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1956 als Wiener geboren, aber heute - nach der Selbsteinschätzung - eher Westösterreicher, wenn nicht Europäer. Angesichts der Härten des Hauses Stonbourough-Wittgenstein aufgewachsen, folglich schon bald Begierde nach dem Studium der Architektur, des Bauingenieurwesens und der Philosophie. 1988 Gründung der interdisziplinären Planungsgruppe Pontifex Partnership. Planung und Durchführung mehrerer Industrie- und Wohnbauten in Österreich. Internationale Vermittlungsarbeit und Agitation in Sachen Architektur, Ingenieurbau und Landschaftsgestaltung. Architekturkritiker für in- und ausländische Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Mitgestalter der österreichischen Fachmedien Bauforum und UmBau. Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Architektur. Lebt als freischaffender Forscher und Händler (Ideen und Wortspenden aller Art) - trotzdem - in Wien.

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15. Februar 2003 Spectrum

Wenigstens ein Grenzwächter?

Das Museumsquartier ist in Wien als Rufzeichen und Verwunderungskammer für die Kunst etabliert. Das intendierte Stadtstück ist es noch lange nicht, eher eine Kulturinsel, deren Festlandverbindungen nicht regelmäßig verkehren. Anmerkungen zu einem vergessenen Fahrplan.

Zufallspassanten sind erregt, selbst Lagekenner überrascht: Plötzlich temporäre Kunst als ermunternde Einladung vor dem Museumsquartier? Vorzeichen verschärfter öffentlicher Raumwahrnehmung auf einem so ganz und gar nicht hauptstädtisch genutzten Hauptkulturgelände der Republik? Gar der Beginn einer permanenten Schau- und Begegnungszone am wichtigsten österreichischen Museumsplatz?

Bisher leistet er aber als prominente Innenstadtbrache mit baukünstlerisch gut kaschiertem Garagenüberbrückungscharakter nicht viel mehr, als glattes Auf- und Abmarschgelände der Kunstinteressierten zu sein. Das Sempersche Kaiserforum hat keine adäquate räumliche Fortsetzung gefunden. Zur Langfassade von Fischer von Erlach hat sich mangels rechtzeitiger argumentativer Klärung vor der Fertigstellung des Museumsquartiers stadtplanerisch und denkmalpflegerisch nur der Fluchtbegriff „freihalten“ finden lassen.

Das Museumsquartier endet zentrumsseitig auch ein Dutzend Jahre nach dem Wettbewerbs entscheid als Wirkungseinheit an der barocken Fassadenflucht. Hier verläuft noch immer eine Interessengrenze der Betreiber, hier scheiden sich die Interventionsgeister der betroffenen Körperschaften, hier türmen sich wilde Angstpotentiale auf einem touristisch fetten Nährboden, genannt Weltkulturerbe. Könnte als Minimalziel zur urbanistischen Aufrüstung des Vorlandes, fragen sich viele Fachleute, nicht wenigstens ein architektonischer Grenzwächter errichtet werden, der die Sinne mit der Zeit so weit schärft und die Zweifel so weit schwächt, bis eines Tages architektonische Grenzverächter, die man mit den 1987 vorgestellten Wettbewerbsprojekten von Ceska/Hofstätter/Pauzenberger, Riegler/Riewe oder Turnovsky/Hauser noch in inspirierender Erinnerung hat, an ihre Stelle treten können?

Vorerst täuschen große Werbeankündigungen, Leuchtstelen im Raster, Lichtdeckel für die U-Bahn, die zuwenig tief errichtete Garage, Fahrrampen, Stationszugänge, Restrasen, Strauchfallen, eine wohl nach Blattflächenverlust bei der Rodung und nicht nach räumlichem Kalkül gesetzte Alibi-Allee et cetera über den dysfunktionalen Zwischenraum inmitten städtebaulich starker, aber hier nie ganz in kontrollierte Berührung gekommener Baueinheiten der Stadt hinweg. Die derzeitige Installation weißer Igluteile aus Hartschaumkörpern, die zum letztjährigen Weihnachtspunschhütten-Projekt der Architekten Anna Popelka und Georg Poduschka im Museumsquartier gehören, macht eindrücklich Dimension und Bedeutung des scheinbar von Investoren und Politik in seinem Potential übersehenen Stadtraumes bewußt.

Auch wenn die serielle Skulptur von PPAG kommentarlos und nur teilweise das Vorfeld des Museumsquartiers zwischen der auf die Hofmuseen bezogenen Mittelachse und der Mariahilfer Straße besetzt, ihre Stellung und Wirkung zeigt eine schon seit der Wettbewerbsauslobung nicht mehr hart angerissene Problematik auf. Die nun dominierenden städtebaulichen Alleinstellungsmerkmale des Museumsquartiers entsprechen weder der Intention des Bauherrn noch dem Siegerprojekt von Laurids und Manfred Ortner im internationalen Wettbewerb. Vielmehr haben mediale Diffamierung und postwendende politische Redimensionierung bewirkt, daß sich die Bauten hinter dem barocken Rahmen ducken mußten.

Die „Krone“, die sich der dem Ortner-Projekt immanenten lokalen Stadtkrone erfolgreich widersetzte, und ihre ideologischen Zulieferer werden nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Aber auch diese Kräfte werden noch erleben müssen, wie Bürger und Architekturinstanzen die Oberhand gegenüber ihrer Angst vor dem besseren Neuen gewinnen. Zubauten werden das Museumsquartier vervollständigen und dem ursprünglichem Gehalt etwas näher bringen.

Die Ideenkonkurrenz hatte klare Prämissen und ebenso eindeutige Ergebnisse, die in der Projektrealisierung verwässert wurden. In der ersten Phase des Architektenwettbewerbes „Messepalast“ im Areal der ehemaligen Hofstallungen war der städtebauliche Rahmen nicht zu eng gespannt: „Das Wettbewerbsgebiet umfaßt das Areal des ,Messepalasts' einschließlich der als ,Messeplatz' bezeichneten Freifläche. Unter der sich die ,Messeplatzgarage' befindet. Das Wettbewerbsgebiet liegt unmittelbar hinter den beiden großen Museen an der Ringstraße, den Anschluß des geschlossenen, historisch gewachsenen Baugebiets des 7. Gemeindebezirks bildend und südlich und nördlich von der Mariahilfer Straße und der Burggasse als Radialstraße begrenzt. Das Wettbewerbsgebiet ist somit zentral im Stadtgebiet gelegen.“ Die Ausschreibung zur zweiten Phase bestätigte das: „Die Gestaltung des gesamten ,Vorfeldes' wird als wesentliche Aufgabe des Wettbewerbes betrachtet.“

Das Juryprotokoll der zweiten Wettbewerbsstufe vom November 1990 stellte als bestärkende Eigenschaft des Siegerprojekts der Gebrüder Ortner fest: „Der Entwurf geht nun von dem Gedanken aus, das Areal des Messepalastes sei von einer ,Stadtmauer' umfriedet, unterstreicht aber mit der Vielfalt der Zugänge die funktionelle Verflechtung mit dem Stadtraum in optimaler Weise. Konsequenterweise wird im Bereich ,Vorplatz Mariahilfer Straße' der Zugang ins Areal als Unterführung des Fischer-von-Erlach-Baues gesucht. Die Aufteilung des Medienforums auf drei voneinander getrennte Baukörper, von denen sich einer außerhalb der ,Stadtmauer' befindet, entspricht der Auslobung, da es sich um verwaltungsmäßig getrennte Einheiten handelt.“

Das Siegerprojekt zeigt einen quaderförmigen Baukörper parallel zur Lastenstraße, teilweise die Garage überbauend, aber über einen tiefergelegten Hof die Vorlandnutzung in das Quartierinnere ziehend. Die Höhe dieses Baukörpers und seine Stellung orientieren sich an der Traufe und den Fassadenfluchten des Kunsthistorischen Museums, zumindest ein möglicher städtebaulicher Anhaltspunkt. Das Vorfeld ist mit Baureihen und Bodenbelägen grob in rektanguläre Felder in der Ordnung des Kaiserforums gegliedert, vor Fischers Mitteltrakt einen Bereich offen haltend. In den Überarbeitungen verkleinert sich das Medienhaus immer weiter, bis es 1992 aus dem Projekt verschwindet. 1999 steht wieder ein Medienkubus im Entwurf, allerdings nach Süden von der Tiefgarage und dem Grundeigentum der Republik Österreich abgerückt, zur Gänze auf dem als Park gewidmeten Boden der Stadt Wien nahe der U2-Station Mariahilfer Straße. Erst die absehbare Fertigstellung des Museumsquartiers und das Insistieren von Ortner & Ortner auf einer Gesamtlösung im Sinne des von ihnen zur Gänze, inklusive Vorplatzarrondierung- und -bebauung gewonnenen, aber dann von der Errichtungsgesellschaft nie zur Gänze zugeschlagenen Auftrags bringt also konkrete politische und behördliche Überlegungen zum Vorplatz in Gang.

Die Stadt Wien läßt Ortner & Ortner Entwurfsoptionen für das Vorfeld untersuchen, zugleich versuchen die Architekten Investoren von dem Standort zu überzeugen. Die großen Chancen des trapezförmigen Gebiets werden freilich erst bei der Rodung erkennbar. Eine Installation aus einer Parallelschar in grellem Orange gehaltener Netze von „Querkraft Architekten“ erweckt für die Öffentlichkeit erstmals die räumliche Brisanz des Vorgeländes. In einer profunden städtebaulichen Studie für die Magistratsabteilung 19 stellen Erich Raith und Reinhardt Gallister im Sommer 2000 klar, daß die Mariahilfer Ecke eine auf mehrere Arten architektonisch gut bespielbare, städtebaulich vielfältig determinierte und auch mit Gewinn determinierbare Situation darstellt. Eine der drei von ihnen überprüften und für tauglich befundenen Bebauungsoptionen, der Solitär, wird freilich gleichzeitig von Ortner & Ortner schon mit der BAWAG als „Designcenter“ ventiliert.

Obwohl das um neunzig Grad verwundene Ellipsoid für das „Designcenter“ die städtebaulichen Determinanten als autonomes Stück, als alle stadtgeometrischen Anfechtungen weitgehend abweisende Signalarchitektur erfüllte, scheiterte das Projekt am Kleingedruckten. Das Angebot der Stadt, auf bestehendem Grünland auf zehn Jahre ein ephemeres Objekt zu erstellen, erschien der Bank pragmatisch zuwenig fundiert. Eine neue Flächenwidmung war wegen der öffentlichen Ansprüche an jede private Nutzung an diesem prominenten Ort zeitlich zu aufwendig; zudem stimmte wohl die entscheidende Dreiecks-Chemie zwischen Architekt, Investor und Stadt nicht ganz. Das soll kein böses Omen sein: Der Standort ist heiß, kombinierte kunst-, kultur- oder wissenschaftsbezogene Nutzungen zeichnen sich mehrfach ab, der stadtpolitische Wille steht keinem beherzten Investor und auch keiner Institution entgegen.

Wer es ernsthaft wagt, diesen vergessenen Fahrplan aufzuschlagen, dem ist eine direkte Fahrt zu architektonischen und somit medialen Weltwirkungen sicher. Im übrigen ist dieser Ansporn Hans Dichand als Himmelshüter über sämtlichen Hofstallungen anläßlich seines Ausscheidens aus dem aktiven Berufsleben gewidmet, das ihm nun endlich erlauben könnte, im Rahmen einer Honorarprofessur für Populistik im Städtebau seine urbanistischen Argumente auf akademischem Boden prüfen zu lassen.

19. Januar 2003 Spectrum

Südleuchte an der Nordkette

Der Weinbau kultiviert sich und ist zum Thema der Architektur aufgestiegen, Weinhandel und Gastronomie ziehen mit. Die Vinothek „solo vino“ in Innsbruck von Giner & Wucherer ist eine erste Adresse für Freunde italienischen Weins. Blicke auf einen urbanen Treffpunkt.

Eine Ära partieller architektonischer Subtilität ist angebrochen: Feinheit und Finesse von Genußmitteln wirken auf einmal auf die Orte, an denen sie feilgeboten werden, zurück. Hersteller und Händ-ler landwirtschaftlicher Produkte trauen sich endlich zu, ein Ambiente bereitzustellen, das auf deren Machart und Ursprung, viel mehr aber auf die Kultur der Kundschaft aus der Stadt Bezug nimmt. Deftige Zeichen des Mediterranen und Rustikalen wie Fischernetze oder Cotto-Böden, gar Anklänge nationaler Behauptung mit wehenden Flaggen und Heldendevotionalien aus Film, Politik oder Sport sind als Hinweise auf italienische Kost und Küche nicht mehr letzter Schrei.

Giovanni Giuseppe Conte ist als Patron eine bekannte Innsbrucker Person, seine Lokale sind Innsbrucker Institutionen. Mit dem mittlerweile an vertraute Kräfte abgegebenen Restaurant „Da Peppino“ hat er weit über die Stadt hinaus einen gut behaubten Standard für italophile Kulinarik etabliert, aber dabei den üblichen „Tiroler Stil“ der Gaststube noch nicht überwunden. Das war einem ergänzenden Restaurantprojekt zum gut laufenden, nicht in der Stadtmitte gelegenen „Da Peppino“ vorbehalten. Conte wollte ein zwei-tes, zentraleres unternehmerisches und wohl auch kommunikatives Standbein, „mit modernem Gepräge, aber nicht steril“. Es sollte durch besondere Wärme der Materialien und des Lichts charakterisiert sein, ein kommunizierendes Gefäß in sich und mit der Stadt.

Knapp außerhalb der Altstadt bietet sich Conte im Jahr 2000 eine einmalige räumliche Chance für ein Speiselokal: Im Erdgeschoß des MCI, eines Nebentraktes der von den Architekten Henke und Schreieck überzeugend errichteten Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fa- kultät (1988 bis 1999) der Universität Innsbruck, wird ihm ein Teilbereich angetragen. Die anderen Zonen dienen einer Bank, einer Buchhandlung, einigen Büros und weiterer Gastronomie. Die besondere Lage des Gebäudes zwischen Universitätsstraße und Campus läßt ein passagenartiges Lokal mit zwei Eingängen zu: einerseits von der dichten, verkehrsdurchströmten Kernstadt, andererseits von der ruhigeren Sphäre der Universität mit dem angrenzenden Hofgarten. Die „Sowi“ definiert eine Grenze zweier städtebaulicher Einheiten und ist nach einer Phase der Skepsis und vorsichtiger Aneignung nun ein integrativer Stadtteil, zu allen Tageszeiten belebt. Die Benutzer sind großteils jung oder etabliert, jedenfalls Neuem aufgeschlossen.

Dementsprechend ist der erste Bauabschnitt, das Lokal „solo pasta“, positioniert: urban, unprätentiös, sichtoffen zu Park und Straße, nicht zuletzt spezialisiert auf beste Nudelgerichte. Die Atmosphäre ist zum Produkt stimmig: Italiens Reize sind verklausuliert präsent durch eine schlichte, betont sauber gearbeitete Ausstattung in Massivholz, eine starke Farbe und viele Lichtakzente. Dem rasch einsetzenden und andauernden Erfolg des „solo pasta“ Rechnung tragend, haben nach einer Verdichtung nun etwa hundert Personen Platz, ohne den einen langgestreckten, übersichtlichen Raum zu überfordern. Die beiden Portale sind im System der Fassade zur Gänze verglast und sprechen eine Einladung aus. Das Senfgelb der Wände, geschwärzte mitteldichte Faserplatten als Deckenuntersicht, die schlichten Sitzbänke und die skulptural wie ergonomisch überzeugenden, braun lackierten Holzsessel des Schweizer Modernisten Max E. Häfeli und vor allem die unbehandelte, graubraun-wild gemaserte Kupfereiche als dominantes Material für den Schiffboden, für die Tischflächen und das Gehäuse für die Bar ergeben einen karg instrumentierten, in seiner Homogenität informellen, nichtsdestoweniger aber durch die Vielzahl interessanter Details sinnlichen Raum.

Aufwand und Erfolg des im Oktober 2000 eröffneten „solo pasta“ lassen den Bauherrn bald an Erweiterung denken. Möglich wird die fast modular konzipiert erscheinende Fortschreibung des Erfolgsrezepts aus Lage, Ware und Service durch glückliche Fügungen: Die Küche liegt an der einen, gewissermaßen „äußeren“ Längsseite des „solo pasta“, sich im Speiseraum nur durch ein Edelstahlfeld abzeichnend; an der anderen erschließen neben der Bar zwei Stichgänge die Sanitär-gruppen. Diese Entwurfsentscheidung der Architekten bildet intuitiv die Voraussetzung für die erste sinnfällige Erweiterung: Aus Stich- werden Durchgänge, an der Rückseite der Bar entsteht eine Schank samt Antipasti-Vitrine. Die Küche kann seit Dezember 2001 auch die nächste Raumschicht, die Vinothek „solo vino“, bedienen.

Giovanni Giuseppe Conte hat zu seiner Ambition für die italienische Eß- und Trinkkultur während der von wachsendem Vertrauen gekennzeichneten Arbeit mit seinen zuvor noch nicht mit Gastronomieräumen hervorgetretenen Architekten Thomas Giner und Erich Wucherer aus Innsbruck auch noch architektonisch Feuer gefangen: „Beim Wein ist es so wie bei der Architektur: Das Leben ist zu kurz, um sich mit Schlechtem abzugeben. Ich habe immer von einer Vinothek geträumt, und hier erfüllen sich nun meine Träume.“ Das „solo vino“ ist ein dichter Verkaufsraum für etwa 500 erlesene Weine und delikate, typisch italienische Vorspeisen für Laufkundschaft, vor allem aber ein Raumangebot, die Weine und Antipasti in anregender Gesellschaft zu verkosten. Das bestens verkäufliche Produkt ist letztlich eine hintergründig kondensierte Italianitá, die man in Nordtirol, besser als irgendwo anders,
diffus als permanentes Südleuchten über dem Brenner spürt.

Im „solo vino“ kann man beim Eichenanfassen, beim physischen Kontakt mit einer selten eingesetzten, weil in der flächigen Wirkung meist für zu lebendig gehaltenen Holzsorte, der im Waldviertel heimischen Kupfer- eiche, Substanz und Qualität der Natur spüren; und diese Erfahrung mit den im Glas kredenzten Säften, den typischen Speisen und den in der Dichte der gastlichen Menschenpackung fast unumgänglichen Gesprächskontakten zur Wechselwirkung bringen. An sieben Eichentafeln haben siebzig Gäste Platz. Abends reicht das oft nicht aus, denn das „solo vino“ hat sich als der angesagte Treffpunkt für jene etabliert, die gutes Essen und Trinken nicht mehr von der Erfahrung eines adäquat gestalteten Raumes trennen wollen.

Giner und Wucherer schaffen mit ihrer famosen Auslegung der schon da und dort gesehenen Kombination von Weinverkauf und Speiselokal sowohl besonders lukrative als auch besonders ansprechende Wechselwirkungen. Die wiederum aus unbehandelter Kupfereiche und unterstützenden Stahl- und Glasteilen strikt regulär geformten Regalwände voller Weinflaschen sind Auslage, Lager und animierende Kulisse zugleich. Der
eigentlich auf eine etablierte Klientel ausgerichtete Weinhandel bildet mit dem auch einem jugendlichen Publikum angemessenen Nudellokal eine stark synergetische Doppelmarke. Die kleinteilige Präsenz des Weins, des Pflanzlichen, mit Hunderten Etiketten und Tausenden Flaschen, und die Präsenz großer „tierischer“ Körper, die Darbietung von Prosciutto und Parmesan im verglasten Schaulager, einem oberirdischen Keller und somit visuell direkt am Tisch, schafft maximale Sinnlichkeit.

Bemerkenswert auch die von der einschlägig bekannten Firma Halotech instrumentierte, mit gängigen Vorstellungen des grunderhellten Gastraumes brechende Lichtregie. Über den Tischen sind in kleinen, künstlich angerosteten Stahlkästen untergebrachte Halogenquellen abgehängt, die präzis zentriertes, warmes Licht auf die Speisen und Getränke, aber nicht auf die Gäste lenken. An der naturbelassenen MDF-Decke knapp angesetzte Strahler in analoger Ausführung setzen die umlaufenden, raumhohen Regalwände, somit die Flaschen, in das richtige Licht. Gerade daß der Großraum dunkel und die sieben Tische mit Licht ausgezeichnet sind, beschert dem Gastraum in jeder Besetzung
Eigenart und Intimität - die man schon von der Straße erahnen kann.

Seit September letzten Jahres ist das einseitig durch ein
anliegendes Büro gefangene „solo vino“ durch den sogenannten „Magnum-Raum“, ein 11.000 Flaschen, davon unzählige Magnumformate beinhaltendes Weinlager, in je zwei die Längsseiten begleitenden Regalen abgeschlossen. In der Mitte steht eine Tafel für 48 Personen, die für festliche Anlässe zu mieten ist. Auch hier möchte man das stimmige Ambiente unter dem Titel „solo qualitá“ zusammenfassen: Es sind die Warmschlaglichter, die Häfelisitzkörper, die Eichentische und -regale aus der sicheren Hand des Innsbrucker Tischlers Gerhard Höckner - alle auf geflammtem Eichenboden mit der Ware und den Gästen zusammenwirkend.

Wenn Conte anfangs sagte: „Ich bin ein romantischer Mensch“, dann ist den Architekten zu danken, daß sie ihm so viel „Unromantisches“, ohne jede Lieblichkeit, aber voller Feuer, abgerungen haben. Die hohe architektonische Mühewaltung ist nicht nur zu erahnen: Überzeugungskraft von Architekten und Vertrauensfähigkeit eines Bauherrn verschmelzen hier trefflich. [*]

23. November 2002 Spectrum

Und plötzlich Antworten, katalogweise

Architektur ist fast immer eine öffentliche Veranstaltung, Architekten hingegen stehen fast nie in der politischen Öffentlichkeit. Im Wahlkampf wurde den Parteien bei einer Podiumsdiskussion endlich Architekturprogrammatik abverlangt - ein Trugbild der Eintracht.

Am vergangenen Montagabend sind im Wiener Semper-Depot alle alten Architektur- und Architektenprobleme sogar im Dreiparteienkonsens merkwürdig leicht ausräumbar: Architektur ist dort unbestritten ein ressortübergreifendes Feld engagierter Bundespolitik, das nicht dauernd der Administration überantwortet werden kann, im Bundesbau ist umfassende Qualität oberste Prämisse, das Wettbewerbswesen als Qualitätsgarant ist selbstredend auszubauen, die Architekturförderung des Bundes ist höher zu dotieren, und nicht zuletzt ist die angespannte Berufssituation der Architekten dadurch kurzfristig zu verbessern, daß die Honorarordnung der Architekten anerkannt wird.

Freudige Überraschung, aber zugleich Skepsis unter den Architekturschaffenden: Ist diese einmütige Einwilligung in eine aktive Architekturpolitik des Bundes trotz jahrelang gebetsmühlenartig vorgetragener Forderungen nur dem knapp eine Woche vor einer Nationalratswahl herrschenden hohen Bekenntnisdruck zuzuschreiben, oder ist tatsächlich eine Regierungstätigkeit absehbar, die gebaute Umwelt nach Kriterien gestaltend beeinflussen will? Auf Einladung der Plattform für Architektur und Baukultur beantworten Sozialdemokraten, Freiheitliche, Volkspartei und Grüne einen Fragenkatalog, der von den unerträglichsten Zwängungspunkten hiesiger und den Standards europäischer Architekturproduktion ausgeht. Zudem erklären sich die Parteien mit Ausnahme der Freiheitlichen bereit, an einer Podiumsdiskussion teilzunehmen, die architekturpolitische Lösungen für die nächste Legislaturperiode aufzeigen soll.

Die Bekenntnisse und Verwendungs- adressen in der gut besuchten Diskussion gehen in Kernfragen über die schriftliche Beantwortung hinaus. Die überparteiliche, aber sich ihrer grundsätzlich politischen Mission sehr bewußte Plattform für Architektur und Baukultur kann sich zugute halten, daß sie die Gunst der eiligen Politikerstunde nutzen konnte; die Bewährungsprobe bei der Überführung der Zusagen in Koalitionsvereinbarungen, Regierungsprogramme, Oppositionsstrategien et cetera steht noch bevor. Beharrlichkeit und mediale Präsenz werden unumgänglich sein, um die scheinbaren Randmaterien Architektur und Baukultur unumgänglich zu machen.

Die Anläufe zur Qualifizierung des Baugeschehens auf politischer Ebene sind längst zu zahlreich; die in der Endphase der Kanzlerschaft Klima bis ins Detail diskutierte Reform des Bundesbauwesens noch plastisch in Erinnerung. Um nach zwei Jahren diesbezüglicher Stagnation nun nicht neuerlich das „Rad der Architektur“ erfinden zu müssen, hat sich die Plattform für Architektur und Baukultur kürzlich mit dem Ziel formiert, die Anliegen der österreichischen Architekturschaffenden an die Parteien und die Parlamentarier heranzutragen, um weiteren ergebnisarmen Legislaturperioden vorzubeugen. Der Schulterschluß ist bemerkenswert, weil er die Kammern, die gesetzlich verankerten Interessenvertretungen der Architekten, mit den Hochschulen und den vielfach vereinten Qualitätslobbyisten in allzu selten wahrnehmbarer Allianz zeigt: Architektur kann auf dieser breiten Plattform nicht mehr als berufsständisches Anliegen in Konkurrenz zu anderen Sozialpartnern, als selbst zu regulierendes Überforderungsdilemma der Hochschulen oder als Teil der von allen Körperschaften im Wechselspiel herunterlizitierten Kunstförderung abgetan wer- den: Das öffentliche Interesse an Architektur ist glaubhaft manifestiert. - In- teressant sind, neben den unter www.architekturpolitik.at nachzulesenden Antwortkatalogen, besonders die Aussagen der Parteienvertreter, sofern sie ein Abgehen von bisherigen Haltungen signalisieren. Vorweg: Die Forderungen einer institutionenübergreifenden Architekturallianz haben mehr Gewicht; die von der Volkspartei auf das Podium entsandte Fachfrau Herlinde Rothauer hebt den integralen Charakter der Plattform hervor; damit ist offenkundig, welche politische Schubkraft nicht allein von den Kammern getragene Architekturinitiativen in Richtung Bundesregierung entfalten könnten. Rothauer definiert die Aufgaben der Bundesbaupolitik in zweierlei Richtung: Einerseits sollte die Rolle des Bauherrn Republik beispielgebend wahrgenommen werden, andererseits die atmosphärischen und materiellen Rahmenbedingungen für die Architekturentwicklung sichergestellt werden. Zentraler Terminus Rothauers ist die Partnerschaft zwischen Bauherr, Architektenschaft und Wirtschaft. Preis und Qualität stehen dabei in produktiver Wechselwirkung. Auch wenn die Honorarordnung der Architekten als Verpflichtung aufgehoben ist und in den schriftlichen Positionen der Volkspartei lediglich als „nützlicher Leitfaden“ benannt wird, beinhaltet diese Partnerschaft das Prinzip des fairen Preises. Festgehalten werden muß, daß dies eine Neuausrichtung der langjährigen Vergabepraxis im von der Volkspartei verantworteten Ressort Wirtschaft und Arbeit bedeuten würde, wo allzu oft Sparsamkeit und Risikominimierung vor Qualität, Transparenz und Fairneß gereiht wurden.

Die strukturkonservative Sicht der Volkspartei drückt sich auch darin aus, daß die verteilten Zuständigkeiten im Bundesbau bisher kein Problem seien, sofern die Verantwortung von allen wahrgenommen und die Querschnittskompetenz an zentraler Stelle moderiert werde. Ein Kunststaatssekretariat könne diese Koordination leisten. Ein Überblick über das Bundesbaugeschehen der neunziger Jahre würde aber zeigen, daß genau diese Festlegung von Mindeststandards im Bundesbau noch nicht gelungen ist; immerhin räumt Rothauer zusätzlich zum Antwortkatalog ein, daß erst ein Grundsatzprogramm für eine aktive Architekturpolitik erstellt werden müsse, das durchaus auch ein Konsultationsgremium für die Bundesregierung enthalten kann.

Für die Sozialdemokratie postuliert Josef Cap auch eine Langzeitstrategie der offensiven Architekturförderung, nach niederländischem Muster, getragen von gesellschaftspolitischen Intentionen etwa im Bildungs- und Sozialbereich, grundsätzlich gegen den in Österreich grassierenden Konservativismus gerichtet, auf gestrafften Baukompetenzen basierend, das Risiko von Aktualität und Radikalität einkalkulierend. Sein Slogan: Mutige Architektur braucht mutige Politik. Unter sozialdemokratischer Kanzlerschaft sind die mutigen Bauten freilich bisher nicht entstanden.

Für Cap ist Architektur ein Medium, in dem sich politische Epochen verfestigen; eine in Österreich notorisch vergebene Chance. Als ökonomische Randbedingung sei für Cap die Honorarordnung prinzipiell anzuerkennen - auch eine neue Situation, die bei der Stadt Wien erhebliche Lerneffekte auslösen wird. Ein Architekturrat soll ein Architekturleitbild für öffentliche Auftraggeber erstellen. Überhaupt zeigt sich Cap in konzilianter, fast gönnerhaft lockerer Diktion bereit, im Falle der Übernahme von Regierungsverantwortung den Vorschlägen der Architekturschaffenden Rechnung zu tragen.

Auf weite Strecken mit Cap inhaltlich übereinstimmend, am präzisesten und realisierbarsten ausformuliert die Positionen der Grünen, vertreten durch Eva Glawischnig. Ziel ist, erstmalig in Österreich eine umfassende Architekturpolitik zu betreiben, denn: Gute Architektur lohnt sich immer, und Bauen ist keine private Sache!

Eine neue Regierung müsse in einer Enquete den architektonischen Stand der Dinge erheben, in einer Regierungserklärung Ziele der Architekturpolitik benennen. Die Republik muß als Bauherr mehr Mut beweisen, die materielle Seite der Architektenleistung trotz Abgehen von der Bindung der Honorare an die Baukosten außer Streit stellen, die Qualitätssicherung in der Breite sicherstellen, ganzheitliche Kriterien zur Steuerung der Bundesimmobiliengesellschaft festlegen und auf die Privatisierung verzichten, ein Weißbuch zur Architektur und Baukultur verfassen, das Architekturbudget signifikant erhöhen . . .

Sogar die genereller verschrifteten Positionen der Freiheitlichen widersprechen im Grundsatz jenen der anderen Parteien nicht. Konsens und Akkordierung sollen daher in jedweder Koalitionsverhandlung möglich sein - wenn Architekturpolitik überhaupt auf die Agenda kommt. Noch ist die verheißungsvolle Eintracht zur Architekturpolitik trügerisch, zu viele Jahrzehnte sind Bundespolitiker gut ohne eine solche ausgekommen. Die Architekturschaffenden müssen mit noch geschliffeneren Argumenten nachsetzen, um den Entwurf einer Architekturpolitik in die Einreichung zu bringen.

12. Oktober 2002 Spectrum

Wohnbare Wildbachbezähmung

Amtsgebäude rahmen die Amtsführung, fundieren politischen Überbau. Wo noch keine hochkarätigen Vorbilder den Weg zum nächsten öffentlichen Bau ebnen, müssen zentral geschärfte Standards Ausgangspunkt der Planung sein: etwa Franz Riepls Salz-burger Zweitrakter.

Widersprüchliche Bilder zur bundesbaulichen Verfaßtheit der Bürokratie sind an der Tagesordnung. Ein Frühsommertag in der Steiermark: rauschende Eröffnung einer baukünstlerisch reich bestückten Bezirkshauptmannschaft, die Frau Landeshauptmann beschwört die Architektur als Symbolträgerin ei- ner zeitgemäßen Verwaltung, die Kritiker des Entwurfs mögen sich endlich vom Bau überzeugen lassen, der Bezirkshauptmann ist stolz auf die ver-wirklichte Modernität; intensive und für die Anwesenden ganz selbstverständliche Architekturpräsenz. - Ein Frühherbsttag in Niederösterreich: wahlkämpferische Eröffnung eines baukünstlerisch mangels Substanz belanglosen Gendarmeriepostens, der Innenminister beschwört den Beamten auf der Straße statt im Büro als Garant der öffentlichen Ordnung, die Kritiker der Reform mögen sich vom Endeffekt überzeugen lassen, der Postenkommandant ist stolz auf die trotz Reibungswärme absehbaren Synergieeffekte der Postenzusammenlegung; intensive und für die Anwesenden ganz selbstverständliche Architekturabsenz.

Dürfen Neubauten für Organe der Bundesverwaltung ihren Reformwillen einmal durch kulturelle Aufgeschlossenheit und mutige Vorbildwirkung, ein andermal durch kulturelle Angepaßtheit und ängstliches Versteckspiel manifestieren? Kann es von einer nachgeordneten Dienststelle abhängen, ob ein Biedermeier-Tarnschlössel vom Zweck ablenkt oder ein allzeit bereiter „Sicherheitsapparat“ auftritt? Die Frage des Minimums an architektonischer Aussage für ein Amtsgebäude ist die eigentlich produktive. Das Licht einer Glanzleistung, wie der erwähnten Bezirkshauptmannschaft Murau, fällt nicht automatisch auf jeden weiteren Bau; Regeln für die lichtlosen Zonen tun not. Die Stärke einer Bürokratie ist Routine; die Architekturszene gehe ihr endlich an die Hand, Routinen guten Bauens für kleine Aufgaben zu finden.

Beispiele für respektable Stan- dardbauten des Bundes sind rar; vielmehr verdichtet sich der Eindruck, daß alle schon in der letzten Legislaturperiode ausverhandelten und fast beschlossenen Vorsätze für eine institutionell untermauerte Architekturdoktrin der Republik den reißenden Wildbach der Null-defiziteuphorie hinuntergegangen sind. Stereotype Sparsamkeit ist großen Teilen der Bundesbauadministration noch immer ein wohnbarer Ort, legitimiert durch fragwürdige Kriterien von Funktionalität, Wirtschaftlichkeit und Angemessenheit. Politische Ansagen zur Architektur fehlen noch immer!

Die peinliche Beispielslücke an kleinen Realisierungen zwischen wenigen abgefeierten Prädikatsbauten und der massigen Alltagsbanalität kann ein 2000 fertiggestellter Komplex in der Stadt Salzburg eindrücklich füllen. Franz Riepl, renommierter Münchner Architekt oberösterreichischer Herkunft und emeritierter Architekturprofessor an der TU Graz, hat westlich des Hauptbahnhofs ein präzises, wie immer stilles, als Grundsatzstimulator spannendes Ensemble errichtet. Riepl ist es gelungen, in einem städtebaulich heiklen Umfeld aus zwei- bis dreigeschoßigen Einzel- und Reihenhäusern eine im öffentlichen Interesse stehende Doppelnutzung - Bundesamt, sozialer Wohnbau - so zu organisieren, daß man sie prototypisch nennen kann.

Am Mayburger-Kai, der Salzach zugewandt, stehen nun drei Häuser mit je sechs Geschoßwohnungen in Reihe, dahinter eine „Villa“ mit zwei Wohneinheiten und als Paralleltrakt zum Kai und als Abschluß des Mietergartens über der mittigen Tiefgarage das Amtsgebäude der Sektion Salzburg des Forsttechnischen Dienstes für Wildbach- und Lawinenverbauung an der Bergheimer Straße. Bemerkenswert ist die homogene und elegante Erscheinung der Anlage nach innen und außen, die von Passanten respektierend kommentiert wird.

Sie wurzelt einerseits im gegen Anrainer und mit dem Gestaltungsbeirat über eineinhalb Jahrzehnte errungenen Doppeltrakter, der Wohnen richtig an Hof und Fluß, Amtsportal und Garageneinfahrt dagegen an die Quartierseite bringt. Andererseits bleibt Riepl seinen Markenzeichen treu: schlank und klug ausgelegten Details, der Massivbauweise, bewährten Grundrißtypologien. Er hält sich im Gestalterischen zurück, erreicht in der Variationen über wenige architektonische Elemente und Ideen einen klaren architektonischen Ausdruck. Getragen von einigen Materialien und Konstruktionen, wie weißem Putz, hier leider auf leichter Dämmung, verzinkten Geländern und Kragleuchten, ausladenden Pultdächern, gleichförmig gesetzten und dimensionierten Fenstern, erweist sich seine Architektur als „Nicht-Design“, als eine jetzt schon über Jahrzehnte „unmodische“, aber aktuelle
Ableitung der Moderne, als im Ansatz kritisch-regionale und doch verallgemeinerbare Position. Riepls architektonisches Credo, nach dem das Alte am besten im Neuen aufgehoben ist, verbindet nutzwertsteigernd regionale Baueinsichten und -praktiken mit neuen Techniken. Seine Werke sind daher sehr alterungsbeständig, in jeder Hinsicht.

Wohn- und Verwaltungsbau unterscheiden sich nicht im Großen und Ganzen, sondern im Detail: bei der Anordnung der Fenster im Gewände, bei den Balkonen, beim Sonnenschutz. Zwei architektonische Grammatiken, zwei Adressaten, zwei Nutzer, aber ein Projekt: Gemeinsam von einem Bauträger errichtet, sind Republik und Bundesbedienstete nebeneinander Mieter. Ausnahmsweise gerät die privatisierte Trägerschaft dem Amtshaus nicht zum Nachteil. Es ist in seinen feinen Unterschieden zum Wohnbau prägnant genug, in Relation zum salzburgisch-konservativen Umfeld sowieso herausstechend. Riepl versteht es hier neuerlich, den „ewigen“ Anforderungen an Architektur so unspektakulär, so umfänglich zu genügen, daß sich sowohl Gewißheit über den Sinn des Werks als auch ein Hochmaß an „Anonymität“ einstellen kann.

Riepls sozial gesonnene Geschoßwohnbauten sind immer beste Stadtbildner, seine Land- und Gastwirtschaften sind leistungsfähige Dorfgeneratoren. Amtshäuser wie dieses könnten öffentliche Räume definieren, die räumlichen Rechte der Öffentlichkeit auch unter dem Druck privater Interessen sicherstellen. Ob irgendein Eröffnungsredner, ob der Bauherr das Potenzial dieser Architektur erkannt hat, Standards öffentlichen Bauens über den Einzelfall hinaus zu begründen, darf bezweifelt werden.

14. September 2002 Spectrum

Lehmige Luft in Luzifers Leuchtturm

Friedhöfe sind die Belege einer Sepulkralkultur: Der gesellschaftliche Umgang mit Tod und Toten wird lesbar. Der wilde Gottesacker von einst ist oft nur mehr Dienstleistungszone der Schicksalsabwickler. Zur Versinnlichung eines Trauerortes in Vorarlberg durch Bernhard und Stefan Marte.

Das Jenseitige tritt dort am leichtesten unvermittelt an die Oberfläche des Diesseitigen, wo Tote begraben liegen; Gotteshäuser akzentuieren diese Orte, zumal im dörflichen Ambiente, wo Kirch- und Friedhof noch gleichzusetzen sind. In Batschuns, einer Fraktion der Vorarlberger Gemeinde Zwischenwasser, ist eine direkte sinnliche Annäherung an das Reich der Toten möglich. Art und Weise der dort 2001 begonnenen und kürzlich fertiggestellten Friedhofserweiterung erlauben überraschend diesen Grenzübergang - für den, der bereit ist, seine Konzentration auf das Feinstoffliche der Bauten zu richten. Eine Beerdigung hat im neuen Teil des Friedhofs noch nicht stattgefunden. Aber allein schon das in Material und Form stimmige Sakralarchitekturensemble bietet einen visuellen Zugang zu jenseitiger Grenzerfahrung, noch viel eindrücklicher der monolithisch wirkende Lehmquader des Aufbahrungsgebäudes.

An einem heißen Sommertag klärt schon ein kurzer Aufenthalt im ganz in Lehmbaustoffen ausgeführten Aufbahrungsraum synästhetisch über die prekären Zustände am Ende des Lebens auf: ein enger, seitlich von oben belichteter Raum, in dem einem die bleisatt in der Luft liegende, beklemmende Erdfeuchte und -wärme den Atem nimmt, jede Bewegung lähmt. Selten kann Architektur so direkt über das Körperliche auf den Betrachter wirken und über ihre Zwecke aufklären.

Kaum je wird ein Kultbau seiner Funktion so gerecht, indem er die Benutzer sofort vereinnahmt und zum Kern der Sache führt. Auch wenn dieser bedacht konzipierte und aufgeführte Bau eine solche Erfahrung existentieller Ausgesetztheit niemals bereitstellen wollte, ist es ihm doch als Qualität anzurechnen, daß er die Teilnehmer an einem Totengedenken, die Angehörigen eines Verstorbenen, nicht zuletzt die Geistlichen und die Bestatter, ahnen läßt, welche unberechenbare Naturgewalt der Tod darstellt. Wenn es nicht nur eine Hölle auf Erden, sondern hintergründig auch eine Hölle für einen dauerhafteren Aggregatzustand des Menschen gibt, dann blinkt in Batschuns, zumindest für die absehbare Dauer des Abklingens der Baufeuchte, ein scheinbar kleines, aber aus seiner Sphäre hoch aufragendes, warnendes Leuchtfeuer vor dem Jenseits.

Die Architekten Bernhard und Stefan Marte aus Weiler, schon nach einigen wenigen radikalen und riskanten Bauten zur Elite der Vorarlberger Baukunst zu rechnen und auf dem Weg zu beständiger internationaler Relevanz und Reputation, verfolgen mit dem kleinen Aufbahrungsbau ganz und gar keine belehrende Absicht. Sie wollen die in Stellung und Durchbildung beeindruckende Pfarrkirche zum heiligen Johannes dem Täufer, 1921 bis 1923 nach dem Entwurf von Clemens Holzmeister errichtet, und den anschließenden Friedhof ergänzen. Der neugotische, stämmige Rechteckbau mit Ostchor, Westturm und spitzbogenüberwölbtem Schiff steht auf den Fundamenten eines Vorgängers. Zu seiner Zeit war der Kirchenbau Holzmeisters so umstritten, wie es die Erweiterung des kleinen Friedhofs jetzt ist.

Der in der Vertikalen sehr starken Zeichensetzung der Kirche kann die bis auf den Aufbahrungsbau nur aus Freiraum bestehende Anlage erwartungsgemäß nur eine Neudefinition des geweihten Territoriums beifügen. Es wird der Kirche ein erweiterter Rahmen abgesteckt, mit dem Kubus ein fester Eckpfeiler des Öffentlichen in das private Weideland geschlagen. Batschuns hat als Streusiedlung kein kommerzielles oder politisches Zentrum, die Kirche bildet die Mitte der Ortschaft.

Philippe Ariès, Verfasser der einflußreichen „Geschichte des Todes“, erklärt die alte Doppelbedeutung des Gottesackers als Ortszentrum: „Der mittelalterliche Friedhof war nicht nur der Ort, an dem man Bestattungen vornahm. Das Wort selbst, cimeterium, bezeichnete auch einen Ort, wo man es aufgegeben hatte, Grablegungen vorzunehmen, wo man manchmal sogar nie beigesetzt hatte, der jedoch eine allen Friedhöfen - unter Einschluß derer, die auch weiterhin für Beisetzungen genutzt wurden - gemeinsame Funktion erfüllte: der Friedhof war, im Verein mit der Kirche, Brennpunkt des sozialen Lebens. Er vertrat das antike Forum.“

Das über einen geladenen Wett-bewerb gekürte Werk vom Marte & Marte erzeugt tatsächlich ein unbestimmtes, leicht geneigtes Kiesfeld mit rahmenden Mauerabschnitten. Solange keine Erdbestattung erfolgt, so lange wirkt dieser vom umgebenden Wiesenland samt Obstbäumen sich prägnant absetzende Bereich fast nutzungsneutral. Die Fortschreibung der geometrischen Ordnung des Friedhofs ist zwar evident, aber die lapidare Auslegung der wenigen Bauelemente abstrahiert die Nutzung bis zur Verwechselbarkeit. Durch die Farbe des nahe des Bauplatzes gewonnenen Baumaterials Stampflehm, das sich der Farbe des Holzmeisterschen Putzes so weit annähert, daß man eine bewußte Farbwahl vermuten möchte, stellt sich immerhin eine überzeugende Ensemblewirkung ein.

Was den eher fiktiven Ortsteil- und eher realen Bestattungsplatz von Batschuns zu einem der meistdiskutierten unter den Bauten von Marte & Marte machen wird, ist der gewagte Einsatz des gestampften Lehms für alle tragenden Bauteile und die daraus erwachsende sonderbare Anmut der Anlage, der vielleicht ursprünglich gar nicht explizit angestrebte Rekurs auf Vergänglichkeit. Das vom erfahrenen Schlinser Lehmbaumeister Martin Rauch, der diesem uralten Baumaterial über viele ansprechende Realisierungen eine unerwartete Aktualität in der Gegenwartsarchitektur zurückerobert hat, betreute Projekt, schert aus der pragmatischen Tendenz aus, in der die meisten Friedhofsanlagen nun rationalisiert angelegt werden.

Wenn sich wenige Monate nach der Fertigstellung und nach einigen sommerlichen Starkregenereignissen, am Fuß der Lehmgewände lange, im riesigen Kiesbett durchaus ansprechend aufgehobene Haufen ausgewaschener Lehmbeimengungen sammeln, sodaß die als Schutz in regelmäßigen Schichten eingearbeiteten Mörtelbänder hervortreten und an natürliche Verwitterungsformen von Löß und Konglomerat erinnern, dann fasziniert diese Architektur vor allem einmal durch die Lebendigkeit ihrer groß-flächigen Texturen. Die Analogie zwischen dem reversiblen Substanzverlust des Lehmbaus und dem Kreisen der Menschheit zwischen Geburt
und Tod ist nicht schwer herzustellen.

Das Vergehen des Lebens bei einem Friedhof architektonisch über ein vollständig recyclierbares, in der Natur
gewonnenes und nur durch einfache Vorbereitung nutzbar gemachtes Baumaterial zu thematisieren zeugt von Mut und Willen zur Opposition gegen die allgegenwärtige Technisierung und Banalisierung des Bestattungswesens durch Kommunen und private Anbieter.

Am Batschunser Bau ist nicht nur die Materialwahl Lehm einnehmend, sondern auch die übrige reduktionistische Detailausformung des Aufbahrungsraums: eine schwere Eicheneingangstür, direkt in den Lehm eingeputzt, schmale Schlitze, die das Tageslicht streifend über den Boden und die Rückwand führen, einfache Stahl-beschläge. Wenn sich die Anfangsschwüle verzogen haben wird, bleiben einer Trauerfeier höchst angemessene Architekturfermente im Raum. Ein so stimmiger Rahmen für eine Verabschiedung eines Toten wie in diesem dörflichen Kontext sollte auch im städtischen möglich sein.

Die Angebotslage, etwa in Wien, ist aber konträr. Die noch immer monopolistisch auftretende, aber eigentlich schon in Marktkonkurrenz agierende „Wiener Bestattung“ nötigt ihre Kunden bei den Zeremonien für die Erdbestattung nach wie vor zum Besuch von Räumlichkeiten, die direkt dem Funktionärsbarock mittelasiatischer Nachfolgediktaturen des Sowjetimperiums entsprungen zu sein scheinen: mit dem Preis exponentiell ansteigender Protz. Marte & Marte halten sich dagegen lieber an ein Wunschbild Philippe Ariès': „Kein Schuldgefühl, keine Angst vor dem Jenseits hält mehr davon ab, sich der Faszination des in höchste Schönheit verwandelten Todes zu überlassen.“

20. Juli 2002 Spectrum

Kreuzrot schneidet Tarngrau

Der Bauherr: ein allzeit bereiter Rettungsdienst mit hohem öffentlichem Ansehen. Der Bauplatz: ein unverwechselbares Gewerbegebiet. Cukrowicz & Nachbaur-Sturm haben den Widerspruch zwischen Signalbedürfnis und Ortlosigkeit aufgelöst.

Das „Rote Kreuz“ ist einfach da, wenn man es braucht. Ansonsten ist der in öffentlichem Auftrag flächendeckend tätige Rettungsdienst unsichtbar. Die meiste Präsenz entwickeln nach wie vor die Einsatzfahrzeuge. Die gebaute Infrastruktur des „Roten Kreuzes“ übte sich in Österreich bisher in architektonischer Bescheidenheit. Die soeben in Betrieb genommene Zentrale Vorarlberg des „Roten Kreuzes“ in Feldkirch gibt der gesamten Organisation ein zeitgemäßes Profil. Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm aus Bregenz, für ihre zu Ende gedachten Projekte nicht nur in der Vorarlberger Architekturszene gut bekannt, haben sich in einer Ideenkonkurrenz durchgesetzt.

Der Bauherr wünschte sich ein Kompetenzzentrum für die Schulung der Mitarbeiter und eine Zentralverwaltung für das Bundesland Vorarlberg. Etwa in der Mitte zwischen Bludenz und Bregenz und nahe der Rheintalautobahn sollte das Grundstück liegen, um aus allen Landesteilen etwa gleich schnell erreichbar zu sein. Die Landesorganisation verfügt über etwa 1000 freiwillige und 90 hauptberufliche Mitarbeiter, deren Leistungsfähigkeit nicht zuletzt auf solider Ausbildung beruht. Die Zentrale beinhaltet auch eine Rettungsabteilung mit drei Fahrzeugen, die das sogenannte Vorderland, nördlich von Feldkirch, bedient. Die nächste Außenstelle befindet sich im Landeskrankenhaus am Südrand, was, bei eingestautem Stadtzentrum, ein Eintreffen am Nordrand der Stadt binnen 15 Minuten sehr erschwert.

Der Bauplatz liegt im Gewerbegebiet Runa in der Fraktion Altenstadt, in einer flachen, von Siedlungsteilen locker durchsetzten, großteils von landwirtschaftlichen Flächen geprägten Tallandschaft: für die Beschäftigten attraktiv, aber dem Auge der wenigen Passanten und vielen Autofahrer weitgehend entzogen. An drei Seiten ist die Rotkreuz-Zentrale von Gewerbebauten umgeben, an einer Seite grenzt sie an ein Maisfeld, über das der Blick in die Berge oberhalb von Rankweil gleitet. Eigentlich ist das Gewerbegebiet Runa Teil eines verwechselbaren Niemandslandes, das am Rand jeder Rheintalgemeinde zu finden ist und in seiner Wiederholung ein raumordnungspolitisches Problem darstellt. Keine Gemeinde will auf ihren Gewerbepark verzichten, den wirtschaftlichen Aufschwung an- dernorts gedeihen lassen. Gewerbezonen sind städtebaulich Unorte, solange auch die öffentlichen Flächen von privaten Unternehmungen überstrahlt sind.

Die Rotkreuz-Zentrale ist vergleichsweise gut bedient: Die um- gebenden Bauten sind schlicht, stehen in Reih und Glied, die Zufahrt ist übersichtlich. Cukrowicz & Nachbaur-Sturm beurteilten die Situation als städtebaulich diffus, nicht mit den räumlichen Qualitäten der Stadt Feldkirch assoziierbar, nicht ein- mal besonders mit Vorarlberger Großraumspezifika verbunden. Als typisch und maßgebend für den Entwurf erachteten sie vielmehr die Beliebigkeit der Situation, die Unklarheit über die Schwerlinien der Stadtentwicklung, die Neutralität des Grundstücks im Hinblick auf die
Bebauung. Schlußfolgernd entschieden sie sich für eine orientierungsfreie Grundform von Ge- bäude, ironisch „Ildefonso“ genannt: einen zweiachsig symmetrischen, nach allen vier Schauseiten gleichwertig ausgelegten, rigid geschichteten, im Grundriß quadratischen Baukörper. Aus diesem Volumen schnitten sie, mit dem Hintergedanken der Kreuzform, geschoßweise dienende Mittelzonen aus, sodaß jeweils an den Fassaden zwei parallele bediente Zonen entstanden. Durch die rechtwinkelige Verdrehung der drei Geschoße ergab sich in vertikaler Sicht eine Kreuzraumstruktur mit zentralem Atrium, die das Auswahlgremium trotz ihres scheinbar kurzschlüssigen Bezugs zum Rotkreuz-Logo überzeugte.

Die Architekten haben wenig gestalterisches Risiko auf sich genommen, indem sie einen richtungsneutralen, graugrünen Sichtbetonkörper anpeilten; sie haben hoch gepokert, indem sie die Logofarbe Rot in das Bauwerk einführten und das Kreuz zum räumlichen Ordnungsmuster erhoben. In all diesen Aspekten ist ihr Kalkül aufgegangen. Die Rotkreuz-Zentrale stellt sich außen fast als „militärische Anlage“ dar: das tarnfarbige Graugrün der geschoß-hohen, mächtigen und trotzdem an den Gebäudeecken präzis auf Gehrung gearbeiteten Betonfertigteile, die dunkel gerahmten, auf wenige Standardformate beschränkten Fenster, die tief eingezogenen Eingänge. Die unmittelbar zu lesenden äußerlichen Anzeichen der Robustheit, Solidität und Wertbeständigkeit korrespondieren gut mit dem Image des „Roten Kreuzes“, ein verläßlicher Helfer bei Unfällen und Katastrophen zu sein. Die Assoziation zu Bauten der Landesverteidigung ist nicht unerwünscht und soll die Rotkreuz-Zentrale deutlich von den mit kurzen Halbwertszeiten behafteten Handels- und Gewerbeschachteln abheben.

Überzeugend ist der Kontrast, den die an Boden, Wand und Decke geröteten Erschließungs-, Aufenthalts- und Besprechungsbereiche zum Betongrau abgeben. Die Härte des Betonmantels wird gebrochen, ein heiterer Ton wird angeschlagen.

Kreuzweise angelegt, ist das Raumgeflecht mit dem verbindenden Lichthof als Kontinuum über die
drei Geschoße wahrnehmbar und bildet deutliche Schwellen zu den Schulungszonen und vor allem zu den durch geschoß-hohe Glaswände abgetrennten Büros. Die betonbelegten Stahltreppen, der Aufzugsschacht und alle Möblierungen sind in Schwarz oder Dunkelgrau gehalten, was eine beeindruckend kompakte Gesamterscheinung gewährleistet. Konstituierend für das Innere ist das Rot, das durch seine Omnipräsenz nie in Gefahr kommt, als simples Element einer Unternehmensidentitätskampagne des „Roten Kreuzes“ zu wirken.

Es fungiert vielmehr als ein den Sehsinn besänftigendes Nahwirkungselement einer zu Ende gedachten und ohne Detailschwächen realisierten Architektur.

Die Signifikanz der Rotkreuz-Zentrale liegt in ihrer geschlossenen, harten Großform, in der zurücknehmenden Fernwirkung des tarnfarbigen, scharfkantigen Fassadensichtbetons und in der Differenz, die sie damit auch zu guten Gewerbebauten der Umgebung erzeugt. Die Beliebigkeit des Orts verarbeitet der Bau in seinen Symmetrien, mit seinen Ein- und Ausblickachsen, seiner Geschoßrotation um die zentrale Raumvertikale, jedenfalls mit inneren Ordnungsprinzipien unter der Kreuzprämisse, die allerorts, aber nicht bei jedem Thema zündend wäre. Glücklich aufgelöst ist das Architekturdilemma zwischen Signalbedürfnis des Bauherrn und lagebedingter Betrachterabsenz respektive -distanz in der Orientierung des roten Superzeichens in das Innere. Ausgesetzte Kreuzesröte begehrt Sicherheit durch Tarnung.

1. Juni 2002 Spectrum

Sultan stimuliert Schogun

Beherrschung des Raums ist nicht nur eine Kategorie militärischer Taktik, sondern erzeugt auch in der Architektur Wirkung. Das Kindertagesheim „In der Braike“ von Gnaiger & Gruber in Bregenz: eine Lagebeurteilung.

Die Regeln der Kriegstaktiker sind alt, bewährt, oft universell; die Grundregeln der Baukunst sind ebenso tradiert und fast zeitlos. Die Traktate der einen Disziplin kann die andere mit Erkenntnisgewinn lesen, weil sie verallgemeinerbar systematisches Handeln bei der Beherrschung des Raums, bei der Beurteilung der Lage und des Geländes, bei der analytischen Aneignung des Orts erklären. Das Ethos der Samurai ist heute noch genauso essentiell wie das Lehrmittel „Vom Kriege“ des Carl von Clausewitz - Epochen, Kontinente und Kulturen übergreifend.

Roland Gnaiger und Gerhard Gruber haben „In der Braike“ in Bregenz - nach gewonnenem Wettbewerb im Frühjahr 2000 - binnen einem Jahr einen kommunalen Kindergarten mit fünf Gruppen sowie einem Ortsteilzentrum errichtet. Über militärisches Gedankengut haben sie nie gesprochen. Aber ihre Auslassungen über dieses im Randstadtgefüge vorerst wenig auffällige, nichtsdestoweniger für den Gang der architektonischen Dinge markante Bauwerk zeugen von präzisem taktischem Dispositiv in der Baukörper- und Freiflächenanordnung. Den Motivenbericht zu Wahl und Stellung ihrer „Waffen“ kann man einer ambitiösen Lagebeurteilung vergleichen, wie sie jedem Auftrag zu einer militärischen Aktion vorangehen sollte. Das „starke Gelände“ zu erkennen und mit eigenen Kräften so zu besetzen, daß es gehalten werden kann oder gar Einflußsphären erweitern hilft, ist taktisches Kerngeschäft. Es zu erledigen ist umso herausfordernder, je enger die „Feindlage“ das Aktionsfeld einschnürt, je spärlicher Versorgung und Kommunikation mit dem freundlichen Hinterland sind.

Gnaiger & Gruber haben sich erwartungsgemäß von der Lage herausfordern lassen. Sie kommen über die Kunst der räumlichen Anordnung und inhaltlich begründeten Aufstellung bestimmter „Kräfte“ zu einer schlüssigen städtebaulichen Wirkung, die sich im architektonischen Detail relativ leicht bestätigen läßt. Die Komplexität des Projekts wurzelt mehr in der Analyse der Stadt am und um den Bauplatz und der abgeleiteten Parameter für den Baukörper als in einer reichen materialen Ausstattung. Es ist ein sparsames Bauwerk, das die rigiden Kostenlimits der Stadt Bregenz für Sozialbauten nicht gesprengt hat. Wenn es doch anziehend und fast opulent im Äußeren, wohnlich und inspirativ im Inneren wirkt, dann resultiert das aus der maximalen Ausnutzung des Stadtraums und des minimierten, aber beherzten Einsatzes von Bauformen und -stoffen.

Das Kindertagesheim zeigt sich eindeutig als zentrale Einrichtung der öffentlichen Hand, weil es Raum in der Stadt freihält, begründete Distanzen zu anderen Funktionen der Stadt herstellt und zugleich interne Nutzungen komprimiert und dem Bürger keine vereinfachende architektonische Illusion über die Schwierigkeit der erbrachten Dienstleistung aufdrängt. Das ist kein Werk, das man rasch unter „Vorarlberger Einfachheit“ ablegen kann; es weist vielmehr intelligent über erstarrende regionale Tendenzen der Reduktion zu einer zeichenhafteren, undogmatischeren, ihre humanen Prinzipien leichter vermittelnden Architektur. Die Gebrauchstüchtigkeit des Hauses bestätigt die Vermutung, daß moderne Architektur ihre gesellschaftliche Wertschätzung nur wird erhöhen können, wenn sie implizit bessere Nutzwerte bereit- und sie explizit mit feineren, vielfältigeren Mitteln darstellt. Das Minimum als architektonische Strategie ist längst in einer Krise; der Kindergarten von Gnaiger & Gruber erscheint schon als Teil der Gegenbewegung.

Die urbanistische Ausgangslage „In der Braike“: Der Bauplatz ist eine peripher wirkende Lage in Ufernähe des Bodensees fünfzehn Gehminuten von der Stadtmitte. Hart treffen zehn-geschoßige Wohnhäuser der sechziger Jahre auf Siedlungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Die Nutzungs-mischung ist vorstädtisch, unkoordiniert liegen Gewerbe und Wohnen neben noch schlecht genutzten Freiflächen. Im Norden grenzt ein Campingplatz mit Pferdekoppel an den Bauplatz, im Westen und Süden bilden zumindest dreigeschoßige Wohnbauten der neunziger Jahre einen respektablen, aber engen Rahmen. Über eine kurze Stichstraße erschlossen, aber von der Erschließungsstraße des Quartiers nicht zu erkennen, war der Kindergarten hinter der Wohnbebauung im zweiten Glied zu errichten. Das nur 2300 Quadratmeter große Grundstück bedingte eine hohe Bebauungsdichte, die für Kindergärten von öffentlichen Trägern selten akzeptierte Zweigeschoßigkeit.

Die städtebauliche Antwort: Durchgesetzt haben sich Gnaiger & Gruber mit der Bereitstellung attraktiver Freiräume, vor allem mit dem gegen Süden offenen Gartenhof, anders gesagt: mit der Situierung eines winkelförmigen Baukörpers im äußersten nordwestlichen Eck. Südseitig mit einer Pergola und eingangsseitig mit einer Mauer ist der Hof auch an den anderen Seiten geschlossen. Räumliches Ergebnis ist ein durch einen mächtigen Ahorn zentrierter, introvertierter Freiraum, der durch die an japanische Gärten erinnernde Kiesdecke einen Anflug von Askese zeigt. Die durch den langgestreckten Hauptbau, den niedrigeren Saaltrakt und einen Nebenbau markierten Grundstücksecken bilden zum Quartier Wohnstraßen: freiräumliche Ordnung in einem zusammengewürfelten Siedlungsgefüge. Der Kindergartenbezirk ist durch deutliche Schwellen von der Straße getrennt. Der Mehrzwecksaal hat einen Nebeneingang, gelegen in der Achse des Hauptportals, verbunden vom Vorbereich der Gartenhalle.

Die architektonischen Folgerungen: Der auf die ganze Grundstückslänge ausgedehnte Gebäudeschenkel beherbergt im Erdgeschoß eine Kindergartengruppe und eine zum Garten orientierte Halle, einen „Boulevard“ mit Küche, Verwaltung, Lager; nur einmal stößt der Südhof durch das Gebäude zur Nordloggia mit Seevorahnung, Pfänderblick und Morgensonnenwonne durch. Neben Hof, Loggia und Spielplatz auf dem Dach des quartierbezogenen Mehrzwecksaals bilden die Terrassen vor den vier Gruppenräumen im Obergeschoß die vierte Freiraumsituation. Um der Verschattung durch die Südnachbarn zu entkommen, liegen die Gruppenzonen bewußt auf der oberen Ebene, das Innere ist von oben nach unten entwickelt, gegenläufig zum konzeptiven Eindringen des Außenraums.

Jede Gruppe verfügt, wie im Reihenhaus, über eine eigene Garderobe, von der man über eine nach Norden auskragende Stiege eine Naßzelle und den Wohnraum erreicht. Sachlich gehaltenes Sperrholzmobiliar unterteilt die großen Tagesräume in gut angenommene Spielzonen. Als Rückzugs-nischen dienen gruppenweise niedrige Räume mit umlaufendem Diwan, die von feinsten feudalen Kiosken über dem Bosporus träumen lassen. Auf den geometrisierten Kiesgarten blickend, auf den westöstlichen Diwan im dichten Sperrholzgehäuse niedersinkend, ist man dankbar für das architekturtaktische Kalkül, schärfste „Raumwaffen“ des Sultanats und des Schogunats zusammenwirken zu lassen. Das ist kein Kindergarten, sondern ein altersunspezifischer, urbaner Ort.

5. Januar 2002 Spectrum

Kronleuchten am Witzmeiler

Die Karikatur hat hierzulande längst eine zentrale permanente Würdigung verdient. Gustav Peichl wagt mit seinem Kremser Karikaturmuseum den Spagat zwischen Deix-Andacht und Aufdeckung einer Kunstgattung.

Wovor muß ein Politiker auf der Hut sein: vor freien Wahlen, vor freien Meinungsäußerungen, vor Fanatikern. Und vor Witzen. In einem totalitären Staat kann er die Wahlen verfälschen, die Meinungsäußerungen knebeln, die Fanatiker unschädlich machen. Nur gegen den Witz ist er machtlos. Allenfalls kann er den Witzerzählern an den Kragen. Die Witze selbst entziehen sich jeder Verfolgung. Die lauteste Propaganda, die gängigste Phrase, die raffinierteste Lüge: - ein treffender Witz, und sie werden lächerlich, das Schlimmste, was ihnen passieren kann!" Was der Politkabarettist Werner Finck dem Witz im Totalitarismus zuschreibt, gilt gleichermaßen für die Karikatur - zumal auch in der besten aller schlechten Staatsformen, der Demokratie.

Witz und Karikatur sind bewährte homöopathische Entschlackungsmedizin für sich
demokratisierende Staatskörper. Das mag den Landeshauptmann von Niederösterreich motiviert haben, das schon mancherorts ventilierte Deix-Museum nach Krems zu holen und zum Karikaturmuseum aufzuwerten.

„Humor ist das Gütesiegel einer entwickelten Gesellschaft. Humorlosigkeit, Lachfeindlichkeit ist ein Zeichen von Diktatur“, stellt der künstlerische Leiter des Karikaturmuseums Krems, Severin Heinisch, klar; sein Haus will dementsprechend als politisches Zeichen gesehen werden. Pröll stellt mit feiner Dialektik das Karikaturmuseum in das herrschende System: „Die Karikatur ist Kritik in einer lustigen Form. Wo gibt es denn heute noch Humor? Wir bieten ihn hier - denn hier ist eine Oase des Humors.“

Oasen sind deswegen so anziehend, weil sie in Wüsten liegen. Rundum ist weniger zu lachen. In Krems heißt das: Das Karikaturmuseum wird als Teil der sogenannten „Kunstmeile“ vermarktet: Kunsthalle, Literaturhaus und gastronomische Angebote werden mit ihm gemeinsam als kulturbeflissener Ort definiert, der die touristische Attraktivitätssenke zwischen den Kernen von Krems und Stein überbrücken soll. Das Präsenzdilemma des Karikaturmuseums ist aber seine Eingebundenheit in die Stadt. Einerseits unmittelbar flankiert vom vollbunt hochaufragenden Literaturhaus, andererseits ein auf frisch gebügeltes, freistehendes Altwirtshaus.

Jede architektonische Manifestation ohne kritische Baumasse gerät hier in Bedrängnis. Besonders die sich als „Kunst-am-Bau-Fassade“ des Literaturhauses dem Passanten mächtig andienende Informationsausschwitzung konterkariert jeden Ansatz zu einem Ensemble. Vergleichsweise wirkt die vis-à-vis gelegene Justizanstalt Stein in ihrem unverhohlenen Sichtbetonbrutalismus geradezu sympathisch; an architektonischer Präsenz ist das Gefangenenhaus an diesem Ort jedenfalls unerreicht. Die hinter historischem Gemäuer siechende Kunsthalle steht von jeher im strengen Schatten der Strafanstalt. Schon allein deswegen war es ein falscher Schachzug, an der bislang „unsichtbaren“ Kunsthalle eine „Kunstmeile“ festzumachen.

Die Standortentscheidung für das Karikaturmuseum ist also offenbar eine politische gewesen, sie ist weniger an Ort und Stelle nachvollziehbar als im landesweiten Zusammenhang. Die Wahl des Architekten war dagegen eine persönliche: Manfred Deix, der den größten Teil der Ausstellungsfläche bespielt, wünschte sich Gustav Peichl für das etwa 3 Millionen Euro (40 Millionen Schilling) schwere Projekt. Von „Ironimus“ wird die Reaktion überliefert: „Ich dachte an einen Scherz, denn dieser Deix ist ja ein Bold.“ Tatsächlich ließe sich zum Werk von Deix eine expressiv-organische Architektur als narratives Superzeichen imaginieren, ein Ansatz, den Peichl als Vertreter einer von Pragmatismus und manchmal unernst zwinkerndem Rationalismus getragenen Baukunst nie verfolgen würde.

Deix setzte für das Haus, das sich dem Besucher wegen der vorgestellten Werke eher als Deix-Kultstätte mit vorgeschalteter Wechselausstellung und angeschlossener „Ironimus“-Ex- positur denn als „nationales“ Karikaturmuseum darbietet, auf Kontrast: architektonische Abstraktion mit weißer Moderne statt bauformale Selbstähnlichkeit mit den obsessiven Gedankenwelten und Gefühlsabgründen seiner Protagonisten. Auf den von einigen populären Wiener Künstlern naiv als leicht begehbar eingeschätzten Abschnei- der von der Malerei zur Baukunst hat er sich glücklicherweise nicht eingelassen; ohne Erfolg hat er sich aber als Bildhauer versucht. Er ließ aber seinem Architekten Freiheit, die engen Serpentinen zur angemessenen gebauten Form auszugehen.

Aber die Finanziers hätten diesen Weg leichter begehbar machen können. Der Witzmeiler ist solide, aber er muß ohne die einem Kunsthaus gut anstehende Sinnlichkeit der Materialisierung auskommen - und er ist unterdimensioniert: Eine fragwürdige Landesausstellung weniger, und man hätte ein Haus von europäischem Zuschnitt. Die zwei Geschoße wirken schon mit den Eröffnungspräsentationen überfrachtet. Die Ausstellung „Alles Karikatur - Das gezeichnete 20. Jahrhundert“ versammelt zwar die wichtigsten Zeichner, aber die Dichte der Hängung und die fehlende didaktische Begleitung trüben den Genuß. Die Deix-Schau im Obergeschoß ist von vielen brillanten Arbeiten getragen, aber unzureichend strukturiert. Peichls scharf gezeichnetes Panorama der Raab-Figl-Ära kommt im graphischen Kabinett räumlich noch am besten weg.

Ob es nur ein Freudscher „Verschreiber“ im Vorwort der Baudokumentation ist, wenn vom nicht existierenden zweiten Obergeschoß die Rede ist, das „durch eine Rundtreppe erschlossen“ wird? Peichls Skizzen, die von einem den Eingang überhöhenden Kopfmotiv mit Augen und Mund ausgehen, das in die unregelmäßige Dachbekrönung eingearbeitet ist, belegen, daß er in zwei auf einem gläsern aufgelösten Sockel stehenden Stöcken gedacht hat. Der Wille zu physiognomischer Bereicherung tangiert ein heißes Thema heutiger Architektur: die Rückgewinnung der sprechenden Architektur nach einer zwei Jahrzehnte währenden Ära minimalistischer Verschwiegenheit.

Das Kremser Kronleuchten könnte stärker sein. Das ultimative „Ironimus“-Museum ist das sicher noch nicht.

15. Dezember 2001 Spectrum

Der Schein trügt

Die Währungsumstellung offenbart die Oberflächlichkeit und Gegenwartsvergessenheit der Wahrnehmung. Heutiges, etwa Baukunst, kommt in den neuen heimischen Euro-Briefmarken und -Banknoten nicht vor. Eine Warnung vor simplifizierenden Drucksorten.

Hierzulande ist durch Karl Kraus längst sprichwörtlich: „Einen Brief zur Post bringen heißt ihn aufgeben.“ Zur latenten Gefahr des Totalverlusts kommt mit dem Jahreswechsel die mindere Gefahr der Identitätsverletzung des Briefumschlags durch neue Euro-Wertzeichen der Österreichischen Post AG: Wer für den Transport des Poststücks 87 Cent per Dauermarke entrichtet, wird sich mit einem romantisierenden Rinderporträt aus einem grünsaftigen Almambiente von Inneralpbach abfinden müssen. Selbstbewußt und im Gleichklang mit dem Wiesenhang im Profil gezeigt, signalisiert das vor traditionellem Stadel und schroffer Bergkulisse entspannt liegende Vieh die Ruhe und die Stabilität der vorindustriellen, agrarischen Ära. Auch die anderen Dauermarken zeigten idyllische Manifestationen von Stadt und Land, spätestens aus dem 19. Jahrhundert. Briefe ohne historisierende Nebenaussage zu versenden wird schwer werden.

Angst vor Innovation und Überschätzung der Vergangenheit motivieren die Markenserie, die bezeichnenderweise unter dem unverfänglichen Titel „Ferienland Österreich“ aufgelegt wurde. Sie ist eine nationale Initiative mit europäischem Hintergrund, sie geht von konkreten Orten aus, und trotzdem gerät die Aussage seltsam unkonkret - durch Verzicht auf kulturelle und zivilisatorische Spuren der Gegenwart motivisch banalisiert. Diese Bilder zeigen nicht das Land, in dem sie benutzt werden sollen, sondern eine in prästabilierter Harmonie stilisierte Vorversion davon, wie sie in Tourismusprospekten häufig vorkommt. Die Rindersiesta in Alpbach oder das eingeschneite Bauernhaus am Steinernen Meer wirken trotz präziser Verortung als Grundtypen eines generellen alpinen Bildvorrats.

Warum greift gerade ein Träger nationaler Kultur, wie er im Monopolhersteller von Briefmarkenserien nun einmal gegeben ist, bei einem epochalen Ereignis wie der Währungsumstellung aus freien Stücken statt auf das spannende Ganze der Gegenwart ängstlich auf abgestandene Kürzel der Tourismuswerbung zurück? Es ist ein grundsätzlicher Hintergrund zu vermuten, der die Österreichische Post AG hindert, konkreter Stellung zu beziehen. Eine These: Während die mediale Wahrnehmung von einzelnen Personen oder kleinen Gruppen immer detailreicher und kompromißloser wird, indem alle Intimitäten etwa per Webcam oder Fernsehen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden, entgleitet die gesellschaftliche und kulturelle Gesamtsituation - gerade in alten Techniken wie Briefmarken, Banknoten - ins Kompromißhafte.

Daß der kleinste gemeinsame Nenner öffentlicher Akzeptanz bei einer Briefmarkenserie, die „nur“ Österreich zu repräsentieren hat, von der Post AG nicht weit von dem entfernt angesiedelt wird, den sich die Europäische Zentralbank zur Repräsentation Europas zutraut, ist kläglich. Die Post AG müßte nicht politisch so korrekt sein wie die EZB; sie könnte kommerzieller agieren, damit auch bewußter ihre Unternehmensidentität stärken und die Standards visueller Kommunikation heben. Die auf den Euro-Dauermarken wiedergegebene nationale Stereotypie von der komfortablen, aber rückständigen Erholungsterrasse über dem Euroland ist gleichzeitig ein für den Wirtschafts- und Forschungsstandort gefährliches internationales Klischee.

Die Heimatschutzmarken wollen einen längst eingetretenen Identitätsverlust durch Beschwörung musealer Bilder kompensieren. Gedanklich nicht weit entfernt, beschwören die Euro-Banknoten durchaus noch nicht durchgängiger Lebenspraxis in der Europäischen Union entsprechende Schlagworte wie Offenheit, Zusammenarbeit und Völkerverbindung mit allzu plakativ angebrachten Stilemen aus der Baugeschichte. In der Verkürzung der Wirklichkeit erweisen sich die beiden graphischen Auftritte als ebenbürtig: Die Post AG verleugnet die Gestaltungskraft der Elite der österreichischen Graphiker und ignoriert die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft und Kunst, die EZB verwechselt - mit Absicht und Begründung - Architektur mit weithin bekannten, nichtsdestoweniger aber als Umschreibung eines europäischen Geistes besonders blutleer anmutenden Epochenbegriffen aus der Baustilkunde. Beides sind merkwürdige Nivellierungsvorgänge, die der eigentlichen Absicht - das eine Mal Eigenart, das andere Mal Zusammengehörigkeit zu dokumentieren - zuwiderlaufen.

Die Entstehung der Euro-Banknoten ist bekannt. Im 1996 von den nationalen Zentralbanken der Europäischen Union beschickten Wettbewerb setzte sich der Entwurf von Robert Kalina, der in der Oesterreichischen Nationalbank als Graphikdesigner tätig ist, durch. In der Endauswahl waren fünf Vorschläge zum Thema „Zeitalter und Stile in Europa“ und fünf „abstrakt/moderne“ Entwürfe. Die Ergebnisse der engeren Wahl werden erst im kommenden Jahr der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Kalina setzte sich mit seinem Konzept „Fenster, Tore und Brücken“ sowohl in der Fachjury als auch bei einer Publikumsbefragung durch. Zum Unterschied von den Euro-Münzen, die eine nationale Seite haben, waren Sonderwünsche der Mitglieder für die Gestaltung der Banknoten von vornherein ausgeschlossen.

1999 wurde mit der Produktion des Papiergeldes mit den Nennwerten 5, 10, 20, 50, 100, 200 und 500 Euro begonnen. Die sieben Banknoten weisen mit dem Wert wachsende Größe auf und unterscheiden sich markant in der Farbgebung. Die Vorderseite zeigt neben den notwendigen Bezeichnungen und Sicherheitsmerkmalen jeweils Fenster und Portale einer Stilepoche, die Rückseite dieser Ära zuzurechnende Brücken. Die Zahl von sieben Nennwerten ergibt sich aus der Praktikabilität der Banknoten und nicht aus einer schlüssigen Abgrenzung von Stilphänomenen. Manches Land hätte sich noch einen kleineren Wert gewünscht, vielleicht folgt mit einigen Jahren Verzögerung noch eine kleine Banknote.

Bauhistoriker und Architekten können sich leicht darauf verständigen, daß eine Siebenteilung der abendländischen Architektur, die auf einer Gleichrangigkeit der Epochenbegriffe beruht, einen Willkürakt darstellt. Man muß sich nicht erst ausmalen, in welchen Argumentationsnotstand eine solche auf den ersten Blick geschlossene Genealogie des europäischen Bauens geraten wird, wenn süd- und osteuropäische Länder mit christlich-orthodoxen und islamischen Bautraditionen als Mitglieder aufgenommen werden. Schon jetzt ist die Zeitachse nur in der Mitte einigermaßen konsistent besetzt. Die Abfolge Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und Rokoko entspricht dem auch unter Laien der Architektur weit verbreiteten Wissen über die Baugeschichte; die zugehörigen Motive, insbesondere die rote Romanik und die blaue Gotik, werden eher unschwer zu interpretieren sein; der orangefarbene Klassizismus der Renaissance könnte freilich der grauen Klassik zumindest an der Vorderseite motivisch ins epochale Gehege kommen.

Die auf Anonymität des gebauten Vorbildes, also auf Ortsverweigerung wegen befürchteter nationaler Aneignung zielende Vereinfachung der Stilelemente führt zu einer Sterilität und Unschärfe, die alle abstrakten Baustilkunden von konkreten Architekturgeschichten unterscheidet. Diesem systemischen Manko, das einerseits auf die Negation von Ort und Region, von Schöpfer und Datierung, andererseits auf den universellen Geltungsanspruch der Siebenerreihe zurückgeht, kann Kalinas Ansatz mit keinem Gestaltungsmittel entgehen. Vielmehr ist der Eindruck zwingend, daß die bemühte Vertiefung des jeweiligen Hauptmotivs mit notwendigerweise - es darf nicht zuviel gesagt werden - redundanten Nebenmotiven zu einer Verflachung der Darstellung führt: Der architektonische Informationsgehalt ist zu gering, um etwas von der Komplexität und Klasse der historischen Architekturphänomene zu transportieren.

Kalinas Zeitreise erfährt am Anfang eine nicht nachvollziehbare Beschleunigung: Die vielfältige „Klassik“ der Griechen und Römer geht kurzen Strichs in einem nach Déjà-vu schreienden Aquädukt und einer schwachionischen Säulenordnung auf. Dieser stildiffuse Schein mit 5 Euro Wert wird der am häufigsten benutzte sein! In das schwarze Argumentationsloch der architekturhistorischen Verkürzung fällt die also nach oben und unten offene Kalina-Skala der Eurobaukunst aber an ihrem jungen Ende mit 200 und 500 Euro. Sowohl wegen der sich überschneidenden Epochenbegriffe „Eisen- und Glasarchitektur“ und „Moderne Architektur des 20. Jahrhundert“ als auch wegen der nichtssagenden Nachzeichnung - die Vorderseiten könnten genausogut Kommerzbauten der achtziger und neunziger Jahre wiedergeben. Die Brücken sprechen immerhin eine zeittypischere Sprache. Der wohl am seltensten verwendete Schein umschreibt die Gegenwart der Architektur und gibt damit ungewollt Zeugnis der geringen Wertschätzung, die zeitgenössische Architektur und ihre Schöpfer gesellschaftlich in Österreich genießen.

Für den offenbar realpolitisch gebotenen Kompromiß, die Euro-Architektur der Wirklichkeit und damit nationalen Aneigenbarkeiten zu entziehen, ist auf Jahrzehnte ein Abschlag an Inhalt und Sinnlichkeit zu bezahlen. Vorbildlich in der Repräsentation eines vielschichtigen Gemeinwesens und als fachlich wie visuell exzellenter Stellvertreter der Architektur ist der Zehn-Franken-Schein der Schweiz zu Le Corbusier: Aber der helvetische Bund ist eben auch schon 700 Jahre alt . . .

6. Oktober 2001 Spectrum

Welterbe und Winkeladvokaten

Denkmalschutz und Stadtentwicklung stehen sich in der Familie der öffentlichen Interessen näher, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Zur Versachlicung der Sofiensaal-Debatte - Ein Plädoyer

Wien kann und darf sich den Verlust dieses einzigartigen musikalisch-akustischen Juwels nicht leisten, und auch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung will es sich nicht leisten. Mit wertvollem Kulturgut darf nicht verantwortungslos umgegangen werden, das müssen Baufirmen und deren Auftraggeber zur Kenntnis nehmen. Der kulturelle und architektonische Wert der Sofiensäle steht außer Frage. Wie bereits versucht wurde, dieses noch immer von so vielen Menschen geliebte Gebäude abzuwerten und herunterzuwirtschaften, ist skandalös. So der alarmistisch anmutende Versuch bewegter Bürger, eines spektakulären Verlusterlebnisses Herr zu werden.

Unzulässig verquickt sind in diesem Bekenntnis der Zorn über die seit langem andauernde, spekulative Abwertung des Sofiensaals durch die Eigentümer, die ungeklärte Brandursache, die Ungewißheit über den noch nicht abgeschlossenen Befund des Denkmalamts –und eine tief verwurzelte Angst vor dem Neuen. Bei städtebaulichen Abwägungen, Baukunsturteilen oder bei der nun unumgänglichen Abschätzung der Denkmalwerte die „überwiegende Mehrheit der Bevölkerung “einzubringen ist einem zivilisierten Gemeinwesen mit entwickelter Planungskultur unzumutbar. Solche Hilfsbehauptungen zeugen von mangelnder Legitimation der Handelnden durch die Bürgerschaft, vom Repräsentationsdilemma aller ohne Wahlmechanismen solitär agierenden Bürgerinitiativen, inhaltlich von dem populistisch bestens verwertbaren Kurzschluß, dem Alten werde immer nur das alt Aussehende gerecht. Da Stadt grundsätzlich gleichzusetzen ist mit Veränderung, kann es sich eine Stadtgesellschaft nicht leisten, ohne erhärtete Argumente für einen Rückbau historische Phänomene über zukunftsweisende zu stellen. Stadtentwicklung schließt die permanente Erhaltung und Überformung der Baudenkmale ein.

Brandruine mobilisiert und polarisiert viele Bürger, aber leider hat bisher nur eine Gruppe die Initiative ergriffen – fast erwartungsgemäß mit dem Ansprüche anmeldenden Namen „Rettet die Sofiensäle“. Wie hilfreich wäre zur Vielfalt der öffentlichen Meinungsbildung die Agitation von fiktiven Gruppen wie „Architektur für Wien “oder „Lebenszentrum Landstraße “. „Rettet die Sofiensäle “formuliert nicht nur obige Generalforderungen, sondern auch konkrete Ziele: „Wiedererrichtung des großen Saales unter Einbeziehung der erhaltenen und erhaltbaren Bausubstanz, die großartige Architektur und die besondere Akustik müssen erhalten bleiben. Keine Aufhebung der Schutzwürdigkeit: Wir sind überzeugt, daß genügend Originalsubstanz erhalten werden kann, womit die Schutzwürdigkeit und jeglicher Bauspekulation wirksam entgegengetreten werden kann. Kulturgut braucht unseren Schutz.“

Diese Ziele sind baukulturell, architekturhistorisch und denkmalpflegerisch fragwürdig, weil sie die vielleicht nicht immer richtig angewendeten, aber inhaltlich eindeutigen Regelungen des Denkmalschutzgesetzes und die dahinterstehende, zu gutem Teil in Österreich geschöpfte Ideengeschichte des Denkmalschutzes ignorieren, um in Wien allzu manifesten Geschichtssehnsüchten nachzuhängen.

Die vermeintlich rettenden Bürgerargumente sind naturgemäß verstärkte Echos des Volksmundes. Der Blick auf die für die Stadt besten Lösungen wird so eher ver- als geklärt. Die Ziele von „Rettet die Sofiensäle“ können fachmännische Urteile überzeichnen und in Frage stellen, Forderungen an die Politik abgeben; aber sie dürfen den Entscheidungsprozeß nicht auf die in Fragen der Architektur und des Städtebaus notorische Tiefebene der „Krone“ absenken. Die Verfasser sagen letztlich mehr über sich als über den aktuellen Stand der Sache; sie beweisen, wie gering ihr Vertrauen in die Behörden ist, daß im Planungs- und Baugeschehen überhaupt Gesetzesaufträge verwirklicht werden.

Das fundamentale Mißtrauen der Verwaltung gegenüber schürt gleichzeitig die Hoffnung auf die Politik. Politisch gesteuerte Stadt- und Landesplanung ist ohne partizipative Begleitung nicht mehr zeitgemäß. Der Schwierigkeitsgrad von Planungsmaterien bedingt gegenläufige Übersetzungsvorgänge, die eine Kommunikation zwischen Fachleuten und Laien, somit eine schlüssige Planung überhaupt erst zulassen. Jede planende Behörde ist gut beraten, ihre Tätigkeit für die Betroffenen aus eigenem Entschluß durch geschulte Kräfte moderieren zu lassen, nicht erst, wenn es eine partikulär besorgte Bürgerschar erzwingt. Das Konfliktfeld zwischen Fach- und Laienwelt könnte entschärft werden, wenn die Politik Grundsatzpositionen klarer außer Streit stellen könnte. Neugewonnenes in Architektur und Städtebau, Verlorenes in der Denkmalpflege wird aber von den meisten Spitzenpolitikern mit peinlicher Distanz gestraft. Bizarre rekonstruktionsschwangere Politikersätze zum Sofiensaal-Brand standen im Sommerloch.

„Ein Wiederaufbau dieses seit 175 Jahren beliebten Ball-, Konzert- und Veranstaltungszentrums sollte ernsthaft ins Auge gefaßt werden. Die Wiederherstellung der Redoutensäle in der Wiener Hofburg kann dabei als herauszuhebendes Beispiel genannt werden“ wußten die Wiener Freiheitlichen bereits neben den rauchenden Trümmern. Auch die Jungen in der Volkspartei waren bald überzeugt, daß „vor allem die Wiener Jugend ein Recht darauf habe “,daß ihr Veranstaltungszentrum wieder aufgebaut werde. Ist die Wiener Jugend eventuell konservativer als die Denkmalpflege? Die Wiener Grünen orteten wenigstens einen „absurden“ Wiener Reflex, wonach alles „wiedererrichtet“ werden müsse.

Von keinem der Politiker ist bezeichnenderweise überliefert, ob zu den Entwicklungschancen des Quartiers, zu den Zielen des Bezirks Stellung genommen wurde. Der private Eigentümer der Liegenschaft hat pragmatisch-klärende Mitteilungen zur Projektlage verlauten lassen; eine auf Themenführerschaft zielende Kommunikationsoffensive ist von ihm nicht ausgegangen. Eine solche Kampagne hätte vorerst die Belastungen des nachlässigen Umgangs mit dem Bestand und der als unangemessen grob geschnitzt erinnerbaren Hotelplanungen neben dem Sofiensaal auszuräumen.

Als starken Trumpf rechnet sich die Bürgerinitiative die schon im August eingetroffene Unterstützung “im Namen von ICOMOS an, dem respektablen Unesco-Fachbeirat für das Weltkulturerbe, vertreten durch den bayrischen Denkmalpfleger Michael Petzet. Dieser spricht sich in einem von Tageszeitungen und ORF gern zitierten Schreiben an den Präsidenten des Bundesdenkmalamts wegen der „überragenden Tradition Wiens als Musikstadt und der Sofiensäle“ und „im Hinblick auf die baldige Erklärung der Wiener Innenstadt zum Weltkulturerbe“ für eine „Rekonstruktion der zerstörten Teile nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten aus“!

Der durch den verfrühten Zeitpunkt und das Fehlen von Entscheidungsgrundlagen immanente Widerspruch in dieser Aussage des prominenten Fachmanns befremdet. Dieser Akt politischer Einmischung in die Untersuchung des Bundesdenkmalamts ist gerade deswegen unschicklich zu nennen, weil er ins fachlich noch Leere zielt – unzeitgemäße Meinungsmache auf Boulevardniveau. Dieser Wink mit dem hölzernen Instrument „Weltkulturerbe“, das wegen seiner zusätzlichen Bremswirkung im schon langsam fahrenden Zug der Zeit nicht unumstritten ist, läßt die Bürgerinitiative wie ihren Protagonisten als Winkeladvokaten des baukulturellen Erbes dastehen.

Georg Mörsch, Denkmalpfleger an der ETH Zürich, sieht die Dinge ausgewogener. Er hat Mitte der achtziger Jahre Denkmalpflege im Gegensatz zur Stadtentwicklung auch für heutige Begriffe treffend aus der Sicht der Öffentlichkeit charakterisiert: Erstere ist „statisch, bewahrend, kulturell begründet, luxuriös, das heißt eventuell verzichtbar, angewandte Kunstgeschichte, weltfremd, unrentabel, gemütvoll“; letztere ist „dynamisch, verändernd, ökonomisch bestimmt, gesellschaftlich notwendig, methodisch vielschichtig, politisch definiert, wirtschaftlich vernünftig und sachlich“.

Anhand der Sofiensaal-Debatte ist man im Gegensatz zu Mörsch versucht, die Denkmalpflege hier als „politisch definiert und methodisch vielschichtig“ und dafür die Stadtentwicklung als „gemütvoll, aber unrentabel und weltfremd“ zu klassifizieren.

Die Rollenbilder haben sich mangels symmetrischer Kommunikation zwischen fortschrittstreibenden und bildbeharrenden Kräften auf paradoxe Weise vertauscht. Trotzdem ist kaum jemand, auch nicht der Wiener Magistrat, bereit, in die argumentative Bresche zu springen: für das Neue, für das fachlich Richtige, für das künstlerisch und kulturell Relevante. Das Feld darf nicht wie bei den Hofstallungen oder den Gasometern den Kompromißverfechtern überlassen werden.

Die „Retter der Tradition“ müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, daß sie bei schweren Raumkonflikten im historisch geprägten Wiener Stadtgefüge, etwa bei der Scheinschwebebibliothek über dem Gürtel oder der Erlebnisrenaturierung des Wienflußbettes, nicht einmal ihre warnende Stimme erhoben haben. Bürgeradvokatur erfordert mehr als Sonntagsredetechnik.

11. August 2001 Spectrum

Wälderwagnis mit Stadtstolz

Die Vorarlberger Baukünstlerszene erneuert sich in Generationenschüben. Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm haben rasch eine dominante Position erreicht. Ihr Feuerwehr- und Kulturhaus in Hittisau: ein Leistungsbeweis aus dem Bregenzerwald.

Wir betrachten den Ort. Wir sprechen von den Beziehungen zu seinem Umfeld. / Sägewerk, Straße. Zentrum, Tobel. / Über seine topographischen und sinnlichen Eigenschaften, / über verwendete Materialien, über vorhandene Vegetation. / Waldnähe und weite Landschaft. // Bilder von alten Bauernhäusern entstehen in unseren Gedanken. / Beim näheren Betrachten entdecken wird deren Eigenheiten. / Elemente, die dem Ankommen dienen, / dem Aufenthalt und der Kommunikation. / Und jene Bereiche, die schützen, bergen, Intimität zulassen . . . // Unser Fühlen, unser Verstehen wurzelt in der Vergangenheit . . . / Wir greifen in eine bestehende Situation ein und verändern einen Ort. / Wir wollen ein Haus bauen, / das selbstverständlicher Teil der Umgebung wird. / Ein Haus mit Eigenschaften, Ausblicken und Stimmungen."

Solchen Klartext sondert die architektonische Praxis selten ab: Nachvollziehbare Entwurfsgedanken von Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm zu ihrem jüngsten Werk deuten eine neue Ära an. Eine rasch selbstgeschulte, publizitätsbewußtere Generation von Architekten beginnt das professionelle Feld zu beherrschen. Die relativ homogene, nie von Starkulten im Wiener Ausmaß zerfressene Vorarlberger Szene verträgt neue Meinungsführer.
Es eröffnen sich von den Entwerfern selbst getragene Kommunikationsebenen zu den Bürgern, nicht zuletzt radikalisiert sich der baukünstlerische Disput - in einer Sphäre des Baubooms und der Theoriedefizite durchaus kein Fehler. Zu den leicht erkennbaren Eigenarten der Vorarlberger Baukultur gehört es, bei der Systemerhaltung und -entfaltung autark zu sein: Das gut geölte System aus Bauherrn, Architekten, Ingenieuren, Handwerkern, Bauindustrie und Behörden produziert ohne politischen Auftrag und institutionellen Überbau fortlaufend evolutionär weiterentwickelte architektonische Qualität, die sich als vermarktbar erweist.

Sogar der Generationenwechsel unter den Architekten funktioniert, wenn auch manchmal aufkeimende zart revolutionäre Tendenzen als geschäftsstörender Systemfehler abgetan werden. Junge Kräfte treten unmittelbar in die Praxis ein, nehmen die Stufen der Architektenkarriere konjunkturbedingt stetiger und schneller als in anderen Bundesländern. Die Erfolgsgründe in der letzten Zeit: die gute Baukonjunktur, eine große Zahl an Wettbewerben während der neunziger Jahre für öffentliche Bauaufgaben, eine hohe Dichte an gezielten Direktvergaben durch qualitätsbewußte Bauherrn im privaten wie halböffentlichen Sektor, das Fehlen einer landesbezogenen Architekturfakultät, die den Nachwuchs zwingt, in horizonterweiternder Fremde Fach, Stadt, Land und Leute zu studieren, die jahrzehntelange Vorarbeit der Baukünstler.

Die Entwicklung von Cukrowicz, geboren 1969 in Bregenz, und Nachbaur-Sturm, geboren 1965 in Bludenz, (C/NS) zu ei- nem führenden Architekturbüro, das grob der zweitjüngsten Baukünstlergeneration in Vorarlberg zuzurechnen ist, hat also eine äußere Logik. Der ebenso maßgebenden inneren Erfolgslogik sei mit Vermutungen über ih-
re wichtigsten architektonischen Bestrebungen nachgespürt.

1. Das Tempo halten: Was als schneidiger Bildungsgang 1992 mit Wettbewerbsbeiträgen neben dem Studium im Wiener Wohnzimmer begann, findet nun in einem kleinen Atelier in Bregenz professionalisiert statt. Ein direkt aufeinander bezogen arbeitendes Team mit persönlicher Einlassung auf alle Büro- und Baustellentätigkeiten. Die Chefs befassen kaum Mitarbeiter, eher kongeniale Partner auf Zeit. Hohe Arbeitsintensität, geringe Freizeit und häufige Grenzanstrengung sind Dauerbegleiter. Der sichtbare Ertrag ist die völlige Durchdringung der architektonischen Materien.

2. Den Bestand auslesen: Die Entwürfe von C/NS wurzeln in konkreter Geschichtskenntnis - über die Aufgabe, den Bauplatz, den Bauherrn, die Nutzer et cetera. Architektur entsteht für C/NS nie auf einer Tabula rasa, was mancher ihrer Baukörper nahelegen mag, sondern aus den vorgefundenen Spuren.

3. Die Gedanken terrassieren: Aus der intensiven Ortslektüre leiten C/NS im internen Gespräch eingehende Entwurfs-optionen ab, ohne gleich zu visualisieren - eine lange Annäherung an dann rasch konkretisierte Entwürfe.

4. Den Ort stimmen: Entwurfsprozesse bei C/NS nähern sich vorsichtig dem Ort an, aber das Entwurfsprodukt will dann den Ort beherrschen, umformen, umstimmen.

5. Das Gelände schichten: Eine der die Arbeit auszeichnenden Techniken ist das Ausnützen von Höhenunterschieden am Bauplatz zur sinnstiftenden Organisation des Raumprogramms, die topologische Bindung.

6. Die Figur schließen: Die Architekturgestalten von C/NS tendieren, noch über das Regionaltypische hinausgehend, mehr zu Kompaktheit, zu Einfachheit, zu Binnenmustern und Aus-
sparungen statt zu Zerfaserung oder Ausstülpung.

7. Das Äußere kompaktieren: Sofern ihre Baukörper den Freiraum inniger einbeziehen wollen, setzen C/NS zunehmend gestische Bauelemente zur fernwirksamen Fassung des Außenraums ein - Faltungen, Kantungen, Raumborten.

8. Das Signal geben: Keines der Projekte von C/NS verzichtet auf die Ankündigung seiner Zwecke, auf die Behauptung der in Vorarlberg nicht immer wichtig genug genommenen städtebaulichen Zusammenhänge. Zentripetalkraft kommt ins Siedlungsgefüge!

9. Das Innere verflüssigen: C/NS interpretieren funktionale Vorgaben so frei wie möglich, fassen Funktionen auf radikale Art zusammen, im Sinne über-lagerter Nutzungen, optisch assoziierter, aber nicht immer funktional zusammenwirkender Räume.

10. Die Aufmerksamkeit drehen: In den Nutzungszonen konstruieren C/NS mit paradoxen Brüchen in der Gerichtetheit von Räumen, mit wechselnden Lichteinfällen und Blickausfällen in oft lapidaren Grundrissen komplexe Raumwirkungen.

11. Den Raum dominieren: Fließend angelegte Großräume erhalten Spannung durch nützliche Störgrößen, gewissermaßen spielen C/NS städtebauliche Kategorien von der Beziehung urba- ner Solitäre im Innenraum aus.

12. Das Material purifizieren: Die Bauten zeigen und die Entwürfe versprechen fortschreitende Materialkonstanz und - über das Landläufige hinaus - Signifikanz. Weniger eingesetzte Baustoffe, aber mehr Spielarten in Feintextur und Veredelung.

13. Die Konstruktion auflösen: Die tektonischen Notwendigkeiten werden raumimmanent, die Tragwerke gehen in den Raumhüllen auf.

14. Die Vorbilder klären: Die digitale Plangraphik und Bildsprache von C/NS ist knapp, zeitgenössisch und hinreichend als Anschub zu Ansatztransparenz und Anmutungserwartung.

15. Den Subtext beherrschen: Kaum muten sich Architekten sogar das Poetische anreißende Aussagen über ihr Tun zu. C/NS haben wiederholt ihrem nicht nur auf das Wort gemünzten Bekenntnis „Die Zahl der Sätze reduzieren, nicht die Aussage“ Text folgen lassen.

Das eingangs geschilderte und die genannten Bestrebungen exemplarisch ausführende Objekt ist das Feuerwehr- und Kulturhaus im Bregenzerwald. Nach dem hier schon rezensierten Veranstaltungszentrum Cubus in Wolfurt, dem Einfamilienhaus Hein in Fraxern und dem Wohnhaus der Lebenshilfe in Feldkirch ist das der vierte und reifste Bau von C/NS. Ihre schlüssige Schichtung von eigentlich schwer mit dem Stützpunkt der Freiwilligen Ortsfeuerwehr zu vereinbarendem Stadt- saal samt Probelokal der Bürgermusik und Ausstellungszentrum überzeugte 1998 die Wettbewerbsjury. Bestechend die Situierung am Rand eines steil abfallenden Tobels und die differenzierende Materialwahl: Die Feuerwehr fährt von der Hauptstraße in ihren aus Beton, verzinktem Stahl und Glas gefertigten Gebäudesockel; ein Geschoß höher und um neunzig Grad gedreht, öffnet sich der in unbehandelter, heimischer Weißtanne ausgeführte Kulturbereich zum Dorfzentrum.

Der haptisch besonders ansprechende Holzbau atmet die regionale Handwerkstradition, der perfekt ausgeführte Sichtbetonbau verspricht kompetente Hilfeleistung der Gemeinschaft. In der zergliederten Wäldergemeinde so einen ortsstimmigen und zugleich städtisch wirkenden Bau aufzuführen, der den handwerklichen wie gesellschaft- lichen Rahmen restlos in gute Architektur überführt, zeigt deutlicher als viele Arbeiten im urbanisierten Rheintal: Die Vorarlberger Szene hat nicht nur Spitzenkraft zur Statuspflege, sondern auch zu schärfenden Thesen in Wort und Tat.

23. Juni 2001 Spectrum

An der Rotglut der Idee

Erst wenn geschmiedetes Eisen erkaltet ist, wird esprüfend in die Hand genommen. Freilich lohnt es, dem Schmied bei der Arbeit zuzusehen, um das Werk besser zu verstehen. Auch manche Architektur ist als heißes Eisen vielsagend, aber die Kritik zieht Ausgekühltes vor. Ein Baustellenbesuch im steirischen Murau.

Unikatarchitektur hat, anders als das serielle Industrieprodukt, eine Eigenart: Ihre Idee vergeht fast regelmäßig im fertiggestellten Werk. Der Bau löscht als Kompromißleistung die Idealvorstellung des Architekten - ohne Chance auf Rehabilitierung in einem gleichgelagerten Versuch - und ersetzt ihn durch eine in vielem unkalkulierte Realwirkung. Das abgeschlossene architektonische Konstrukt entläßt den Entwurf in eine für Kritik und Wissenschaft interessante Parallelexistenz, in der die gebaute Architektur die vorgezeichnete häufig unterbietet, manchmal bestätigt oder selten übertrifft. Allein betrachtet kann der fertige, aber konzeptiv als Torso errichtete Bau über die Intention des Architekten in die Irre führen und mehr über die Verfassung des Bauherrn und des Bauhandwerks berichten. Der Rohbau erlaubt dagegen einen unmittelbareren Zugang zur architektonischen Absicht, er ist Ort einer analytischen Architekturbetrachtung. Nicht grundlos gehört der freizeitliche Marsch über fremde Baustellen zur Fortbildung des praktizierenden Architekten, weil sich frühzeitig untrügliche Belege über den Stand der Technik gewinnen lassen und sich im Halbfertigprodukt die Haltung des Architekten oft radikaler abzeichnet als im Endprodukt. Nichtsdestotrotz ist der Baustellenbericht keine etablierte Form der Architekturpublizistik, das Desideratum ist die Erstdokumentation neuer Bauten. Der groteske Formen annehmende Wettlauf der Zeitschriften um das erste Bild führt oft auf fragwürdige photographische Belege, eigentlich zeigen die meisten dieser finalen Schnelligkeitsbeweise keine Endprodukte. Nebenher sind die tatsächlichen Bauzustände aus dem architekturkritischen Blickfeld geraten. Wenn einer behandelt wird, dann als marginaler Appendix am Premierenrummel oder unter rein ingenieurwissenschaftlichen Prämissen. Provisorische Sachverhalte werden von den Medien für zu wenig ästhetisiert, zu wenig handschriftlich markiert und marktgängig gehalten.

Der Neubau für die Bezirkshauptmannschaft Murau nach dem siegreichen Wettbewerbsprojekt der Wiener Architekten Wolfgang Tschapeller und Friedrich Schöffauer rechtfertigt als bedeutender öffentlicher Bau grundsätzlich interessierte Blicke in jeder Phase. Da der Entwurf den seinerzeit noch als dauerhaft gefestigt anmutenden Bahnen der steirischen Baukultur entspringt und jetzt wie ein einsamer Nachzügler einer gloriosen Ära des Architekturgeschehens dasteht, ist die Art seiner Umsetzung doppelt bedeutsam. Das beste Argument für die Betrachtung dieser Baustelle ist die besondere Wechselwirkung zwischen beschnittenem Berg und schnittigem Bau.

Die Baustelle zeigt jetzt komplette Primärkonstruktionen wie Hangsicherungen, geschoßtragende Stahlskelette mit Betondecken, die Murstegverlängerung und weitgehend abgeschlossene Fassadenarbeit. Der Innenausbau ist teils im Gang, teils ist der Rohbau noch nackt. Die Wunden in der Landschaft beginnen zu heilen, auch wenn der Graben, zu dem sich die Bürobereiche nun öffnen, als „Verletzung“ beabsichtigt ist und freigehalten wird. Der Lokalaugenschein stellt klar, daß die drei Baukörper der Bezirkshauptmannschaft mit dem Mursteg eine innige räumliche Interaktion eingehen, die hochgesteckte Erwartungen wohl noch übertrifft. Mursteg und Neubau sind in einer architektonischen Schicksalsgemeinschaft verbunden und können durchaus als Ensemble wahrgenommen werden. Die Bezirkshauptmannschaft Murau wird eine multireferentielle, originäre Schöpfung, die einen radikal neuen Ort erzeugt.
Der Neubau liegt strategisch richtig nahe dem Bahnhof der Murtalbahn am Weg zum Stadtzentrum, teils im zum Fluß steil absteigenden Hang. Tschapeller/Schöffauer haben sich als fundamentale Randbedingung zurechtgelegt, dem Gelände Substanz zu entnehmen und diese im Rahmen einer volumenskonstanten Dislozierung als Baumassen wieder aufzuführen. Die durch Stützmauern gut nachvollziehbare Landschaftsverformung ist eine logische Maßnahme auf einem Berg, der sich als nicht autochthon erwiesen hat, nämlich aus einer Deponie besteht. Die Sanierung dieser Altlast war politisch angenehm korrekt, um das in spitzem Winkel zu Mur angelegte Tal zu motivieren, in das der größte Bauteil flankierend eingefügt ist. Das stärkere und am Ort bestätigbare Argument für die Perforation des Berges ist das tiefgehende Spiel mit Positiv und Negativ, mit der Massivität des Felsens und der Leichtigkeit der Stahlkonstruktionen, mit Licht und Schatten: Es entsteht ein künstlicher Berg, Murau erhält neben Schloß und Kirche eine weitere artifizielle Stadtkrone. Die Umlagerung der Körper ist mit einer Veränderung der Dichten, ihrer Aggregatzustände verbunden: Aus abgetragenen Lockermassen formiert sich nach der architektonischen Metamorphose als größter Bauteil eine turmartige Nutz- und Luststruktur mit hochdichten Tragelementen und weitläufig gespannten Räumen auf. Das dem Berg abgerungene Volumen wird nicht leichtfertig aufgefüllt, sondern tendenziell freigelassen: Vor allem der sieben Geschoße zusammenfassende, von der gestützten Felswand begrenzte Fiktionalraum ohne eindeutige Funktion außer der Vertikalerschließung sucht als maximiertes Innenraumkontinuum seinesgleichen. Wolfgang Tschapeller: „Etwas leer halten bedeutet eine Anstrengung, etwas aufzufüllen ist eine geringere Anstrengung.“ Das 22 Meter hohe Foyer berichtet vor allem in seinem Bauzustand mit den nur von Torkret-Beton überzogenen Felsen, mit den unregelmäßig gesetzten Bohrpfählen, mit den variantenreich eingehängten Stiegenläufen, den vielfältigen Ober- und Seitenlichteinfällen, mit Ein- und Ausblicken von einer konsequenten Anstrengung der Architekten. Dieser Ertrag wird so im geglätteten Endausbau nicht zu erhalten sein: nun eine wahrhaft piraneske Raumerfahrung, die Rotglut einer noch roh dastehenden architektonischen Absicht. Solch eine Wechselwirkung zwischen Himmel und Erdscheibe, zwischen Sonnenlicht und Schatten, zwischen Zonen der Bewegung und Ruhe, zwischen der latent spürbaren Schwere des Hanges und der Stahl-Beton-Glas-Konstruktion des Hochbaus ist eine Sonderheit. Die reiche, sich dem Betrachter nicht im einzelnen, sondern als Ganzes eröffnende Bauelementik erscheint als Teil eines schwierigen Spiels: Die Figuren dieses Brettspiels auf sieben Ebenen sind die tatsächlich vorgefundenen oder die selbst mühsam entworfenen Zwänge, die Pragmatismen und die funktionalen Willkürfestlegungen der Nutzung, die finanziellen Ressourcen der Bauherrschaft, die Hemmnisse (Statik . . .) und Katalysatoren (Bauphysik, Bauleitung des Landes . . .) der personellen Konstellation und so weiter. Die Regeln dieses Spiels wurzeln in der Weltanschauung der Architekten, die aktuellen Züge in letzten Einsichten. Der Spielerfolg besteht letztlich in der Eleganz, eine poetische Gesamtkonstellation zwischen Figuren und Figurengruppen zu erreichen, gewissermaßen das selbst zur Unübersichtlichkeit gesteigerte Problem in paradoxer Einfachheit matt zu setzen. In Murau steht ein erfolgreiches Spielende knapp bevor. Es macht Freude, den Spielern bei ihrer konzentrierten, sogar vergnügten Anstrengung beizuwohnen: Die letzten Züge erfolgen nicht in Konkurrenz zu den hohen Ansprüchen dieser Architektur, sondern in seltener Kongruenz. Das Eisen ist folglich noch sehr heiß.

21. April 2001 Spectrum

Alte, neue Abwege?

Die Architektur ist freudig auf dem „Holzweg“: Der Baustoff Holz erfuhr zuletzt eine sprunghafte Entwicklung, ist ein Sehnsuchtsmaterial der Architekten. Aber die breite Öffentlichkeit ist skeptisch. Eine innovatorische Anfeuerung.

Daß die Entwicklung der Bautechnik den durchdringenden Takt festlegt, über dem sich die Evolutionsschübe der Architektur immer entfaltet haben, das ist eine triviale Feststellung. Weniger banal ist die Erkenntnis, daß die neueren Schübe auf diesem Gebiet nicht mehr die Technologie selbst fokussieren, sondern fast ausschließlich die Organisationsform und Prozesse des Bauens. Glas ist vielleicht das letzte Material, das in seiner Technologie noch grundlegenden Innovationen unterliegt, aber damit werden auch nur die achtzig Jahre alten, liegengebliebenen Träume abgearbeitet . . . Der Traum allerdings von einem vollständig neuen Verfahren, ein Haus zu konstruieren und zu errichten, ist vorläufig ausgeträumt. Die Bauwirtschaft führt anderes im Schilde."

Der auch wegen seiner ambitiösen Holzbauten bekannte Zürcher Architekt und ETH-Professor Marcel Meili wirft im Jahrbuch 2000 des Deutschen Architektur-Museums „Zehn Fragen an eine europäische Architektur“ auf. Bei seinem interessanten Versuch einer Vorschau auf die zukünftige Architektur erkennt er überraschenderweise Holzwerkstoffe nicht als Treibsätze an. Heutige Holzzeichen in Forschung, Baupraxis und Industrie können aber auch anders gelesen werden. Grundsätzlich richtig beginnen Meilis kritische Abwägungen mit dem oben zitierten Kapitel „Über Materialität“. Kaum etwas kann für die kommende Architektur derzeit wichtiger sein als eine weitergeführte Technik, Semantik und Ethik der Werkstoffe.

In einer Phase der flüchtigen Bildproduktion in der Baukunst - überwiegend mit „vertieften“ Oberflächen und „verflachten“ Strukturen an einfachen Körpern - sind stofflich-konstruktive Neuerungen besonders gefragt. Beim Holz zeichnen sich solche etwa mit maßgeschneiderten geschoßhohen Viel- schichtplatten statt dem althergebrachten Rahmenbau, mit Fensterprofilen aus extrudiertem Flüssigholz oder mit weit spannbaren Trägern im Holz-Kunstfaser-Verbund ab. Im Wohnbau werden die zimmermannsmäßigen Konstruktionen, die arbeitsintensiv mit der mehrschichtigen hölzernen Verkleidung von Holzskeletten operieren, über kurz oder lang von einer neuen Art des Massivbaus - in Holz - abgelöst werden, der mit belastungsspezifisch ausführbaren, daher beliebig mit Öffnungen und Installation bespielbaren, unmittelbar raumbildenden Flächentragwerken operiert.

Meili muß konstatieren, „daß die Industrie im Rahmen dieser Neuausrichtung den Versuch zur Revolutionierung des Rohbaus offenbar aufgegeben hat. Seit etwa 30 Jahren scheint sich diese Roh-Baustelle in ihr archaisches Schick- sal zu fügen, und sie nimmt dankbar noch die paar Anstrengungen zur Verbilligung und zur technischen Optimierung hin, ohne daß dies den Bauprozeß entscheidend verändern würde. Die maßgebenden Veränderungen erfassen eher die Materialapplikationen, und dort vor allem die Fassaden und die Oberflächentechnologien, nebst der Gebäudetechnik natürlich. Im Zentrum der Anstrengung scheint die Entwicklung eines neuen Typs von Systemen zu stehen, vorab solche für Häute.“ Mit diesen auf gesteigerte Wertschöpfung im Werk optimierten Systemen besteht das Risiko der weiteren Entmündigung des mit klassischen Hochbaudetails agierenden Architekten.

Zur Weiterung des Werkstoffes Holz kommt ein Fingerzeig aus der Schweiz: Das erste diesjährige Heft der Architekturzeitschrift „Werk, Bauen und Wohnen“ steht unter dem Schwerpunktthema „Kunststoff Holz“. Den angestammten Eigenschaften naturnah, ressourcenschonend und preiswert sind gerade in der Schweiz, in Vorarlberg und in der Steiermark weitere zugewachsen: modern, hochtechnisch, intelligent, künstlich und synthetisch. Architekten, Ingenieure und Industrie sind sich beim Werkstoff Holz auf einmal in viel höherem Maße über die Umsetzbarkeit des Standes des Wissens einig als bei anderen Baustoffen.

Holz kann somit als gleichberechtigter Baustoff neben Stahl, Beton, Ziegel, Glas gelten, befähigt, sowohl im Materialverbund als auch hin und wieder puristisch eingesetzt seine spezifische Leistungsfähigkeit auszuspielen. Nicht alle Bauaufgaben sind bisher dem Holz zugänglich: In ländlichen Gebieten ist der Holzbau kaum umstritten, solange es um standorttypische Nutzungen geht. Dagegen bestehen bei Industrie- und Gewerbeobjekten, besonders aber bei Geschoßwohnbauten im städtischen Umfeld noch unaufgearbeitete Konfliktzonen um die Sinnhaftigkeit des Holzeinsatzes. Einerseits aus brand- schutztechnischen Erwägungen, andererseits aus psychologischen Vorurteilen. Erstere sind in den österreichischen Bauordnungen weitgehend ausgeräumt, das Brandrisiko eines Holzwohnbaus gilt auch bei vier Geschoßen als beherrschbar; letztere werden noch einer breiten Aufklärungskampagne bedürfen: Holzwohnbau in der Stadt ist vielen noch immer Synonym für sozial deklassierende Provisorien.

Neuerdings scheiden sich die Holzgeister aber auch an „philosophischen“ Gründen, die man längst für antiquiert gehalten hätte. Die für den Geschoßwohnbau in Holzsystembauweise schon lange vorpreschende Steiermark bekennt sich politisch zur Gleichwertigkeit der Baustoffe im sozialen Wohnbau. Das hat etwa zur Folge, daß Leistungsverzeichnisse für den Rohbau werkstoffneutral erstellt werden; daß sich aus eingesessenen Bauunternehmen solche mit zusätzlicher Holzkompetenz herausbilden; daß eine für den Holzbau nicht unbedingt förderliche Konkurrenzsituation zum marktdominanten Ziegel entsteht; und nicht zuletzt, daß die Förderstellen neue Regeln für das Bauen mit Holz bei der Hand haben müssen, um die ordnungsgemäße Vergabe der Förderungen zu gewährleisten.

Im September des Vorjahres hat der im Auftrag des Amtes der steiermärkischen Landesregierung mit der Entwicklung technischer Leitlinien für den Holzwohnbau in der Steiermark befaßte Ordinarius für Hoch- und Industriebau der TU Graz, der Architekt Horst Gamerith, ein Richtlinienkonzept zur Fachdiskussion gestellt, das freilich weit über den wichtigen Anlaßfall hinaus die Frage nach der Regulierbarkeit der kommenden Architektur aufwirft. Konkreter: Wieso soll eine wichtige, als traditionelle Handwerkstechnik traut anmutende und politisch gut rechtfertigbare, weil im trendigen Politsuchraster unter Natur und Ökologie leicht zu subsumierende Materie wie der Holzwohnbau durch eine geradezu totalitär argumentierende Richtlinie von der internationalen Entwicklung ferngehalten werden?

Gamerith, dessen langjährige Verdienste als baukonstruktiver Mitdenker des steirischen Architekturphänomens „Grazer Schule“ der siebziger bis neunziger Jahre außer Streit stehen, begibt sich mit seinen „Empfehlungen, was künftig für den steirischen sozialen Holzwohnbau charakteristisch sein soll“ auf ein neokonservatives, in Richtung falsch verstandener Traditionspflege abschüssiges baukulturelles Glatteis der Innovationsfeindlichkeit. Zwar beginnt er: „Mit Holz zu bauen hat Zukunft“; aber gleich setzt er abschwächend fort: „Wichtig ist es, nicht die Merkmale dieser ökologischen Bauweise zu überfordern. Es gilt daher, die sinnvollen Grenzen vor allem im sozialen und geförderten Wohnbau auszuloten. Soll es ein Ziel sein, Häuser aus Holz zu bauen, die höher sind, als unsere Bäume wachsen, sollen sie durch überfrachtete Technik und hypertrophe Ausmaße anderen Bauweisen Konkurrenz machen? Nein!“
Sein restriktives Regulativ gipfelt in humanökologischen Stehsätzen, die als Prämissen für mehrgeschoßigen Holzwohnbau in der Steiermark, wo etwa mit den Bauten von Hubert Riess in Judenburg oder Trofaiach bereits international anerkannte Spitzenleistungen bestehen, unproduktiv oder gar rückschrittlich sind: „Holzbauten, wo man kein Holz sieht noch spürt und die nicht kostengünstig herstellbar sind und deren ökologische Vorteile durch die Integration von allerlei Ausbauteilen in Frage gestellt sind, haben keine Berechtigung, bevorzugt gegenüber anderen Bauweisen gefördert zu werden . . . Geförderte Holzbauten sollten vorwiegend aus Holz sein und erforderliche Zusatzmaterialien auf ein Mindestmaß beschränken . . . Trenne den sozialen Wohnbau, der risikominimiert und realisierbar sein muß, schärfer vom experimentellen Bauen . . . Es wird Aufgabe aller steirischen Holzbauer sein, sich mit diesen Grundprinzipien zu identifizieren.“

Abgesehen von der Verirrung, den sozialen Wohnbau nicht mehr als architektonisches Desiderat, sondern als holzreligiöses Bekenntnis unter der Dreifaltigkeit „Naturnähe, Stoffreinheit und Wirtschaftlichkeit“ zu konstruieren, marginalisiert die Essenz des Modellvorhabens Holzgeschoßwohnbau in Bayern die Empfehlungen Gameriths: Die Bewohner wollen an ihren Häusern kein Holz sehen. Der Holzbau darf nicht mit der Kostenkonkurrenz zum Ziegel begründet werden, sondern ist mit seinen ureigenen Qualitäten wie Schnelligkeit, Behaglichkeit et cetera zu motivieren. Holz wird erst durch den Baustoffverbund leistungsfähig, Holzfundamentalismus ist unzeitgemäß. Holzbau sollte nicht unter dem Motto Ökologie verbraucht, sondern endlich als einer unter mehreren alltagstauglichen Strategien der Architektur akzeptiert werden, um Wohnqualität zu verwirklichen.

Die für Holz unerquickliche Synthese: Nach Meili sichern Materialinnovationen die Zukunftsarchitektur, aber sie attackieren den Architekten als Generalisten des Konstruktionsgedankens; Holz sieht er überraschend nicht als baukünstlerischen Treibsatz. Gamerith möchte andererseits den neuen Holzbau in alte Rechte einsetzen, reduziert dabei Architekten zu Erbmassenverwaltern; er will retrogrades Bauen, keine Architektur sehen. Architektonischer Fortschritt wächst aber aus fest geregelten Ressourcen, nicht aus strengen Regeln. Daher sei geraten: Geben Sie der Technik Grenzen und der Architektur Gedankenfreiheit!

3. März 2001 Spectrum

Ausblühungen auf Stadthumus

Verkaufsgebräuche scheiden Konsumentengeister: Masse oder Klasse? Der Floristik hat der beschleunigte Einzelhandel viel Substanz genommen. Die alternative Geschäftschance: Sinnesreiz mit „blumenkraft“.

Es bedurfte nicht erst des Rinderstumpfsinns und der Tafelspitzverweigerung, um die Korrektheit der Güterproduktion für den täglichen Bedarf bedroht zu sehen. Seit der „Meisterbäcker“ den Bäckermeister, der „Obstgarten“ das Gartenobst oder das „Erlebnisessen“ das Eßerlebnis in den Konsumhintergrund drängen, ist fortschreitender Kulturverlust absehbar. Uniforme Quantitäten können über vielfältige Qualität obsiegen, ohne nennenswerten Widerstand der Konsumenten zu provozieren. Die zeitliche und finanzielle Allverfügbarkeit unüberschaubarer Produktpaletten bei Großanbietern dämpft den Antrieb des Konsumenten, das für ihn beste Produkt beim Spezialisten zu suchen: Die Vollmilch kommt von der Tankstelle, das Vollkornbrot rasch vom Bahnhof und der Festblumenstrauß fertig vom Baumarkt.

Die Floristik ist augenscheinlich eine der Branchen, die eine Ära der Nivellierung hinter sich hat. Viele Jahre haben die „Holland-Blumenmärkte“ mit plakativer Optik und großen Verkaufsflächen den rationalisierten Blumenhandel verkörpert, während traditionell auftretende Blumenhandlungen und Gärtnereien weiterhin die Grundversorgung sicherten. Der Reiz der „Holland-Ware“ ist etwas verblaßt, weil dabei die industrielle Landwirtschaft im europäischen Kontext mitschwingt und andere Grossisten wie Gartencenter und Baumärkte angreifen.

Gleichzeitig scheint sich der Konsument auch wieder für die fachmännische Beratung beim Blumenkauf zu interessieren. Anzeichen dieser Trendwende ist eine Reihe von jüngeren Wiener Geschäftsgründungen mit griffiger Namengebung: „Zweig- stelle“, „Schnittstelle“, „Flowerpower“ - und nicht zuletzt „blumenkraft“. Eine vergleichbare Begriffsoffensive lief zuvor unter den Friseuren, bei den Fleischhauern wird sie notgedrungen bald einsetzen.

Selbst wenn man derartige Schlüsselwortspiele nicht überbewertet, bei ganzheitlich angelegten Unternehmenskonzepten erlaubt schon diese vordergründigste Schicht der neudeutsch so genannten „Corporate identity“ einen Rückschluß auf eine originäre Unternehmensphilosophie. Ein Exempel: „blumenkraft“ ist als geschützte Wortmarke eine Schöpfung des Wiener Architektur- und Designbüros Eichinger oder Knechtl. Die weitgereiste und erfahrene Floristin Christine Fink hatte die beiden nicht nur im Ladenbau bewährten Konzeptionisten und Gestalter als Berater bei der Etablierung ihres ersten eigenen Unternehmens, fink.inc, gewonnen.

Die Geschäftsidee umfaßt neben dem Blumenverkauf und der Designobjektentwicklung für Blumen auch einschlägiges Consulting für die Raum- und Gartengestaltung. Die überraschende Begriffskombination aus Blume und Kraft tritt in moderner Kleinschreibung und in Otl Aichers kultig-strenger Schrifttype Rotis selbstbewußt und technisch-nüchtern auf. Der Ver- kaufsraum bestätigt die Namengebung und den graphischen Auftritt nicht nur, er übertrifft ihn, konterkariert ihn aber auch durch die dosierten Sinnlichkeiten in sachlichem Ambiente. Das hohe Erdgeschoßlokal in einem spätgründerzeitlichen Zinshaus ist seit der Eröffnung Ende 1999 ein trendbildendes Ereignis, tatsächlich einmal ein Erlebnis, das dem ursprünglichen Sinn des Wortes nahekommt - nicht nur für Floristen, sondern für jeden, der von der Schönheit der Pflanzen, von ihrer Wechselwirkung mit Raum und Material berührt wird.

Die Blumenkraft ist in diesem Geschäftslokal, das Schauraum, Werkstätte, Bar und Büro zugleich sein will und ist, spürbar. Sie teilt sich über die überzeugend neuartig arrangierten Pflanzen und Schnittblumen sogar auf der Straße mit. Die Passanten stehen staunend vor den großen Auslagen und treten zur kontemplativen Vertiefung ein, die Konkurrenz ordnet die Ideen nervös zur Nachnutzung; die Architekten suchen naturgemäß, aber vergeblich nach dem Kollegen hinter dem Phänomen, nur das Marktamt kann sich über den Geschäftszweck nicht klar werden und spricht eine Geldstrafe wegen Konsumentenirritation aus.

Der Standort der blumenkräftigen Basisstation ist synergetisch, Stadt und Lokal stehen in sich positiv bestärkender Wechselwirkung. Die Schleifmühlgasse in Wieden gehört zum Freihausviertel; mit seinen Bars, Restaurants und Kunstgalerien, durch die Nähe zu Generali Foundation, Technischer Universität, Kunsthalle und Naschmarkt ist es zu einer der virulentesten Zonen Wiens geworden - und die Tendenz zur urbanen Diversifikation ist hier noch lange nicht abgeschlossen. Die andere Erdgeschoßhälfte nimmt kongenial das von Jabornegg & Palffy gestaltete Bekleidungsgeschäft Jutta Pregenzer ein. Zusammen bilden sie einen „magnetischen“ Sockel, der dem reich ornamentierten Palais endlich gerecht wird und den Ort einprägsam macht.

Eichinger oder Knechtl haben das 170 Quadratmeter große Raumgefüge, das zuvor zergliedert als Küchenstudio unkenntlich war, freigelegt und sparsam bestückt. Die tragenden Ziegelwände und -decken sind weiß und wurden wie die Stahlstützen beibehalten, die Portalanlage restauriert.

I n das Ringstraßenflair setzten sie als Hauptmöblierung in der Achse des Eingangs eine Reihe von leicht vibrierenden, weil aus dünnem Edelstahlblech gekanteten Arbeitstischen, auf denen die Floristinnen vor den Kunden ihrer Arbeit nachgehen. An den Wänden sind frei- tragend Stahlkörper als durchgehende Stellfläche für Blumengestecke und Pflanzgefäße befestigt. An der Fassade kontrastieren eigens gegossene Beton-
tische überzeugend die florale Pracht.

D ie Mitte des gassenseitigen Raumteils besetzt ein hohes, mit wechselnden Vasen und Arrangements bestücktes Stahlregal. Der Boden ist mit schwarzem Schiefer belegt. - Der Materialkanon ist asketisch, der finanzielle Aufwand sparsam. Die Anorganik von Eichinger oder Knechtl ist der richtige Hintergrund für die Finksche Definition von Organik. Die Präsenz hochwertiger Pflanzen entfaltet sich gerade in einem bewußt beruhigten Umfeld. Man ist zuerst versucht, an direktere Bezüge zur japanischen Floristik zu glauben, aber hier sind überraschende und von leichter eigener Hand kommende, vegetabile Kompositionen zu sehen, die sogar als originäre Mikroarchitekturen zu deuten sind, wenn sich Pflanzen mit Wurzel und Blüte in schnittigen Glasgefäßen raumgreifend und synästhetisch zusammenfinden.

Die betörende Kraft feinsinnlicher Dosis erfühlte Gottfried Benn 1912 im „Nachtcafé“: „Ein Duft kommt mit. Kaum Duft. Es ist nur eine süße Vorwölbung der Luft gegen mein Hirn.“

13. Januar 2001 Spectrum

Kampf und Krampf um Linz

Beim Freistilringen um rechte Worte ist das Linzer Musiktheater mit populistischem Würgegriff unsachlich, aber dauerhaft am Boden arretiert worden. Beide Gegner haben dabei „verbotene“ Griffe verwendet. Und die nächste Runde ist schon eingeläutet: Ein gnadenloser Fight rund um das neue „Lentos“-Museum zeichnet sich ab

Wer eine tautologisch-suggestiv formulierte Frage auch noch zur falschen Zeit stellt, darf sich nicht wundern, wenn er eine polemisch deutbare Antwort bekommt. So könnte eine Kurzschlußbilanz zur ober- österreichischen Volksbefragung vom 26. November 2000 lauten. 59,6 Prozent der abgegebenen Stimmen hatten bei einer Wahlbeteiligung von 50,05 Prozent die Frage verneint, ob „in Linz ein neues Musiktheater gebaut werden soll“. Die Schreckstarre bei den Verantwortlichen über das eindeutige Bürgervotum hat sich noch nicht gelöst.

Das wertvolle Instrument direkter Demokratie wurde leichtfertig auf eine fachlich längst bis zur Entscheidung ausdiskutierte, freilich mit dem Bürger nicht hinreichend kommunizierte Frage angewandt. Daß die im Vergleich zu anderen Materien überschaubare Frage der Neufassung des Landestheaters in eine enge Sackgasse geriet, läßt den Schluß zu, daß das von den Freiheitlichen taktisch geschickt gelegte und von der Regionalausgabe der „Krone“ perfekt-perfid geschmückte populistische Fangeisen auslösend, aber nicht ursächlich für die Ablehnung war. Die Mobilisierung der Bürger am Befragungstag und ihre Defensivhaltung resultierte vielmehr aus der Mißachtung des aktuellen politischen Drehmoments und langfristig ausgeprägter gesellschaftlicher Befindlichkeiten. Zudem glaubte man, mit „landesfürstlicher“ Kraftentfaltung noch einmal anerkannte Grundsätze zeitgemäßen Bauprojektmanagements überspielen zu können: Wir zeigen alles, was wir jetzt gerade haben.

Die Beirats- und Regierungsbeschlüsse, die Studien und Gutachten, die künstlerischen und technischen Konzepte, die architektonischen und städtebaulichen Argumente waren für die Volksbefragten zwar mehr oder weniger zugänglich, aber nicht überschau- und schon gar nicht bewertbar. Die unumgängliche Informationsbringschuld der öffentlichen Körperschaft wurde nicht erfüllt, weshalb der mit dem Thema nicht oder sonst kaum befaßte Bürger - auf den kommt es bei einem Plebiszit naturgemäß an - entweder mit einer unzumutbaren Holschuld oder omnipräsenten Trivialbotschaften konfrontiert war. Einige symptomatische Pro- und Contra-Zitate aus Zeitungen oder von Plakatständern: „Kulturbauten haben es immer schwer“, „Kleiner Mann zahlt große Oper“, „Ja zur Lebensfreude, ja zum neuen Musiktheater“, „Oberösterreich, da ist Musik drin“, „Brandgefährliche Steinzeitplanung“, „Anrainer in Angst“.

Zwischen dem klaren Sachverhalt und dem wahlberechtigten Bürger wurde, teilweise sicher arglos, aber unverzeihlich, ein bruchstückhaft-banales, symbolhaftes Ersatzmodell des Linzer Musiktheaters zusammengestellt und dadurch der Blick auf die Problemlage erschwert. Die verzweifelt wirkende Plakatoffensive der Befürworter mit dem Allerweltssujet „Cooler Baseballer stemmt die Landestrompete und sagt ja zu Oberösterreich . . .“ gehört dazu, das datenüberfrachtete und lieblos an den Sehgewohnheiten der Adressaten vorbei gestaltete „Weißbuch“ nimmt den durch die Spardebatte im Bund genervten und auf Minutenlektüren konditionierten Bürger nicht ernst. Auch die publikumsnäheren Instrumente Video und CD-Rom waren nicht auf der Höhe der Zeit, obwohl Linz als ein Weltzentrum der Neuen Medien gilt. Eine Vortragstournee des Architekten und der ihn beratenden Ingenieure durch die oberösterreichischen Städte fand vorwiegend in leeren Sälen statt. - Insgesamt erwuchs im medialen Meinungsgewitter ein linkischer, in jede Richtung radikalisierender Wortbau, der das bescheiden angedachte Musiktheater im Berg vielfach überragt. Der babylonische Wortturm zu Linz bleibt ein Torso und wird als das Jahr 2000 überschattende Leistung der österreichischen Architektur in Erinnerung bleiben. Der im internationalen Ideenwettbewerb prämierte und bis zur Ausführungsreife entwickelte Entwurf von Otto Häuselmayer steckt im Kern dieses Meinungsturms; er ist in einigen Facetten erkennbar, in seiner pragmatisch abgewogenen Gesamtheit aber außerhalb der engsten Architekturszene und der Fachpublizistik nicht verständlich geworden.

Von den Freiheitlichen in diesem obstruktiven Zusammenhang zu verlangen, daß sie Transparenz über die räumlichen Erfordernisse und die Kosten eines Mehrspartentheaters, die Reserven des alten Landestheaterstandortes, die städtebaulichen Eigenarten der untersuchten Standortvarianten oder gar die Vorzüge und Nachteile der im Architektenwettbewerb ausgezeichneten Entwürfe herstellen sollten, hieße, sie zu überfordern. Daß aber das Land Oberösterreich nicht selbst in der Lage war, die Vorgeschichte und die Tatsachen zum „Theater im Berg“ zielgruppengerecht aufzubereiten und zu verbreiten, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Leistungsfähigkeit der dortigen Administration und besonders auf die strategischen Zielsetzungen im Kulturressort. Selbst nach diesem die Polemik um das Wiener Museumsquartier in den Schatten stellenden untergriffigen Freistilringen, nach der eiskalten Novemberabfuhr und mit dem Bekenntnis, auf der Suche nach einem neuen Weg zum Musiktheater zu sein, schließt Landeskulturdirektor Manfred Mohr seine Lageeinschätzung in der Jänner-Ausgabe des oberösterreichischen Kulturberichts mit der brandgefährlichen Aussage: „Ziel muß es sein, wieder über Kunst zu reden, und nicht mehr über die Bedingungen, unter denen sie entsteht.“
Dieses hehre Ziel entspringt einer exklusiven kultur- und kunstpolitischen Idylle, die spätestens mit dem Eindringen populistischer Handlungsmuster in die Regierungen verloren war. Solange die öffentlichen Körperschaften vorrangig die Interessen der Allgemeinheit wahrnehmen wollten, konnten beziehungsweise mußten, war eine solche Zieldefinition schlüssig. Nachdem nun, wie der Fall des Linzer Musiktheaters drastisch zeigt, die Landespolitik über weite Strecken ungehindert Teilinteressen von Parteien oder Personen instrumentieren kann, jedenfalls über die Aufgaben der öffentlichen Hand kein Grundkonsens mehr herrscht, hat die Kunst- und Kulturbürokratie in „gesellschaftlicher Not- wehr“ nicht mehr „über Kunst zu reden“, sondern erst recht „über die Bedingungen, unter denen sie entsteht“.

Es verstärkt sich die Vermutung, daß in Hinkunft in einer solchen Frontsituation verstärkt Private die Meinungsführerschaft für das Öffentliche übernehmen müssen. Daher macht es auch grundsätzlich Sinn, wenn sich die Kulturbürokratie umfassend um Unterstützung durch kompetente Unternehmen und Fachleute bei der Öffentlichkeitsarbeit bemüht; diese unter professionellen Rahmenbedingungen herangezogenen Privaten sind möglicherweise schon längst die ehrenamtlichen Vertreter dieser Inhalte. Diese Vermittler werden nicht die Scheu haben, nur über das zu reden, was der Sache nützt, selbst wenn es dazu führt, daß nur mehr mediale Transportvorgänge des Werks zielführend sind und der Künstler seinen persönlichen Kontakt zum Kunden, der öffentliche Bauherr den hoheitlichen Durchgriff zum Bürger verliert. In Linz war im November aber noch nicht ganz klar, ob eine Volksbefragung nicht doch eine kleine Landtagswahl und eine Theaterbaukommunikation nicht doch ein kleiner Landeshauptmannwahlkampf ist.

Ersetzt man den Begriff Kunst durch dessen Teilmenge Architektur, wird noch augenscheinlicher, wie weit sich die Linzer Bürokratie von den Usancen des rezenten Architekturmarktes, also von einem Handlungsfeld der Kultur und einem Nährboden der Kunst, entfernt hat. Architekten geben heute zunehmend ihrer Überzeugung Ausdruck, daß Architektur zwar weiterhin ihr Herzensgegenstand ist, es aber gerade bei der Umsetzung öffentlicher Bauten immer weniger Sinn macht, explizit das Kunstprodukt Architektur anzupreisen, über die persönliche Handschrift ihrer Architektur zu sprechen. Die synergetische Begegnung des genialischen Architekten mit der kongenialen Bauherrenpersönlichkeit, wo so ein direkter Dialog sinnstiftend wä- re, gibt es nur mehr in Ausnahmefällen.

Architekturkommunikation erfolgt zunehmend auf erhöhte Distanz zwischen Nutzer und Architekt, über vereinfachende Stellvertretersprachen. Architekten sind oft zu detailbesessen, um ihre Arbeit zu vermitteln. Die Überzeugungsarbeit richtet sich aber oft an architektonisch Desinteressierte; solange kein kulturell geläuterter Bauherren-Typ heranwächst, wird ihre Kommunikation mit den Architekturschaffenden verflachen und der Kontakt mit den Nutzern delegiert werden: Künstlerische Qualität ist dann nur mehr implizit zu transportieren. Politiker bestellen Neubauten dann gern, wenn sie ihnen nützlich sind, vor allem aber, wenn sie als Bilder die Nutzung in ihrem Sinn emotionalisieren. Dann stimmt für sie der Preis, egal wie hoch er ist. Überhöht nach dem subjektiven Empfinden dieser an Qualität eigentlich uninteressierten Bauherren die Architektur die Nutzung nicht, dann stimmt der Preis nicht, egal wie tief er ist. Solche Projekte werden politisch rasch entsorgt.
Für Linz hat Landesrat Hans Achatz kürzlich den nächsten derartigen Schlag gegen die Kulturmeile am Donauufer, gegen das in Bau befindliche „Lentos“-Museum der Zürcher Architekten Weber & Hofer angekündigt: „Die ,Lentos'-Initiative ist durchaus zulässig, weil bekanntermaßen über Geschmack gestritten werden kann, . . . der Bau in weitesten Kreisen nicht auf Zustimmung stößt.“ Wieder scheint ein mehrheitlich prämierter Wettbewerbsgewinner in die Mehrheitsunfähigkeitsfalle zu torkeln. Wie beim Musiktheater vermittelt niemand öffentlichkeitswirksam uneingeschränkte Überzeugung von den Qualitäten des Projekts.

Das Theater im Berg exekutierte man zögerlich, aber korrekt, ließ aber keine Begeisterung erkennen. Häuselmayer ist nicht der Autor euphorisierender Architekturschöpfungen, die unterbewußte Zweifel der Bevölkerung von sich aus vergessen machen würden. Man hielt jeden Projektpreis für zu hoch, obwohl der Beweis der Angemessenheit leicht zu führen war. Zudem mußte sein tadelloses Projekt ohne Alternativen, keineswegs zur allgemein gehaltenen Fragestellung passend, als Generalköder herhalten. Man hätte es wissen müssen: Zeig dem Gegner niemals freiwillig dein empfindlichstes Stück.

18. November 2000 Spectrum

Wellen, von Bach beseelt

Architekten und Bühnenbildner schaffen unterschiedliche Spielräume, die freilich über Nutzungsoffenheit, Bautechnik und Gestaltwirkung verwandt sind. Manche Theaterszenerie experimentiert mit Raum, selten wirkt eine auf die Architektur zurück. Betrachtung eines verheißungsvollen Versuchsbilds.

Die Theatersphäre ist Präsentierteller für darstellende und bildende Künstlerstars, wie sie auch das Architekturgeschäft kennt. Das Quotendenken lebt in den Theater- wie in den Baudirektionen: Ob über die Reproduktion wiedererkennbarer Muster Teilzeitlabors für neue Raumvorstellungen am Theater entstehen, ist fraglich. Um auf die landläufige Permanenzarchitektur zurückzuwirken, sind lösungsoffene Experimentalanordnungen besser geeignet als geschlossene, anerkannt „perfekte“ Konzepte.

Der Regisseur Peter Brook umreißt 1968 in „Der leere Raum“ seine Zielvorstellungen des guten, „unmittelbaren“ Theaters: „Bei der Arbeit mit einem Bühnenbildner ist eine Gleichstimmung des Tempos von vordringlicher Wichtigkeit. Ich habe mit hervorragenden Bühnenbildnern gearbeitet - fand mich aber manchmal in seltsamen Schlingen gefangen, wenn er eine zwingende Lösung zu schnell gefunden hatte - so daß ich Formen gutheißen oder ablehnen mußte, bevor ich begriffen hatte, welche Formen sich aus dem Text ergaben. Was nottut, ist ein vollendeter Entwurf, der klar ist, ohne starr zu sein; einer, den man ,offen' nennen könnte und nicht ,geschlossen'. Das ist der Kern theaterbezogenen Denkens: Ein echter Bühnenbildner wird seine Entwürfe als immerzu in Bewegung oder Aktion befindlich betrachten.“

Der Unterschied zwischen Bühnen- und Architekturarbeit erklärt, warum sich das Theater fundamental als Raumlabor eignet: Der Bühnenraum entsteht in einer Konfrontation zwischen Regisseur und Ausstatter; in einer Konfrontation künstlerischer Sichten. Der Besucher konsumiert die künstlerische Maximalsetzung gewissermaßen auf Vermutung, der Bauherr will ein Konsensmodell nach vertraulicher Absprache.

Die im April verliehene Doppelauszeichnung im Rahmen des „Prix Benois de la Danse“ beweist, daß die Ballettszene experimentelle Raumkonzepte zu schätzen weiß. Die Auszeichnung ist nach dem russischen Bühnenbildner und Ballettlibrettisten Aleksandr Nikolayevich Benois benannt. Die Vergabe entspringt keinem offenen Wettbewerb, sondern basiert auf den von der Jury erkannten herausragenden Leistungen des Vorjahres in verschiedenen Kategorien.

Der heurige Preisträger für das beste Bühnenbild heißt Jaffar Al Chalabi. 1962 in Bagdad geboren, im österreichischen Ideenuniversum durch Leben und Studium gut verankert, in Wien als Universitätslehrer und Architekt tätig und von hier aus stets nach Neuem strebend, daher eigentlich unaufhaltsam auf dem Weg zum architektonischen Weltbürger.

Sein eindrucksvoller Faltapparat rahmt die von einer Musikcollage nach Johann Sebastian Bach getragene Aufführung „Vielfältigkeit - Formen von Stille und Leere“ des Spaniers Nacho Duato, dem dafür der Choreographie-Preis zugesprochen wurde. - Al Chalabi findet im Herbst 1998 über einen befreundeten Dirigenten Zugang zum renommierten Choreographen und künstlerischen Direktor der Compañía Nacional de Danza in Madrid, dem ein Tanzprojekt „Multiplicidad“ vorschwebt. Duato, der zuvor seine Aufführungen selbst ausstattete, entscheidet sich für den Österreicher, der noch nie für die Bühne gearbeitet hat. Der zündende Funke geht für Al Chalabi von der damals in der Architekturluft der neunziger Jahre liegenden, freilich für diese Arbeit eher zufällig produktive Theorie der Faltung aus.

Seit 1995 liegt auf deutsch das Buch „Die Falte - Leibniz und der Barock“ des Philosophen Gilles Deleuze vor. Der für die gegenwärtige Architekturpraxis und -theorie inspirierende Text leitet ein: „Der Barock verweist nicht auf ein Wesen, sondern vielmehr auf eine operative Funktion, auf ein Charakteristikum. Er bildet unaufhörlich Falten. Er erfindet die Sache nicht: Es gibt die vielen aus dem Orient stammenden Falten, die griechischen, römischen, romanischen, gotischen, klassischen und so weiter Falten. Sondern er krümmt die Falten um und um, treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.“

Tänzer und Choreographen wünschen sich freie Aktionsräume auf der Bühne und müssen sich bisher meist mit flachen, statischen Hintergrundbildern begnügen. Al Chalabis Ansatz, auf einem demontablen Fachwerk seidenmattschwarze Kunststoffbahnen mechanisch ein- und ausfalten zu lassen, somit eine ständig veränderliche und doch strenge hintere Fassung des Tanzraumes zu konstruieren, trifft den Nerv Duatos und führt zum Direktauftrag. Mit Daniel Chamier als Detailberater realisiert Al Chalabi in wenigen Monaten die mittlerweile auf mehreren Weltbühnen erfolgreich gezeigte, sechs Meter hohe und 18 Meter lange, von Hand betriebene Wellenmaschine.

Zu sehen, wie sich die Tänzer kongruent auf die temporären Falten einlassen, wie das von Bach beseelte Bewegungsspiel der Personen den Faltapparat durchdringt, wie die Aktion auf dem Gerüst die Vertikale erobert, bedeutet für die Choreographie einen Ausgriff in das von Brook geforderte erweiterte Raum-Zeit-Gefüge. Die Architektur hat mit der unveränderlichen Faltung ihrer Häute, der Fassaden, längst ein klassisch formuliertes Thema; mit der Permanenz der Faltung, mit der Stetigkeit ihrer Veränderung, kann die Architektur jetzt tatsächlich in die vierte Dimension, die Zeit, eintreten.

Die Visualisierungsmethoden zu „atmenden“ Architekturen sind ausgereift, die Bautechniken hinken noch nach: Doch die unbändige Vielfältigkeit des flexiblen Raums wird einen maßgebenden Architekturtrend dieser Zeit begründen.

6. Oktober 2000 Spectrum

Die Walser Kindesweglegung

Was tun, wenn sich ein öffentlicher Bauherr über die Regeln architektonischer Qualitätssicherung hinwegsetzt? Ein klarer Juryentscheid und ein tauglicher Entwurf sind beim Neubau des Salzburger Fußballstadions kein Garant gegen offizielle Entstellung. Eine Rote Karte.

...folgt.

2. September 2000 Spectrum

Kalt geklebtes Konsensbarock

Altstädte behaupten ihre Identität nicht, indem sie Altes vortäuschen. Sie müssen den Bestand entweder pflegend erhalten oder durch Neues umwerten. Tauschgeschäfte zwischen Bauepochen sind immer riskant und reglementiert. Eine Regelkunde zu einem Wiener Notfall.

Ein Schandfleck ist beseitigt, ein Ensemble aufgebessert! Nicht wenige Bürger und politische Mandatare des vierten Wiener Gemeindebezirks sehen in der veränderten Baugestalt auf der Favoritenstraße Nr. 7 einen Teilerfolg über den formkalten Ungeist der architektonischen Moderne. Der Magistrat hat der Bauordnung zum Durchbruch verholfen, weitergehende Kommerzdammbrüche abgewendet. Dabei ist ein schon lange als Belastung empfundenes Produkt des banalisierenden Funktionalismus, ein schlichter Bürobau, durch Aufstockung und Fassadenverkleidung verschwunden.

Doch die Freude ist geteilt. Wer als Passant die Straßenflucht im Augenwinkel vorbeiziehen läßt, ohne sich Architektur und Städtebau gezielt zu widmen, wird über die Glättung des modernistischen Bruchs in der Fassadenfolge nicht unzufrieden sein. Wer hingegen als kritischer Geist mit gespitzter Erwartung an die Leistungsfähigkeit zeitgenössischer Architektur vor das sich in plumpem Historismus ergehende Bauwerk in der Favoritenstraße 7 tritt, ist entweder entsetzt oder bestenfalls amüsiert. Hier hat eine aufwendige bauliche Veränderung stattgefunden, die nach architektonischen Kriterien nicht einordenbar ist, die eher Rohstoff für ein Sittenbild des immobilistischen Ausschlachtungsgewerbes liefert. Jedenfalls ergibt sie keine Verbesserung der unbefriedigenden städtebaulichen Situation.

Wo (fast) alles möglich ist, wo Freud und Leid des Stadtumbaus gleichzeitig fühlbar sind, wo also baukulturell bereits alles gleich gültig ist, besteht maximaler Aufklärungsbedarf. Die Kritik ist hier gefordert, die gemeinhin gar nicht schmerzlich empfundene Absenz von Architektur zu kommentieren. Denn an diesem bezirkswichtigen, für das Stadtganze aber nur zweitrangigen Ort spitzt sich jenes Kräftespiel zwischen Architekten, Behörden, Politikern und Unternehmern auf groteske Weise zu, welches das Wiener Baugeschehen zunehmend prägt: die private Profitmaximierung in interessanten Lücken des kompakten Stadtkörpers auf Kosten öffentlicher Ansprüche an Funktionalität und Gestalt der Stadt.

Die Administration der öffentlichen Interessen am Stadtraum ist sehr schwierig: Politisch ist sie trägen Planungsinstrumenten wie Flächenwidmungs-, Bebauungs- und Schutzzonenplänen und an sprachlich nie detailscharfe, das Wesen der Architektur schwammig umkreisende Gesetzestexte überantwortet, bürokratisch ist sie an Bauämter delegiert. Letztlich entscheidet das Geschick der handelnden Personen, ihren Handlungsspielraum im Rahmen geltenden Rechts auszureizen, über die Machart der Bauwerke. Daß die Projektbeteiligten jeweils ihre Interessen wahrnehmen, ist legitim. Daß dabei der private Bauherr - wie in diesem Fall - seine Verantwortung gegenüber der Stadt vernachlässigt oder vielmehr unter der doch recht komfortablen Deckung der „baukünstlerischen“ Freiheit ein Entrepreneurgehabe zeigt, das der Ringstraßenära gut angestanden wäre, müßte die Stadtpolitik grundsätzlich auf den Plan rufen.

Es existieren bewährte Modelle vertiefter Qualitätssicherung im Baugenehmigungsverfahren, für die in Wien freilich erst die Grundlagen geschaffen werden müßten. Qualifizierungsmethoden für das Planungsgeschehen sind mit zwei Zielrichtungen denkbar: einerseits projektzentriert durch Fachbeiräte bei den Kommunen, durch Gesetzestexte, die das Qualitätsproblem präziser erfassen und in praktikable behördliche Handlungsschemata münden, andererseits umfeldorientiert über nationale Architekturförderprogramme, über offener strukturierte Zugänge zum Architektenberuf, durch intensivere Information des Bürgers über die Handhabung der Qualitätskriterien und die damit genehmigten Bauten et cetera. Für die Architekturpublizistik bedarf es erst gestalterischer Glücksfälle, für die Massenmedien technischer oder kommerzieller Versagensfälle, um eine Kernfrage der Baukultur zu thematisieren: „Wie verbessert man den Durchschnittsbau?“ Man muß für den kaltschnäuzig-konsensbarocken, durch Kaltklebung auf ein nüchternes Betonskelett applizierten Schutzmantel geradezu dankbar sein; er setzt ein unübersehbares Rufzeichen auf die latente Krise der Qualitätskriterien für das „normale“ Baugeschehen.

Die Spitzenleistungen finden dem kulturellen Stand der Dinge gemäß trotzdem statt, entziehen sich definitionsgemäß jedem Reglement und sollten selbst im Zweifel unter liberalen Genieparagraphen als Ausnahmen abgehandelt werden. Der Bau in der Favoritenstraße 7 gehört nicht zu dieser Kategorie. Er verwirklicht primär die kommerzielle Intention des Bauherrn: die durch den Bebauungsplan gedeckte Nutzflächenmaximierung. Er vernachlässigt aber offenbar sekundäre Ziele, die zentrale öffentliche Interessen tangieren.

Auch zu deren Wahrung ist der Architekt, kraft seiner bekundeten Rolle als Fachmann und seines behördenähnlichen Status, berufen: die Einbettung des Baukörpers in das Stadtgefüge, die Abstimmung mit Ort und Zeit durch angemessene architektonische Mittel und so weiter. Die geltende Wiener Bauordnung umreißt im vieldiskutierten Paragraphen 85, „Äußere Gestaltung von Gebäuden und baulichen Anlagen“, dieses öffentliche Interesse in Absatz 1 so: „Das Äußere der Gebäude und baulichen Anlagen muß nach Bauform, Maßstäblichkeit, Baustoff und Farbe so beschaffen sein, daß es die einheitliche Gestaltung des örtlichen Stadtbildes nicht stört.“ Der Handlungsspielraum der Baubehörde ist so definiert, daß schwerwiegende Beeinträchtigungen des Stadtbildes, eine nicht immer klar abgrenzbare räumliche Wirkungseinheit von Bauten, abwendbar sind.

Was schwerwiegend ist, unterliegt zum einen dem Urteil der Fachbeamten, die das aktuelle Architekturgeschehen, die Aussagen der Denkmalpflege, die Feststellungen der Fachliteratur et cetera reflektieren, zum anderem dem Gestaltungswillen des einreichenden Architekten, der seinen Entwurf für sachdienlich hält. An der Favoritenstraße 7 gibt es - nicht ohne Krämpfe - unter der Prämisse des Paragraphen 85 einen Konsens. Auch der Absatz 2 wurde nicht zum Verhängnis: „Die Errichtung von Gebäuden und baulichen Anlagen sowie deren Änderung ist nur zulässig, wenn das mit dem Bebauungsplan beabsichtigte örtliche Stadtbild weder gestört noch beeinträchtigt wird. Darüber hinaus darf das gegebene örtliche Stadtbild weder gestört noch beeinträchtigt werden, sofern es mit dem vom Bebauungsplan beabsichtigten örtlichen Stadtbild vereinbar ist. Im Nahebereich von Schutzzonen ist bei der Beurteilung auf diese besonders Bedacht zu nehmen.“

Im gegenständlichen Fall ist von einer Nähe der Schutzzone, einer landesrechtlichen Schutzkategorie für Ensembles, die nicht nur aus denkmalwertigen Objekten bestehen müssen, auszugehen. Das kaiserliche Lustschloß Favorita dominiert als Theresianum noch immer die östliche Front der innersten Favoritenstraße und ist dementsprechend geschützt. Der „besondere Bedacht“ war hier auf das großzügige Fassadenkontinuum der Favorita zu legen, also auf die Abwägung, ob die benachbarten, ausdrucksarmen Fassaden der Technischen Universität eine derartige Belebung vertragen, und ob die so umgeprägte, leicht gekrümmte Fassadenfolge zwischen Gußhausstraße und Taubstummengasse das Theresianum bestärkt. Auch in dieser Hinsicht hat die Behörde positiv erkannt, die vitalisierende Wirkung für den offensichtlich strukturschwachen Straßenzug geltend gemacht. So richtig die städtebauliche Diagnose von Architekt und Magistrat, so fragwürdig die architektonische Therapie.

Noch mehr zum Einspruch fordert Paragraph 85 Absatz 3 heraus: „Bauliche Änderungen an einzelnen Bauwerken von geschichtlicher, kultureller oder künstlerischer Bedeutung sowie die Errichtung baulicher Anlagen und bauliche Änderungen in der Umgebung solcher Bauwerke sind unzulässig, wenn deren Eigenart oder künstlerische Wirkung oder das örtliche Stadtbild beeinträchtigt würde. Hierbei bleiben die besonderen, den Denkmalschutz betreffenden gesetzlichen Bestimmungen unberührt.“ Es ist evident, daß der zerstörte Bandfassadenbau mit Sechziger-Jahre-Gepräge keine künstlerische Bedeutung beanspruchen konnte; aber im Hinterhof, eingesperrt von Feuermauern, steht nach wie vor das spätbarocke Palais Erzherzog Carl Ludwig, dessen Umbau als wichtiges Werk des Heinrich Ferstel gilt und das sich sehr wohl einen respektableren Umgang verdient hätte.

In einer Schutzzone würde zudem der Absatz 5 greifen, bei einer härteren Genehmigungsphilosophie wohl auch in deren Umfeld: „Bei Errichtung eines neuen Gebäudes in einer Schutzzone ist das Gebäude (. . .) auf zeitgemäße Weise in das Stadtbild einzuordnen, oder es sind hinsichtlich des Baustils, der Bauform, der Gebäudehöhe, der Dachform, des Maßstabes, des Rhythmus, der Proportion, der technologischen Gestaltung beziehungsweise der Farbgebung die benachbarten Gebäude in derselben oder gegenüberliegenden Häuserzeile zu berücksichtigen.“

Von seiner Sendung als Retter der Baukunst des Abendlandes vor modernistischer Verödung überzeugt, würde Alaa Abouelenin, der in Wien niedergelassene Architekt dieser imperialen Zuckergußüberfangung, seinen in Kunststoff vorgeklebten Formvorrat wahrscheinlich auch in einer Schutzzone für angemessen halten. Da aber, wie Manfred Sack 1993 so treffend sagte, „auch noch das privateste Haus eine öffentliche Affäre ist“, muß man der Gewaltbereitschaft dieser baukünstlerischen Stupidität in den Arm fallen. Das Gemeinwesen kann sich nicht über persönliche Form- und Materialobsessionen definieren lassen; auch dem privaten Bauherrn sollte nicht gleichgültig sein, ob er sich in seiner Selbstdarstellung in der aufgeklärten Hemisphäre der Weltkunst aufhalten will oder zwischen Bananenrepublikanern und Architekturdespoten.

Die öffentliche Hand muß das Notfallrecht haben, solch pflichtvergessene Banalbauten in wertigem Umfeld zu verhindern, aber sie muß zugleich verpflichtet werden, wirklich sphärenöffnende Entwürfe vorbehaltlos zu unterstützen. Neue Baukunst bedeutet, die Tradition umbildend und weiterführend zu würdigen, nicht sie nachzuäffen.

14. Juli 2000 Spectrum

Die Macht der Metrogewohnheit

Nach drei Jahrzehnten fragt wieder ein Wettbewerb nach Gestaltungsgrundsätzen für die Wiener U-Bahn. Aber die Gründer-Ära will nicht enden: Was die Trasse zwischen den neuen Stationen der U2 betrifft, bleibt alles beim alten.

Die Entwicklung von Entwurfsgrundsätzen für U- Bahnen kennt als Referenz aus gutem Grund nach wie vor die Stadtbahn Otto Wagners. Deren Ansätze sind von bestechender Aktualität: die ganzheitliche Durchbildung der Trasse vom Brückentragwerk bis zur Haltestellenausstattung, die signifikanten Gestaltungsmittel und vor allem die wechselweise Befruchtung von Verkehrsstruktur und Stadtumfeld. Insbesondere die Hochtrassen der Stadtbahn sind heute wieder positiv besetzt, werden auch integrativ aufgefaßt und nicht als störende Zäsuren im Stadtgefüge.

Der Mehrfachnutzen dieses U-Bahn-Netzabschnitts ist zuletzt am Gürtel deutlich geworden. Auch nach einem Jahrhundert geht von diesem Bauwerk ein Entwicklungsimpuls für die Stadt aus, wenn dessen Rohkräfte entsprechend freigesetzt werden. Die kürzlich abgeschlossene Gürtelbelebung nutzt die Stadtbahnbögen als städtebaulichen Rohstoff,
um eine urbane Situation zurückzugewinnen.

Diese gelungene Wiederaneignung basiert auf der überzeugenden Fähigkeit Wagners, einerseits architektonisch präzise Festlegungen mittels der Stationen zu treffen, andererseits auf der Strecke durch eine formal starke, aber auch hinreichend neutrale Bogenstruktur Nachnutzungen offen zu lassen.

Somit leistet Wagners Bahn das, was guter Städtebau als Vorstufe zu guter Architektur immer vermögen sollte, aber monofunktionale Verkehrsbauten heutzutage kaum mehr anzubieten vermögen: die urbanistische Wohltat, die Verkehrsinfrastruktur der Stadt nicht nur als solche, sondern auch als Ort der Kommerzes, der Unterhaltung, der
Fortbildung et cetera anzudienen. Ein urbanes Verkehrsbauwerk sollte mehrere Angebote an alle Stadtbewohner machen, auch an die, die das Verkehrsmittel aktuell gar nicht benötigen. Für eine Bahntrasse ist nicht allein durch die Lösung der Transportnutzung Akzeptanz zu gewinnen, vielmehr ist die städtebauliche Wechselwirkung mit Wohn- und Geschäftsvierteln sicherzustellen.

Bei der Wiener U-Bahn-Planung entsteht nicht erst aus Anlaß der gerade laufenden zweistufigen Planungskonkurrenz zur Gestaltung der Stationsbauten auf der nach Stadlau zu verlängernden Linie 2 der Eindruck, daß die Entwicklungschancen, die in den neuen Trassen räumlich und funktional begründet sind, nicht langfristig und systematisch gesichert und genutzt werden. Erwartungsgemäß ist auch die Auslegung einer U-Bahn zeitbedingten Einschätzungen unterworfen; gerade die Geburtswehen beim Wiener Grundnetz beweisen, daß derartige Projekte eine Stadtverwaltung zu schwierigen strategischen
Festlegungen herausfordern, die auf Sicht von Jahrzehnten immer wieder Nachjustierungen erfordern.

Auf der taktischen Ebene, der auf bestehende oder in Planung befindliche Stadtviertel bezogenen räumlichen Feinadaptierung der Trassen, wurde hingegen viel versäumt. Die tradierten Regeln des Städtebaus, etwa die Frage der Barrierewirkungen oder der Ansiedlungskapazität für Dienstleistungen bei Hochtrassen, hätten längst Anhalt für eine Ausdifferenzierung der U- Bahn als partnerschaftliches Stadtelement mit Reservecharakter, nicht als hoheitliches
Dominanz- oder Restriktionsinstrument geboten. Die verlegen für Pkw-Stellplätze oder Lager untergenutzten Flächen unter der Hochtrasse der U1 in Kagran oder die wie westwallartige Befestigungen mitten durch sich gerade konstituierende Quartiere in Liesing geschütteten Dämme der U6 sind Hinweise auf solche verschenkten Optionen. Dem fachlich geschulten Beobachter erscheinen solche U- Bahn-Abschnitte wie Hochschaubahnen unterschiedlicher planerischer
und gestalterischer Haltungen: zum einen überschaubare Stationsbauwerke mit architektonischem Anspruch als „Hochpunkte“, zum anderen Stadtmaßstäbe sprengende oder mangels Vorgaben räumlich unbefriedigende Ingenieurlösungen für die Trassen als verbindende „Senken“. Eine innige Verschränkung der Stadt mit der neuen Infrastruktur wurde an solchen U-Bahn-Abschnitten gar nicht angestrebt: Die Trasse gewährleistet den Betrieb der U-Bahn, aber sie behindert den Betrieb der Stadt.

Für die verlängerte U2 scheint sich - abgeleitet aus der verengten Fragestellung des offenen Wettbewerbs, für den nun in der zweiten Stufe zwölf Architekten aufgefordert sind, Typenlösungen für vier Stationen und linienprägende Details zu liefern - ein ähnliches Szenario abzuzeichnen. Ausgehend von einer neuen Wendeanlage am Karlsplatz führt die U2 dann durch den adaptierten Bestand zum Schottenring, unter dem Donaukanal hindurch zum Praterstern, dann, am Rand des Messegeländes an der Stadtoberfläche auftauchend, zum Happel-Stadion, über die bestehende Schrägseilbrücke über die Donau und in Hochlage bis Aspern.

Der Verlauf der Trasse im Stadtgebiet ist als interdisziplinär erarbeitete, technisch komplexe, politisch akkordierte Vorgabe für die Ideenfindung selbst- verständlich, die beschränkte Einlassung der Architekten auf die Haltestellen ist es nicht.

Im November 1970 kritisierte Friedrich Achleitner in dieser Zeitung die erste und letzte U-Bahn-Konkurrenz als „durch die technischen Voraussetzungen und Festlegungen fast nur noch zu einem Alibiwettbewerb der Behübschung tiefbaulicher Maßnahmen“ degradiert. Wenn nun wieder nur nach dem „Erscheinungsbild der Stationen und deren Einbindung in das Stadtbild mit Oberflächengestaltung der unmittelbaren Stationsumgebung auf der Basis des generellen Ingenieurprojekts“ gefragt wird, dann wird der multifunktionale Charakter der U-Bahn im Stadtkörper schlicht negiert.

Oder zumindest wird der heute umso deutlichere ganzheitliche Anspruch an dieses Projekt geschwächt. Und auch wenn in weiteren Untersuchungen die Verschränkung von U2 und den Stadtteilen in Nutzungseinheiten thematisiert werden sollte, allein in der fast vollständigen Fixierung des von der U1 und U3 bekannten Brückenentwurfs der siebziger Jahre als gestalt- und funktionsbestimmendes Charakteristikum der Hochtrasse liegt eine bedauerliche Verkürzung der Aufgabe. Eine überzeugende Unterlegung der Hochtrassen mit wertigen Dauernutzungen ist damit bisher nicht gelungen.

Das „Gesamtdesign“ der U2 erfaßt nach dem Verständnis der Wiener Linien eben noch immer nur die Stationen und ihr direktes Vorfeld, nicht den städtebaulich ebenso wichtigen Rest der Strecke - also doch wieder eine Konzepthochschaubahn nach Wiener Gewohnheitsrecht.

22. April 2000 Spectrum

Ein Testgelände für Raumflüge

Architektur zu studieren bedeutet einen persönlichen Versuch zur Weltverbesserung: Versionen von Raum sehen zu lernen und diesen ureigene Visionen einzuprägen. Die Ausstellung „archdiploma 2000“ zeigt mit prämierten Abschlußarbeiten der TU erste Reifezustände.

Moderne Architektur ist das aus der richtigen Erkenntnis einer fehlenden Notwendigkeit erschaffene Überflüssige “,ätzte Karl Kraus. Als ausgewiesener Verbalagitator für die Moderne ist er diesbezüglich in seinem Humor unverdächtig. Und er trifft den Kern des Problems, worauf Alfred Polgar hinwies: „Der echte Satiriker zieht, was er ins Lächerliche zieht, mit einem Griff auch ins Ernsteste.“ Das Kernproblem der Architektur dieser Zeit ist ihre „fehlende Notwendigkeit “. Moderne Architektur ist nicht nur in den Augen einiger Traditionalisten, sondern für eine breite Öffentlichkeit überflüssig, eine gefällige Schönung des Notwendigen.

Die Diagnosen zum latenten Desinteresse an Architektur sind bekannt: das Bildungsdefizit in den Schulen, die Ignoranz der Massenmedien gegenüber jeder Verfeinerung, die Unlust der Architekten, politische Ämter anzunehmen und für die Architektur Lobbying zu betreiben, die Unfähigkeit der Politiker, Architektur als Träger für Inhalte zu verstehen und zu argumentieren, die Isolierung der Architekturausbildung vom öffentlichen Leben, die Sehnsucht, alles in der Welt möge sich einfach lösen und simpel darstellen lassen.

Architektur kann als Weltverbesserungsversuch aber in ihren Anfängen niemals einfach, eindeutig, eingängig sein, vielleicht in ihrer Endaussage. Von Architektur a priori zu erwarten, daß sie simpel sei, daß sie sich am Gewohnten orientiert, daß sie gefällt, daß sie verständlich und gar mehrheitsfähig ist, ist ein Irrtum. Sie kann all das letztlich auch werden, aber es sind keine Entwurfsziele: eindimensionale Anbiederung an Populäres und Spektakuläres schließt qualitative Architektur aus. Was Qualität ist, muß erklärt werden.

Über ganzheitliche Erkenntnis des Themas führt der Weg zur Architektur sowohl für den, der zeichnet, plant und baut, als auch für jene, die sie als Beobachter verstehen wollen. Die Vielschichtigkeit und Vielzahl guter Lösungen verhilft am besten zu tieferer Einsicht. Entwurfsalternativen zu einem Thema, etwa von Wettbewerbseinreichungen oder Produkten der Architekturlehre, sind didaktisch sehr aussagekräftig. Die meisten Wettbewerbe finden faktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Der Kontakt der Universitäten und Akademien mit den Bürgern konzentriert sich auf akademische Feiern und fachintern zugeschnittene Veranstaltungen.

Ein daher umso erfreulicherer, wenn auch intern längst erhoffter Schritt nach außen ist die Ausstellung „archdiploma 2000 “der Fakultät für Raumplanung und Architektur der Technischen Universität Wien: Sie vermittelt eindrücklich, wie man Architektur ernsthaft erringt. Kuratiert von Marlies Breuss und Franz Karner, werden zwar über Pläne und Modelle harte Inhalte, aber in einer sinnlich sehr ansprechenden, in ihrer graphischen Aufbereitung und Knappheit der Textinformation für jeden verkraftbaren Form präsentiert. Unter 33 Diplomprojekten der 1997 bis 1999 erstellen Arbeiten hat die Jury aus den Professoren William Alsop, Cuno Brullmann, Francoise-H élène Jourda, Helmut Richter, Klaus Semsroth, Emmerich Simoncsics und dem Autor drei Haupt-, drei Anerkennungspreise und eine Auszeichnung für ein vorbildliches Forschungsvorhaben vergeben. Zudem hat der Besucher die Möglichkeit, sein Votum für den als Finale gedachten Publikumspreis abzugeben.

Nicht allein das Faktum einer Diplomausstellung ist bemerkenswert, die gibt es in Wien an der Akademie der bildenden Künste und der Universität für angewandte Kunst längst, sondern die dienstbare Art der Vermittlung, die mediale Begleitung. Die größte Architekturausbildungsstätte des Landes hat sich bis jetzt nicht auf diese Art der Öffentlichkeit gestellt. Es ist der Initiative von Cuno Brullmann und von Dekan Klaus Semsroth zu danken, daß nun der Leistungsvergleich zwischen konkurrierenden Hochschulen möglich ist.

Auch wenn die Art der Preisvergabe mit Rängen an einzelne Arbeiten in der Jury angezweifelt wurde, weil die breite Streuung der Diplomthemen kaum direkte Vergleiche zwischen den Arbeiten zuläßt, sondern eher Einschätzungen, wie weit der Kandidat die Aufgabenstellung nach Kriterien wie Situierung am Bauplatz, Funktionserfüllung, konstruktive Logik, Prägnanz der Gestalt, Schlüssigkeit des theoretischen Ansatzes erfüllt hat: Die Zuerkennung der Preise ist nachvollziehbar und belegt die hohe Variation der architektonischen Sichtweisen an der TU Wien. Die besten Arbeiten repräsentieren gemeinsam eine Bandbreite architektonischer Auffassungen, wie sie aus internationalen Ideenkonkurrenzen und der globalen Publizistik bekannt sind. Jedenfalls wird gestalterisch und technisch weit über das österreichische Baugeschehen hinausgegriffen.

Das auf der Konkurrenz verschiedener Entwurfsauffassungen beruhende Unterrichtsprinzip der Massenuniversität erweist sich – gemessen am besten Drittel der Diplomarbeiten – im Vergleich zu den elitären Meisterschulen und – klassen noch immer als konkurrenzfähig. Allerorten überzeugend wäre das klar erstgereihte Forschungszentrum für die Insel Syros von Ines Wagner-Löffler. Nicht nur die alternative, Ressourcen wahrende Philosophie des Entwurfes besticht.

Die funktional-tektonische Lösung mit dem unterirdischen Forschungs- und dem als gläserne Röhre über den Hang gesetzten Wohnbereich würde als elegante Figur in der Landschaft wirken. Der mobile Turm, ein Medienträger und Regieplatz für Großveranstaltungen,von Christian Formann beeindruckt mit präziser konstruktiver Durchbildung und eindeutiger Formgebung. Er erhält ex aequo mit dem für Jerusalem projektierten, in seinem Umgang mit der Topographie und der strukturellen Auflösung in 48 korrespondierende Elemente überzeugenden Kulturkomplex von Bernhard Schneider einen zweiten Preis.

Anerkennungen erhalten Petra Frimmel für ihr aus Pneus gebildetes temporäres Theater, Hannes Pfau für eine räumlich besonders feinsinnig ausgeteilte Bibliothek in Kansai, Japan, und Rupert Königswieser für vier intelligente Tourismusinterventionen in der Liechtensteinklamm.

Der Forschungspreis geht an Andreas Marth und Friedrich Passler für eine visionäre Sicht der Verschränkung von Verkehr und Stadtarchitektur in hybriden Großstrukturen für Bozen.

Wer sich als angehender Student zu seinem Countdown zur Architektenexistenz, zu seinem Flug in den architektonischen Raum anstiften lassen will, wird hier starke Starthilfen finden. Wer sich als Laie Einsicht erhofft, wird unschwer verstehen können: Architektur ist eine qualitative Macht, auf die die Welt nicht verzichten kann.

18. März 2000 Spectrum

Wie Kronen im Stadtgebiß

Die Dynamik der Stadtentwicklung kehrt in das Wiener Zentrum zurück. Erstarrte Kernzonen entfalten nun ihr Wachstumspotential. Nach dem Langmut zur Lücke besteht der Wille zur extravaganten Füllung. Ein Operationsbericht aus der Urbanimplantologie.

Wien liegt an der Donau, sagt ein hartnäckiges Gerücht, das sich nicht bestätigen läßt. Verifizierbar ist: Wien hat eine innige Beziehung zum Donaukanal. Er tangiert das Stadtzentrum, umfaßt es gemeinsam mit dem Ring in einer durchgehend wahrnehmbaren Figur. Das eingefaßte Territorium ist für den Wiener schlicht „die Stadt“ und gemeinhin für Neubaumaßnahmen tabu: Seit Jahrzehnten geht Bildschutz vor Strukturverbesserung. Obwohl der optische Befund nahelegen könnte, die Stadtentwicklung sei hier in jeder Hinsicht defensiv gewesen, haben subkutan massive Veränderungen stattgefunden. Die U-Bahn hat die Innere Stadt völlig neu positioniert, das Zentrum ist egalisiert, popularisiert, entmischt. Die radikal verbesserte Erreichbarkeit der Stadtmitte ist das Maß der unterirdisch längst vollzogenen Stadtveränderung, die an der oberirdischen Gestalt kaum festzumachen ist. Nun zeigt sich am Kai ein überraschend starker Zug von Dynamik, der fragen läßt, wie weit Kontinuität ein städtebauliches Kriterium der Verbesserung sein kann.

Am äußeren Ufer des Donaukanals, gegenüber dem ersten Bezirk, sind mehrere Vorhaben in Arbeit: Mit dem neuen Diana-Bad wird ein beklemmend schlichtes Bürohochhaus errichtet, das benachbarte IBM-Haus erhält einen architektonischen Feinschliff, für die EA Generali wächst ein irritierend aus der Vertikalen kippendes Turmbündel aus dem Boden, vis-à-vis steht der vergleichsweise klassisch anmutende Bundesländer-Bau vor einer Renovierung; ebenso an der Praterstraße gelegen, sieht das Galaxie-Hochhaus einem längst fälligen Redesign entgegen. Nicht zuletzt ergreift der Versicherungskonzern Uniqa, sprich [u:nika], die höchst stadtwirksame Initiative, um an der Unteren Donaustraße, gegenüber der Urania, das einen ganzen Häuserblock umfassende Projekt für ein Hauptquartier zu entwickeln. Für Wien einzigartig ist dieser zentrumsnahe Abschnitt des Donaukanals deshalb, weil das durch seinen harten Uferausbau unerreichbare, oft nicht einmal einsehbare Gewässer eine große Distanz zur Häuserzeile gegenüber bedingt. Am Kanal weitet sich Wien ein seltenes Mal zu metropolitanem Charakter: Dichte und Distanz sind gleichzeitig spürbar. Auch wenn stadtinnere und -äußere Bebauung voneinander abrücken, sie sind durch den stark gekrümmten Verlauf des Kanals als Positiv und Negativ in eine Formbeziehung gestellt.

Gleichsam wie ein Gebiß greifen die beiden als Wirkungseinheit ineinander: der tiefliegende „Mund“ des Kanals, flankiert von zwei „Zahnreihen“. Der „Oberkiefer“, an der Seite des ersten Bezirks, ist bis heute kompakt besetzt; die „Zähne“ sind die „eigenen“ und großteils noch gesund. Am „Unterkiefer“ gegenüber mußte schon längst Ersatz geleistet werden: Das al-te Bundesländer-Haus markiert den Beginn einer Ära, in der die „Zähne“ nicht mehr zum Beißen im Grätzl, sondern zum Goldblinken in der Republik angesagt waren.

M ehrere von „Großambulatorien“ schwach gearbeitete „Repräsentationskronen“ entwerteten zuletzt den „Unterkiefer“.
Die Fachwelt war immer für eine „Zahnregulierung“ engagiert. Jetzt ist man offenbar auch bei den Bauherren so weit, zu erkennen: Das „Stadtgebiß“ hat grundsätzlich Qualität, der die Architekturzähne genügen müssen. Die Uniqa hat die entwerferische Herausforderung angenommen. Sie ist in der Überlagerung zweier Maßstäbe am Bauplatz zu sehen: einerseits die Weiträumigkeit mit Blickbezügen, andererseits die Eigenart des traditionell jüdisch geprägten Viertels dahinter - Grobstruktur versus Feinmaschigkeit. Gesucht ist daher ein architektonisches Unikat von Verwaltungsbau mit 30.000 Quadratmeter Nutzfläche, das als städtebauliches Zeichen in die Ferne wirkt, gleichzeitig den sensiblen Ort bewußt macht und öffnet.

Um den Ansprüchen zu genügen, wird ein prominent besetztes Gutachterverfahren gestartet, dessen erstes Ergebnis nun vorliegt. Der in Paris lebende Österreicher Dietmar Feichtinger wurde mit geringem Bewertungsunterschied vor dem Wiener Büro Neumann & Partner gereiht; beide sind in einer ursprünglich nicht vorgesehenen zweiten Stufe aufgefordert, ihre Projekte für die endgültige Entscheidung zu überarbeiten. Gustav Peichl und Wilhelm Holzbauer sind deutlich drittgereiht. D er essentielle Beitrag von Helmut Richter wurde hinter dem Totschlagetikett „High Tech“ nicht erkannt.

Die Knappheit der Reihung zwischen Feichtinger und Neumann kann nicht über die grundsätzliche Unvereinbarkeit ihrer Ansätze im Städtebaulichen hinwegtäuschen. Im Innenfunktional-Wirtschaftlichen können beide Projekte oh-
ne Konzeptversagen verbessert werden; also steht letztlich eine interessante Grundsatzentscheidung der „Urbanimplantologie“ an: Wie müssen „Stadtkronen“ beschaffen sein?

Feichtinger bezieht gleich das ganze Projektgebiet in seinen Entwurf ein, Neumann konzentriert dagegen am westlichsten Bauplatz alle Nutzflächen zu einer deshalb mächtigen und zudem in Anlehnung an den Kreisknoten des Uniqa-Logos expressiv aufgelösten Baumasse. Auch Feichtinger akzentuiert naturgemäß das Eck - nach Fachbeiratsempfehlung in der Stubenring-Achse gelegen und maximal 75 Meter hoch -, aber er entwickelt es schlüssig, durch leichte Faltungen der Fassade durchaus differenziert aus dem Blockrand am Kai. Sein Entwurf versteht sich daher als das Stadtgefüge steigernd, den eingeübten Stadtgebrauch vertiefend. Neumann setzt dagegen auf einen solitären Kontrapunkt zur alten Stadt, sowohl in der deftigen Fern- wie auch irritierenden Nahwirkung der Schrägen. Neumanns Engagement liegt im alles versammelnden, Eigenart beschwörenden Kraftakt zeitgeistiger Form, Feichtinger spekuliert mit feineren architektonischen Mitteln auf den gezielteren zweiten Blick.

Die Wunde ist geöffnet, der Patient hoch gespannt.

26. Februar 2000 Spectrum

Zwei Seiten Bekenntnislosigkeit

Architektur muß sich dem schnellen Tagesgang der Dinge entziehen können, sie braucht langsame Reifung. Und nirgends in Europa entfaltet sich Baukultur ganz ohne staatliche Unterstützung, auch in Österreich nicht. Eine Aufforderung zum kulturpolitischen Tempowechsel.

Die Zeiten sind kaum geeignet, um für Kontinuitäten zu argumentieren. Wenden sind angesagt, Paradigmenwechsel unerläßlich, Konzeptfragen endlich an der Tagesordnung. Die Aussicht auf Fundamentalreformen im österreichischen Gemeinwesen beflügelt, die Ausweglosigkeit der innenpolitischen Selbstfesselung beklemmt. Immerhin: Die politische Übergangsphase zum Staat nach besten europäischen Maßstäben, auf die Österreich seit Jahren ängstlich zusteuert, hat offenbar wirklich eingesetzt. Ein Zurück in die Selbstgefälligkeitsdemokratie der letzten Jahrzehnte ist ausgeschlossen.
Aus der Perspektive von Künstlern und Kulturschaffenden stehen jetzt Grundsatzfragen zur Freiheit der Kunst im Vordergrund. Aber die direkten Existenzfragen von Architektur und Baukultur stehen ebenso unbeantwortet da, wenn auch momentan im Hintergrund.

Sie sind der jetzigen Regierung mit Nachdruck vorzulegen, würden aber auch jede andere zu einer eindeutigen Abkehr vom Gewohnten zwingen. Die österreichische Architekturszene sieht sich nach einer langen Phase der Unzufriedenheit mit den „üblichen Zuständen“ in erhöhter Unsicherheit. Wird Baukunst verstärkt von der Regierung unterstützt, aber gleichzeitig ideologisch in den Dienst genommen? Oder zieht sich der Bund zunehmend aus dem öffentlichen Baugeschehen zurück und überläßt seine ureigenen Bauaufgaben den Marktmechanismen? Muß sich eine Bundesregierung, die einem solchen Szenario der Deregulierung folgt, überhaupt noch der Baukunstproduktion fördernd widmen, oder genügen generell stimulierende, etwa steuerlich vorteilhafte Rahmenbedingungen?

Sind die lange Nichtexistenz eines Bundesbautenressorts und die Auslagerung der Bundesbauvorbereitung in den privatwirtschaftlichen Sektor (BIG) ohne gleichzeitige Sicherstellung einer manifestartigen baukulturellen Programmatik nicht signifikante Hinweise auf die zumindest von den drei größten politischen Parteien bereits vor vielen Jahren still akzeptierte Entlassung der Architektur aus der Bundespolitik?

Die bedrängenden Umstände gebieten es, präziser zur Sache zu kommen, politische Ursachen und Wirkungen auf dem Feld der Architektur zu benennen, um bereits eingenommene Haltungen oder noch beziehbare Positionen deutlicher zu machen: Es hat in Österreich in den letzten Jahrzehnten keine politische Programmatik zur
Architekturproduktion gegeben, die von Gebietskörperschaften und deren Legislativorganen ausgegangen wäre. Weder gibt es ein vom Nationalrat beschlossenes Baukulturförderungsgesetz noch in irgendeinem Bundesland eine konzeptiv langfristig abgesicherte Architekturstrategie. Immerhin muten sich manche Länder in Zusammenhang mit den Raumordnungsgesetzen, mit den Bauordnungen, dem Natur- und Landschaftsschutz et cetera im Sinne verbesserter Ortsverträglichkeit regulierende Eingriffe in das Baugeschehen zu. Einige Kommunen versuchen durch Fachbeiräte die Baukultur in ihrem lokalen Wirkungsbereich zu heben.

Wann immer in Österreich architektonische Phänomene gehäuft wahrzunehmen sind - die Ursache ist in persönlichem und nicht in institutionellem Engagement zu erkennen. Letzteres ist bestenfalls nach erkennbarem Erfolg ersterem zu Hilfe gekommen oder gelegentlich auch in den Rücken gefallen. Vorarlberg, das heute vielbewunderte Musterland heimischer Baukultur, schöpft seine international unstreitige Qualitätsdichte aus einer jahrzehntelang betriebenen Reform von unten. Nicht ein Partei- oder ein Regierungsbeschluß, sondern das beharrliche Zusammenwirken von Bauherren, Planern, Baukünstlern, Beamten und Politikern an konkreten Projekten hat sukzessive das produktive Klima geschaffen, dessen man sich nun auch offiziell rühmt.

Die zwei Jahrzehnte ihres Architekturfrühlings verdankt die Steiermark dem politischen Gespür, der persönlichen Interessenlage von Josef Krainer und einer gerade aufbruchbereiten Generation von Architekten; mit dem Übergang der Verantwortung für das Baugeschehen an andere Personen und Parteien ging dieser global spürbare Frühling abrupt in einen nur mehr steirischen Herbst über.

Das Wiener Schulbauprogramm der neunziger Jahre war eine vielbeachtete architektonische Aufwertungsinitiative von Hannes Swoboda, die endlich die baukulturelle Tradition des „Roten Wien“ wiederaufzunehmen schien. Nach seinem Weggang wurde das Programm, so wie es ohne öffentliche Diskussion oder gar medialen Druck entstanden war, auch ohne politische Kontroverse in aller Stille entsorgt.

Selbst die mit höchstem Elan und sichtbaren Bauerfolgen vorgetragene Salzburger Architekturreform unter Johannes Voggenhuber reduzierte sich in der engmaschigen Normalität der Provinzkultur auf die Verwaltung eines touristisch gut vermarktbaren Bildes.

Die einzige wirklich politisch motivierte Bauaufgabe der letzten Zeit, das Regierungsviertel in St. Pölten, ist architektonisch und städtebaulich gescheitert.

O ffensichtlich daran, daß der Bauherr keine klare Stellung zur Frage genommen hat, ob ein Landhaus am Rand einer Stadt oder eine neue Hauptstadt aus einer bestehenden Struktur zu entwickeln wäre. Spitzenpolitiker haben verlernt, sich der Architektur als eines legitimen, sogar unverzichtbaren Mittels der Politik zu bedienen. Wird jetzt alles schlagartig besser? - Die Geschäftsgrundlage der FPÖVP- Regierung läßt diesen Schluß nicht zu. Selbst an der prekären Sonderlage der Republik gemessen, ist der Text der Regierungsvereinbarung „Österreich neu regieren“ für Belange der Kunst und Kultur zu generell und unengagiert. Sie tangiert auf 125 Seiten alle Sektoren der Regierungsverantwortung, wobei die Schwergewichte erwartungsgemäß in Feldern wie Europa, Soziales und Wirtschaft liegen. Nur zwei (!) Seiten sind der „Kultur und Kunst“ gewidmet, obwohl Österreich kaum etwas mehr mangelt als Kultur in der Politik, in der Bildung, im Umgang mit Kunst und Künstlern.

Not tut folglich vorerst eine glaubhafte Einschätzung der Realien dieser Republik. Wenn aber auf Seite 99 des Programms steht: „Kultur und Kunst haben in Österreich ei-nen überdurchschnittlich hohen Stellenwert“, dann ist das schon generell ein schönendes Wunschbild eines Binnenbetrachters. Auf Architektur und Baukultur bezogen ist die Einschätzung, daß im wesentlichen alles zum besten stünde, jedenfalls unhaltbar, vor allem wenn vorbildliche europäische Phänomene als Maß dienen.

Das „Weißbuch zur Reform der Kulturpolitik in Österreich“, 1999 herausgegeben von der Kunstsektion des Bundeskanzleramtes, von einer großen Zahl von Fachleuten betreut, sagt dagegen zum Status quo: „Die alltägliche Baukultur ist von einem besinnungslosen Pragmatismus geprägt, von Antimodernismus, Historizität, Behübschungen und Diensten am Tourismus.“

Und weiter zum Verhältnis von öffentlichen Bauten und Ge- genwartsarchitektur: „Die Re- publik Österreich als Bauherr hat sich nur in wenigen Fällen einer baukulturellen Verantwortung gestellt. Es mangelt seit jeher an einem klaren öffentlichen Bekenntnis der Politik zur zeitgenössischen Baukultur ebenso wie an einem klaren Leitbild. Die architekturhistorische Qualität von Bauten, die vom Bund finanziell getragen oder unterstützt werden, ist daher gering. Wettbewerbsergebnisse werden in der Verwirklichung marginalisiert und erfolgreiche Bauten in der Öffentlichkeit kaum kommuniziert.“

Die Absicht des Regierungsprogramms: „Diesen Stellenwert gilt es zu erhalten, auszubauen und für die Zukunft zu sichern“ wirkt bedrohlich. Und die handlungsbezogenen Aussagen sind trivial: „Die Freiheit der Kunst ist das tragende Prinzip der Kunstförderung und Kulturpolitik. Der Staat hat dabei seine Tätigkeit auf die Schaffung von stimulierenden Rahmenbedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten für Künstlerinnen und Künstler zu konzentrieren.“ Nicht mehr überraschend ist dann die Knappheit der Maßnahmen: „Im Wohnbau und im öffentlichen Bau sollen baukünstlerische Schwerpunkte gesetzt werden. Vordringlich sind dabei Begleitmaßnahmen in der Stadtplanung, in der Architekturforschung und im Architekturmarketing sowie die konsequente Sicherung von Nachlässen österreichischer Architekten und deren Dokumentation.“ Jeder dieser Punkte ist wichtig. Viel wichtiger, weil wirklicher Beweis der Ernsthaftigkeit dieser Ankündigungen, wäre aber, endlich erstmals eine nationale Anstrengung in Sachen Baukultur einzuleiten und dazu ein Bekenntnis samt Zeit- und Budgetplan abzulegen.

I m Herbst hatte Kanzler Klima noch einen Anlauf zu einer fachlich fundierten Charta der Bundesarchitekturpolitik genommen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse interessieren nun offenbar nicht mehr.

Der Schlüssel zu einer wirksamen Architekturpolitik liegt im kontinuierlichen Lobbying für Verzögerungseffekte gegenüber der Eigengesetzlichkeit von Wirtschaft, Technik et cetera, die erst den Freiraum für die sich langsamer konkretisierende Architektur öffnen. Die Niederlande (seit 1992) und Finnland (seit 1998) führen vor, wie die architektonische Dimension der Kultur, wie die kulturelle Bedeutung des Raumes urbar zu machen ist. Dort ist Architektur ein anerkanntes politisches Instrument, weil sie Probleme aus der tagespolitischen Raserei herausführt, in ihren Tempi löst - und dabei meist schneller ist als die Raser.

15. Januar 2000 Spectrum

Alzheimer im Kollektiv

Städte existieren nicht zuletzt durch kollektive Erinnerung. Bei deren Überlieferung verschwindet Altes permanent hinter Neuem, Identität ist gefährdet. Wien leidet unter Symptomen progressiver Raumvergeßlichkeit: eine stadtneurologische Diagnose.

Einmal gesetzt den Fall: Wien wäre eine weitreichende, wieder expandierende Stadt, Wien wäre also kein überblickbares, konzentrisches, Siedlungsgebilde mehr, sondern zu einer pulsierenden, in Großteilen unübersichtlichen, mancherorts sich anarchisch in die Region ausbreitenden Agglomeration im westeuropäischen Maßstab geworden.

Was würde ein solches hypothetisches, von manchem ersehntes radikalisiertes Wien noch mit dem heutigen verbinden? Was wären räumliche Kernbestände an Stadtidentität, die auch und gerade in einem solchen Stadtentwicklungsszenario mit höchster Dynamik unverzichtbar wären?

Wer wäre überhaupt aufgerufen, diese Identitätsreliquien zu deklarieren und sich für sie einzusetzen? Offenbar alle Bürger, unterstützt und angefeuert von wenigen Fachleuten, in einer öffentlich ausgetragenen Diskussion sich des Unverzichtbaren vergewissernd. Denn die Vorstellung von einer Stadt ist nur tragfähig, wenn sie Allgemeingut ist. Stadtidentität unterliegt der grundsätzlichen Kompetenz ihrer Bewohner. Stadtplanung kann die Rahmenbedingungen der Identitätsentwicklung setzen, vollzogen wird sie in den Köpfen der Bürger, in Schlüsselelementen präzisiert von Architekten.

Aldo Rossi, zu früh verstorben, als Architekt und Designer wie als Theoretiker und Lehrer einflußreich, hat sich mit den Entstehungsbedingungen der Stadt auseinandergesetzt und dabei „Architektur als städtebauliches Phänomen“ aufgefaßt, umgekehrt die Stadt schlechthin als Architektur verstanden, um sie einer kritischen Analyse zu unterziehen: „Kompositionsprinzipien und der Stil einer Architektur, wenn sie der Ausdruck für die politische und Kulturgeschichte einer Zeit sind, spielen auch für den Städtebau eine Rolle. Nur deshalb können wir von einer gotischen, einer barocken oder klassizistischen Stadt sprechen.“ Er geht in seiner 1973 auf deutsch erschienenen Schrift „Die Architektur der Stadt - Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen“, aus der diese Zitate stammen, davon aus, daß Stadt aus einer architektonischen Haltung, einem „Stil“, ableitbar ist, der „auf rationalen und daher lehrbaren Prinzipien“ beruht.
Rossi sah zwar die Gefahr, daß derart entstehende städtebauliche Phänomene zu „ästhetizistischen“ Lösungen verkommen, wenn sie „nicht den konkreten Gegebenheiten einer Stadtsituation“ entsprechen. Aber andererseits war er - zeitbedingt verständlich, aber deswegen heute nicht weniger relevant - von der begrenzten Leistungsfähigkeit technokratischer Stadtplanung überzeugt: „Denn bei der Stadtplanung im modernen Sinn versucht man eine homogene, koordinierte, zusammenhängende Umgebung zu schaffen, deren Gesetze, Motive und Ordnungsprinzipien sich nicht aus der historisch gewordenen Realität der bestehenden Stadt ergeben, sondern einen Plan dessen darstellen, wie die Stadt sein soll.“

A ldo Rossi weiter: „Derartige Stadtplanungsprinzipien mögen allenfalls angehen, wenn es sich um einen Stadtausschnitt, einen zusammenhängenden Gebäudekomplex handelt. Auf eine ganze Stadt angewandt führen sie zu keinem positiven Ergebnis, sondern zerstören häufig eine vorhandene Ordnung und damit die Kontinuität der Stadtgestalt.“

Bei aller Vorsicht, die die seit der Mitte der sechziger Jahre, als die Schrift entstand, eingetretenen Erkenntnisgewinne über stadtplanerische Methodik einbezieht, wird hier die Rossi folgende These vertreten, daß - zumindest in Wien - ein spezifisches Defizit an architektonischem, somit städtebaulichem Gedächtnis besteht. Sektorale Gedächtnisse der Gesellschaft sind derzeit ein haussierendes Desideratum in den Kulturwissenschaften, in Städtebau und Stadtforschung sind sie es noch nicht, obwohl längst vonnöten. Der warnende Verweis auf die Geschichte der Stadtarchitektur, auf die konkreten Entstehungsbedingungen von Stadt und Stadtteilen, ist nicht als Argument für einen historisierenden Umgang damit zu verstehen, als Akt ängstlicher Beharrung, der beschädigte Jahresringe städtischen Wachstums rekonstruiert wissen will. Vielmehr sollen radikalere Eingriffe in den Stadtkörper im Sinne der Kontinuität präziser argumentierbar werden.

Stadtplanung, also die Wahrung öffentlicher Interessen an der Stadt in Relation zu berechtigten privaten Anliegen, kann naturgemäß nicht zur Denkmalpflege verkürzt werden, sie darf rechtliche Normen und wirtschaftliches Kalkül nicht außer acht lassen, sie ist Ableitung aus einem politischen Konzept zu Raum und Gesellschaft, aber sie darf sich dabei nicht im Vertrauen auf das Neue der Geschichte entziehen. Letztere ist oft mühsamer wissenschaftlich zu verifizieren und baukünstlerisch zu würdigen, als sich von Stararchitekten den Flair der weiten Welt kurzschlüssig aufoktroyieren zu lassen. Ohne kritische, morphologisch-typologische Analyse der Stadtarchitektur, bleiben die übrigen eingeübten Felder heutiger Stadtplanung Fragment und Hindernis bei der Wahrung der Kontinuität der Stadtentwicklung.

Rossi hielt wegen der „Geschichtsträchtigkeit der Stadt die historische Methode für besonders geeignet, um jede Hypothese über sie zu prüfen“. Er sah zwei produktive Betrachtungsebenen von Stadt, mit der die Kontinuität als entscheidendes Merkmal der Stadtentwicklung entschlüsselbar ist: einerseits die materielle Ebene der Bauten, die von Fachdisziplinen wie Archäologie und Stadtbaugeschichte dokumentiert wird, andererseits die ideelle Ebene der Stadtvorstellungen, die durch „Kollektivimagination“ weitergetragen werden. Seine Darlegung gipfelt in der Gewißheit, daß „es eine Stadtidee von Athen, Rom, Konstantinopel oder Paris gibt, die mehr ist als eine physische Gestalt oder die historische Permanenz“.

S tadtideen wurzeln im Kollektivgedächtnis ihrer Bewohner; Rossi zitiert dazu Maurice Halbwachs: „Eine Gruppe, die in einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleichzeitig aber beugt sie sich und paßt sich denjenigen materiellen Dingen an, die ihr Widerstand leisten. Sie schließt sich in den Rahmen ein, den sie aufgestellt hat. Das Bild des äußeren Milieus und der dauerhaften Beziehungen, die sie mit ihm unterhält, tritt in den Vordergrund der Vorstellung, die sie sich von sich selber macht.“

Diese Selbstbezüglichkeit des fortwährenden Stadtumbaus ist also an die Permanenz der mentalen Stadterneuerung gebunden. Der Bewohner muß und will wissen, was an der Stadt, die er schätzt, gut und behaltenswert ist, was die Qualitäten seines Lebensraums ausmacht und wo er für den unverzichtbaren Weiterbau der Stadt anknüpfen kann. Dieses kollektive Wissen über die Stadtstruktur, die per se „kollektiver Natur“ ist, also eine hinreichende Kenntnis der generellen Stadtidee, tradiert sich nicht von selbst. So wie man nicht davon ausgehen kann, daß die mündliche Überlieferung von Alltagsgeschichten eine offiziöse Geschichtsschreibung ersetzt, sondern nur die wissenschaftliche und persönliche Erschließung aus entgegengesetzter Richtung eine gesicherte Einsicht über historische Vorgänge zuläßt, so ist Gewißheit über Stadtbaugeschichte als Vorbedingung zur gelebten Stadtidee auf Forschung angewiesen.

Niemand wird in Wien noch den Rang der Ringstraße als unverzichtbare Stadtfigur bezweifeln. Ein beispielhaftes Opus magnum österreichischer Architekturhistoriographie unterlegt die mittlerweile populäre und damit andererseits auch wieder gefährliche Einschätzung, daß der Ring unantastbar ist. Wer alles behalten will, muß vieles ändern. Schon beim Gürtel, im Wiental, am Karlsplatz, am Donaukanal, also entlang der von Otto Wagner mit einer exemplarischen Planung verwirklichten Stadtbahn ist die Stadtidee diffus. Hermann Czech vermutet 1963: „Noch ein Jahrzehnt - dann wird die gesamte öffentliche Meinung hinter diesen Bauten stehen . . . Dann wird die Stadtbahn geschätzt werden als das, was sie ist: neben der Ringstraße die bedeutendste städtebauliche Leistung Wiens.“ Ende der neunziger Jahre ist klar: Diese Einschätzung ist nicht Allgemeingut geworden, oder vielmehr hat die nicht allein baulich lösbare Doppelnatur des Gürtels als Boulevard und als Stadtautobahn positive Bewertungen verdrängt.

Angesichts von situationistisch anmutenden, den Gürtel als klar geregelten Raumtyp befremdenden Vorhaben wie der Überdachung des Urban-Loritz-Platzes und der Errichtung der Hauptbibliothek ist mit Besorgnis zu diagnostizieren, daß das Kollektivgedächntis - zumindest zum Stadtbahnsystem und den begleitenden Räumen - von einer infektiösen, also epidemisch auftretenden Spielart des Morbus Alzheimer, der schleichenden Stadtvergeßlichkeit betroffen ist. Auch wenn Leopold Redl in einer 1988 begonnenen, nicht mehr vollendeten, gerade nun aktuellen Studie „Elemente der Stadt - Leitbild Wien“ feststellt: „Eine gültige Vision zur Stadt gibt es nicht . . . vielmehr vielfältige Strömungen die gleichzeitig bestehen: Moderne, Postmoderne, Rationalisten . . . die Stadt als Erlebnisraum, die segmentierte Stadt, die Stadt als Versorgungsmaschine, die Stadt als Erinnerung . . .“ - zumindest Teilstadtideen sind unverzichtbar und auch mit realistischem Aufwand zu generieren. Stadtsegmente hoher architektonischer Aufmerksamkeit wären zu definieren, zu untersuchen und die Erkenntnisse in die permanent praktizierte Stadtidee aufzunehmen.

Der Ernstfall ist gesetzt: Wien expandiert, der Gürtel ist spontan wichtig, aber keiner kennt ihn. Muß er erst eintreten?

6. November 1999 Spectrum

Licht aus der Laterna Magica

Jahrtausendelang waren Bauwerke nur Reflektoren und Masken der Helligkeit, seit der Elektrifizierung können sie auch Quellen sein. Keith Sonnier, dem das Kunsthaus Bregenz eine Retrospektive widmet, bringt Raum solcherart zu artifiziellem Leuchten.

Die Säulen waren bislang nur zum Stützen da. Der Eisenbau braucht weniger Stützen als der Backsteinbau; die meisten Stützen sind im Glashause überflüssig. Um nun die Säulen noch leichter zu machen, kann man sie mit Lichtkörpern hinter voller Glasumrahmung ausstatten, dann machen diese Lichtsäulen nicht nur den Eindruck des Stützenden, und die Architektur wirkt viel freier – so als trüge sie alles von selbst; die Glasarchitektur wird etwas Schwebendes bekommen durch diese Lichtsäulen.“

Die Sehnsucht, daß sich das Bauwerk von der Erdscheibe löse, motiviert neben dem Drang nach „Licht, Luft und Sonne“ die wichtigste Strömung der Architektur des 20.Jahrhunderts: die Moderne. Das Schwebende “eines aufgelösten, tageslichtdurchfluteten und vor allem künstlich beleuchteten Baus, das Paul Scheerbart 1914 in seiner visionären Schrift „Glasarchitektur“ meint, hat Architekten beflügelt, seit um 1880 Thomas Alva Edison das System der Elektrizität vom Generator bis zur Glühbirne praxistauglich machte.

Der Weg von der perforierten Steinwand im dauernd wechselnden Auflicht der Sonne zum Glasvorhang mit permanentem, weil künstlichem Durchlicht war lang und ist noch nicht abgeschlossen. Nach Jahrtausenden eines sorgfältig tradierten Selbstverständnisses der Architektur, sie bestehe aus massiven künstlichen Körpern, die dem menschlichen analog zu verstehen seien und kein Innen, sondern primär ein Außen darzustellen hätten, löste die neue Technik einen baukünstlerischen Ideenschub aus. Freilich hatte nicht jeder Zeitgenosse der elektrischen Revolution gleich deren Sprengkraft für die Architekturpraxis und –theorie erkannt. Scheerbarts schwärmende Beschreibung der „Glasarchitektur“ überrascht deswegen, weil sie eben nicht aus dem Kreis der Architekturschaffenden kam. Auch die Bauhaus-Architekten konnten noch keine totale Lichtarchitektur sehen, am ehesten die malenden Architekten der „Gläsernen Kette “.

Bemerkenswert ist, daß in einer der wirkungsreichsten Schriften der aufkeimenden Moderne, Le Corbusiers „Vers une architecture“ von 1922, die Chancen des elektrischen Lichts nicht gewürdigt werden. Legenär Le Corbusiers in der Anschauung klassischer antiker Architektur wurzelnde Ansage: „Architektur ist das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper. Unsere Augen sind geschaffen, die Formen unter dem Licht zu sehen: Lichter und Schatten enthüllen die Formen; die Würfel, Kegel, Kugeln, Zylinder oder die Pyramiden sind die großen primären Formen, die das Licht klar offenbart; ihr Bild erscheint uns rein und greifbar, eindeutig. Deshalb sind sie schöne Formen, die allerschönsten. “Licht ist hier der Sonne gleichgesetzt, die geometrischen Körper lassen den gleißenden Marmor griechischer Tempel assoziieren. Die Architektur Le Corbusiers hat bei Nacht kaum externe Ambitionen. Wie Reyner Banham schon 1967 ausführte:„Le Corbusier sah Körper im Licht, Scheerbart sah Körper aus Licht.“

Der Mythos der Schrift Le Corbusiers als Quelle eines neuen Bauens beruht trotz er Auslassung der Beleuchtungsfrage sehr wohl auf der Antizipation avancierter technischer Errungenschaften seiner Zeit: Schiffe, Flugzeuge und Automobile dienen als Argumentationshilfe für die kommende Architektur. Adolf Max Vogt hat uns 1989 den Begriff des „Schwebesynroms“ geschenkt, um die verbindende Eigentümlichkeit dieser Verkehrsmittel, den Ansatz Le Corbusiers und einer Fülle von Leitprojekten der Moderne (von Tatlins „Denkmal für die 3.Internationale“ bis zur Frank Lloyd Wrights „FallingWater “) knappest zu benennen: das Negieren der bis anhin geltenden Gesetzmäßigkeiten der optischen Statik, der paradoxen Überführung der Begriffe der noch klassizistischen Tektonik (Tragen und Lasten) in jene der damals modernistischen Atektonik (Abheben und Schweben).

Aus heutiger Sicht sind sowohl Le Corbusier als auch Paul Scheerbart vom „Schwebesynrom “befallen; der Dichter bedient sich freilich schon früher der räumlich stärksten Waffe, um das Schweben seiner imaginierten Bauten zu induzieren; der Agitator und Architekt beschränkt sich in seinen Entwürfen auf einige wenige Darstellungen illuminierbarer Entwürfe – gebaut hat er letztlich immer brillante „Primärformen im Licht“. Dabei läge im tages- oder jahreszeitlichen Wechsel zu architektonischen Sekundärformen eine eminente räumliche Option. Bauten aus Licht könnten feinnerviger auf ihren internen Betriebszustand reagieren, sie könnten die primäre Form verstärken oder neutralisieren, den Körpern verstärkte Zeichenhaftigkeit und Bedeutsamkeit zukommen lassen oder sie sogar im Leuchtfeld der Umgebung zum Verschwinden bringen. Die Aufrüstung des Bauwerks zum Kommunikationsinstrument im Maßstab des Stadtraums, zum Informationsvermittler in der Landschaft wäre ein vorstellbares Maximum einer Anreicherung von Architektur mit Leuchtelementen. Architektonischer Ansatz wäre stets, das Licht vom Körper zu lösen und damit den Raum zu erfüllen, den Körper aufzulösen.

Die Rarität von solch diaphanen Architekturen verwundert heute, weil die Machbarkeit jetzt durch die Lichttechnik gegeben wäre und manche Bauaufgabe mit Durchlicht besser zu lösen wäre als mit Auflicht. Toyo Itos „Turm der Winde“, ein meteorologisches Instrument im Stadtmaßstab, ist in Erinnerung oder Jean Nouvels nicht realisiertes Projekt für einen „Tour sans fin“ in Paris. Eine integrale Lichtarchitektur ist gegenwärtig weltweit weder als Einzelbau noch als generelle Tendenz zu erkennen; den Architekten mangelt es angesichts der rigiden Usancen im globalen Generalplanungsgeschäft offenbar an Mut, den Bauherrn am grundsätzlichen Wunsch nach Erleuchtung. So sind es nicht erst jetzt Künstler wie etwa Dan Flavin, James Turrell, Maurizio Nannucci, Bruce Nauman oder Keith Sonnier, die der Faszinationddes „Materials Licht “ im Raum erliegen und mit ihren Arbeiten im musealen oder architektonischen Kontext, die Grenzen der Kunstdisziplinen verschieben, sicherlich jene der Architektur implizit erweitern.

Die Retrospektive zu Keith Sonniers „Environmental Works 1968 –99“ im Bregenzer Kunsthaus setzt nicht nur im Stadtraum variable Lichtzeichen, sie sollte der Architektur Denkanstöße zur gesteigerten Sinnlichkeit, zur intensiveren Involvierung des Betrachters, zur differenzierteren Wahl der Mittel, zu einer höheren Nutzbarkeit geben. Sonnier, 1941 in Louisiana geboren, begann Ende er sechziger Jahre die Grenzen der Bilhauerei in Richtung unorthodoxe Materialien, Einbindung von Elektronik, Erweitung des Werkbegriffs zum Prozeßhaften auszuloten. Sein Beitrag zur postminimalistischen Skulptur ist bereits Teil der Kunstgeschichte, sein Ruf als Künstler mit vielfältigen kontinuierlichen Schaffenssträngen ist weltweit gefestigt.

Hohe Bekanntheit in der Kunstwelt genießen seine Installationen mit Neonlicht, von denen drei schon früher gezeigte im Kunsthaus neuerlich zu sehen sind. Gerade die beiden hier versammelten Werke aus der „Ba-O-Ba “-Serie, bestehend aus auf dem Boden locker geschichteten, rechteckigen Schaumstoffplatten oder an den Zumthorschen Kathedralbeton gelehnten Glaskreisen – beide gerahmt von farbigen Neonpolygonen – ,verdeutlichen gewissermaßen den Aufbruch des dreidimensionalen Wandbildes in den Raum. Der daneben präsentierte „Kiosk II“,ein grob in Aluminiumstrangprofilen gefügter Raumteiler ohne letztlich dem Titel entsprechenden Nutzwert, aber bestimmt von beeindruckender Neonbalkenregie und stofflicher Präsenz, belegt schließlich, daß Sonnier nicht nur grenzgehender Bildhauer, sondern auch mit feinen Nuancen dilettierender Architekt ist.

Den Beweis seiner räumlichen Kompetenz führt Sonnier am eindrücklichsten mit seinen Projekten im öffentlichen Raum, etwa mit dem 1000 Meter langen Lichtweg auf dem Flughafen München, einer Farblichtsequenz für einen hochbelasteten Passagenraum, oder der nun an der Glasfassade des Kunsthauses gezeigten Arbeit „Millennium 2000 “,in der Welt- und Ortszeit in wechselnden Zahlencodes fernwirksam abgebildet werden. Der stille Glaskörper Zumthors gewinnt so nächtliche Brisanz und Dynamik, der Ort noch mehr Bedeutung.

Nicht auszudenken, wäre Sonnier früher an einen Architekten dieses Kalibers gelangt oder hätte er gar die Chance gehabt, einen so originären architektonischen Entwurfsprozeß von Anfang an zu begleiten. So steht die Laterna magica der architektonischen Moderne noch in Bregenz. Sie wäre bei Leuchtbedarf noch jederzeit abzuholen.

[ Die Keith Sonnier gewidmete Retrospektive „Environmental Works 1968 –99 “ist noch bis 28.November im Kunsthaus Bregenz zu sehen. ]

11. September 1999 Spectrum

Der diskret ernüchterte Luxus

Das Einfamilienhaus kann nicht länger als höchste Steigerungsform kultivierten Wohnens mit Grünbezug gelten. Roland Gnaiger und Udo Mössler verbinden bei ihrem Atriumhaus in Dornbirn minimalen Baulandverbrauch mit maximalem Wohnwert.

Nachdem ein heiterer, mutiger, zweckmäßiger und gesunder Ort gefunden ist, mache man sich an seine elegante und zweckmäßige Aufteilung. Zwei Arten von Gebäuden sind bei der Villa notwendig: eines zur Wohnung für den Herrn und seine Familie und das andere zur Verwaltung und Bewachung der Eingänge und Tiere der Villa. Deshalb muß man die Anlage so aufteilen, daß beide Funktionen einander nicht im Wege stehen.“ Die planerische Richtschnur für das feudale Landhaus, die der Vicentiner Architekt Andrea Palladio 1570 in seinem folgenreichen Traktat „Die Vier Bücher zur Architektur“nahelegt, reflektiert die seinerzeitige gesellschaftliche Ordnung.

Die Villa ist für Palladio ein funktional weit ausdifferenzierter Komplex auf dem Lande. Die vorindustrielle Wirtschaftsweise verknüpft sich in seinen Landvillen mit feiner Wohnkultur; im Stadtpalast verräumlicht sich dagegen die urbane Lebensart. Mit der Industrialisierung rücken Stadt und Land zusammen, die Werkshallen lösen die Ställe und Felder als Orte der Wertschöpfung ab, aber die noblen Wohnstätten bleiben in deren Nähe. Die Fabrikanten treten als Bauherrn an die Stelle des Adels. Ihre Villen sind fabriks- und stadtnahe situiert, sie umgeben sich nicht mehr mit ausufernden Landwirtschaften, sondern mit Landschaftsgärten.

Im Dornbirner Stadtteil Oberdorf sind einige Musterexemplare dieser Fabrikantenarchitekturen samt zugehörigen Gärten erhalten. Sie sind Beleg der im letzten Viertel des Jahrhunderts beginnenden Industrialisierung einer Dorfgruppe, die Dornbirn letztlich zum Vorarlberger Textilzentrum machte. Die vom verfeinerten Lebensstil und den polyglotten Bezügen der Dornbirner Industriellen in der Gründerzeit zeugenden Villen stehen heute freilich auch nicht mehr für aktuelle Lebensstile.

Von Dienerschaft betreute großbürgerliche Familien sind längst verstreuten Kleinfamilien gewichen. Gegenlaufend zu den Konzentrationsprozessen in der Industrie, wird die soziale Struktur immer feinkörniger. Die sich daher auf hochpreisigem Bauland und in hochattraktiven Grünräumen wie im Dornbirner Cottage stellenden Wohnbauaufgaben führen zwar richtigerweise das städtebauliche Thema der Villa weiter, aber nicht den tradierten Bautyp.

Die innere Logik einer heutigen Stadtvilla ergibt sich aus zu denen der palladianischen Land- oder der gründerzeitlichen Fabrikantenvilla konträren funktionalen Voraussetzungen: Angemessenheit, Praktikabilität und Anonymität gehen vor Einzigartigkeit, Repräsentation und Signifikanz. Selbst für Bauherrn, die sich ein Einfamilienhaus am Stadtrand leisten könnten, ist neu geschaffener Wohnraum dieser Art auch im Geschoß attraktiv. Roland Gnaiger und Udo Mössler verwirklichen mit ihrem Atriumhaus an der Ecke Rosenstraße und Wingatstraße genau solche Ansprüche. Ihr aus einem Wettbewerb siegreich hervorgegangener Entwurf kann als architektonisch innovativer Beitrag zum Thema noblen urbanen Wohnens gelten, weil er einerseits die Idee der Gemeinschaft der Miteigentümer räumlich mit einer dreigeschoßigen Steigerungs-Halle für jede Partei dienstbar darstellt, andererseits in den Wohneinheiten ein Höchstmaß an Individualisierung und Nutzungsoffenheit vorsieht. Die Randbedingungen für die außergewöhnliche Lösung mit maximal 24 um ein überglastes Atrium gruppierten Wohnungen waren ideal und werden sich selten wiederholen.

Ein 3000 Quadratmetergroßes, von der Stadtmitte fünf Gehminuten entferntes und trotzdem ruhiges Grundstück, in Sichtweite einer der typischen Fabrikantenvillen gelegen und an deren ausgereiftem Garten teilhabend, ein architekturfühliger Bauträger, der sich zutraute, ein Objekt um einen Quadratmeterpreis von 50.000 Schilling (3634 Euro) zu vermarkten, und nicht zuletzt ein kunstsinniger Initiator und Grundeigner, der in den Neubau einziehen wollte.

Das Ergebnis ist ein Solitär von kubischer Gestalt, mit markant angesetzten Loggien, betont hochwertiger Materialisierung und inniger Einbettung in das leicht fallende Gelände – spürbar ein Konstrukt, das nicht auftrumpfen will, sondern in der Komplettheit der gediegenen Durcharbeitung diskret ernüchterten Luxus manifestiert. Die Eigner des Baus können sich über diese Architektur zwar nicht persönlich darstellen, aber sie definieren kollektiv einen Höchststandard im Geschoßwohnbau.

Gnaiger/Mössler konzentrierten sich gleichermaßen auf die Bauwerksgestaltung wie auf die Ordnung des Außenraums. Ihre Stadtvilla sitzt daher, die Parklandschaft freihaltend, knapp am Südostrand des Bauplatzes; hier ist durch Abgrabung des Hanges und eine Stützmauer ein Gartenhof entstanden, der erlaubt, daß sich im Erdgeschoß auch bergseitig die Wohnungen großzügig öffnen können. Der Zugang erfolgt daneben, vom höchsten Punkt des Grundstücks leicht abwärts, beschirmt von einer alten Linde. Auch der Rest des Grünraums ist, als gemeinschaftlicher Garten, von Barbara Bacher und Ilse Huber überzeugend vorformuliert. Zur prototypischen Gestaltung des Grundrisses der Wohnungen gesellt sich jene des Gartens. Da sich eine Villa immer über die schönende, oft distanzierende Beherrschung des umgebenden Territoriums definiert hat, liegt in der schmuckverweigernden, raumbejahenden, nutzerorientierten Gartenkonzeption eine neue, über sie hinausweisende programmatische Aussage.

Das architektonische Herz des Hauses, das Atrium, wirkt durch die Ausrüstung in Sichtbeton und Lärchenholz spartanisch-feierlich. Der an drei Seiten umlaufende Kranz von Wohnungen ist durchgängig parallel zu den Fassaden zoniert, sodaß sich die in Modulen entworfenen Wohneinheiten beliebig koppeln lassen.

Gemessen an der weitgehenden Kanonisierung der Bauformen und den weitgreifenden Territorialansprüchen bei den historischen Villen, erreicht der Bau von Gnaiger/Mössler ein Minimum an Zeichenhaftigkeit und Landverbrauch, zugleich aber ein Höchstmaß an stiller, weil gesellschaftlich kompatibler Funktionalität. Ein mit den egalitären Zielen der Moderne eng verknüpfter, nicht abgeschlossener Prozeß der Verinnerlichung des Privaten, der Entzerrung alter Hierarchien von sozial konnotierten Architekturen kommt hier zu einem erfreulichen Zwischenstand.