betondecken. Auch das vorgeschlagene geölte Eichenparkett schwang obenauf – wenn auch zuweilen in der dunkleren Tönung des geräucherten Holzes. Urständ feiert die Individualität nur in den Badezimmern, wo das von den Architekten bevorzugte graue Steinzeugmosaik sich leider nicht gerade als Renner erwies. Wichtiger für den äusseren Ausdruck des Baus werden aber die Vorhänge sein. Auch das haben die Architekten nicht dem Zufall überlassen und frühzeitig mit verschiedenen Pastelltönen (Steinweiss, Kartäusergelb, Lindengrün, Muskatblüte, Tabakbraun) am Modell experimentiert. Die Chancen stehen gut, dass sich die Eigentümer auf die von den Architekten vorgeschlagene Farbpalette einlassen. Wenn die Wohnungen dann gleichsam ihr Inneres nach aussen kehren, wird sich die Einheit des Farbenspektrums in der Vielfalt seiner Rhythmisierung auflösen.

Dicht und locker, repetitiv und spielerisch

In der durch repetitive Aneinanderreihung und Stapelung gebändigten Struktur des Merker- Parks verbirgt sich die Verdichtung einer mittelalterlichen Stadt mit engen, verwinkelten Gassen, die sich unvermittelt auf Plätze öffnen. Analog funktioniert die Transparenz: Die Monotonie der Verglasung wird gebrochen durch die Komplexität der Sichtbeziehungen innerhalb der Wohnungen und der «Häuser».


Anmerkung: [01] Quelle: www.baden.ch/documents/Alter_Friedhof.pdf

2. Oktober 2009 TEC21

Turm und Tableau, Platz und Panorama

Eine unterirdisch eingegrabene Blackbox und ein «Monolith»: Die Erweiterung des Historischen Museums in Bern, «Kubus Titan», der Bieler Architekten :mlzd spannt sich auf zwischen dem Verborgenen und dem spektakulär in Erscheinung Tretenden, zwischen Sockel und Turm. Das Historische Museum Bern (BHM) markiert den Auftakt des Museumsquartiers im Berner Kirchenfeld. Die Museumsmeile umfasst neben dem BHM die Kunsthalle, gleich neben dem Brückenkopf der Kirchenfeldbrücke, gegenüber das Schweizerische Alpine Museum, das Schützenmuseum, das Naturhistorische Museum der Burgergemeinde Bern, die Albert Heim Stiftung und das Museum für Kommunikation (1990 –1997 als PTT-Museum). Abgeschlossen wird die Meile durch den «Rücken» der Schweizerischen Nationalbibliothek. Die städtebauliche Entwicklung des Quartiers nahm mit dem Bau der gleichnamigen Brücke 1883 ihren Anfang. Der Einfluss der barocken Stadtbaukunst lässt sich noch heute ablesen, obwohl vom 1881 verabschiedeten Idealplan abgewichen wurde (vgl. Kasten «Museums schloss» S. 20). Nicht zuletzt der Bau des Historischen Museums – ursprünglich als Landesmuseum geplant – verursachte das teilweise Abrücken von der Planung, weil es das Orthogonal muster von Bernastrasse, Helvetiastrasse, Museumsstrasse und Hallwylstrasse erzwang.

Das Historische Museum Bern ist nicht nur das Einfallstor ins Kirchenfeldquartier, sondern gewissermassen auch der Brückenkopf der Kirchenfeldbrücke, liegt es doch nicht nur exakt auf deren Achse, sondern auch durch eine künstliche Aufschüttung um 4.5 m gegenüber dem Terrain erhöht. (Trotzdem verstellt das 1992 aufgestellte Welttelegraphendenkmal den Blick auf den schlossartigen Gebäudekomplex.)

Obwohl von André Lambert asymmetrisch projektiert, wirkt die Anlage ausbalanciert: Die Betonung der Mittelpartie des Hauptbaus und die gegengleich abgewinkelten Flügelbauten – der westliche verläuft Richtung Süden, der östliche stösst nach Norden vor – erzeugen diesen Eindruck eines Gleichgewichts, akzentuiert noch durch einander jeweils als Pendant entsprechende Turm- und Erkerbauten. Diese beleben den Bau, lassen ihn allerdings auch etwas zerklüftet wirken.

Abgesehen vom Platzmangel, an dem das Museum schon seit der Entstehungszeit litt, gab es ein weiteres Manko, das über die Jahrzehnte nie behoben wurde: das Brachliegen der Rückseite der Anlage. Diese hätte aus einem «Städtchen» mit einem Dutzend verschiedener schweizerischer Haustypen bestanden – einem kleinen «Ballenberg avant la lettre».[1] Da Lambert eine gegenüber der ursprünglichen Planung abgespeckte Variante realisieren musste – im Juni 1890 hatte das Bundesparlament entschieden, das Landesmuseum in Zürich statt in Bern zu domizilieren –, fiel die rückwärtige Bebauung dahin.

Mit dem sogenannten Moser-Anbau für die Sammlung von Henri Moser-Charlottenfels, den René von Wurstemberger 1918–1922 errichtete, bekam die Anlage nun nach Süden hin zwar ein Gegengewicht. Die spärliche Befensterung verschloss ihn aber fast hermetisch nach aussen.

Blackbox und Landmark

Die Architekten der jetzigen Erweiterung sollten daher nicht nur die Platznöte beheben, sondern auch eine städtebauliche Lösung bringen, die der Marginalisierung des rückwärtigen Parks entgegenwirkt. Das Raumprogramm umfasste einen Saal für Wechselausstellungen, ausgedehnte Depoträumlichkeiten, Arbeits- und Archivräume sowie Platz für das Stadtarchiv, das am Standort im Erlacherhof seinerseits an Kapazitätsgrenzen stiess. Inhaltlich lauteten die Vorgaben: Der neue Wechselausstellungsaal sollte als Blackbox ausgebildet sein; natürliche Belichtung war ebenso unerwünscht wie eine Architektur, die das Ausstellungsgut hätte konkurrieren können. Das Gebäude aber, das dereinst das Stadtarchiv, das vom Erlacherhof hierher disloziert würde, und die Büros der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beherbergen sollte, durfte eine Landmark sein. Der Haken dabei: Die geforderten Büroflächen und die Dimensionen des Wechselausstellungssaals (1200 m²) und der Depots (3200 m²) hätten den Massstab des «Museumsquartiers» gesprengt.

Neuinterpretation alter Typologien

Das Bieler Architekturbüro :mlzd fand die Lösung, indem es den Wechselausstellungssaal und die Depots in den Untergrund «verbannte» und das Bürogebäude als Turm ans Ende des Grundstücks setzte. Indem die Architekten den Wechselausstellungssaal unterirdisch anlegten, waren sie das Problem mit dem Tageslicht los und spielten sich ausserdem den rückwärtigen bzw. ostseitigen Raum frei. So gewannen sie ein Plateau, das den Raum zwischen dem Alt- und dem Neubau aufspannt. Und dieser Neubau fungiert als ein weiteres burgartiges Volumen, das sie dem aus Flügeln und Türmen komponierten Ensemble beigesellen. Sie bauen in gewisser Weise weiter mit Sockel und Turm. Nur interpretieren sie die Typologien neu, indem sie sie voneinander trennen – und aus ihnen je eine neue Qualität gewinnen.

Vielschichtiger Dialog

Der Turm, der die Südostecke der Anlage definiert, beherbergt Büroräume für das Museum sowie Büros und eine Bibliothek mit Lesesaal für das Stadtarchiv. Von Süden her wirkt der auf drei Seiten geschlossene Bau monolithisch, wie ein Fels – zumal das Dach nicht nur dieselbe Materialisierung wie die Fassaden aufweist, sondern auch als Volumen in Erscheinung tritt.

Der Bau tritt auf mehreren Ebenen in Dialog mit dem Bestehenden. Das beginnt bei der Farbe. Die Architekten haben die Farbigkeit der Fassade mit einem dem Beton beigemischten gelbgrünen Farbzusatz optisch aufgeweicht und auf die Sandsteinfassaden des Altbaus abgestimmt. Dass die drei Seiten nicht nur in sechs Fassadenflächen aufgelöst sind, sondern deren drei um jeweils einige Grad geneigt sind – 96.66°, 82.69° und 80.11° –, verhindert, dass der Bau als Klotz wirkt. Die Architekten anverwandeln ihm damit auch das Vor- und Zurückspringen der Fassadenabwicklung des Altbaus mit seinen Flügeln, Türmen und Erkern (Abb. 6).

Sportlicher ausgedrückt, erinnern die Fassaden an eine Assemblage von Kletterwänden. Dazu trägt durchaus auch bei, dass sie mit Prägungen in der Form überdimensionierter Pixel übersät sind – nur, dass diese eben nicht erhaben, sondern eingetieft sind. Auch sie stehen im Dienst der optischen «Aufweichung» der Fassade. Adaptiert haben die Architekten die Pixel vom teilweise bossierten Mauerwerk des Altbaus – in einer Art Transformationsprozess. Sie haben die Steine fotografiert und die Aufnahmen bis zur Pixelauflösung vergrössert. Das gab ihnen die Matrize, aus der sie dann die zu 14 verschiedenen Formen gruppierten Pixel extrahiert haben. Nun wirken sie mit Eintiefungen von zwischen 4 und 12 cm wie ein eingemeisseltes Basrelief. Tatsächlich aber wurden sie beim Betonieren durch auf die Schalung genagelte Kunststoffformen ausgespart – ebenso wie die weiteren sechs Formen für die auf der Rückseite zur Belichtung des Treppenaufgangs eingeschnittenen Fenster.

Bühne und Balkon - Plateau und Tableau

Das Bürogebäude ist auf drei Seiten geschlossen. Der separate Zugang zum Stadtarchiv auf der Südseite tritt nur als Schlund in Erscheinung. Die vierte aber, die Nordseite, ist vollflächig verglast, sodass der Bau wirkt, wie wenn man durch ein edelsteinhaltiges Gestein gefrässt hätte (Abb. 5). Auf den ursprünglich geplanten Siebdruck mit einer Art Strichcode-Muster mussten die Architekten verzichten, weil der Betreiber befürchtete, dass es bei der Arbeit irritieren könnte. Der Strichcode hätte den Eindruck einer aufgeschnittenen Fassade stärken und wie ein zarter Vorhang das Glas ebenfalls optisch etwas weicher machen sollen. Um dies doch zu erreichen, wählten die Architekten stärker verspiegelte Gläser. Diese reflektieren den Altbau – eine weitere Variation des Dialogs mit diesem.

Ausserdem fungiert die Fassade so als attraktive Kulisse, als Tableau für die Stadtbühne, die sich vor ihr ausbreitet. Diese Bühne ist das Dach des mit 21 × 43 × 6 m als Sockel figurierenden Wechselausstellungssaals. Es ist mit demselben eingefärben Beton bedeckt, aus dem die Fassaden des Turms bestehen. Mithin ist dieses Dach also sowohl funktional als auch formal eine fünfte Fassade. Von hier aus schweift der Blick hinüber zur Altstadt. Das Kirchenfeld wird optisch mit dem Münster verbunden. Und das Plateau wird als Balkon des Kirchenfelds gleichsam zum Pendant en miniatur zur Münsterplattform.

Zur Strasse hin tritt der Sockel als Mauer in Erscheinung, welche die bestehende Einfriedung des Museumskomplexes weiterführt. Um den Übergang nicht abrupt zu gestalten, haben :mlzd das Plateau «abgeklappt». Innerhalb des Komplexes bildet das Plateau ein Scharnier sowohl zwischen Alt- und Neubau als auch zwischen dem Museumspark und dem rückwärtigen Grünraum. Die grandiose «Tempeltreppe» führt nämlich von der Rückseite auf den Platz. Die eingelassene Pferdetreppe verweist schon heute auf weitere Mittelalter- Spektakel wie das von 2008.

Da der Platz im Norden direkt an die Altbauten andockt, verdeckt er deren Sockelzone. Die Bauten verlieren ihre trutzige Distanziertheit. Man kommt den Baukörpern näher, wird ihrer Stofflichkeit, welche die Architekten ja auch im Neubau heraufbeschwören wollten, stärker gewahr. Nicht «angedockt» haben sie hingegen am Moser-Anbau. Hier haben sie eine Schneise gelassen und den Einschnitt für die Fluchtwege genutzt. Und sie haben ein zusätzliches dialogisches Element eingefügt: Eine Stelenfassade aus vertikalen Rundstäben aus Stahl, die gleichzeitig das Geländer der Tempeltreppe bildet, reagiert auf die Schmiedeisenarbeiten am Altbau (äusseres Titelbild).

Das Innere ist sowohl im Turm als auch im Sockel zurückhaltend materialisiert: Die Wände sind sandfarben verputzt, um sie der Materialisierung der Aussenwände anzunähern. Der Kern, der Lift und Steigzone sowie Nebenräume birgt, ist mit einer Vliestapete bedeckt, der mit einem Glanzanstrich eine «ölige» Anmutung verliehen wurde. Sie ersetzt das ursprünglich vorgesehene Kunst-am-Bau-Projekt – eine den Kern fassende Tapetenwand –, von der die Architekten bei der Ausführung absahen, um den Bau nicht mit «Schmuckmotiven zu überfrachten». Während der Hartbetonüberzug der Böden im Turm lediglich imprägniert wurde, wird er im Wechselausstellungssaal, der ansonsten dunkelgrau gestrichen ist, je nach Ausstellung mit einem Farbauftrag versehen.

Neben Sockel und Turm haben die Architekten auch das Thema der Treppe akzentuiert. Die Stufen in den Wechselausstellungssaal erscheinen als Pendant zur Tempeltreppe – hier statt diagonal von den Stiegen der Pferdetreppe durch ein Zwischenpodest unterbrochen. Die Erschliessung des Turms erfolgt über eine Kaskadentreppe, deren Stufen dramatisch in die Tiefe stürzen und nach oben optisch einen Sog erzeugen. Das Licht, das durch die Pixelfenster fällt, «zerfliesst» an der Innenwand, es aquarelliert die scharf ausgestanzte Kontur des digitalen Motivs.


Anmerkungen:
[01] Anne-Marie Biland: Bernisches Historisches Museum. Architekturführer, Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte Bern, 1994, S. 10

5. Juni 2009 TEC21

Gelber Torso

Es ist die letzte Nische der Stadt Baden, in der Kulturschaffende, Künstler, Architekten, Grafiker und Handwerker eine Bleibe haben: das Gelbe Viereck, das ehemalige Fabrikationsareal der Firma Merker AG. Die Architekten Zulauf & Schmidlin haben ihm eine Renovation angedeihen lassen, die in seltener Konsequenz die Spuren der Vergangenheit bewahrt.

Der nun vor dem Abschluss stehenden Renovation des «Gelben Vierecks» ging ein zähes Ringen um die Produktionshallen voraus, in denen während 120 Jahren Waschmaschinen, Geschirrspülautomaten und Einbauküchen produziert wurden (siehe Kasten S. 18). Die materiellen Argumentationsgrundlagen für ihren Erhalt lieferte der Kunst- und Architekturhistoriker Claudio Affolter mit seinem Gutachten: «Trotz Umnutzung von 1994 ist das Merker’sche Ambiente heute noch spürbar, weil die Grundsubstanz erhalten blieb und sich die architektonischen Eingriffe auf das Notwendige beschränkten. Entstanden ist ein lebendiges Ensemble, in dem Bildung, Begegnung, Kultur und Arbeit eine vorbildliche Symbiose formen.»[1] Affolter brachte die Klostertypologie des Gevierts mit sozialutopischen Entwürfen von Robert Owen und Charles Fourier in Verbindung, die sich in der Familistère in Guise (F) von Jean-Baptiste Godin (um 1860) oder den Fiat-Werken in Turin von Giacomo Matté-Trucco (nach 1916) niederschlugen. Der Firmengründer Friedrich Merker selber orientierte sich an Naheliegenderem: Anlagen in Zug und Winterthur. Dort hatte sich 1854 die Maschinenfabrik Rieter in einem ehemaligen Dominikanerkloster niedergelassen. Und wie eine Rückkoppelung ist der Entwicklungsplan von Roger Diener 1994 mit mehreren Hofgebäuden im ABB-Areal bestückt: «Ist es Zufall, dass Diener für ein Hofgebäude an der Wiesenstrasse genau die Masse des Gevierts Merker übernahm?»[2]

Zulauf & Schmidlin, die sich ihrerseits immer für den Erhalt starkgemacht hatten, erhielten von Senior Walter Merker und Erben den Auftrag unter der Bedingung, dass die Mietzinse deutlich unter den durchschnittlichen Preisen für Gewerbeliegenschaften zu stehen kämen. Diese betragen in Baden für Rohbaustandard zwischen 220 und 250 Fr./m2. Erreicht haben die Planer nun einen solchen von zwischen 150 und 170 Fr./m2 – in ausgebautem Zustand, wohlgemerkt. Dies widerspiegelt sich im Mietermix: Architekten, Grafikerinnen, Künstler, Musikerinnen, Designer, Gesundheitspraxen, Fotografen, Ingenieurinnen, Journalisten, Schriftenmaler, Catering-Service, das Internationale Festival für Animationsfilm Fantoche, das Figura Theaterfestival Baden, eine private Tagesschule, Mobility Carsharing, ein Baunternehmen, das Theater im Kornhaus (ThiK) und das Jugendkulturlokal «Merkker».[3] Die sanfte Sanierung umfasste vor allem die Haustechnik und die Isolation des Daches. Auf eine Aussenisolation wurde zugunsten der architektonischen Integrität verzichtet. Diese bemass sich für die Architekten an der typologischen Klärung, an der Inwertsetzung des Bestehenden, ohne es zur Schau zu stellen, und am Akzeptieren mancher Eingriffe – selbst wenn sie einst zum Nachteil der architektonischen Qualität erfolgten.

Typologische Klärung widerfuhr dem Bau durch den Abbruch der in den Hof gestellten Schreinerei und Lagerhalle (1909). Diese verstellte die Fassaden von West- und Ostflügel – mithin der ältesten Gebäudeteile. Sie beeinträchtigte auch den mit drei Geschossen ursprünglich den Osttrakt überragenden, giebelständischen Mittelbau mit dem Rundbogenportal, der, asymmetrisch positioniert, den neunachsigen Büroflügel vom sechzehnachsigen Werkstattfl ügeltrennte. Ausserdem hatte der zweigeschossige, flache Betonskelettbau mit Backsteinausfachungen (29 × 17 m) diverse Umbauten und Erweiterungen erfahren, die Claudio Affolter von einer inventariellen (siehe S. 8) Einstufungsempfehlung der Lagerhalle absehen liessen. Nämliches gilt zwar auch für die einstige Spedition, die ebenfalls einen Teil des Hofs besetzte. Allerdings weist der zweigeschossige Sichtbacksteinbau mehr originaleSubstanz auf – trotz der Entfernung der ursprünglichen Glasgiebeldächer und dem Zumauern von Fensteröffnungen. Da sich der Bau anbot, als Restaurant (EG) und Veranstaltungsraum (OG) genutzt zu werden, entschieden die Planer, diese Räume hier unterzubringen. Die ausgewogene Proportionierung – drei Achsen breit, vier Achsen lang – haben die Architekten wieder ins Lot gebracht, indem sie den Holzschuppen auf der Westseite entfernten. Sie bewahrten die Tragstruktur der Stahlstützen und der Unterzüge aus Doppel-T-Trägern sowie den Betonboden und die Holzdecke. Mit einem schwarzen Anstrich machen sie ihn aber zur «black box», zu einer Geheimschatulle, zu einer Art Zauberkasten für verschiedenste kulturelle Ereignisse, der weiterhin unter dem Namen «Spedition» firmiert. Nicht zu retten war das Emailwerk (40 × 32.5 m) auf der Rückseite des Westflügels. Die späteren Umgestaltungen und die in die Jahre gekommene Bausubstanz bedeuteten den Garaus für das Werk mit dem beeindruckenden, flach geneigten Giebeldach und den sechs Shedverglasungen. Obwohl weder das Portierhaus noch die Alte Stanzerei einer Einstufung würdig sind, stehen beide noch. Die von Bridler und Völki 1908/09 errichtete Portierloge mit Pyramidendach, deren Obergeschoss auf der Nordseite vorkragt und von vier ornamentierten Säulen gestützt wird, führt zwar eine Art Inseldasein zwischen Strasse und Fabrikareal, bildet aber dennoch eine Art synkopischen Auftakt des Geländes oder den Atemzugvor dem Einsatz eines Musikstücks. Die Alte Stanzerei, in der die Stadt ursprünglich das «Merkker» unterbringen wollte, betreiben die Architekten als mietbaren Kulturraum. Im Geviert selber haben die Architekten sozusagen die inneren Werte gestärkt. Es ist wieder von der Hofseite her erschlossen. Um den sozialen Austausch fliessen zu lassen, haben sie einen «inneren Umgang» geschaffen, d. h., es ist möglich, nahezu barrierefrei alle vier Flügel zu passieren. Im Westflügel wurden Künstlerateliers eingerichtet, die mit Mietkosten von 130 Fr./m2 preislich noch etwas tiefer liegen sollen als die übrigen Flächen und von den andern Mietern subventioniert werden. Der Bauherr möchte eines davon jeweils temporär einem auswärtigen Gast zur Verfügung stellen.

Die sich überlagernden Zeitschichten des Gelben Vierecks haben die Architekten ebenso lesbar gemacht, wie sie die Spuren der Fabrikation sichtbar belassen haben – und mithin damit einen Umgang wie ihre Vorgänger gepflegt. Diese liessen etwa beim Einzug der Beton decken als Ersatz der Holzkonstruktion in den unteren Geschossen die Stahlanker im Mauerwerk stecken – sei es als Sicherungen der Wände während der Bauarbeiten, sei es aus ökonomischen Gründen. So zeugen die Anker bis heute sowohl von der ursprünglichen Zweigeschossigkeit als auch von der einstigen Holzkonstruktion. Zulauf & Schmidlin haben ihrerseits Wunden, die der Zahn der Zeit geschlagen hat, nicht behandelt. Wo der ursprüngliche Kalkzementputz bröckelte, weil er einmal mit Dispersion gestrichen wurde, sodass dem mineralischen Untergrund der Sauserstoff entzogen wurde, sind diese Abplatzungen gegenwärtig. Die alten Steinholzböden wurden auch da belassen, wo sie Flickwerk sind. Nachdem die Lifte vom Sicherheitsexperten genehmigt wurden, konnten die Architekten auf deren technische Aufrüstung verzichten. Auch setzten sie sich mit dem Wunsch durch, wieder Holz- und nicht Holz-Metall-Fenster einzusetzen und sie mit den ursprünglichen Sprossen zu versehen. Von der einst ästhetisch zurückhaltend inszenierten Hierarchie zwischen Patrons und Arbeitern zeugen zwei verschiedene Treppenhäuser (Abb. 4, 6), und das Mobiliar im Verwaltungstrakt – alte Holztüren und Schrankwände – dokumentiert einen bescheidenen Luxus.

Wenn es auch nicht so sehr eine konzeptionelle als vielmehr eine fi nanzielle Entscheidung war, die Altlasten im Boden zu lassen, so sind sie gut mit Asphalt versiegelt. Und der Künstler Beat Zoderer wird auf dem geteerten, von einem 10 cm hohen Stahlband gerahmten Geviert einen Kunstteppich schaffen. Analog zu seiner Intervention 1995 beim Kunsthaus Aarau (siehe Titelbild) wird er mit Strassenmarkierungen ein Gewebe schaffen – oszillierend zwischen öffentlichem (Strassen-)Raum und Innenraumteppich …

1. Mai 2009 TEC21

Balanceakt

Äusserlich intakt war die 1867 errichtete Villa Rainhof in Zürich Mitte des 20. Jahrhunderts ihres baulichen Schmucks fast gänzlich beraubt worden. Nachdem «das Haus bis auf die Knochen geschält wurde und während neun Monaten eine klaff ende Wunde war», trägt es nun auf der Rückseite komplementäre Züge zur Front, sodass es zwischen 19. und 21. Jahrhundert balanciert.

Die 1867 erbaute Villa Rainhof liest sich als Teil jenes im Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte von kommunaler Bedeutung aufgeführten Ensembles, zu dem auch die ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Villen Patumbah und Hagmann gehören. Dem Kanton 1977 vermacht, war das Legat an die Bedingung geknüpft, dass das Haus der Bildung zugänglich gemacht würde. 1982 löste der Staat diese ein; zunächst mit der Belegung durch die Universität Zürich, dann bis 2005 mit der Einquartierung des ETHInstituts für Geobotanik, um es nun schliesslich defi nitiv den Instituten für systematische Botanik und für Pfl anzenbiologie zur Verfügung zu stellen. Der Regierungsrat sprach einen Kredit von 5.5 Millionen Franken, um die an der Zollikerstrasse 137 gelegene Liegenschaft instand zu setzen und für die Erfordernisse der Bildungs institute aufzurüsten, das heisst, die Sammlung des an der Zollikerstrasse 107 untergebrachten Instituts für Systematische Botanik ins Erdgeschoss der Liegenschaft «Rainhof» zu verlegen und in den beiden Obergeschossen Büros und Seminarräume des Instituts für Pfl anzenbiologie einzurichten.

Steigt man von der Zollikerstrasse den Zugangsweg hinauf, erhascht man zwischen dem reichen Baumbestand des 1880 von Theodor Froebel angelegten Landschaftsgartens[1] hindurch einen Blick auf die zur Seeseite hin orientierte Fassade der Villa. Von hier aus würde man kaum vermuten, dass die intakte Front des im Stil der Neorenaissance erbauten Hauses ein Inneres birgt, dem im Laufe der Jahrzehnte arg zugesetzt wurde. Die gravierendsten Eingriffe hatte die Villa um 1943 und 1951 zu ertragen, als sie in ein Zweifamilienhaus umgebaut wurde. Mit Ausnahme der Verlegung des ursprünglich auf der südöstlichen Seite situierten repräsentativen Eingangs auf die Rückseite spielten sich die Eingriffe hauptsächlich im Innern ab. Die Treppe wurde ersetzt, die dreiachsige Grundrissdisposition durch die Unterteilung von Räumen verunklärt, die Innenausstattung in Mitleidenschaft gezogen, indem der bauliche Schmuck – Stuckdecken, Holztäfer, Tapeten – entfernt und durch einen Zementputz ersetzt wurde, unter dessen Panzer die Gebäudehülle nicht mehr atmen konnte. Zumindest teilweise erhalten geblieben waren immerhin die Parkettböden – in verschiedenen Hölzern (Eiche, Tanne, Buche, Nussbaum) und schmuckvollen Verbänden (Würfel-, Stern-, Fischgrätmuster) verlegt.

Die Gesamterneuerung des Gebäudes stand unter zuweilen widersprüchlichen Prämissen: Die vorhandene Bausubstanz hatte denkmalpfl egerisch renoviert, den heute geltenden baulichen Vorschriften und Normen angepasst und auf die Bedürfnisse der Institute – vor allem auch ihre hohen Ansprüche an die Technologie – adaptiert zu werden. Martin und Elisabeth Boesch, die mit ihrem Projekt eine Konkurrenz von fünf eingeladenen Büros gewonnen hatten, haben sich auf sehr differenzierte Weise Zugang zu der Villa verschafft. Ausgangspunkt war ihr Grundsatz, sich nicht auf den Kontrast zwischen Alt und Neu zu kaprizieren. Ihm entspricht sowohl der Umgang mit dem Bestand als auch die Haltung, mit der sie das Haus um einen – in der Ausschreibung nicht geforderten – Anbau ergänzten.

Dieser Anbau gibt dem Haus das zweite Gesicht, das ihm immer gefehlt hat. Denn die Villa thront gleichsam auf einem natürlichen Grat, der nach Südwesten zum Zürichsee und nachNordosten, Richtung Zürichberg, zur Senke hin abfällt, in welche die Kuppeln der Gewächshäuser des Botanischen Gartens eingebettet sind. Diese «Rückseite« aber hatte der unbekannte Urheber der Villa der Vernachlässigung anheimgestellt. Daran änderte sich auch nichts, als bei den Umbauten Mitte des letzten Jahrhunderts der Eingang von der Südost- auf die Nordostseite, den einstigen Dienstboteneingang, verlegt und eine neue Treppe eingebaut wurde. Der neue, kubische Anbau wertet diese Fassade nun nicht nur auf, sondern gibt der Frontseite ein «Gegengewicht», das den auf dem topografi schen Sattel balancierenden Charakter des Hauses wahrnehmbar macht.

Der zweigeschossige Portikus ist in je neun vorfabrizierte Betonstützen aufgelöst. Gedämpft wird die repräsentative Geste durch verschiedene Massnahmen: Die Oberfl äche des Flachglases nimmt dem Baustoff die Härte, das Gussglas von Brüstungen und Schürzen defi niert den menschlichen Massstab, die in die Betonelemente eingegossenen Lindenholzbretter markieren nur zarte Fugen, und dem Beton wurde mittels Ansäuerung eine optisch weiche Anmutung verliehen. Beim Ansäuern – eine Alternative zum Sandstrahlen oder Auswaschen – wird das Betonelement mit Säure bestrichen, um die Zementhaut von der Oberfl äche abzutragen. Im Vergleich etwa zum Sandstrahlen, das eine relativ raue Oberfl äche hinterlässt, ist das Ansäuern dezenter im Abtrag und erzeugt eine optisch und haptisch weich wirkende Oberfläche.

Um das Material noch stärker dem Bestand anzuverwandeln, wurde der Beton ausserdem leicht gelblich getönt und als Gesteinskörnung mit Jurakies versetzt, dessen Färbung ebenfalls durch das Ansäuern zusätzlich hervorgeholt wurde. Als Reverenz sowohl an den Ort als auch an die bauhistorische Epoche mit ihrem ursprünglichen Bauschmuck zieren neun als Reliefs ausgebildete Eidechsen die Stützen. Das Erdgeschoss des Anbaus ist «technisch» ein Windfang, inhaltlich aber soll es als eine Art Wintergarten mit Sammlungsstücken bespielt werden. Entsprechend seinem Charakterals «Interface» zwischen innen und aussen ist der Boden mit beigen, sechseckigen Steinzeugplatten belegt. Das Obergeschoss ist funktional nicht eindeutig defi niert: Es kann als Sitzungszimmer, Pausenraum oder Seminarraum genutzt werden, ist aber immer ein «Baumzimmer», eine Art Baumhütte.

Im Entrée dominieren die beiden an Bienenkörbe erinnernden Zierköpfe: überdimensioniert nachgedrechselte Varianten der den Antrittspfosten des Handlaufs des Treppengeländers zierenden Exemplare. Den Architekten ist es gelungen, die skulpturale Qualität der restaurierten Treppe mit ihrem zeittypischen Geländer, die sich fast schwebend in die Höhe schraubt, zu «ent-decken» – trotz den auch optisch robusten Gläsern und Profi len des Brandabschnitts. Dessen Situierung zwischen Treppenhaus und Raumschicht (einen zweiten gib es zwischen Treppenhaus und Anbau) schützte umgekehrt die bestehenden Türen und ihre dekorativen Gussglasausfachungen vor Eingriffen. Anstelle eines Lifts installierten Architekt und Architektin eine Hebevorrichtung, die das Haus bis zum 1. OG behindertengerecht erschliesst, und spielten damit die Räume frei. Diese mussten der technischen Installationen wegen ohnehin schon «grenzwertig» (Martin Boesch) befrachtet werden.

Zwischen Verfestigen und Verflüchtigen

Es war denn auch ein Balanceakt, den Instituten Genüge zu tun und dem Haus gerecht zu werden. Um den Bau typologisch zu bereinigen und ihn im Wesentlichen auf die Dreiachsigkeit zurückzuführen, musste er «bis auf die Knochen geschält» (Martin Boesch) werden. Die das Mauerwerk tragende Holzständerkonstruktion bedurfte stellenweise einer statischen Ertüchtigung. Dies zum einen wegen höherer Anforderungen für öffentliche Gebäude – so mussten die Decken über den grossen Kurs- bzw. Seminarräumen lokal mit Stahlträgern verstärkt werden –, zum andern wegen bautechnischer Altlasten. Das Ersetzen der ursprünglichen Treppe von 1867 durch die heutige Treppe in den 1940er-Jahren wirkte sich nachteilig auf das Gebäudetragwerk aus, sodass der Deckenrand der Hallen zum Treppenhaus hin mit Stahlträgern und Stützen verstärkt werden musste.Neben der Wiederherstellung der typologischen Lesbarkeit war den Architekten auch daran gelegen, sie atmosphärisch wieder aufzuladen. Sie sannen darauf, ihr die architektonische Dichte – Parkett, Stuck, Täfer und Tapeten –, deren das Haus durch die Umbauten verlustig ging, wieder zu verleihen. Das Prunkstück des Hauses, einen antiken Kachelofen, übergaben die Architekten der Kantonalen Denkmalpfl ege und erhielten im Gegenzug aus deren Bestand Parkettböden, um die an manchen Stellen fehlenden bzw. bei Kücheneinbauten ersetzten Stücke zu ergänzen. Die Brüche sind zwar sichtbar, aber die Muster stimmen. Das Brusttäfer bildeten die Architekten in mit hellgrauer Ölfarbe gestrichenen MDF-Platten nach. Um den Genius Loci einzuhauchen, frästen sie stilisierte Blattmotive verschiedener Pfl anzen ein. Sie entnahmen sie den Herba rien, die Frank Klötzli, 1976–1999 Professor für Angewandte Pfl anzensoziologie und Pfl anzenökologie an der ETH Zürich, in den 1970er- und 1980er-Jahren angelegt hatte. Von den acht gewählten Pfl anzen, die Boesch Architekten aus den Sammlungen aus Tansania, Kenia und Hawaii wählten, lassen sich aufgrund der originalen Beschriftung Orchideenbaum, Wolfsmilch, Zypergras, Liebesgras und eine Ahornart identifi zieren.

Simultankontrast

Gewissermassen als Analogien zur einstigen Stuckatur fi gurieren die Profi lierung des oberen Wandabschlusses und die mittels Schablonen in Glanzlack an die Decke «projizierten» Blätter des im Garten stehenden Tulpenbaums. Je nach Lichtverhältnissen changieren die Blätter zwischen positiv und negativ, mal sind sie heller als die Decke, mal dunkler. Und schliesslich sind die Räume mit einer Andeutung von Farbe angehaucht. Boesch Architekten adaptierten vier in der Klassifi kation der Blütenfarben verzeichnete Werte, reduzierten sie auf eine gerade noch wahrnehmbare Tönung in Zitronengelb, Hellblau, Lila und Mint. Die Anmutung der Zeitperiode, in der die Villa umgebaut wurde, verströmt die Möblierung: Mit Ausnahme der Büroräume konnte das ganze Haus aus dem Fundus im «Estrich» der Universität mit 110 Exemplaren des Mehrzweckstuhls SE68 (1950) von Egon Eiermann ausgestattet werden. In den beiden Hallen sind je zwei der von Häfeli, Moser, Steiger für das Kongresshaus 1939 entworfenen und von der Möbelfabrik Horgen-Glarus wieder aufgelegten «Holzstühle mit Armlehne» um ein Salontischchen platziert, das aus jeweils zwei Ulmer Hockern (1954) von Max Bill besteht.

Elisabeth und Martin Boesch ist es gelungen, die Villa am Ort und in der Geschichte zu verankern, indem sie sie in der Schwebe liessen. Sie haben sie zwischen Zürichsee und Zürichberg verortet, indem sie ihr ein zweites Gesicht gaben. Sie haben sie in die Jahre 1867, 1943–1951, 2009 datiert – nicht indem sie das Dekor rekonstruiert, sondern indem sie die vorhandenen Zeitschichten freigelegt und die fehlenden in Anlehnung an jene – gleichsam komplementär – ergänzt haben.

Sie haben das Neue dem Alten nicht kontrastierend entgegengesetzt, sondern es ihm anverwandelt. Sie haben mit dem Bauschmuck architektonisch verdichtet, atmosphärisch aber verfl üchtigt. Farben und Formen geben nicht den Ton an, sie sind die Resonanz. Oder anders formuliert: Das Dekor, das die Architektin und der Architekt, die Künstlerin Mirca Maffi und der Künstler Moses Mbah Godlove schufen, wirkt wie ein Simultankontrast: Bei der Betrachtung schwingt der ursprüngliche Schmuck mit.

20. Oktober 2008 TEC21

Das Blaubarthaus

«Hier wirkt sich die Phantasie nicht nur auf die geometrischen Masse aus, sondern auch auf die Kräfte und Geschwindigkeiten; sie erweitert nicht mehr nur den Raum, sie beschleunigt sogar die Zeit.»[2] Was Gaston Bachelard in «Poetik des Raumes» 50 Jahre vor Erscheinen von Mark Z. Danielewskis Roman «Das Haus»[3] niederschrieb, eignet sich als Wegweiser durch ein Werk, das als Labyrinth von Sprachräumen, als enzyklopädisches Panoptikum und architektonische Kakofonie angelegt ist. Doch einen Schlüssel zu diesem Blaubart-Haus gibt es nicht.[4]

«Das Haus» gliedert sich in verschiedene Erzählstränge, die jeweils mit unterschiedlichen Typografien gekennzeichnet sind. Der Kern der Geschichte ist der Dokumentarfilm, der sogenannte Navidson Record, der das Abenteuer des Dokumentarfotografen und Pulitzer- Preis-Trägers Will Navidson[5] und seiner Familie aufzeichnet. Um die Beziehung zu seiner Frau Karen zu kitten, bezieht die Familie ein Haus in der Ash Tree Lane irgendwo in Virginia. Um sich dieses Neuanfangs zu vergewissern, zeichnet «Navy» das Leben in dem Haus mit mehreren Kameras auf. Doch die Idylle gerät schon nach kurzer Zeit im wahrsten Sinn des Wortes aus den Fugen. Denn das Haus entwickelt ein Eigenleben. Zunächst bildet sich ein Zimmer, wo vorher keines war und das sich in den äusseren Abmessungen des Hauses kaum bemerkbar macht[6], später ein Korridor, der vom Garten aus gesehen nicht existiert, im Inneren aber zunehmend – mit jedem Mal, da Navy und seine alsbald aufgebotenen «Gefährten» (Robert Holloway, Billy Reston, Jed Leeder, Wax Hook und Tom, Navidsons Bruder) es auszukundschaften versuchen – bedrohlichere Ausmasse von labyrinthischer Struktur annimmt. Flure vervielfältigen sich, eine Halle erweitert sich zu einem grenzenlosen Raum, eine Wendeltreppe, die an Gabriels Horn erinnert,[7] schraubt sich in unendliche Tiefen, sackt wie eine Ziehharmonika wieder in sich zusammen...

Beschrieben wird der «Navidson Record», der sich in mehrere bruchstückhafte Filmsequenzen gliedert (5½-Minuten-Flur, Erkundung A, Erkundung 1 bis 5, Rettung, Zerstörung des Hauses), von Zampanò, einem blinden alten Mann, der in einem völlig verdunkelten Raum sein Dasein fristet. Die Aufzeichnungen, die er bei seinem Tod in einer Truhe hinterlässt, sind durchsetzt von Interpretationen, Abhandlungen und Analysen, die das Geschehen in dem Haus und das Verhalten der Protagonisten ausloten – untermauert von über 400 Fussnoten. Zampanò zerlegt die Zeit- ebenso wie die Architekturgeschichte, die er in einer nicht enden wollenden Liste von Bauwerken abspult, die dem Vergleich mit dem Haus nicht standhalten können. Er leuchtet philosophische und psychologische Hintergründe aus. Er spielt naturwissenschaftliche Theorien gegen literarische und filmische Quellen aus (neben Emir Kusturicas hervorgehobenem «Underground» wieder eine Aufzählung beinahe ad infinitum). Er ruft die griechische Mythologie als Zeugen auf, konterkariert mit Motiven der jüdisch-christlichen Kultur oder verortet in der islamischen Tradition.

Johnny Truant, ein Herumtreiber, der sich mit einem Job in einem Tätowierstudio über Wasser hält, nimmt sich des Manuskripts an. Zampanòs Truhe wird ihm zur Büchse der Pandora. Zwischen sexuellen Ausschweifungen und Drogenrausch quält er sich durch die losen Seiten, um sie zu edieren – eine Beschäftigung, die ihn zunehmend strapaziert. Er verliert sich in der Lektüre, und je zerstörerischer sie auf ihn wirkt, desto besessener steigert er sich in sie hinein – ungeachtet dessen, dass er darob verwahrlost und vereinsamt.

Er halluziniert, verbarrikadiert sich in seinen vier Wänden, verdunkelt die Fenster. Diesen Handlungsstrang lässt Danielewski parallel zu Zampanòs Aufzeichnungen laufen – formal als ausgedehnten Fussnotentext abgesetzt. Eine weitere – wenn auch marginale – Stimmeist die der Herausgeber, die Unklarheiten kommentieren und Informationen vervollständigen. Und schliesslich gibt es einen über 150 Seiten umfassenden Anhang mit Gedichten, Zeichnungen, Collagen, Briefen (vor allem von Truants Mutter), Zitaten und einem Nachruf auf Johnnys Vater. Der Kern des Romans kreist zwar um den fiktiven, als «Navidson Record» bezeichneten Film, der die Erkundungen der labyrinthischen Wucherung des Hauses dokumentiert, doch tritt das Schicksal Navys und seiner Familie zunehmend in den Hintergrund – überlagert von Johnnys Story, durchsetzt mit Einsprengseln über Zampanò und Johnnys Eltern und gespiegelt, gebrochen, konterkariert in den wissenschaftlichen und literarischen Referenzen. Navy kommt am Ende mit einem blauen Auge davon (bzw. er verliert ein Augenlicht), doch die Beziehung zu seiner Frau hängt noch immer in der Schwebe. Zunächst sucht Danielewski die Analogie formal zu bewältigen. Das Labyrinthische der Hausexpansion zeichnet er nach, indem er – in Anlehnung an die konkrete Poesie – die Typografie als Abbild des Inhalts einsetzt: Er stellt den Text auf den Kopf, legt ihn in die Diagonale oder spiegelt ihn. Mal verengt er das Schriftbild zusehends, bis nur noch abgehackte Silben auf einer Zeile stehen, mal weitet er es so aus, dass sich der Raum einer ganzen Seite zwischen zwei Halbsätzen aufspannt; mal muss man den Text von rechts nach links lesen, mal von unten nach oben, mal in einem Zickzackkurs. Dabei expandiert und komprimiert das Schriftbild nicht nur, es beschleunigt und verlangsamt sich auch. Diese formale Analogie wirkt allerdings wie der Wink mit dem Zaunpfahl, und es scheint, als hätte Danielewski sich oder den Lesenden zu wenig zugetraut. Denn das Labyrinth, das er im Kopf der Lesenden mit seinen Hunderten von Verweisen – auf teilweise inexistente Werke[8] – anrichtet, ist weit spannender als der Plot der Geschichte. Und Danielewski beherrscht die Kunst, uns zu verführen, immer wieder zumindest einen Seitenblick auf die Anmerkungen zu riskieren. Selbst wer nur einem Bruchteil der Verweise folgt, verirrt sich heillos in dem Gebäude des Wissens, der Gefühle, der Assoziationen, der Träumereien, das der Autor auftürmt.

Insofern spiegelt sich das Haus im Kopf des Lesenden: Das Gebäude, das wir aus den Verweisen entwickeln, lässt sich ebenso wenig geometrisch, konstruktiv nachvollziehen wie Navys Haus. Es lässt sich in keine Form pressen, nicht in einen Plan bannen, nicht skizzieren, hat nicht Anfang noch Ende.Von axis mundi bis Paralleluniversum Danielewskis Haus steckt Dimensionen ab, die von archaischen Weltbildern der Axis mundi, wie der Weltenesche (Yggdrasil) der nordischen Überlieferung, dem griechischen Omphalos (Nabel) in Delphi oder der Ka’aba als islamischem Zentrum der Welt, bis zu neuesten naturwissenschaftlichen Theorien – von Einsteins Raumzeit bis zur Stringtheorie – reichen. Er evoziert Assoziationen mit mythologischen Gemäuern wie dem Urbild des Labyrinth-Topos, dem Kerker des Minotaurus. Das Monster, von dem sich Holloway, einer der Gefährten, verfolgt fühlt und das ihn schliesslich zu verschlingen scheint, lässt einen unweigerlich an den Minotaurus denken. Dass aber nicht nur menschliche Körper, sondern auch Gegenstände – Taschenlampen, ein Fahrrad, Merkzeichen, Proviant etc. – verschluckt werden, beschwört ein schwarzes Loch herauf.

Das Universum, das Danielewski aufspannt, bewegt sich zwischen christlicher Jenseitsvision wie Dante Alighieris Höllenkreisen in der «Göttlichen Komödie» und wissenschaftlicher Anschauung der Relativitätstheorie. Masse – Menschen und Gegenstände – und Licht – Taschenlampen, Fackeln oder Signalraketen – wirken sowohl auf den Raum als auch auf die Zeit ein. Die Raumzeit des Hauses ihrerseits beeinflusst wiederum die Bewegung der sich in ihr befindlichen Objekte.

M. C. Eschers seltsame Schleifen treffen auf Piranesis Gefängnisse; gekrümmte Räume auf fantastische Schlösser wie Harry Potters Hogwarts School of Witchcraft and Wizardry. Das Haus oszilliert zwischen der fünften Dimension der Kaluza-Klein-Theorie, die das Graviton mit der vierten Raumdimension auflädt, und der amerikanischen TV-Serie «Twilight Zone»: «Es gibt eine fünfte Dimension jenseits der menschlichen Erfahrung – eine Dimension, so gewaltig wie der Weltraum und so zeitlos wie die Ewigkeit. Es ist das Zwischenreich, wo Licht in Schatten übergeht, Wissenschaft auf Aberglaube trifft. Sie liegt zwischen den Fallgruben unserer Furcht und den lichten Gipfeln unseres Wissens. Dies ist die Dimension der Fantasie, das Reich der Dämmerung – die Twilight Zone.»[9] Das Haus ist Wurmloch und Paralleluniversum.[10] Es spiegelt die Klosterbibliothek in Umberto Ecos «Der Name der Rose» und die «Bibliothek von Babel» von Jorge Luis Borges.

In «Babel» entwickelte Borges die Vision einer Welt als Bibliothek aller möglichen Bücher mit so unermesslichen Dimensionen, dass das sichtbare Universum darin auf Nanomasse schrumpfen würde. Bei Danielewski nimmt das Haus Dimensionen an, die das Mehrfache des Erdumfanges ausmachen, die geologischen Schichten, die Navy später im Labor analysieren lassen wird, gehen Jahrmillionen zurück, einzelne Proben sind älter als unser Sonnensystem.

Analog zu dem Irrgarten in der Erzählung «Der Garten der Pfade, die sich verzweigen», der sich beim Durchschreiten ständig ausdehnt und immer neue Wege schafft, vervielfachen die ständig neu sich öffnenden Flure im Haus die Möglichkeiten, das Haus auszukundschaften. Mit Borges «Aleph» – obwohl kaum grösser als eine Murmel, beinhaltete das Aleph den Kosmos, ohne «Schmälerung seines Umfangs»[11] – hat das Haus gemein, dass seine äusseren Abmessungen bestehen bleiben, obwohl es ein Universum an Räumen aufnimmt.[12] Im «Sandbuch» zerrinnt dem Ich-Erzähler das «heilige Buch», das er von einem Durchreisenden erwirbt, buchstäblich zwischen den Fingern, ohne sich allerdings in Nichts aufzulösen – im Gegenteil. Das Buch hat weder Anfang noch Ende, ist unendlich. Die Paginierung ist chaotisch, eine einmal aufgeschlagene Seite lässt sich kein zweites Mal finden. Ähnlich besteht im Haus jeder Raum nur für einen kurzen Moment. Setzen die Abenteurer ihren Weg fort, können sie nicht mehr zurück, bzw. der Ort, wo sie eben noch waren, ist ein anderer geworden. Auch Danielewskis typografische Kapriolen erinnern an das «Sandbuch». Ausserdem lässt er Navy bei dessen letzter Erkundigung das «House of Leaves» im Schein des Feuers lesen, das dieser jeweils mit jeder gelesenen Seite entzündet.

Was Borges fantasiert, versucht Danielewski zu kreieren. Ist das «Sandbuch» eine Allegorie des Allwissens und ein Tropus für Hugh Everetts 1955 –1957 formulierte Viele-Welten- Theorie[13], so ist das «House of Leaves» deren «Inkarnation». Und ebenso wie sich die Räume im Haus zu einem irren Raumgeflecht auswachsen, verästeln sich Text- und Autorenverweise zu einem enzyklopädischen Dschungel, der weniger mit einem traditionellen Labyrinth zu beschreiben ist als mit der Rhizom-Struktur des Internets. Die Merkzeichen, die Navy und seine Gefährten anbringen, um die Orientierung nicht zu verlieren, sind auf dem «Rückweg» zerfetzt, nur noch in Bruchstücken vorhanden, bis sie ganz verschwinden wie die Brotkrümel, die Hänsel und Gretel auf ihrem Weg in den Wald ausstreuen. Navy & Co. navigieren durch das Haus wie der Leser durch das Buch oder wie man durch das Internet surft. Die Fussnoten im Buch funktionieren wie Breadcrumbs[14] im Internet. Sie führen einen immer tiefer in das Geflecht des Hypertexts. Man wird – wenn überhaupt – nie auf demselben Weg zurückkehren, auf dem man hineingekommen ist.

Die Warnung, die Danielewski seinem Protagonisten in den Mund legt, ist berechtigt: «Und falls Sie irgendwann einmal zufällig an diesem Haus vorbeikommen sollten, bleiben sie nicht stehen, gehen Sie auch nicht langsamer, sondern laufen Sie einfach weiter. Da ist nichts. Seien Sie vorsichtig.»[15] Wer das Blaubart-Haus aber öffnet und der Verführung nicht widerstehen kann, es immer weiter zu erkunden, nehme sich Gaston Bachelards «Poetik des Raumes» als Vergil an die Seite.

21. Januar 2008 TEC21

Weitblick in Solothurn

Die Prämissen sind so naheliegend wie der Lösungsansatz weitsichtig: Mit der Westtangente bekommt Solothurn am 8. August 2008 die Erschliessung des 25 Hektaren grossen Gebiets Obach - Mutten - Ober- und Unterhof.

Das Rüstzeug für die Planung holte sich die Stadt per Wettbewerb. Das siegreiche Team besann sich auf das Repertoire der Natur. Solothurn trug sich während 25 Jahren mit dem Gedanken, den Verkehr von der Innenstadt nach Westen zu verlagern, und legte 1972 ein erstes Projekt für eine Westtangente öffentlich auf. Nun ist die «Entlastung West», welche die kantonale Hauptstrasse H5 mit dem Autobahnanschluss Solothurn West verbindet und 20 000 Fahrten pro Tag bewältigen soll, im Bau; die Eröffnung ist am 8. August 2008 geplant – drei Jahre nach dem Spatenstich. Die zweispurige Strasse überquert (von Norden nach Süden) die Bahntrassen der BLS-Strecke nach Moutier sowie der Jurasüdfusslinie der SBB, wird auf einer Länge von 520 m in dem im Tagbau erstellten Tunnel «Gibelin» geführt und überquert die Aare auf einer 400 m langen, im Freivorbau erstellten Spannbetonstrassenbrücke. Ergänzend zur Flussquerung für den motorisierten Verkehr bekommt der Langsamverkehr eine neue Verbindung auf die Aare- Südseite, einen als seilverspannten, Jawerth’schen Balken ausgebildeten Steg.

Aus der Reserve gelockt

Solothurn prognostiziert zwar weder einen Bevölkerungswachstumsschub noch eine eklatante Steigerung der Beschäftigungszahlen. Doch erhöht die mit dem Bau der Tangenteeinhergehende Erschliessung der Quartiere Obach / Mutten / Ober- und Unterhof die Attraktivität des gegenwärtig im Zonenplan noch als «Reservezone ohne vorgegebene Nutzung » deklarierten Gebiets.

Um die potenzielle Attraktivitätssteigerung des von der Strasse erschlossenen Gebiets nicht planlos dem Investorendruck auszusetzen und um ein Instrumentarium an die Hand zu bekommen, das es ermöglicht, ein Quartier zu schaffen, «das in sich funktionsfähig und gleichzeitig gut an die Weststadt und das Stadtzentrum angebunden ist», lancierte die Stadt Anfang Mai 2006 einen offenen Planungswettbewerb mit nachfolgendem Studienauftrag. Im September 2006 empfahl die Jury vier Teams zur Weiterbearbeitung1, und im Mai 2007 erkor sie das Projekt «Weitblick» zum Sieger.

Natur als Metronom

Das Planungsteam (agps. architecture, Zürich; Graf Stampfl i Jenni Architekten, Solothurn; Gadient Landschaftsarchitektur, Zürich; Enz und Partner, Verkehrsplaner, Zürich; Zeugin Gölker Immobilienstrategien, Zürich) nahm die zurückhaltend zu bewertenden Entwicklungsperspektiven und den nur bescheidenen Siedlungsdruck zum Ausgangspunkt seines Projekts und postulierte «Langsamkeit als Chance». Es rollte das Gebiet von der Landschaft her auf, deren langfristiger Wachstumszyklus als Metronom der Entwicklung figuriert.

Noch wird das Terrain, das sich zwischen der Aare im Süden, der Rossallmend im Norden, der Landschaftschutzzone «Witi» im Westen und der Altstadt im Osten aufspannt, mehrheitlich landwirtschaftlich genutzt; es ist aber von einer sehr heterogenen Bebauung umgeben. Nur im Westen wird es von einer einheitlichen grossfl ächigen Struktur begrenzt, der erwähnten Landschaftschutzzone «Witi». Im Süden, wo sich der Perimeter bis fast ans Ufer der Aare erstreckt, befi ndet sich die Badeanstalt. Im Osten begrenzen es die Fabrikbauten der auf dem Gebiet der Schliesstechnik tätigen Firma Glutz-Blotzheim mit der Gründervilla der Fabrikanten, sekundiert schule Brühlstrasse, die drei Wohnhochhäuser «Sonnenpark» (Bild 2) – Torsos einer Planung der 1960er-Jahre –, Bauernhöfe und Obstgartensiedlungen vervollständigen das Arsenal des städtebaulichen Baumusterkatalogs.

agps.architecture und ihre Partner hatten also drei Prämissen: ein mit 25 Hektaren verhältnismässig grosses Gebiet, einen angesichts des mässigen Siedlungsdrucks langfristigen Planungshorizont sowie ein städtebaulich heterogenes Umfeld, das es zu bändigen bzw. mittels einer starken Identität in die Vermittlerfunktion zwischen Altstadt und Landschaftsschutzzone «Witi» einzubinden galt.

«Zwei Prinzipien durchdringen sich»

Um allen drei Vorgaben gerecht zu werden, legte das Team einen Raster über das Gebiet. Dieses besteht aus von Norden nach Süden verlaufenden, je nach Strassentyp doppelt, drei- oder vierfach geführten Alleen und aus Blickachsen, die in West-Ost-Richtung orientiert sind. Die so gebildeten Raumkammern werden ergänzt um den als Parklandschaft gestalteten Segetzhain. Die Reduktion auf drei prägnante Elemente ergibt eine ebenso starke wie flexible Struktur, innerhalb deren grösstmögliche Freiheit herrscht (Bilder 1 und 3). Die Alleen rekapitulieren die Auenwaldvegetation, wie sie entlang der Entwässerungsgräben der «Witi» charakteristisch ist – aber nicht nur formal. Da der Grundwasserspiegel auch im Bereich des Planungsperimeters hoch ist, sollen die Alleen mit einem gemischten Baumbestand aus Arten bestückt werden, die zumindest teilweise für eine Aue typisch, gleichzeitig aber robust genug sind, um zivilisatorischen Einfl üssen – etwa dem Salzstreuen im Winter – standzuhalten: Stieleichen, Birken, Spitzahorn, Weidenarten, Espen, Erlen und Schwarzpappeln. Der gemischte Baumbestand macht die Allee ausserdem resistent. Wird eine Pflanzenart von einer Krankheit befallen, kann sie eliminiert werden, ohne dass der Alleecharakter verlustig ginge, wie das etwa bei Kastanienalleen geschieht, wenn sich die Miniermotte einnistet. Insbesondere entlang des Brühlgrabens, der nach wie vor der Entwässerung dient, sind die Alleen auch eine Reaktion auf den mäandernden Obach, wirken wie die gestreckte Variante des von Gehölzstreifen flankierten Fliessgewässers. Die Ordnung der streng aneinandergereihten Bäume wird kombiniert mit dem «Wildwuchs» der unterschiedlichen Baumarten, die in Dimension und Gestalt variieren. Man ist versucht, an Max Bills Diktum zu denken: «zwei prinzipien durchdringen sich, das der gewaltigen naturkraft, das der ordnenden struktur.»[2]

Greift also in Nord-Süd-Richtung der Landschaftscharakter der «Witi» in das Planungsgebiet hinein, gewährleisten die Blickachsen in West-Ost-Richtung die Anbindung an die Altstadt – verstärkt noch durch den ebenfalls westöstlich verlaufenden Segetzhain. Dieser wird zunächst sehr dicht bepfl anzt, um bald den prägenden Charakter eines Grünraums zu erzielen. Mit zunehmendem Alter – Höhen- und Breitenentwicklung der Bäume – wird der Bestand ausgelichtet, sodass aus dem Hain ein Stadtpark entsteht, der sich auch gegen eine hohe Bebauung behaupten kann.

Prozesshaft

Bestand ursprünglich die Idee, die Blickachsen à la Gänsefuss (dreistrahlige Allee) zu bündeln und alle auf die Kathedrale St. Ursern zu fokussieren, schien den Projektbeteiligten diese Idee dann doch zu barock, und sie beschlossen, drei weitere Silhouettenpunkte – die reformierte Kirche, den Landiturm und den Krummen Turm – ins Blickfeld zu nehmen (Bilder 13–19). Obwohl zwei differierende Gestaltungselemente, sind Blickräume und Alleen aufeinander bezogen. Die Blickräume werden von den Alleen gerahmt, die ihrerseits unterschiedliche Bilder generieren: In Nord-Süd-Richtung dominiert der Eindruck einer klassischen Allee, in West-Ost-Richtung der einer in die Tiefe gestaffelten Baumkulisse. Aber sie sind nicht nur visuell mitienander verzahnt. Auch die Blickräume nehmen das Thema des hohen Grundwasserspiegels auf, indem sie es in einem Netz aus Retentionsfl ächen an der Oberfl äche sichtbar machen. Ebenso wie die prägnante Struktur adaptiert die Prozesshaftigkeit des Ansatzes die noch ungewisse Geschwindigkeit der Bebauung. Landschaft entsteht in langen Zeiträumen, manche Pflanzenarten wachsen schnell, andere benötigen Jahrzehnte. Entsprechend hat das Team die mögliche Entwicklung über einen Zeitraum von rund 50 Jahren dargestellt (Bilder 6–8).der Klinik Obach. Das Stadion, die PrimarDie landschaftsarchitektonische Struktur erlaubt es, nur wenige Regeln für die Bebauung vorzugeben. So schlagen die Projektierenden vor, das Gebiet in einen Wohnbereich nördlich des Segetzhains und eine Arbeitszone südlich davon zu gliedern, wobei sie die Arbeitszone in eine «Mischzone» (Arbeiten und Wohnen) und «Zone Gla» (ausschliesslich Arbeiten) unterteilen (Bild 5). Die nicht überbauten Felder können je nach Bedarf landwirtschaftlich genutzt werden, brachliegen oder temporären Nutzungen dienen (Streuobstwiese, Privatgarten, Festwiese, Ruheraum, Felder, Sportfläche, Brache, Parkplatz).

Stabiles Gefäss

Die hohe Flexibilität, die sich innerhalb der durch Alleen und Blickräume definierten Raumkammern ergibt, spiegelt sich in dem in Bild 4 dargestellten Variantenreichtum der möglichen Bebauung (von «Wohnen Klein» bis «Wohnen zur Landschaft»). Kleinteilige Bebauungen erträgt «Weitblick» ebenso wie grossmassstäbliche. Entsprechend der allmäh lichen Entwicklung sehen die Projektierenden auch den Ausbau des öffentlichen Bus verkehrs, dessen Linienführungen dem Grad der Überbauung angepasst werden sollen. Während der motorisierte Individualverkehr auf den orthogonalen Achsen der neuen Umfahrungsstrasse (Westtangente) und je einen westlich und östlich dazu geführten Strassen«bügel» konzentriert werden soll, wollen die Planer Fussgängern und Velofahrerinnen ein dichtes Netz an tangentialen und radialen Verbindungen zur Verfügung stellen, um sie möglichst wenig mit dem motorisierten Verkehr zu konfrontieren.

Gegenwärtig laufen die Arbeiten daran, das Projekt in einen Masterplan überzuführen und Etappen für die Einzonung zu defi nieren. Ein Knackpunkt dabei ist die Sanierung der Altlasten der ehemaligen Stadtdeponie im südwestlichen Bereich des Perimeters. Die anstehende Sanierung – mit entsprechenden Vorinvestitionen – betrifft auch Flächen angrenzend zur «Witi», die für eine optimale und weitgehend flexible Entwicklung möglichst spät überbaut werden sollten.

Ansonsten aber ist die Stadt in einer komfortablen Lage: Da das Konzept sich fast ausschliesslich auf den öffentlichen Raum bezieht, die potenziellen Baufelder also nicht tangiert, ist es nicht abhängig von der Kooperationsbereitschaft potenzieller Investoren. Mit dem Projekt «Weitblick» hat die Stadt Solothurn ein stabiles Gefäss, in das sie unterschiedliche Inhalte einfüllen kann, ohne dass es zerbricht.

26. November 2007 TEC21

Echo und Aura

In Peter Zumthors Diözesanmuseum in Köln widerhallt die 2000-jährige Geschichte der Pfarrei St. Kolumba. Das Stein gewordene Echo umhüllt die Aura. «Und wo Echo nicht ist, kann es auch keine Schilderung von Raum oder von Liebe geben.»[2]

Echo
«Sie, die Verschmähte, birgt sich im Wald, mit Laub das verschämte / Antlitz deckend, und lebt fortan in entlegenen Höhlen. / Aber die Liebe verbleibt und wächst vom Schmerz der Verachtung. / Wachende Sorge verzehrt den kläglich vergehenden Körper; /´Siechtum macht einschrumpfen die Haut, und die Säfte des Leibes / Schwinden gesamt in die Luft. Nur Stimme ist übrig und Knochen. /
Stimme verbleibt; zu Gestein – so sagen sie – wurden die Knochen. / Seitdem birgt sie der Wald, und nie im Gebirge gesehen, / Wird sie von allen gehört. Als Schall nur lebt sie beständig.»[1]

Das neue Diözesanmuseum erhebt sich wie eine Burg zwischen Kolumba-, Brücken-, Ludwig- und Minoritenstrasse – eine Zitadelle, eine Kasbah? Aber wehrhaft ist es nicht. Das durchbrochene Mauerwerk erinnert an die kunstvoll ornamentierten Mashrabiya der arabischen Architektur. Es umfliesst den das Grabungsfeld fassenden, über trapezförmigem Grundriss errichteten Baukörper. Um die Ecken herumgeführt, weicht es die harten Kanten auf, lockert die Mauer, nimmt ihr die Schwere über den spätgotischen Rudimenten und Gottfried Böhms in den 1950er-Jahren erbauten Kirche (siehe «Trümmermadonna»). Der Oberfläche eignet eine stoffliche Plastizität, eine optische Weichheit, die sich – mit den Augen abgetastet – samten anfühlt. Hoch liegende, seitliche Oberlichter in den Türmen brechen das Mauerwerk auf – eine Referenz an die kriegsversehrte Kirche (Bilder 5, 6).

Mittelalter und Moderne

Auf den Tag genau sechs Jahre nachdem Peter Zumthor in Köln das überarbeitete Projekt für das Diözesanmuseum präsentiert hatte, war die Öffentlichkeit geladen, das vollendete Werk zu besichtigen. 1853 vom «Christlichen Kunstverein für das Erzbistum Köln» gegründet, ist das Diözesanmuseum neben dem Wallraf-Richartz-Museum die älteste öffentliche Kunstsammlung der Stadt. Schwerpunkte sind das frühe Christentum (koptische und syrische Gewebe), Malerei, Plastik, Goldschmiede- und Elfenbeinkunst des 11. bis 16. Jahrhunderts, textile Wandbehänge und Messgewänder, Pergamenthandschriften, einzelne barocke Bildwerke und auch eine der umfassendsten Sammlungen von Rosenkränzen. Aus dem 19. Jahrhundert stammen Handzeichnungen der Spätnazarener und religiöse Druckgrafik. Als 1989 das Erzbistum Köln die Trägerschaft übernahm, präzisierte und erweiterte sich der Fokus der Sammlungstätigkeit. Das Mittelalter wurde gestärkt und das 20. Jahrhundert anvisiert – mit drei Akzenten: Werke der Klassischen Moderne, die Avantgarde um 1970 sowie zeitgenössische Arbeiten von Louise Bourgeois bis Dario Villalba.
Seit 1972 «hauste» das Museum in einem Neubau am Roncalliplatz, den es sich mit Ladenlokalen, Büros und Privatwohnungen teilte, in Räumen, die der Sammlung in keiner Weise gerecht wurden. Schon damals trug sich das Haus mit Plänen für einen Neubau, konkret wurden die Pläne für das Kolumba-Museum aber erst 1994, als die Diözese das Grundstück der Kirche erwarb. Die Museumsleitung entwickelte ein Museumskonzept, und 1996 wurde die Ausschreibung des Architekturwettbewerbs beschlossen. Aus den 167 Entwürfen erkor die Jury am 12. Juni 1997 das Projekt von Peter Zumthor.

Städtebauliches Kraftfeld

Die «Behausung» sollte der «Beheimatung» weichen. Die Kunstwerke sollten mit den römischen, den frühmittelalterlichen und den spätgotischen Rudimenten, der Verehrung der Kolumba und der Magie der «Trümmermadonna» zusammen wirken und das Museum zu einem Ort machen, an dem «Stadtgeschichte, Kirchengeschichte, Frömmigkeitsgeschichte, Sepulkralgeschichte und Kunstgeschichte» ablesbar werden.
Die Auslober waren sich bewusst, dass sie sich auf eine Gratwanderung zwischen der Respektierung der Ruinen und ihrer Ästhetisierung begaben. Delikat waren sowohl das spirituelle Vermächtnis, der mystische Charakter des Ortes, als auch die städtebauliche Situation. Kolumba liegt in einem Kraftfeld zwischen dem von Rudolf Schwarz (1955–1957) für das Wallraf-Richartz-Museum errichteten Bau, der heute das Museum für Angewandte Kunst beherbergt, den Kolpinghaus-Bauten von Dominikus (1929 / 1930) und Gottfried Böhm (1966–70), dem Opern- und Schauspielhaus am Offenbachplatz von Wilhelm Riphahn und Hans Menne (1954–57 und 1959–62) und schliesslich, jenseits der Brückenstrasse, dem Dischhaus. 1929 / 30 von Bruno Paul errichtet, dominiert es die Strassenkreuzung mit seiner imposanten Rundung und den Bandfenstern im Wechsel mit der Travertinverkleidung – unverkennbarer Einfluss von Erich Mendelssohns Stuttgarter und Chemnitzer Kaufhäuser Schocken. Architektonische Zeugnisse vergangener Jahrhunderte gibt es ausser der nahen gotischen Minoritenkirche kaum. Umso stärker wirkt die Präsenz der Domtürme, die im Hintergrund aufragen, als Magnetnadeln dieses Feldes.

Versöhnung statt Konfrontation

Zumthor orientierte sich analog zum Genius Loci, dessen 2000-jährige Geschichte sich in den Ruinen manifestiert, am Prinzip des Weiterbauens und überlagerte das Terrain mit einer weiteren Schicht – im Bestreben, Altes und Neues zu einer Einheit zu verschmelzen und nicht die beiden zueinander in Kontrast zu setzen. Das Alte wird mit dem Neuen amalgamiert, ohne die Eigenständigkeit zu verlieren, ohne zur blossen Staffage reduziert zu werden, zur nostalgisch verbrämten oder gar zur effektvoll inszenierten Ruine. Das Heterogene, Fragmentarische, das die Ruine auszeichnet, ihre historischen Narben werden zwar nicht geglättet, aber auch nicht aufgeladen, sondern in ein neues Ganzes eingebunden. «Versöhnlich» nannte Zumthor dieses Vorgehen vor sechs Jahren. Die Menschen sollen den Bau als einen einheitlichen Körper wahrnehmen und erst allmählich entdecken, dass er Brüche aufweist, alte und neue Glieder. Deshalb setzte Zumthor direkt an den bestehenden Mauerkronen an, mauerte sie auf und schützte sie gleichzeitig vor dem weiteren Verfall. Und er übernahm den trapezförmigen Grundriss, der der spätgotischen Kirche und ihrem nördlichen Annex geschuldet ist. Um die dreischiffige
romanische Kirche um zwei Schiffe zu erweitern und dennoch die ältere Strassenführung zu respektieren, kam es zu dieser Trapezform. Zumthor griff sie nicht nur im Gesamt-Layout auf, in der Umfassung seines Baus, sondern reagierte auch im Innern darauf: Die 14 im Grabungsfeld verankerten Stahlstützen, auf denen die Hauptdeckenkonstruktion aufgelagert ist, zeichnen den Verlauf der einstigen Kirche nach und markieren gleichzeitig den grössten Ausstellungssaal im 2. Obergeschoss. In diesem Saal widerhallt das einstige Hauptschiff der Kirche, in den von diesem Zentrum weggesprengten Kunstlichtkabinetten echoen ihre Seitenschiffe.

Ortspezifischer Stein

Als ortspezifisches Material hätte sich dunkelroter Backstein angeboten: «Er ist interessant für die Gegend, weil er hier traditionell häufig vorkommt, aus den Trümmern geborgen, beim Wiederaufbau eingesetzt und schliesslich auch in der Moderne – man denke an Rudolf Schwarz – auf ihn zurückgegriffen wurde. Aber, es wäre etwas platt gewesen, einfach einen normalen Backstein zu verwenden, es hätte keine Funken geschlagen», betonte Zumthor 2001. Daher liess er einen Backstein entwickeln, der von dem dänischen Ziegelwerk Petersen teilweise handgefertigt wurde. Der flache, graue Stein – das Format weist die Masse 54 × 21.5 × 4 cm auf – changiert zwischen Tönungen von Gelb, Rot, Grün, Blau und reflektiert die Materialisierung des Bestands: Ziegel, Tuff, Basalt und Onyx.
Die breiten, handbearbeiteten Lagerfugen verstärken den lehmigen, samtenen Touch der Wand, die im Bereich des Filtermauerwerks, wo sie auf das Grabungsfeld verweist, gar textil wirkt: «Pullovermauerwerk» nennen es denn auch die Ingenieure (siehe «Implantiert»). Es hat funktionale Bedeutung und ästhetische Wirkung. Da die Kirchenruine aus konservatorischen Gründen eines Aussenklimas bedarf, wird sie mittels dieses perforierten Mauerwerks belüftet. Ästhetisch ist es das Lichtspiel, das frappiert. Da der Abstand zwischen Aussen- und Innenschale einen Hohlraum bildet und die Perforierung der äusseren gegenüber derjenigen der inneren Mauer leicht versetzt ist, wird das Licht nicht nur gefiltert, sondern auch gestreut. Es streicht wie ein Windhauch über die Decke, rieselt in Sprengseln auf das Grabungsfeld, malt Lichtscheiben auf Boden und Wände: Ruinen, die nicht wie der Phoenix aus der Asche erstehen, sondern je nach Lichteinfall aus dem Halbdunkel auftauchen und wieder in die Vergessenheit zurücksinken. Zur Treue gegenüber dem Ort gesellt sich die Ehrlichkeit der Konstruktion (siehe «Implantiert»).

Wunderkammern statt «white cubes»

Von der Ecke Kolumba- / Brückenstrasse ist die Kirche, das Glasfenster in der Westwand des von Gottfried Böhm errichteten Baus Blickfang. Der Eingang zum Museum weiter nördlich in der Kolumbastrasse macht nicht viel Aufhebens, ist keine grosse Geste, führt über einen Windfang in das Foyer mit Kasse, Buchauslage und Garderobe. Diese wirkt ebenso wie die Bücherregale und die Theke aus Eukalyptusholz wie ein Möbel in den Raum gestellt. Vom Foyer öffnet sich nach Osten der Museumshof, der den ehemaligen Friedhof respektiert. Die «Grosse Liegende» des Bildhauers Hans Josephson ist das adäquate Ausstellungsstück für den Garten, der ausserdem mit elf Gleditschien (falscher Christusdorn) bepflanzt ist. Am Nordende des Foyers führt der Weg einerseits zum Ausgrabungsfeld, das auf einem Steg aus Padoukholz als Zickzackparcours – vorbei an Gottfried Böhms Oktogon – passiert werden kann, der in der ehemaligen Sakristei mit dem Werk von Richard Serra «Die Untergegangenen und die Geretteten» auf der Westseite endet. Andererseits sind von hier aus die Ausstellungsräume in den beiden Obergeschossen erschlossen.

Zumthor vermied es, die Säle in einer gleichförmigen Flucht aneinanderzureihen. Vielmehr konzipierte er einen fliessenden Raum, der im 1. Obergeschoss, das nur den westlichen Flügel besetzt, an zwei Wunderkammern – «Kabinett» und «Armarium» –, im 2. Obergeschoss am Lesezimmer vorbeimäandriert, ehe sich der Weg über dem Grabungsfeld zu jenem Raum öffnet, der den Grundriss der einstigen Kirche absteckt. Jeweils paarweise säumen Nordturm und -kabinett, Ostturm und -kabinett sowie Südturm und -kabinett diesen zentralen Kern. Durch seitliche Oberlichter fällt gedämpftes Licht.

Die Wunderkammern – nicht im Sinne des von Julius von Schlosser geprägten Terminus technicus verstanden, sondern ihrer Intimität und ihres kostbaren Inhalts wegen so bezeichnet – wirken, als schwebten sie im Baukörper, obwohl der ganze Bau fugenlos erstellt wurde: Dazu tragen der Lüftungsschlitz, der an den Rändern des Terrazzobodens verläuft, und eine 4 cm hohe Schwelle bei. Ausserdem differiert die Materialisierung: Im «Kabinett» weicht der Terrazzo einem Mörtelboden, im mit schwarzem Samt ausgeschlagenen «Arma­rium» einem schwarzen Terrazzo, und das Lesezimmer präsentiert sich als edles Mahagoni­holzkästchen.

«Flüchtige» Farben, «verschwindende» Technik

Die karge Materialisierung, die Reduktion der Farbenpalette, die Lichtführung und das Unsichtbarmachen der technischen Installationen machen die sakrale Stille in dem Museum aus. Das Energiekonzept, das auf Bauteilaktivierung und Geothermie beruht, machte es möglich, die Technik in Decken und Böden zu integrieren. Die Frischluft, die aus dem Raum über dem Grabungsfeld gewonnen wird, dringt über die Leuchtenauslässe der Mörteldecke ein und wird über die Bodenrandfuge abgesaugt.
Während ein Hauch vom Goldfarbton des Kolumbasteins der Wände, des Jurakalks des Bodens und der ocker getönten Stampfbetonumfriedung des Museumsgartens dem Foyer Feierlichkeit verleiht, verflüchtigen sich die Farben in den Obergeschossen und weichen einem mehrstimmigen Klang von Grautönen. Die Intonation dieses Kanons übernehmen die Materialien von Böden (Terrazzo), Wänden (Lehmputz), Decken (auf eine Schalung gegossener Mörtel) und halbtransparenten seidenen Vorhängen. Die Koloratur rührt von der sich wandelnden Lichtstimmung und den variierenden Raumdimensionen. Die Räume nehmen sich zurück, aber es sind keine «white cubes», welche die Kunstwerke unter Vakuum setzen. Zumthors Räume atmen – und sie sind verletzlich: Das fugenlose Bauen verur­sacht Haarrisse, welche Böden und Decken überziehen – ein Echo auf die Versehrtheit der Ruinen. Atmosphäre schafft der Architekt auch, indem er im 2. Obergeschoss die Stadtlandschaft mit raumhohen Fenstern einfängt und in den Kunstkontext einbezieht.

An der Präsentation des überarbeiteten Projekts vor sechs Jahren wurde Zumthor als «Architekt der Erinnerung» tituliert. Wenn Erinnerung auch die Wiedererfindung der Vergangenheit meint, ihr Echo als Stein und Stimme, dann wird aus «Eher, den Tod, als dass du mir nahtest in Liebe!» (Narziss) «Dass du mir nahtest in Liebe!» (Echo).

Publikationen

2025

Lisbeth Sachs
Animate Architecture

Mit ihrem Einstieg in die Berufswelt sorgte Lisbeth Sachs (1914–2002) für eine Sensation: Frisch diplomiert gewann sie 1939 den Wettbewerb für das Kurtheater Baden. In dem 1952 eröffneten Bau brachte sie ihre klare architektonische Haltung zum Ausdruck und erfuhr zugleich, was es hiess, sich als eine
Autor: Rahel Hartmann Schweizer
Verlag: gta Verlag

2020

Lisbeth Sachs
Architektin, Forscherin, Publizistin

Mit ihrem Einstieg in die Berufswelt sorgte Lisbeth Sachs (1914–2002) für eine Sensation: Frisch diplomiert gewann sie 1939 den Wettbewerb für das Kurtheater Baden. In dem 1952 eröffneten Bau brachte sie ihre architektonische Haltung zum Ausdruck und erfuhr zugleich, was es hiess, sich als eine der ersten
Hrsg: Rahel Hartmann Schweizer
Verlag: gta Verlag

2013

Otto Kolb – Architekt und Designer

Der Schweizer Architekt und Designer Otto Kolb (1921–1996) war ein Grenzgänger im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. 1948 nahm er die Berufung an das Institute of Design in Chicago an und tastete sich auf seinerzeit in diesem Metier kaum beackerte Terrains vor: Respekt vor der Natur und ökologisches
Autor: Rahel Hartmann Schweizer
Verlag: gta Verlag