nextroom.at

Profil

Isabella Marboe lebt und arbeitet als Architekturjournalistin in Wien. Die Architekturjournalistin studierte an der TU Wien und der Bezalel University in Jerusalem Architektur, nach ihrem Diplom absolvierte sie die katholische Medienakadamie und den Lehrgang Magazinjournalismus vom „Profil“. Weil Architekturmedien immer rarer und Journalismus immer schnellebiger wird, gründete sie ihr eigenes online medium www.genau.im
Newsletterabonemments und Mitgliedschaften willkommen!
Isabella Marboe schreibt regelmäßig für diverse Qualitätsmedien wie das „spectrum“ der Tageszeitung „die Presse“, die deutsche ,Detail', die DBZ, Piranesi, die renommierte Wochenzeitung ,die Furche', das niederösterreichische Kulturmagazin ,morgen’, verfasst Beiträge für die vom vai kuratierte Architektur-Beilage „Leben & Wohnen“ der Vorarlberger Nachrichten, sowie das niederösterreichische Magazin „gestalten.“
Sie war jahrelang leidende Redakteurin von architektur.aktuell und hatte in einer Co- Chefredaktion mit Dr. Sandra Hofmeister die deutsche Ausgabe von „domus“ konzipiert und geleitet.

Lehrtätigkeit

Lehrveranstaltung ,PR für Architekten' am Institut für Raumgestaltung und Entwerfen der TU Wien.

Mitgliedschaften

ögfa, ORTE Architekturnetzwerk, Presseclub Concordia

Publikationen

„Spectrum“ die Presse, „die Furche“, detail, dbz, „Leben & Wohnen“ in den VN, „der Plan“, „morgen“
„Bauen für die Gemeinschaft in Wien“, detail Verlag, Beiträge für Best of Austria

Karte

Artikel

24. Oktober 2025 Spectrum

Wien-Donaustadt: Wo alte und neue Österreicher zusammenleben

Mit seinem integrativen Konzept überzeugte das Wohnprojekt „Assemblage Niklas Eslarn“ in Wien-Donaustadt bei einem Bauträgerwettbewerb: In den 31 geförderten Mietwohnungen leben nun je zur Hälfte alte und neue Österreicher, gebaut wurde teils mit Lehm und Stroh.

Räume für Menschen“ (RfM): ein schö­ner Name für ein Architekturbüro. Jutta Wörtl-Gössler und Uli Machold arbeiten interdisziplinär und bauen ökologisch, gern auch mit Lehm und Stroh. Kurz vor Eröffnung des Baugruppenprojekts „Assemblage Niklas Eslarn“ herrscht in ihrem Büro rege Geschäftigkeit. Lange Stoffbahnen legen sich über die Schreibtische, von Bewohner:innen bedruckt, die der exponierten Westfassade als Sonnen- und Sichtschutz dienen werden und Teil sind des dreiteiligen Kunstprojekts „Assemblage familiar: stories from/form home“, das von der Kunst im Öffentlichen Raum (KÖR) gefördert wurde.

Die Baugruppe, die Mitte des Jahres dort ihre 31 geförderten Mietwohnungen, da­von 16 Smart mit Superförderung, bezogen hat, besteht etwa zur einen Hälfte aus Österreicher:innen, zur anderen aus Asylwerbenden, anfangs mit Bleiberecht, inzwischen eingebürgert. „Es ist ein ­Modellprojekt der Integration“, erklärt Susan Kraupp. Sie ist das Mastermind hinter SK Stadtplanung & Architektur, ihre Mutter stammt aus dem Iran und war dort Architektin. „Asylberechtigte haben großen Bedarf an Wohnraum, finden aber selten Zugang zum sozialen Wohnbau.“ Viel öfter kommen sie in überteuerten Unterkünften unter, die einen unschlagbaren Vorteil haben: Sie sind rasch verfügbar, beziehbar, und man muss nicht erst zwei Jahre einen Hauptwohnsitz in Wien gehabt haben.

Begonnen hat alles Ende 2019 mit einem Bauträgerwettbewerb der Gemeinde Wien für Baugruppen. Wörtl-Gössler hatte zehn Jahre in der Gebietsbetreuung gearbeitet und weiß, dass Integration am besten über gemeinsame Interessen funktioniert. Sie hatte die Idee mit der integrativen Baugruppe und suchte eine Partnerin für den Bewerb, Kraupp war sofort Feuer und Flamme. Die algerische Journalistin Rachida Toubal arbeitete damals am Berufsförderungsinstitut BFI und vermittelte interessierte Asylwerbende mit Wohnbedarf, die Architektinnen trieben integrationsbereite, wohnungssuchende Österreicher:innen auf.

Vom Baby bis zur 80-Jährigen

Die Gemeinnützige Familienhäuser-, Bau- und Wohnungsgenossenschaft Gartenheim nahm mit dem Projekt am Wettbewerb teil, das integrative Konzept überzeugte. Die Baugrup­pe ist sehr divers, vom Baby bis zur 80-Jährigen sind alle Altersklassen und viele Herkünfte vertreten: Österreich, Afghanistan, Pakistan, Syri­en, Gaza, Somalia, Türkei, Ukraine. Zum Großteil leben Jungfamilien hier, vereinzelt Singles, Berufe gibt es viele. Die Wohnungsgrößen variieren von 30 bis 120 m², einige Familien haben bis zu fünf Kinder. Die Soziologin Andrea Schaffar moderierte die Gruppenfindung.

Der Bauplatz liegt etwas östlich von der Seestadt Aspern in einem Einfamilienhausgebiet, im Osten bildet eine dreigeschoßige Siedlung sein Gegenüber, im Süden grenzt die Niklas-Eslarn-Straße an einen Wald mit dem „Himmelteich“. Dieser Wald wird sicher nie verbaut. Susan Kraupp entwickelte den Städtebau, sie teilte das Grundstück an zwei Wegachsen in neun gleichwertige Felder auf und ordnete die Bebauung an den Rändern rund um das Gemeinschaftshaus in der Mitte an, das von einem Freiraum umgeben ist und eine Art Dorfplatz bildet. Die umgebenden Felder sind paritätisch auf beide Architekturbüros aufgeteilt.

Brandtest erfolgreich absolviert

RfM Architektur setzte geradlinige Holzriegel an den westlichen und nördlichen Rand des Grundstücks. Die 16 modular aufgebauten, durchgesteckten Wohnungen haben neun unterschiedliche Grundrisse, vier davon sind Maisonetten, eine Typologie, die derzeit sehr selten anzutreffen ist. Zwischenwände und Decken sind aus Massivholz, die tragenden Außenwände mit Einblasstroh gedämmt und mit Lehm verputzt, der in einem Workshop gemeinsam aufgebracht wurde. Diese Wandkonstruktion ist generell ein Experiment, im sozialen Wohnbau erst recht. Sie wurde vom Klima- und Energiefonds gefördert, sonst wäre sie nicht finanzierbar gewesen.

Die Projektgruppe setzte ein Modul einem Brandtest aus: 78 Minuten hielt es dem Feuer stand. „Es gibt keine bessere Gegend für Jungfamilien“, sagt die Mutter, die mit ihren zwei Kindern eine Maisonette bewohnt. Sie riecht nach Holz und Erde, die Massivholzdecke blieb unverputzt, der Lehm ockerfarben, die Außenwände sind 45 cm breit. Genug, um alle Fensterrahmen als Sitznischen zu gestalten. Vier Meter Spannweite zwischen den Wänden sind für Holz ideal, einzig die große Wohnküche erfordert einen Deckenträger aus weißem Stahl.

Susan Kraupp entwarf plastisch ausformulierte Punkthäuser aus Ziegelit, Leichtbeton, dem recycelter Ziegelsplitt beigemischt wurde. Das gibt ihm eine rötliche Farbe, die durch Pigmente verstärkt wird. Kraupp entwickelte ihre Baukörper aus der Grundform eines Würfels von elf mal elf Metern. Die eingeschoßigen Wohnungen sind in jeder Ebene leicht gegeneinander verdreht. Einige Häuser dehnen sich über das Grundmaß hinaus, in die drei größeren ist in der Mitte wie ein Keil das Stiegenhaus eingeschoben. Das erzeugt trapezförmige Räume und verschiedene Balkone, beim kleinsten Bau sitzt das Stiegenhaus an der östlichen Außenwand.

Offenes Bücherregal für Sprachaustausch

Ursprünglich hatte Kraupp monolithisch aus Dämmbeton bauen wollen, das war nicht leistbar. Ihre Wohnungen sind introvertierter, haben kleinere Fenster, mehr Wandflächen, auf Wunsch abgetrennte Küchen und große Wohnzimmer, die von zwei Seiten belichtet sind. Hier finden die riesigen Sitzgarnituren, die der sprichwörtlichen orientalischen Gastfreundschaft huldigen, leicht Platz. „Der Wohnbereich war der Bewohnerschaft sehr wichtig, die anderen Zimmer durften durchaus kleiner sein“, sagt Kraupp.

Während der Errichtung der Wohnanlage stiegen die Baupreise eklatant. War sie bei der Ausschreibung mit sechs Mio. Euro budgetiert, stiegen die Kosten auf zwölf Mio. Die Gartenheim und die Architektinnen sparten durch Umplanungen Kosten, zuletzt waren es neun Mio. Euro. Schluck- und Saugbrunnen, Bauteilaktivierung, Holz, Lehm und das zweite Kunstprojekt – ein Spielhaus von Gelatin, an dessen Fassadenrelief die Baugruppe mitgearbeitet hatte –, blieben. Und am wichtigsten: der Grünraum, gestaltet von Idealice, und das Gemeinschaftshaus. Dort liegt Spielzeug und findet sich das dritte Kunstprojekt: Clegg & Guttmann installierten an der Rückwand „the open multi-language library“, ein Buchregal, das sich mit Büchern in vielen Sprachen füllen soll. Im Süden öffnet sich das Haus zum Platz und führt eine Außentreppe auf die Terrasse auf dem Dach. Kraupp: „Immer, wenn man vorbeigeht, ist jemand da. Hier wird getratscht, gefeiert, gegessen und gespielt. Es ist wirklich ein lebendiger Ort geworden.“

24. September 2025 Spectrum

Neue Kinderkrippe in Gabersdorf: Die Strecke für Bobbycars ist stark befahren

Das Grazer Architekturbüro Projekt CC setzte eine sehr ungewöhnliche Kinderkrippe auf einen gesichtslosen Acker am Rand des steirischen Gabersdorf.

Das steirische Gabersdorf ist ein typisches Straßendorf, Giebel an Giebel reihen sich Streck- und Hakenhöfe aneinander, in zweiter Reihe sind dahinter lang und schmal die Felder parzelliert. An die 1300 Menschen leben in diesem Vorzeigeort für Nachhaltigkeit und Energieeffizienz, stolz deklariert sich die umweltbewusste e5-Gemeinde auf ihrer Website als „erste familienfreundliche Gemeinde Österreichs“. Doch Kinderkrippe gab es keine. Im Oktober 2022 lud Bürgermeister Franz Hierzer sechs etablierte steirische Büros zum Wettbewerb, für eine Bauaufgabe dieser Größenordnung im unterschwelligen Bereich gibt es dazu keine Verpflichtung. Er hätte es nicht tun müssen, doch er wusste: Wettbewerbe bringen Qualität.

Der bestehende Kindergarten ist im Erdgeschoß der Volksschule untergebracht. Die Schule liegt hinter dem Sportkulturhaus beim Sportplatz, das ebenso Resultat eines Wettbewerbs aus dem Jahr 2011 ist. Das Grazer Architekturbüro Projekt CC plante den schlichten, multifunktionalen Quader an der Hauptstraße mit der großen Terrasse vor dem Café am Eck und dem Friseur. Eine Ebene darunter ist dem Turnsaal sportplatzseitig ein Foyer mit Küche vorgelagert; dort wird auch für die Kinder frisch gekocht, denen das Foyer als Speisesaal dient. Den hellen Turn- und Mehrzwecksaal nutzen Kindergarten, Volksschule und sportliche Erwachsene aus dem Ort, auch Veranstaltungen finden dort statt.

Tags Nordlicht, nachts frische Luft

Der Bauplatz für Krippe und Kindergarten befindet sich 200 Meter weiter südlich auf der gegenüberliegenden Seite der Gabersdorferstraße. Das trapezförmige Grundstück war früher Acker. Im Westen die Straße, dahinter Felder, im Osten Felder, im Süden künftig Einfamilienhäuser, im Norden ein Haushaufen und der Feldhauptweg, von dem der Neubau erschlossen wird. „Wir brauchten sehr lange, bis wir einen Entwurf hatten“, erzählt Christian Tabernig vom Projekt CC, das den Wettbewerb gewonnen hat. Das Grundstück hatte etwas sehr Beliebiges, Unbehaustes. „Der Ort war so neutral, wir aber wollten für die kleinen Kinder etwas Schönes machen.“

Sie bauten ihnen eine eigene kleine Welt in einem grünen Garten mit Bäumen, sonnenbesegelten Sandkisten, Spielorten und Naschbeeten. Bernhard König von Green4cities hat den Garten gestaltet, alles ist grün und wächst. Die Architekten extrahierten zwei wesentliche Charakteristika des Ortes und verwoben sie miteinander: die Hoftypologie und das Satteldach, in das vier kleine Höfe mit Bäumen eingestanzt und aus dem vier Gaupen ausgeklappt sind.

Klimaaktiv-Gold-zer­tifiziert

Diese holen tagsüber auch Nordlicht und nachts frische Luft zur Kühlung ins Innere. „Hier auf dem Land funktioniert das sehr gut. Wir haben also auf eine kontrollierte Be- und Entlüftung mit Wärmetauscher verzichtet, obwohl das für die Klimaaktiv-Zertifizierung viele Punkte bringt“, erklärt Tabernig. Viele waren sehr skeptisch, ob das Haus die Klimaaktiv-Silber-Hürde nimmt. Es machte das in anderen Kriterien wett und ist nun sogar Klimaaktiv-Gold zer­tifiziert.

Raumprogrammatisch waren eine Kinderkrippe mit Ruheraum, Garderobe und Toiletten für die unter Dreijährigen sowie eine Kindergartengruppe mit Bewegungsraum, Garderobe und Toiletten für die Drei- bis Sechsjährigen, außerdem ein Foyer, die Räume für die Elementarpädagoginnen und diverse Nebenräume gefragt. Krippe und Kindergarten sollten sich in zwei Bauabschnitten errichten lassen. Zum Glück realisierte man gleich beide. Das ist wesentlich kostengünstiger und war offensichtlich nötig: Kindergarten und Krippe sind voll.

Die Architekten gingen vom archetypischen Satteldachhaus aus, eines für die ganz kleinen, eines für die etwas größeren Kinder, direkt nebeneinander, sodass beide in der Mitte ein Schmetterlingsdach ausbilden. Die Firste halten sich an die Firste der umgebenden Häuser, folgen also den Flurformen. Dadurch ergibt sich vor der Eingangsfront mit dem Doppelgiebel ein zwickelförmiges Reststück für die neun obligaten Parkplätze. Über dem Eingang macht sich die froschgrüne Regenrinne des Vordachs breit, auch die Unterkonstruktion und der Postkasten, der aussieht wie ein Kuvert, sind froschgrün: erfrischend frech und die einzige starke Farbe an diesem Haus mit der dunklen Fichtenholzfassade.

Der Gang ist schon ein Raum

Der Raum unter dem Satteldach ist konsequent in einem Raster von vier mal vier Metern organisiert. Mit seinen geringen Spannweiten ermöglicht dieses Maß auch im Holzbau eine sehr zarte Stützenkonstruktion, sie definiert die minimale Basiseinheit eines Raumes. Für einen Gang sind vier Meter sehr breit, er ist also nicht mehr Gang, sondern schon Raum. Für Krippe und Kindergarten wurden die Quadrate als Ruhe-, Kuschel-, und Gruppenräume in T- und L-Formation zusammengeschalten.

Die sehr diszipliniert und ruhig gestaltete Holzfassade definiert sehr klare Außengrenzen. Die eleganten Fichtenlatten kommen ganz ohne Lösungsmittel aus. Sie sind einfach mit dunkel pigmentiertem Öl eingelassen. Es wird von den Fasern aufgenommen, dringt tief ein, riecht gut und verwittert wesentlich schöner als jeder Anstrich. Alle Fenster füllen ihr Rasterfeld ganz aus, an der L-förmigen Außenkante des Hauses sind die Nebenräume aufgefädelt, das Büro von Elementarpädagogin Sabine Rauch, die das Haus leitet, liegt gleich neben dem Eingang. Hier sieht sie, wer kommt und geht, hat aber auch das kindliche Geschehen im Blick.

Das geölte Fichtenholz riecht wunderbar

Innen herrscht eine warme Atmosphäre, es ist hoch und hell, das geölte Fichtenholz riecht wunderbar, die Räume werden vor allem von den eingeschnittenen Atrien definiert. Der Rest sind Stützen, Vorhänge, Glasflächen, Ein-, Aus-, Querblicke zueinander und in die Landschaft. Der vier Meter breite Gang, der sich vom Eingang bis zur Kinderkrippe am Ende des Gebäudes zieht, ist auch Foyer und Spielflur.

Letzterer geht direkt in Aufwärmküche und Speisesaal über. Die Architekten gestalteten ihn mit einer kleinen Filzbank sehr ungewöhnlich, viele Möbel entwarfen sie selbst. „Wir haben eine große Freude mit dem Gebäude“, sagt Sabine Rauch. „Alle, die hereinkamen, waren begeistert. Die Kinder auch.“ Ihre erste Woche hatten die 22 Kindergartenkinder und elf Kleinchen beim Besuch vor Ort gerade hinter sich, sehr gut bewährte sich der Vorhang. „Damit kann man Eltern gut abschirmen“, so Rauch.

Alle allgemeinen Flächen haben einen mattroten Linoleumboden, die Kinderkrippe ist grün. Gruppenraum und Kuschelecke legen sich am südwestlichen Gebäudeende L-förmig um Sanitärzelle und Ruheraum, die Kindergartengruppe in der Gebäudemitte ist T-förmig konfiguriert, ihr Boden ist mittelblau. Alle Räume sind nach innen verglast, sie umhausen das Atrium mit Baum und gehen über den gedeckten Freibereich in den Garten über. Einige Kinder wuseln noch dort herum, die Bobbycar-Strecke ist stark befahren, drei haben sich in der Wiese zwischen Geräteschuppen und Naschhecke am Zaun versteckt. Tabernig bemerkt sie beim Vorbeigehen und freut sich. „Genau so war es gedacht.“

22. August 2025 Spectrum

Hier war schon der Kasperl zu Gast: Kunst und Kultur in einem sozialen Wohnbau in Wien-Atzgersdorf

In Wien-Atzgersdorf glückte den Architekten Dietrich Untertrifaller mit dem KuKu 23 ein außergewöhnlicher sozialer Wohnbau mit viel Kunst und Kultur für jeden.

Wien ist internationale Vor­zeigestadt in puncto sozialer Wohnbau, der von Delegationen aus aller Welt besichtigt wird. Er fußt auf dem Vier-Säulen-Modell: Ökonomie, Nachhaltigkeit, Architektur und Ökologie. Bauträgerwettbewerbe sollen für Qualität garantieren. Planenden und Bauenden verlangt es einiges ab, den Spagat aus immer rigoroseren Bauvorschriften, notwendiger Verdichtung und dem Kostendeckel von 1685 Euro pro Quadratmeter zu schaffen. An die transformative Kraft des sozialen Wohnbaus im Roten Wien auch nur ansatzweise anzuknüpfen ist unter Bedingungen der Gegenwart kaum möglich.

Die räumlichen Voraussetzungen für die Durchmischung unterschiedlicher Funktionen umzusetzen ist schon eine hohe Kunst, deren Belebung und die Gemeinschaftsbildung im Quartier noch weitaus schwieriger. Sie lässt sich nicht erzwingen.

„Gute Baukultur ist gute Planungskultur“

Insofern grenzen Atelier-, Zwillingshaus und Turm im Kultur- und Wohnprojekt Kuku 23, das die aus Vorarlberg stammenden Ar­chitekten Dietrich Untertrifaller (DTFLR) für die gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft Heimbau in Atzgersdorf realisiert haben, an ein Wunder. Es gelang nur, weil alle Beteiligten sich vorbehaltlos dafür einsetzten. „Wie plant man das Unbekannte?“, fragt Maria Megina, die Projektverantwortliche und Partnerin von DTFLR. „Für uns ist gute Baukultur auch gute Planungskultur. Vom ersten Schritt an saßen alle entscheidenden Akteure – Bauherren, Ortsansässige, Vertreter aus Bausoziologie, Architektur und Programmatik – an einem Tisch zusammen.“ Die Kunstschaffenden für die Wohnateliers wurden schon in der Bauphase an Bord geholt, für die Szenarien der Kunst- und Kulturteppiche erstellte man gemeinsam mit Art:Phalanx simultan die nötigen Raumprogramme.

Atzgersdorf boomt, es wird gerade massiv nachverdichtet. 2019 lobte der Wohnfonds Wien einen Bauträgerwettbewerb für 430 Wohnungen auf einem Baufeld aus, das im Westen an den Bildungscampus für 1100 Kinder der Architekten Baumschlager-Eberle und die denkmalgeschützte, ehemalige Sargfabrik grenzt.

Die Architekten Schenker/Salvi/Weber und Dietrich Untertrifaller gewannen, ausschlaggebend dafür war die Kombination von Wohnen, Kunst und Kultur, der das Projekt KuKu auch seinen Namen verdankt. Erstere beplanten mit dem Bauträger Altmannsdorf Hetzendorf die Riegel am westlichen Rand des Bauplatzes und den angrenzenden Wohnblock, Zweitere die im Osten anschließenden Bauplätze.

Für das Atelierhaus wurde eine durchgehende Geschoßhöhe von 2,80 Metern durch- und umgesetzt. Das kostete ein Wohngeschoß, schafft dafür aber künftig die Voraussetzung zu gemischter Nutzung. Die Grünraumplanung übernahm Rajek Barosch Landschaftsarchitektur, sie hat einen wesentlichen Anteil am geglückten Resultat. Die städtebaulichen Vorgaben mit Dichte, Position und Volumen der Bauteile hatte ein kooperatives städtebauliches Verfahren schon 2015 festgelegt. Für DTFLR bedeutete das: 237 Wohnungen, über 20.300 Quadratmeter Nutzfläche auf 9259 Quadratmeter Grundstücksfläche, Baukörpertiefen bis zu 24 Meter und Höhen von 16, 25 und 35 Metern. „Wir wollten ein Stück Stadt bauen und haben die Dichte aus menschlicher Perspektive betrachtet“, so Megina. Deren subjektive Wahrnehmung wird vor allem vom Sockel geprägt.

Es gibt keine Eigengärten, sondern nur einen gemeinsamen, mit hügeligem Rasen, Spielplätzen, Fußball- und Betonfeldern sehr differenziert gestalteten Freiraum. Die Begrünung reicht nicht direkt an die Bebauung heran, die man so immer umschreiten, von außen betreten und hineinlugen kann, denn der gesamte Sockel ist mit Kunst, Kultur, Gewerbe belegt.

Die denkmalgeschützte Sargfabrik hatte sich unter dem Titel „F23“ bereits zu einem kulturellen Inkubator entwickelt. Heute heißt sie „Fabrik 1230“ und bildet das Gegenüber des östlichsten Bauteils, des Atelierhauses. Es ist 24 Meter breit, über 90 Meter lang, bis zu neun Geschoße hoch und das kulturelle Flaggschiff. „Wohnen und Kultur haben wir hier zum ersten Mal errichtet“, sagt Hermann Koller, der stellvertretende Obmann der Heimbau. „Die Vergabe war sensationell.“

40 unterschiedliche Typen für 237 Wohnungen

Die Fassade besteht abwechselnd aus raumhohem Glas und Pfeilern, die 90 Zentimeter breit und mit Eternit verkleidet sind. Statisch ist es eine Tischkonstruktion, auf der eine offene zweireihige Stützenstruktur aufsetzt. So lassen sich die darüber liegenden Wohnungen sehr frei planen. Viele Wohnformen – von der Jugend-WG, die von der Magistratsabteilung 11 betreut wird, bis hin zum neuen Typus der Atelierwohnungen – sind hier umsetzt. Macht 40 unterschiedliche Typen für 237 Wohnungen.

Der große Veranstaltungssaal ist als Raum im Raum zweischalig ausgeführt, seine akustische Qualität ist sehr hoch. Hier waren schon die Wiener Festwochen und der Kasperl zu Gast, probte der Impulstanz und gab es Public Viewings von Fußballmatches. Auf diesen Saal folgen eine große Galerie und ein Platz, der vom Tanzstudio in der zweiten, wohnanlagenseitigen Atelierhaushälfte eingefasst wird. Ein mächtiges Paar von V-Stützen hält den Raum unter seinem fast 25 Meter weit auskragenden, nördlichen Ende frei, der witterungsgeschützte Platz darunter kann auch Freiluftbühne werden. Von hier blickt man wunderbar durch die raumhohe Verglasung in das Studio darunter; Fingerabdrücke auf dem Fenster verraten, dass das auch ­passiert. Außerdem gibt es hier Werkstätten und Ateliers: Sie bestehen aus einem zwei Geschoß hohen Raum mit umlaufender Wohngalerie und Küchenzeile, der im Untergeschoß aufsetzt.

Nur Mietobjekte, kein Eigentum

Um die Tiefe des Baukörpers aufzulösen, wurde das Volumen gleichermaßen perforiert. Ein Mittelgang mit variierender Breite durchzieht das Atelierhaus auf jeder Ebene über die gesamte Länge. Rechts und links weitet sich dieser Gang in zweigeschoßige Räume mit raumhohem Glas aus, die sich alle aneignen können. Brandschutzschiebetüren (die natürlich in den Wänden verschwinden) trennen sie vom Gang, dadurch lassen sie sich auch möblieren. Dieses verzweigte, großzügige, innere Wegenetz erhellt den dunklen Gebäudekern und zerschlägt die massive Kubatur gleichermaßen in mehrere kleinteilige Bauten. „Wir haben aus fünf großen Blöcken über 20 Häuser herausgeschält“, sagt Megina.

Die Fassaden aller Häuser sind ruhig, mit raumhohen Fenstern und Eternit gestaltet, Balkone mit dunkelroten Brüstungen, die teils in Zackenbewegungen mäandrieren, teils mit Lichthöfen ausgeschnitten sind, flankieren bei­de Längsseiten. Dadurch ergeben sich überall unterschiedliche Tiefen. Von den 237 Wohnungen sind 38 Atelier- und 119 kleine Smart-Wohnungen mit Sonderförderung, alle werden vermietet, keine ist Eigentum, die schönsten Dachflächen gehören der Gemeinschaft, inklusive Hochbeet und Gemeinschaftsküche. Beim Besuch bereiteten einige verschleierte Mädchen eine Geburtstagsfeier vor.

23. Juli 2025 Spectrum

Ein Hof für die Kinder und Kindeskinder

Ein alter Hof bei Lustenau war nicht mehr zu retten, Architektin Julia Kick konzipierte mit den Bauherrinnen eine Wohnform, die über die Grundgrenzen und Generationen hinaus in die ­Zukunft denkt.

Über dreihundert Jahre bewirtschaftete die Familie Vetter im Rheindorf ihren Hof, schon in den 1970er-Jahren stellte der Betrieb auf biologische Landwirtschaft um und nahm damit eine Vorreiterrolle ein. Er stand an der Kreuzung der Bahnhofstraße mit dem Fischerbühel. Erstere ist die Hauptverkehrsader, auf der alle quer durch den Ort ziehen, zweitere schlängelt sich als ruhige Gasse träge zwischen Einfamilienhäusern durch. Früher gab es hier viele landwirtschaftliche Flächen, der Großteil wurde als Bauland vergoldet.

Lustenau ist mit rund 25.000 Einwohnern die einwohnerreichste Marktgemeinde Österreichs, es zerfranste ins Umland. „Siedlungsbrei“ nennt das Architektin Julia Kick. In sein verflochtenes Straßen- und Wegenetz, das von alten Streuobstwiesen und Feldern durchsetzt ist, ist das Dorf aber noch eingeschrieben. Im Jahr 1996 siedelten Hubert und Annemarie Vetter mit ihrem Hof zwanzig Fahrradminuten weiter ins Alberried und setzten dort ihre ganzheitliche Vision einer organisch-biologischen Landwirtschaft neuen Typs um.

Architekt Roland Gnaiger plante ihnen schlichte Holzskelettbauten mit Fassaden aus unbehandelter, sägerauer Lärche und lehm­verputzten Wänden. U-förmig fassen das Wohn- und Gemeinschaftshaus mit Seminarzentrum und Laden einen grünen Hof ein, gegenüber im Osten bildeten die früheren Laufställe ein längeres U. Vieh gibt es heute keines mehr, Simon und Raphael Vetter entwickeln ihre Landwirtschaft kontinuierlich weiter, derzeit kultivieren sie unterschiedlichste Gemüsesorten, es gibt Veranstaltungen und andere vielseitige Angebote an Gemeinschaften und ­Interessierten auf ihrem Hof. Längst ist die ­verwitterte Fassade in die Landschaft eingewachsen und die Architektur zur Ikone gereift.

Ein barrierefreier Hof musste sein

Simons und Raphaels Tanten Lisi und Traudi hatten dem alten Vetterhof im Rheindorf die Treue gehalten. Doch der Stall war desolat, das Haus ein akuter Sanierungsfall, als eine der beiden erkrankte, herrschte Handlungsbedarf, der Hof musste barrierefrei werden. Sie kontaktierten Julia Kick, die schon einige Bestände mit viel Sensibilität für die Möglichkeiten von Haus und Bewohnerschaft umgebaut hat. In diesem Fall war nichts zu machen.

Ein paar Parzellen weiter besaß die Familie am Fischerbühel noch landwirtschaftlichen Grund mit Bauwidmung. Architektin und Bauherrinnen zeichnen sich durch überdurchschnittliche Achtsamkeit aus, was den Umgang mit Ressourcen betrifft. „Es war ihnen vollkommen klar, dass man heute eigentlich gar kein Einfamilienhaus neu bauen darf“, sagt Kick. Deshalb entwickelten sie gemeinsam ein zukunftsweisendes Wohnkonzept, das weit über die eigenen Grundgrenzen und Generationen hinaus die nachhaltige Entwicklung seiner Nachbarschaft weiterdenkt. Und zwar multiperspektivisch.
Dieses Haus kann mit Bedürfnissen und Anzahl seiner Bewohnerschaft mitwachsen

„Unser Arbeitstitel war Vetternhof 2.0“, sagt Kick. Das Haus ist in seiner Konzeption des Wohnens in einem Einfamilienhausgebiet so exemplarisch und umfassend nachhaltig, wie es der Vetterhof für die biologische Landwirtschaft war. Kick verwendete das ökologische, nachwachsende Baumaterial Holz, plante das Haus modular und legte seine Statik so aus, dass es um eine zweite Wohnebene und ein ausgebautes Dachgeschoss erweiterbar ist. In Reminiszenz an den alten Vetterhof wünschten sich die Bauherrinnen ein geneigtes Dach und Vordächer. Die Architektin tüftelte lang an den Details des Pultdaches mit der gewellten Blechabdeckung, die sich im Fall einer Aufstockung einfach abheben und wieder aufsetzen lässt.

Dieses Haus kann also mit Bedürfnissen und Anzahl seiner Bewohnerschaft mitwachsen, soweit es die Bauordnung zulässt. Julia Kick dachte die Verdichtung in einer sehr ortsbildverträglichen Form mit. „Wir haben das Grundstück gesamtheitlich betrachtet und sind davon ausgegangen, wie eine Siedlung idealerweise für uns aussehen könnte“, sagt Kick. So gaben sie und ihre Bauherinnen dem Einfamilienhaus, das an der Wurzel der Zersiedelung steht, eine neue Rolle. Es bekommt die Chance, alles wiedergutzumachen, indem es künftig eine erweiterbare Siedlung bilden und so einen Beitrag zur Verdichtung leisten kann.

Der Fischerbühel bildet die nördliche Grundgrenze: hier verläuft gleichermaßen der Wirtschaftstrakt. Fünf Meter breit, an die zwanzig Meter lang, nimmt diese einfache Struktur dort, wo der Quertrakt anschließt, ein Lager für Vorräte, Geräte und die Garage auf. Bei Krankheit braucht es ein Auto. Dieser Trakt bildet auch Schutz vor Straße und Einsicht. ­Privatheit ist wichtig: Die außenseitigen Öffnungen sind mit Maß und Ziel gesetzt.

Roter Mohn leuchtet aus der Wiese

Ostwärts öffnet sich der Hof in die Landschaft. Hier ließe sich auf dem gegenüberliegenden Grundstück an der gemeinsamen Zufahrt gespiegelt dasselbe U-förmige Haus hinpflanzen. Gemeinsam fassten sie einen größeren Hof ein, wo nicht nur Pflanzen, sondern auch nachbarschaftliche Beziehung gedeihen könnten. Die Zufahrt zwischen beiden verläuft im rechten Winkel zur Straße und wurde bereits zur Hälfte als Kiesweg gestaltet, während die andere der Natur überlassen blieb. Dort leuchtet nun roter Mohn zwischen der hohen Blumenwiese hervor, die natürlich viele Bienen anlockt.

Man betritt das Haus am Ende des südlichen Wohntrakts in einer Pergola, die vor der rollstuhlgerecht breiten Eingangstür einen schönen, schattigen Freibereich ausbildet. Die Bauherrinnen sitzen gern hier draußen. Auch die Einbaumöbel plante Julia Kick. Rechts zeigt das breite Fensterbrett, was es als Garderobe kann, die Küche mit dem Tisch aus dem alten Nußbaum, der Eckbank und dem fast quadratischen Herdblock ist semiprofessionell ausgestattet, da beide sehr gerne kochen.

Der Raum öffnet sich nach Nordosten zum Innenhof und nach Südwesten zur Streuobstwiese, deren Apfel- und Birnbäume über hundert Jahre alt sind, Ziegen und Schafe aus dem Ort mähen das hohe Gras. Hier ließe sich das Haus in die andere Richtung erweitern: Den L-förmigen Wohntrakt der beiden Damen könnte man einfach noch einmal südwärts anstückeln, dann würde das U-förmige Haus zum E, mit zwei kleinen offenen Höfen. Ein drittes Mal ginge sich das auch noch aus, das ergäbe dann gespiegelt schon kleine, kompakte Einheiten mit insgesamt sechs Innenatrien. Also schon eine veritable kleine Siedlung aus nachhaltigen Holzhäusern in verträglicher Dichte um grüne Höfe in der Landschaft.

1. Juli 2025 newroom

Neuer Blick

Otto Wagner, Adolf Loos, Jugendstil und Art déco prägen den Blick auf Wien um 1900. Das schwergewichtige Buch „Anatomie einer Metropole – Bauen mit Eisenbeton in Wien 1890 – 1914“ von Otto Kapfinger richtet den Blick auf die Konstruktion dahinter.

Wien um 1900 war eine pulsierende Großstadt auf dem Weg zur Metropole, hundertfünfzig Kinos zählte man 1914, Cabarets, Varietés, vornehme Konsumtempel, Geschäftshäuser, Banken, Hotels, aber auch Fabriken, Speicher und Remisen entstanden. Zweihundert Druckereien mit 4.000 Beschäftigten versorgten die Stadt in mehrmals täglich erscheinenden Zeitungen mit Neuigkeiten, allein der „Vorwärts“-Verlag an der rechten Wienzeile produzierte in seinen Glanzzeiten bis zu 2.000 Exemplare unterschiedlichster Medien pro Tag.

All diese neuen Typologien mussten verschiedene Anforderungen erfüllen, industrielle Nutzungen führten zu hohen Lasten, Veranstaltungssäle mit hohen Räumen im Souterrain erforderten weite Spannweiten, darüber schlichtete man souverän Büros und Wohnungen aufeinander. Der Dimensionssprung der Stadt brachte auch breitere Straßen und schmälerere Grundstücke mit sich, höherer Nutzungsdruck führte zu immer gewagteren Konstruktionen. Ein besonders gelungenes Beispiel dafür ist das „Haus zum Silbernen Brunnen“ der Architekten Karl und Wilhelm Schön in der Plankengasse 4. Errichtet wurde es von der Baufirma G.. Wayss & Co. Verschiedene Funktionen gekonnt zu stapeln, war ein konstruktiver Kraftakt und die große Ära einer neuen Technologie: ohne Eisenbeton keine Großstadt.

Ein Zufall führte Otto Kapfinger an einem Gründerzeithaus in der Schadekgasse 18 vorbei, dessen unteren drei Geschosse umbaubedingt komplett ausgehöhlt waren. Hier zeigte sich das statische Gerippe eines Hauses in unverfälschter Reinform. Großzügige, loftartige Räume mit Rippendecken aus Sichtbeton, drei gewendelte Stiegenhäuser und eine Tragstruktur aus Eisenbeton über neun Geschosse. Kapfinger fühlte sich nach Chicago versetzt. Dieses Gebäude hatte früher das Warenhaus Lessner beherbergt, als Flaggschiff einer neuen Einkaufskultur spielte es in einer Liga mit Herzmansky, Gerngroß, Schop’s Söhne und Stafa. Eine monumentale Haupttreppe führte in Lessners Konsumtempel, der vor allem ein breites Sortiment an Textilien führte und auch die Zeitschrift „Der Modesalon“ herausbrachte. Lager, Schneiderateliers und Wohnungen zählten zu den weiteren Nutzungen des Hauses, das Architekt Alois Augenfeld plante. Auch Baumeister Samuel Bronner, die ausführende Baufirma Gustav Orglmeister und der Statiker Rudolf Saliger sind angeführt.

„Anatomie einer Metropole – Bauen mit Eisenbeton in Wien 1890 – 1914“ ist mehr als ein Buch und mehr als ein Katalog: es ist ein Forschungsprojekt, das auf über 400 Seiten ein neues Bild von Wien um 1900 zeichnet. Unter der Leitung von Otto Kapfinger arbeiteten Gabriele Anderl, Markus Kristan, Ursula Prokop, Felix Siegrist, Adolph Stiller, Stefan Templ, Maria Welzig und Anna Wickenhauser im Forschungsteam. Das Buch folgt dabei einer stringenten, gewissenhaften Logik. Texte wie derjenige zu Systemen der Stadtentwicklung (Otto Kapfinger), Eisenbeton International (Adolf Stiller) oder der zum Bauboom der Kinos (Ursula Prokop) geben eine inhaltliche Einordnung, in thematisch gegliederten Kapiteln wie die „Glanzzeit der Presse“ (Druckereien, Verlagshäuser), „Weltstadt Wien“ (Großgeschäftshäuser, Banken, Hotels), „Gesellschaftliche Reformen“ (Vereinshäuser, Volksbildung, Hygiene) werden insgesamt 95 unterschiedliche Bauten anhand ihrer Typologie dokumentiert. Die Ausführlichkeit, in der das geschieht, ist absolut außergewöhnlich: Zu jedem Bau finden sich Pläne und Fotos, neben Bauherr und Architekt sind ausführende Firmen und Statiker angeführt. Auch die Texte halten eine Systematik ein: Bautypus, Konstruktion, Hausgeschichte, Architekt, Literatur. Großformatige Fotos von Wolfgang Thaler und Bruno Klomfar zeigen exemplarisch, wie einige Häuser heute aussehen. Pläne von Wien zeigen, wo sich unterschiedlichste Bauten befinden. Wer dieses Buch gelesen hat, wird mit anderen Augen durch die Stadt gehen.

verknüpfte Publikationen
- Anatomie einer Metropole

24. Juni 2025 Spectrum

Architekturbiennale Venedig: Einmal Espresso aus Kanalwasser, bitte!

Kluge Maßnahmen gegen die Klima­krise: Auf der Architekturbiennale in Venedig wird etwa die natürliche Intelligenz von Pflanzen, Mikroben und Pilzen als Quelle für neue Materialien und Bauformen erforscht. Und sogar Elefantendung und Brackwasser spielen eine Rolle.

„Fundamentals“ nannte Rem Koolhaas, der große Analytiker unter der Architektenschaft die Biennale, die er 2014 sehr stringent kuratierte. Die Hauptausstellung handelte profund und multiperspektivisch elementare Bestandteile der Architektur ab: Stiege, Aufzug, Fenster, Tür, Dach. Zwei Jahre hatte er dafür ein interdisziplinäres Forschungsteam recherchiert. Es war das letzte Mal, dass sich die Architektur noch so eindeutig definierte. Zwei Jahre später öffnete Alejandro Aravena mit „Reporting from the Front“ das Feld für brennende Themen wie Naturkatastrophen, Wohnungsnot, Migration, Verbrechen. Er sah Architektur als Weg, Benachteiligten ein Leben in Würde zu ermöglichen.

Die heurige Architekturbiennale mit dem Titel „Intelligens.Natural.Artificial.Collective“ fordert radikales Umdenken. 2024 verzeichnete die Erde die höchsten Temperaturen seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, Kurator Carlo Ratti sieht sie an einem Wendepunkt und formulierte sein Manifesto: „Intelligens: Towards a New Architecture of Adaption“. Für den Architekten, Ingenieur, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Polytechnikum Mailand ist die Anpassung an bedrohliche Klimabedingungen eine Überlebensfrage.

Bäume aus dem 3-D-Drucker

Der Ursprung der Architektur liegt im Schutz vor einem hostilen Klima, Ratti schickt sie also an vorderster Front gegen die globale Erderwärmung ins Feld und fordert ihr dabei eine Neukonfiguration ab. Auf dem Weg dorthin diffundiert sie in diverse Sparten der Kunst, Natur- und Geisteswissenschaften und erweitert ihren Werkzeugkasten um neue Technologien bis hin zu künstlicher Intelligenz. Es wäre auch einmal interessant, deren immensen Strom- und Wasserverbrauch verschriftlicht zu sehen. Auf der Suche nach einem neuen Selbstverständnis werden viele Fragen gestellt, löst sich Autorenschaft auf und dreht sich alles um die große Hitze. Kuratorisch setzte Ratti gleichermaßen auf Schwarmintelligenz. Vom Open Call mit „überwältigendem“ Rücklauf blieben 750 Teilnehmende. So viele waren es noch nie.

Die Hauptausstellung spürt die drei Intelligenzen auf. „Intelligens.Natural“ sucht resiliente, nachhaltige Strategien bei indigenen Völkern, analysiert das Bauen in sehr heißen oder nassen Gegenden, die Erfahrung mit Extremwetterereignissen haben, und erforscht die natürliche Intelligenz von Pflanzen, Mikroben, Pilzen, Organismen als Quelle für neue Materialien und Bauformen. Die „Living Structure“ Domino 3.0 (Kengo Kuma and Associates, Sekusi House – Kuma Lab & Iwasawa Lab, beide University of Tokyo, Ejiri Structural Engineers) versteht sich als Weiterentwicklung von Le Corbusiers Prototyp aus Decken und Stützen. Domino 3.0 besteht aus den digital vermessenen, mittels 3-D-Drucker rekonstruierten Bäumen, die der Sturm Vaia in Norditalien 2019 mitgerissen hat. Künstliche Intelligenz und japanische Holzverbindungen vereinigten sich zur Wohnstruktur der Zukunft. Dem Original kann sie im Status quo nicht das Wasser reichen.

Auch im Ziegel steckt Zukunft, er findet sich mehrfach. So besteht die vier Meter hohe, statisch belastbare, parabelförmige „Elephant Chapel“ von Boonserm Premthada aus sehr leichten, materialeffizienten Ziegeln aus Elefantendung.

„Artificial.Intelligence“ umfasst alles von der ersten industriellen Revolution über die Mondlandung, Big Data bis hin zu künstlicher Intelligenz, die Grundrisse für soziale Wohnbauten generiert. Absoluter Publikumsliebling ist der humanoide Roboter Alter 3. Seine Schöpfer, Takashi Ikegami und Luc Steels, statteten ihn mit Komponenten für Wahrnehmung, Bewegung und ein episodisches Gedächtnis aus. Man kann mit ihm plaudern, seine Mimik und Antworten suggerieren Gefühle. Nothing beats the Original. „Collective.Intelligence“ feiert solidarische, empathische Projekte. Seien es schwimmende Schulen, Notbehausungen, Theater oder sehr kluge Adaptionen für günstigere Wohnungen: Hier wird Architektur wieder zum Instrument, Lebensbedingungen zu verbessern. Upcycling ist anderswo alltägliche Überlebensstrategie.

Filmisch dokumentiert „Alternative Urbanism: The Self-Organized Markets of Lagos“ vom Studio Oshinowo das geschäftige Treiben auf drei riesigen, selbst organisierten, illegalen Spezialmärkten in Lagos, wo aus Industriemüll der westlichen Welt sehr kreativ Brauchbares gefertigt und verkauft wird. In Europa macht sich die Bürgerinitiative „House Europe!“ für Nutzung und Erhalt von Bestand stark. Alte Bauten speichern sehr viel Energie, ihr Abriss ist Verschwendung und Vernichtung von Material, mit gravierenden Konsequenzen: Wohnen wird unleistbar. Bis 31. Jänner kann man noch unterschreiben.

Hier Kühl-, dort Strickdecke

Zum besten Beitrag wurde das Canal Café von Diller Scofidio + Renfro, Natural Systems Utilities, SODAI, Aaron Betsky und Davide Oldani gekürt. Auf der Lagune des Arsenale installierten sie eine Art Hybrid aus Labor und Espressobar, der das Brackwasser aus dem Kanal biologisch und künstlich filtert, um alle Schadstoffe zu entfernen. Aus dem gekochten Wasser wird Espresso gebrüht. Wenn die Zukunft der Architektur so intelligent, kommunikativ und genussvoll ist, bitte gern!

Die nationalen Pavillons haben durchwegs außergewöhnlich hohes Niveau, fast jeder ist ein Gewinn. Den Goldenen Löwen bekam Bahrain für eine modulare Kühldecke, die von einer Mittelstütze getragen wird und daher überall im öffentlichen Raum installierbar ist (Kurator Andrea Faraguna, Statik: Mario Monotti, Bauphysik: Alexander Puzrin). Ihre Wirkung war vor Ort eindeutig spürbar.

Serbien versinnbildlicht Kreislaufwirtschaft, Interdisziplinarität und technologischen Fortschritt in unnachahmlich poetischer Weise. Die riesige Strickdecke, die als malerischer Baldachin von der Decke hängt, verbindet die Kulturpraxis des Strickens mit der ersten künstlichen „Belgrade Hand“ (1963). Im Lauf der Biennale wird sie von Spulen an den Wänden aufgespult und verlustlos wieder verwendbar sein.

Österreich thematisiert „leistbares Wohnen“

Wohltuend klassisch präsentiert Spanien 16 ausgesuchte Projekte auf je einer Waage in der Balance mit ihrer Umwelt. Sie zeigen unaufgeregt, wie Architektur zur Dekarbonisierung beitragen, Materialforschung vorantreiben und das regionale Handwerk stärken kann. Der dänische Pavillon hätte eine Auszeichnung verdient: Er entwickelt Schutt der momentanen Restaurierung zu Neuem, das langfristig wieder einbaubar ist. Selbst Detailpläne sind hier ausgestellt, die Verweildauer von Architekturschaffenden ist lang. Ukraine, Lettland und der Libanon reflektieren Architektur unter der Bedingung von Krieg.

Das österreichisch-italienische Kuratorentrio Michael Obrist, Sabine Pollak und Lorenzo Romito thematisiert als einziges die virulente Frage leistbaren Wohnens. Ihre „Agency for better Living“ stellt den fürsorgenden sozialen Wohnbau in Wien aus und der aus staatlichem Versagen geborenen zivilgesellschaftlichen Eigeninitiative in Rom gegenüber. Was beide voneinander für ein besseres Leben lernen können, wird eine Biennale lang diskutiert.

11. Februar 2025 Spectrum

Theater an der Wien nach der Sanierung: Der neue Charme der alten Bühne

Das Theater an der Wien wurde aufwendig generalsaniert. Das tat ihm gut, und die Architekten bewiesen Mut: Sie eliminierten Büros im ersten Stock, räumten im Foyer auf und setzten eine neue Treppe in die Mitte.

Wie ein Baldachin ragt die matt schimmernde Untersicht aus Aluminium über das Trottoir vor dem Eingang ins Theater an der Wien, dezent dehnt es so sein Foyer in den öffentlichen Raum aus. Endlich. Dass dieses Vordach im ersten Stock einen veritablen Balkon ausbildet, lassen erst die sechs Stahlsäulen am Gehsteigrand erahnen. Beim zweiten Blick hinauf nimmt man die gläserne Brüstung wahr. Für ein Vordach wäre es sehr stark dimensioniert, für den Pausenbalkon eines Theaters hingegen bemerkenswert schmal. Das neue, zweite Foyer, dem dieser Balkon seine Berechtigung verdankt, ist die eigentliche Sensation des Umbaus, den das Theater gerade hinter sich hat. Doch davon später – schon sein neuer Auftritt in der Stadt ist eine Sensation.

Die Geschichte des Theaters beginnt mit Emanuel Schikaneder. Dieser war nicht nur Textdichter und erster Papageno der „Zauberflöte“, er war auch Theaterprinzipal. Bis 1799 hatte er das Freihaustheater geführt und dann bei Kaiser Franz II. um Baubewilligung des Theaters an der Wien angesucht. Architekt Franz Jäger der Ältere plante es im klassizistischen Baustil, sein Sohn Anton und Joseph Raymund führten den Bau nach nur 13 Monaten zu Ende. Er reicht über die gesamte Tiefe des Häuserblocks bis zur Lehárgasse.

Einst Ausweichbühne der Staatsoper

Am 13. Juni 1801 war die Eröffnung, der ursprüngliche Eingang, das „Papageno-Tor“ in der Millöckergasse, ist heute noch zu sehen. Ludwig van Beethoven, Johann Strauß, Carl Millöcker, Franz Lehár: Hier wurde Musikgeschichte geschrieben. 1845 erweiterte man das Haus, 1854 malte Josef Geyling das Fresco der neun Musen an die Decke des Zuseherraums, den die versierten Theaterarchitekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer 1901 neu gestalteten, 1902 riss man das Vorderhaus an der Wienzeile ab und ersetzte es durch ein vierstöckiges Zinshaus. Daher trat das Theater an der Wien nach außen hin kaum in Erscheinung, auch sein Foyer war nicht viel mehr als ein breiterer Gang ins Parkett, selbst der Bühnenturm taucht im Stadtbild unter, die Anlieferung befindet sich rückwärtig an der Lehárgasse. Dazwischen liegt ein Höhenunterschied von 1,20 Metern.

Trotzdem zählt das Theater mit seinen 1124 Sitz- und 50 Stehplätzen zu Wiens größten Häusern. Nach dem Krieg diente es der Staatsoper als Ausweichbühne, 1960 bis 1962 wurde es von Otto Niedermoser umgebaut. Das Interieur von Foyer und Garderobe stammt aus dieser Zeit, in den frühen 1980er-Jahren rekonstruierte man die Fassade, sonst passierte nicht viel. Barrierefreiheit, Brandschutz, Haus-, Elektro-, Bühnen- und Sicherheitstechnik: alles veraltet.

Zeitplan wurde eingehalten

Eine zukunftsfähige Generalsanierung inklusive Bausubstanz und Innenraum war überfällig, das Bewerbungsverfahren dafür gewann die Arbeitsgemeinschaft Riepl Kaufman Bam­mer Architektur und L-Bau-Engineering. Das war im Juli 2021, neun Monate später begann der Bau, im Oktober 2024 wurde eröffnet. Mehr als sportlich. „Wir hielten den Zeitplan haarscharf ein“, bestätigt Daniel Bammer.

Die Königsidee der Architekten war, die Büros im ersten Stock aufseiten der Wienzeile zu eliminieren und so dem neuen Foyer im ersten Rang den Weg zu ebnen. Das war mutig, denn es antizipierte den nutzerseitigen Verzicht auf Büros mit Aussicht und die Zustimmung des Bundesdenkmalamts zu größeren Eingriffen. Beides geschah. Als großzügiger, offener Raum mit hellbeigem, an die Tonigkeit der 1960er-Jahre angepasstem Terrazzo und mattblauer Decke zieht sich das neue Foyer nun bis zu den verglasten Fenstertüren auf den neuen Balkon. „Himmel“ steht etwas euphemistisch im Parterre auf einem der vier weißen Pfeiler in der Mitte, zwischen denen nun eine leichte Treppe aus Schwarzstahl alle Ebenen vom Untergeschoß – der „Hölle“ – bis zum ersten Rang verbindet.

Der Saal strahlt wieder

Die Umsetzung war extrem aufwendig. Um der Treppe Raum zu schaffen, musste der mittlere Teil des Foyers entkernt, die ovale, denkmalgeschützte Decke mit den runden Lichtern von Oskar Niedermoser entfernt, wieder eingesetzt und eine eindrucksvolle Stahlkonstruktion errichtet werden: eine Art Grid aus mächtigen, stützenbildenden I-Trägern, Unterzügen und der Konstruktion der Rasterkassettendecke mit Oberlichten im Hof, die nun einen Teil des Foyers belichtet und nicht so drückend erscheinen lässt. Im Kontext seiner neuen Größe wirken die drei Meter Raumhöhe niedrig, was allerdings bei Festbeleuchtung in Pausen und auf Premierenfeiern keine Rolle spielt.

Betritt man das Theater, herrscht nun eine ganz andere Atmosphäre: Die Entkernung tat ihm gut, das Foyer wirkt auf einmal luftig. Es sind einfach alle Zwischenwände weg, kein Sanitärkern an der falschen Stelle und keine Stiege, die das Foyer zum Gang reduzieren. Stattdessen eine offene Treppe, die den Blick nach oben zieht und zwischen ihren Untersichten seitlich weiter. Trotzdem ist das Wesen des Theaters noch dasselbe, um nicht zu sagen: Es kam noch mehr zu sich.

Der unauffällige Charme der 1950er-Jahre kommt im nunmehr aufgeräumten Umfeld viel besser zur Geltung. Man nimmt die eigenartig reizvollen Mosaikarbeiten von Wolfgang Hutter und Roman Haller besser wahr, dasselbe gilt für Garderoben, Lampen, Spiegel. Auch die Bestuhlung aus den 1960er-Jahren blieb. „Es sind solide Sessel mit guten akustischen Eigenschaften. Die konnte man durchaus wiederverwenden“, erklärt Bammer. Alle originalen Möbel, Türen, Luster, Wandbespannungen, Brüstungen, Kyriatiden wurden in Absprache mit dem Bundesdenkmalamt sorgfältig saniert. Der Saal strahlt wieder.

Ort der Begegnung

Ein Theater ist eine Maschine: Etwa 80 bis 85 Menschen arbeiten in der Bühnentechnik, es braucht kleine Werkstätten zur Montage, eine Einbringöffnung für Hubbühnen, zwischen Bühnen- und Schnürboden liegen 22 Meter. Der Orchestergraben ist 4,70 Meter tief, er musste unterfangen werden; das Parkett bekam einen neuen, ansteigenden Boden, aus dem Frischluft strömt, unter den ersten Sesselreihen parkt das Stuhllager.

Von all dem kriegt das Publikum nichts mit, es genießt einfach das Resultat. „Ein Theater ist ein Ort, wo man sich begegnen kann. Ein gesellschaftliches Ereignis“, sagt Bammer. Dem gibt diese vornehme, zurückhaltende und doch selbstbewusste Architektur nun wieder einen angemessenen Rahmen.

30. Dezember 2025 Spectrum

Bregenzer Kornmarkt: Das Hotel „Kleiner Löwe“ hat ein Tonnendach

Auf dem Kornmarktplatz in Bregenz steht eine kleine Architektursensation: Das Schweizer Architekturbüro Herzog und de Meuron hat dort ein Stadthotel mit historischer Fassade und Wohnloft in Szene gesetzt.

Die Lage ist premium: Das kleine schmale Haus steht hinter einer schattenspendenden, alten Linde auf dem Bregenzer Kornmarktplatz. Gegenüber befindet sich das Vorarlberg Museum der Bregenzer Architekten Cukrowicz Nachbaur mit den phänomenalen PET-Flaschenböden-Reliefs des Künstlers Manfred A. Mayr, die an Streublumenmuster oder Semmeln erinnern. Daneben das Landestheater, gefolgt vom ikonischen Kunsthaus des Pritzker-Preisträgers Peter Zumthor.

Das Haus liegt zwischen zwei Feuermauern auf einer acht Meter schmalen Parzelle, die sich 23 Meter tief in einen versteckten Hintergarten zieht. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert und war ursprünglich eine Bierbrauerei; Lüftungsschlitze verraten bis heute, dass dort Gerste gelagert wurde. Gleich nebenan befand sich das Gasthaus „Zum Goldenen Löwen“, wo man auch übernachten konnte. Die Brauerei wurde zum Kinematografen, in den 1920er-Jahren zog die Allgemeine Depositenbank ein, der die Fassade ihre heutige neobarocke Erscheinung mit den drei Fenstertürbögen zum Platz verdankt. In den 1970er-Jahren wurde das Gasthaus abgebrochen; das schmale Häuschen blieb, es war Möbelhandel, Feinkostladen, Nachtclub, Café und Bar.

Ein gemischt genutztes Stadthaus

Mitte November 2013 brannte der Dachstuhl, seither stand das Haus leer. Im Herbst 2015 nahm es der Bauherr erstmals bewusst wahr, wurde sich mit den Grundeigentümern rasch einig und kaufte das Haus. Diese Lage ist auch Verpflichtung, es sollte ein gemischt genutztes Stadthaus bleiben: unten Gewerbe, oben Wohnen. „Wir wollten das Richtige tun und etwas finden, das der Platz noch nicht hat“, sagt der Bauherr. Geschäfte, Restaurants, Cafés und Banken gibt es hier genug, das Haus sollte in die Fußstapfen des „Löwen“ treten und ein exquisites Boutique-Hotel werden: der „Kleine Löwe“. Das Bauherrenpaar wollte es als Quereinsteiger selbst betreiben, dezidiert aber keinen Vorarlberger Architekten, sondern unbedingt und ausschließlich ein bestimmtes Architektenbüro mit dem Umbau betrauen: die Schweizer Herzog & de Meuron oder keines.

Der Bauherr griff nach den Sternen, kontaktierte das Büro, blieb hartnäckig, fuhr öfter nach Basel und ließ sich nicht abwimmeln. Glück war auch dabei: Die Chemie stimmte, zudem hatten Herzog & de Meuron bis auf die – natürlich! – außergewöhnliche Siedlung in der Wiener Pilotengasse noch kein weiteres Projekt in Österreich realisiert. Sie fanden die Bauaufgabe interessant. Der Umgang mit Bestand ist ein Thema der Zukunft, der sehr spezielle, beengte Bauplatz, das Raumprogramm und nicht zuletzt die Dringlichkeit des Bauherrn machten dieses Projekt besonders. Anfang 2017 nahmen Herzog & de Meuron den Auftrag an. So kam Bregenz zu einer weiteren kleinen Architektursensation.
Beengter Bauplatz als Herausforderung

Die Substanz des Hauses war nicht zu retten, bis auf die Fassade blieb davon nichts. Erstere wollten Herzog & de Meuron als integrativen Bestandteil des Kornmarktplatzes unbedingt erhalten, obwohl sie nicht unter Denkmalschutz steht. Sie musste aufwendig unterfangen und mit einem Stahlgerüst gestützt werden, bis das Haus hochgezogen war. Die Fundamente der Nachbarhäuser wurden im Düsenstrahlverfahren unterfangen, um die Bestandsbauten nicht zu gefährden; aufgrund der beengten Verhältnisse war der Bau eine besondere Herausforderung.

Hinter der in hauchzartem Hellblau kalkverputzten historischen Fassade mit den weiß gefaschten Rundbogenfenstern befindet sich ein kompletter, fast 20 Meter hoher Neubau. Das entspricht der Firsthöhe des Nachbarhauses aus den 1970er-Jahren. Es brauchte einige Massenmodelle mit Quadern, Pult- und Satteldächern, bis das Tonnendach als ideale Form gefunden war. Weich und halbkreisrund überwölbt die leichte Dachkonstruktion aus Holz den Raum zwischen den Feuermauern, gleicht souverän die fünf Meter Differenz zwischen den im Osten und Westen angrenzenden Häusern aus und wirkt durch den halbkreisförmigen Dachabschluss weniger hoch. Das ist sehr gut so.

Das Erdgeschoß mit den drei hohen Rundbogenfenstertüren auf den Platz ist die Auslage des Hauses, hinter der sich ein großer, 4,80 Meter hoher, durchgesteckter Raum bis zur vollverglasten Rückfassade durch die gesamte Haustiefe zieht. Schlichte, halbhohe Lamperie aus mattweißem Holz, darüber schlammfarbene, stoffbespannte Paneele, die akustisch wirksam sind, Holzparkett und geschmackvolle Möbel schaffen eine Atmosphäre, die genau den richtigen Ton zwischen wohnlich und urban trifft. Der Raum ist so choreografiert, dass er nie wie ein Schlauch wirkt und ganz beiläufig als Lobby, Wartebereich, Café und Veranstaltungsort in der Stadt dienen kann.

In der Mitte senkt sich die Decke auf 2,50 Meter ab. Ihr gespachtelter, schimmernder Stuccolustro-Putz reflektiert das Licht, der Tresen darunter ist auch Rezeption und Bar. Darüber beginnt die halb gewendelte Kreistreppe ihren Weg in die oberen Ebenen. Das Hotel teilt sich den Eingang mit dem sogenannten Stadtsalon, an dessen Seitenwand eine einläufige Treppe zu den Zimmern führt. In der dunklen Mittelzone ein mit Sternparkett belegter Verteilerraum zwischen Zimmertüren, Treppe und Lift, im Süden je zwei Zimmer an eineinhalb Fensterachsen zur Stadt, im Norden je zwei mit Glasfronten und kleinem Balkon zu Hintergarten und Pfänderblick.
Versteckte Terrasse

Der „Kleine Löwe“ fügt sich stimmig in die Stadtstruktur, ohne seine Bauzeit zu verleugnen. Das ist nicht zuletzt der Geometrie des Kreises zu verdanken, die den neobarocken Rundbogen zitiert und sich in vielen Details und Größenordnungen zeigt. Das hat System. Auf der beengten Fläche, die hier zur Verfügung steht, ist die fließende Grenze, die der Kreis im Raum erzeugt, sehr gewinnbringend. So bildet der viertelkreisförmige Abschluss der raumhohen Stahl-Glas-Fassade auf dem Balkon eines hintergartenseitigen Zimmers einen Freiraum aus, in dem man entspannt draußen sitzen kann. Sein Pendant bildet innen die runde Dusche mit den runden Fliesen.

Die schmale Dachtonne mit der silberweiß schimmernden Aluminiumhaut fügt sich in die Bregenzer Dächer. Sie ist ein wenig vor die Glasfassade gezogen und schützt so die zwei Balkone der bauherrlichen Wohnung vor zu viel Sonne, Regen und Neugier. Die Schlafräume befinden sich im dritten Stock über den zwei Zimmerebenen des Hotels und halten sich auch an deren Raumaufteilung: in der Mitte die Erschließung, je stadt- und hintergartenseitig die Räume. Südwärts die Wohnküche zu Garten, Baum, Hinterhofgewusel, Dachlandschaft und Pfänder, nordwärts das Living mit der großen, vom Tonnenvordach in fünf Meter Höhe überdeckten Terrasse zum Kornmarktplatz mit einer Ahnung vom Bodensee.

Die zweigeschoßhohe Wohnebene ist geprägt von der Dachwölbung. In ihrer Mitte ist ein Kreis in die Aluminiumhaut eingeschnitten: Er rahmt eine runde, gleichermaßen im Dach versenkte, versteckte Terrasse, auf der man nur noch den Himmel über sich hat. Der Rest ist Privatsphäre.

26. November 2024 Spectrum

Umbau des ältesten Waldorfkindergartens Wiens: Hier wird nicht nur mit Lehm gespielt

Der erste und älteste Waldorfkindergarten Wiens wurde jüngst aus- und umgebaut. Der innovative Ansatz: Reduktion auf natürliche Materialien und großflächiger Einsatz von Lehm aus dem Aushub des Turnsaals.

Die Rudolf-Steiner-Schule in der Mau­rer Endresstraße ist die älteste Wiens; seit ihrer Gründung 1964 blieb sie ihrem Standort treu. Die oberen Schulstufen werden im denkmalgeschützten Maurer Schlössl neben der Pfarrkirche unterrichtet. Waldorfkindergarten und Hort waren im kleinen Nebengebäude auf der anderen Straßenseite untergebracht. Ein typisches, eingeschoßiges Vorstadthaus der Gründerzeit mit tragender Mittelmauer, darüber ein Walmdach, straßenseitig drei Gaupen. Der Bestand war stark abgenutzt, die Räume waren beengt, es gab keinen Turnsaal. Die Kinder mussten selbst im Winter im Freien oder woanders turnen. Außerdem brauchte es mehr Platz für Kindergarten, vier Stammklassen sowie Räume für den Hort, Sonderunterricht und das Schulrestaurant.

Der Um- und Ausbau des Waldorfkindergartens von Dietrich/Untertrifaller und Andreas Breuss reagiert nun auf Bestand und Schulgemeinschaft. Dass 2500 m² unbehandelter Lehmputz aus dem Aushub des Turnsaals in dieser Größenordnung verbaut wurden, ist eine Pioniertat.

2014 lud der Rudolf-Steiner-Schulverein sechs Büros zum Wettbewerb, die Vorarlberger Dietrich/Untertrifaller und der im Lehmbau sehr versierte Andreas Breuss gewannen: Ursprünglich war ein Neubau geplant, der Bestand aber war unter Ensembleschutz. Er durfte also maximal zu 50 Prozent abgerissen werden, das alte Haus blieb bis zur Mittelmauer erhalten. Gott sei Dank: Die Zukunft liegt klar in der Bestandsanierung, die jetzige Lösung ist aufgrund der darin gespeicherten grauen Energie wesentlich nachhaltiger und entspricht besser der Schulphilosophie. Sie transformiert deren Geschichte in einer Architektur, die Alt und Neu zusammenführt und so zu einer faszinierenden atmosphärischen und räumlichen Vielfalt führt. „Die Frage war, wie man es schafft, aus dem kleinen Ding ein großes zu machen, ohne dass man es sieht“, erklärt Much Untetrifaller. „Wir extrudierten das Dach so weit wie möglich nach hinten und erzielten damit fast die doppelte Fläche.“

Das gelang innerhalb der bestehenden Traufkante von 7,50 Metern: Die drei breiten, horizontalen Gaupen im weit nach hinten reichenden Dachkörper wirken wesentlich eleganter als vorher, kaum wahrnehmbar steigt dahinter die extrudierte Fläche bis zu ihrem Hochpunkt über dem Stiegenhaus weiter an. Hier bringt es die Schule auf zweieinhalb Geschoße, die zwei oberen Klassen münden in eine riesige, ins Dach eingeschnittene Terrasse, wo man im Freien lernen kann.

„Dieser Baumbestand ist ein Glücksfall“

Im Garten spürt man das Mehrvolumen des Turnsaals mit den aufgesetzten Geschoßen deutlich, nimmt es aber vor allem hofbildend wahr. Die schwarzen Eternitschindeln harmonieren gut mit der Natur, die sich in den Glasscheiben spiegelt. Die Verzahnung von innen und außen ist gelungen. „Dieser Baumbestand ist ein Glücksfall“, sagt Untertrifaller. „Wir wollten, dass der Schulhof mit dem Grundstück verwoben ist.“ Die Architekten stellten den Turnsaal im rechten Winkel zum Bestand an dessen Westflanke, rechts davon mäandert ein kleiner, umzäunter Garten für den Kindergarten an der Grundgrenze entlang, in dem ein kleines Lehmziegelhaus steht, das die Schüler und Schülerinnen gebaut haben. Selbst Säen, Ernten, Weben, Spinnen, Korbflechten und andere Handwerke zählen zu den Fähigkeiten, die man sich hier aneignet.

Der Turnsaal bildet mit der Schule eine Art l-förmige Hoftypologie und fasst so den Freiraum ein. Er ist zwar drei Meter ins Erdreich abgesenkt, darüber aber bringen 2,70 Meter hohe Fensterbänder viel Tageslicht und einen direkten Blick in die Baumkronen herein. Ein Hauptgrund, warum dieses Projekt gewann. Ein externer Zugang garantiert, dass auch Externe von der hellen, 15 mal 27 Meter großen Normturnhalle profitieren. Stützenfrei überspannen Holzleimbinder die gesamte Spannweite. Das funktioniert nur, weil sie mit dem Klassengeschoß im ersten Stock ein statisches Raumtragwerk bilden.

Gekühlt wird mit Nachtluft

Der Bau ist vorbildlich nachhaltig, dezidier­tes Ziel waren chemiefreie Innenräume. „Wir verwendeten vor allem natürliche Materiali­en“, sagt Andreas Breuss. Er hat den Lehmbau bis dato vor allem im Privatbereich angewandt, die Rudolf-Steiner-Schule aber hat Öffentlichkeitsrecht und muss entsprechende Vorschrif­ten erfüllen. Trotzdem ging es ohne Rigips. Alle tragenden Wände sind aus Brettsperrholz, Zwischenwände aus Holzfaserplatten, Böden aus Holz, der Lehmputz ist aus dem eigenen Aushub angerührt, er passt farblich und sorgt für angenehmes Raumklima, weil Lehm Feuchtigkeit aufnimmt und sehr langsam wieder abgibt. Er ist also auch bauphysikalisch wirksam und verbessert die Akustik. Gekühlt wird mit Nachtluft, bis auf erdberührende Bauteile und das Stiegenhaus wurde kein Beton eingesetzt.

Man betritt die Schule seitlich im Foyer, die anschließende Schulkantine hat eine riesige Gartenterrasse und eine professionelle Gastroküche. Sie ließe sich als Lokal betreiben, Mauer könnte das brauchen. An der Schnittstelle von Bestand und neuem Turnsaal liegt eine Scherenstiege. Sie ist von zwei Seiten begehbar und erschließt den Turnsaal sowie die zwei offenen Laubengänge, die im Osten und Westen den ersten Stock flankieren. Sie sind innen bis in Brüstungshöhe mit Holz, außen mit schwarzen Eternitrauten verkleidet und so Teil des Dachkörpers. Den Klassen schaffen sie einen gedeckten Pausenflur im Freien. Er ist so bergend wie offen, zwei Außenstiegen an seinen Enden führen direkt in den Garten.

Auch das Foyer hat eine zweite Tür. „Hier gibt es keine Sackgassen, es gibt zwei Eingänge, zwei Ausgänge, ein Scherentreppenhaus, alle Unterrichtsräume sind miteinander verbunden, man könnte endlos im Kreis gehen“, so der Architekt. In dieser Schule kann man sich verlaufen, aber unmöglich verlieren. Die sechs Räume im ersten Stock des Neubaus sind alle gleichwertig, über Türen verbunden und flexibel nutzbar.

Zwischen den zwei Räumen im Westen liegen Garderoben und Sanitärzellen: Ihre Mitte bildet ein rundes, weißes Corian-Möbel mit vier Waschbecken. Es wirkt wie ein Dorfbrunnen, Händewaschen wird hier zum sozialen Akt. Dafür gibt es keine Spiegel. Wozu auch, wenn man einander ansehen kann? Alt- und Neubau bilden ein Ganzes, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander bezogen bleiben. Vor allem aus den Überschneidungen resultiert eine große räumliche Komplexität.

16. August 2024 Spectrum

Für diese steirische Schule gilt: Gefahr in Verzug

Über den Fortbestand der Neuen Mittelschule in Weiz wird schon länger debattiert. Seit einem Jahr müsste sie dringend saniert werden, passiert ist nichts. Nun stimmte der Gemeinderat dafür, die Aufhebung des Denkmalschutzes zu beantragen.

Die 1960er- und 1970er-Jahre waren selige Dekaden. Der Sozialstaat regierte, man glaubte an die Zukunft, den Fortschritt und dass gleiche Chancen für alle die Welt zu einem besseren Ort machen würden. Bildung wurde allen sozialen Schichten zugänglich und von der Schulreform 1962 bahnbrechend erneuert. Lehrende sollten Kinder und Jugendliche zu offenen, diskursfreudigen, modernen Menschen erziehen. Dieses fundamentale Umdenken erforderte auch neue Bauten.

Im Jahr 1964 beauftragte die Gemeinde Weiz Viktor Hufnagl mit dem längst überfälligen Bau einer Doppelhauptschule. Der Wiener Architekt plante zwei wegweisende Schulen, die erstmals in Österreich den Typus der Hallenschule in ihrer Idealform exemplarisch umsetzten. Sie hatten großzügige zentrale Hallen mit umlaufenden Galerien, die ausschließlich von oben belichtet waren. Begegnungsräume par excellence für Veranstaltungen, die Schulgemeinschaft, Lernende und Lehrende. Die Hallenschule transformierte moderne Pädagogik in Architektur und wurde zur bestimmenden Typologie des Schulbaus der 1970er-Jahre. Kaum eine kam an das Original heran, einzig die Schule der Ursulinen von Josef Lackner dürfte ihr ebenbürtig sein.

Ein Ensemble aus einem Guss

Hufnagl setzte die geforderte Doppelhauptschule in zwei annähernd spiegelgleichen, dreigeschoßigen Bauten mit quadratischem Grundriss um. Sie bilden mit dem mittigen, länglichen Quader des Turnsaals, einem Heizturm und dem Portiershäuschen ein Ensemble aus einem Guss. Betonbrutalismus zum Niederknien. Vorbild dafür war der Markusplatz in Venedig mit seinem Campanile, erinnert sich Hufnagls damaliger Mitarbeiter Elmar Hauser.

Der Planungsraster der Schule zieht sich von den Spannweiten der Stützen über die quadratischen Kassetten der umlaufend auskragenden Decken, Fensterachsen bis zu den Betonsteinen auf dem Platz durch. Selbst die Sichtziegelfassade der Turnhalle folgt ihm. „Die Architektur zeigt einerseits die typischen Merkmale eines relativ robusten Strukturalismus der frühen 1960er-Jahre, andererseits eine liebenswürdige, fast spielerische, dem Kind entgegenkommende Kleinmaßstäblichkeit, die ihr die Härte und das Absolute nimmt“, schrieb Friedrich Achleitner.

Mehrfach ausgezeichnete Schule

1968 wurde die Hauptschule mit dem österreichischen Staatspreis für Architektur ausgezeichnet, 2020 mit der „Geramb Rose“ für Klassiker, und noch im selben Jahr wurde der Gesamtkomplex unter Denkmalschutz gestellt.

Das heutige Gymnasium wurde zehn Jahre nach der Hauptschule fertig und wird von der BIG verwaltet. Als man es sanierte, stand es noch nicht unter Denkmalschutz. Der Sichtbetonbau ist weiß gestrichen. Vom Betonbrutalismus blieb nur die Struktur, das erleichtert die Akzeptanz der Bevölkerung. Die Fenster sind neu, etwas klobig. Keine filigranen, schwarzen Holzrahmen mit feiner Unterteilung wie beim Original gegenüber. Über all das kann man streiten. Was bleibt: hier ein gewarteter Bau mit einer zufriedenen Nutzerschaft, die ihren Maturaball in der Schule feiert und stolz ein „Ausgezeichnet“ in die Aula hängt. Dort reißerische Schlagzeilen in der „Kleinen Zeitung“, verängstigte Eltern und Schüler.

Direktorin Carolin Staudacher posiert in der Aula für das Foto von „Kleine“-Redakteur Thomas Wieser vor Kübeln auf dem Boden, die das undichte Dach dokumentieren sollen. Vor Ort verströmt die verwitterte, vermooste, wetterseitige Fassade, aus deren Ritzen Sukkulenten wachen, mit ihren abgesperrten Stiegen und Umgängen das morbide Flair eines Lost Place.

Diese Schule ist statisch noch optimierter als ihr Pendant, fast alles ist im Original erhalten. Drei Stützen an jedem Eck des Atriums tragen einen Großraum von 40 mal 40 Metern, dessen massive Rasterdecken weit auskragen.

Das kolportierte „Gefahr in Verzug“ gilt nicht den dort Lernenden und Lehrenden – es gilt dem Bau. Im Juli brachte die Gemeinde einen „Antrag auf Veränderung ein, der große Eingriffe beim Denkmal vorsieht“, wie das Bundesdenkmalamt in seiner Pressemeldung lakonisch schreibt. Die Diskussionen um den Erhalt der Schule gibt es seit über zehn Jahren. Im Oktober 2021 beauftragte die Gemeinde die Architekten Gangoly & Kristiner mit einem Sanierungskonzept, im November 2022 lag das Resultat vor: Die offene Architektur eignet sich hervorragend für die Lernlandschaften heutiger Pädagogik, die Klassen hatte bereits Hufnagl mit demontablen Zwischenwänden flexibel konzipiert, die katastrophalen Dämmwerte kriegt man mit dem System, das Gangoly entwickelte, in den Griff. Es setzt dem Gebäude im Prinzip innen eine zweite Fassade vor, die Luft dazwischen fungiert als Wärmepuffer.

Stellen im Beton wurden geöffnet

Laut Gutachten kostet eine zeitgemäße Sanierung um etwa zehn bis elf Prozent mehr als ein Neubau. Dabei sind Abriss- und Entsorgungskosten nicht eingerechnet. Heute sind 500 Kilogramm pro Quadratmeter Nutzlast gefordert, zur Bauzeit waren es 300 Kilogramm. Machte man reduzierte Anforderungen geltend, ließe sich noch einiges einsparen. Doch das wollte niemand näher wissen.

Im Juni 2023 fand ein Gespräch mit der Gemeinde, den politisch Verantwortlichen, der Landesverwaltung und dem Denkmalamt statt. Es ergab, dass die denkmalgeschützte Schule saniert werden muss. Dann geschah ein Jahr nichts. Bürgermeister Ingo Reisinger beteuert, seiner Instandhaltungspflicht nachgekommen zu sein. Der Bau spricht eine andere Sprache. Bei der gutachterlichen Untersuchung der Statik wurden Stellen im Beton geöffnet, die dortigen Bewehrungseisen liegen immer noch frei. Korrodieren sie, platzt der Beton ab.

Neue Schule würde wieder mehr Boden versiegeln

Seither hat sich die Diskussion um CO2-Bilanz und Bodenversiegelung massiv verschärft. Der Altbau speichert so viel graue Energie, dass er diesbezüglich jedem Neubau überlegen ist; die neue Schule würde wieder mehr Boden versiegeln. All das wird bis dato nicht bepreist, ganz zu schweigen von den ideellen Werten und kollektiven Erinnerung, die dieses Gebäude speichert. Neu zu bauen ist eine anachronistische Entscheidung. Umso mehr bei einem Bau, der einmal wegweisend war. Er könnte bei einer denkmalgerechten Sanierung wieder wegweisend werden. Das scheint die Politik nicht zu interessieren. „Zum einen ist diese Schule sanierungsbedürftig, zum anderen steht sie unter Denkmalschutz. Wenn man beides gegenrechnet, ist ein Neubau wesentlich günstiger als eine Sanierung“, resümiert der Bürgermeister. „Ich muss wirtschaftlich agieren. Unser Ziel ist ein Neubau.“

2024 attestierte ein Gutachten der Grazer Immobilien Consulting GmbH Seiser + Seiser die wirtschaftliche Abbruchreife. Der Gemeinderat beschloss (es gab nur eine Gegenstimme), die Aufhebung des Denkmalschutzes zu beantragen. Das kann ein Todesurteil sein. Der Ball liegt beim Bundesdenkmalamt, bei der Gemeinde, bei Land und Bund.

Denkmalgeschützte Bauten müssen saniert werden. Man könnte Weiz unterstützen, die Mehrkosten zu stemmen. Die Schule und der Planet wären es zigfach wert.

14. Juni 2024 Spectrum

Ein Haus wie ein Dampfer: die Badesiedlung in Greifenstein

Die ersten Häuschen der Strandsiedlung in Greifenstein waren wirklich nur zum Baden da – heute darf und will man hier mit allem Komfort leben. Wie aus einer „Piratenhaus“ genannten Hütte ein ganzjährig bewohnbares Domizil wurde.

Wasser ist ein konstituierendes Element der Badesiedlung Greifenstein. Eine halbe Stunde von Wien rückt die Stadt hier schlagartig in die Ferne und es beginnt eine andere Zeitrechnung. Wasser in der Luft, Grillen zirpen, es ist grün und frisch. Die Badesiedlung liegt an einem Altarm der Donau, der Bau des Kraftwerks Greifenstein zähmte den Fluss, trotzdem kommt es immer wieder zu Überschwemmungen. Deshalb stehen alle der rund 700 Häuser hier auf Stelzen, deren Höhe sich am Jahrhunderthochwasser 2013 misst: 170, 49 cm über Adria.

Das Hochwasser eint alle, die Kontrolle des Wasserstands der Donau gehört zum Alltag, er findet sich auch auf der Website der Gemeinde. Regelmäßig werden die Häuser geflutet. „Wir konnten direkt vom Balkon aus in unser Schlauchboot steigen“, erinnert sich Andreas Etzelstorfer, der das Büro Backraum Architektur betreibt und selbst in Greifenstein wohnt. Er erweitert sein Haus gerade um einen schlanken, zweigeschoßhoch verglasten, spitzen Zubau aus rotem Holz.

Anfangs nicht mehr als ein Umkleideraum

Bis auf die vorgeschriebenen Stelzen, die den spezifischen Charme dieser Siedlung am Wasser ausmachen, ist jedes Haus ein Unikat. Viele Geschmacksrichtungen, Farben und Formen finden sich, der gehobene Komfortanspruch der zunehmend sesshaften Siedlergemeinschaft ist an der Architektur ablesbar. Die ersten Badehütten wurden Ende der 1930er-Jahre errichtet. Anfangs nicht viel mehr als ein Umkleideraum, kamen später Kochzellen dazu, die zu Küchen wurden, kleine Wohn-, Badezimmer, Hoch- und Stockbetten folgten.

In erster Reihe am Wasser hat sich am Treppelweg ein recht geschlossenes Ensemble alter, dunkelbrauner Holzhäuser auf Stelzen erhalten. Der dezente, dezidiert zeitgenössische Zubau von Architekt Andreas Fellerer ging als vorbildlich sensibel in die Annalen der Architekturpublizistik ein. Unweit davon führt ein massiver Neubau ebenso exemplarisch vor, wie leicht die ausgewogen stimmungsvolle Balance, die diese Atmosphäre bedingt, zu stören ist.

Die Gebäudehülle wurde erhalten

Wer neu baut, nutzt fast immer aus, was die Bauordnung hergibt. Immerhin 80 m² Wohnfläche sind erlaubt, dazu ein Raum mit 50 Prozent der bebauten Fläche zwischen den Stützen, sofern er zwei Öffnungen aufweist, die das Wasser durchfließen lassen. Die Traufhöhe darf 7,50 m betragen. Baugrund in Greifenstein ist hoch begehrt, auf der Suche nach einem Haus bestückte der Bauherr alle greifbaren Postkästen mit Flugzetteln. Die Übung gelang: 2018 erwarb er ein kleines, eingeschoßiges Holzhaus auf Stelzen mit dunkelbrauner, horizontaler Lärchenlattung, weißen Fensterrahmen und Fensterläden auf einer etwa 15 m breiten Parzelle, die sich rund 43 m nordwärts zieht.

Im Süden die Straße, dahinter das Haus, elf Stützen im Erdgeschoß, auf dem in 2,50 m Höhe die Wohnebene aufliegt. Etwa sieben Meter breit, acht Meter lang, im nordöstlichen Eck führt eine dreiläufige Treppe mit Viertelpodest zum Eingang im gartenseitig vorstehenden Erker. Damals war die Bauherrin mit dem zweiten Kind schwanger, das Haus war höchst desolat. Man wollte es erhalten und auch im Frühjahr und Herbst nutzen, es musste saniert und neu gedämmt werden.

In den Hohlräumen zwischen Holzstützen und Lattenfassade bezeugten alte Zeitungen des Jahres 1953, wie sparsam man nach dem Krieg ausgebaut hatte. MO Architekten ließen die abgehängten Decken abnehmen, um die Raumhöhe zu maximieren, und prüften die Tragkonstruktion. Die Gebäudehülle wurde erhalten, thermisch saniert und mit Isolierglas versehen. „Die Zimmer waren sehr klein und für eine Familie ungeeignet. Wir entfernten alle Zwischenwände, um ein Maximum an Raum herauszuholen und alles unterzubringen“, erklärt MO Architektin Olivia Wieser.

Runde, sinnliche Formen

Gestalterisch folgte man dem Schiffsmotiv. Das Holz wurde weiß lackiert, die Küche nimmt es punkto Raumeffizienz mit jeder Kombüse auf. Die Nirosta-Arbeitsplatte ist nicht viel breiter als das Schiebefenster, die Küche teilt sich den kleinen Erker mit dem winzigen Sanitärraum, wo Waschtisch und Dusche unterkamen. Links vom Eingang schwingt sich eine Eckbank um einen auf dem Holzboden angeschraubten Tisch und erreicht das leicht ansteigende Pultdach 2,34 m Raumhöhe. Das Eckfenster lässt sich aufschieben, das Schlafzimmer hat eine Schiebetür aus Nirosta mit Nieten und rundem Sichtfenster, durch ein kleines Bullauge sieht man vom Bett ins Freie. Dessen Korpus ist selbstredend ein Stauraum, die Kinder lieben die kreisrunden Fenster.

2019 war der Umbau fertig und das zweite Kind geboren, die Bauherren verbrachten die gesamte Pandemiezeit in der Badesiedlung. Als zwei weitere Geschwister nachkamen, waren 40 m² nicht mehr genug und ein Ausbau fällig, den Andreas Etzelstorfer von Backraum plante. Räumlich waren zwei Kinder- und ein Elternwohnzimmer gefordert, gestalterisch mussten runde Formen vorkommen, „weil das sinnlich ist“.

Zweites Bad für innerfamiliären Frieden

Auch Etzelstorfer musste aus minimaler Fläche maximalen Raum generieren, außerdem die geforderte Kreisform mit dem rechtwinkeligen Bestand zu einem Ganzen verbinden. „Die Herausforderung lag in besonders vielen Anforderungen: in der Bauordnung, im Raumprogramm, im Bestand, in der Rundung“, bringt er die Sache auf den Punkt. „Im Detail hatte man ganz genau keinen Spielraum mehr.“ Trotzdem konnte er die Bauherrenfamilie von der Notwendigkeit eines weiteren Bades zu überzeugen. Für den innerfamiliären Frieden mit vier Kindern höchst förderlich.

Der Zubau hat Holzriegelwände, die innen mit Brettsperrholz, außen mit weiß lasierten Latten verkleidet sind: Das ist ökologisch, passt zum Bestand und bedingt geringe Wandstärken, was bei so wenig Fläche durchaus relevant ist. Der Zubau schiebt sich gleichermaßen im Vorgarten vor das alte Haus, zwischen den Stützen wurden im zulässigen Höchstausmaß 50 Prozent der Fläche zum hochwasserexponierten Raum geschlossen, den der Bauherr künftig als Werkstätte oder Atelier nutzen will. Davor parken die Autos zwischen den Stützen. Zur Straße hin eckig, zum Garten hin rund, längsseitig wie ein Schiff, überspielt dieses Haus sein Volumen mit südländisch-mediterraner Lebensfreude, die von der Nachbarschaft sehr positiv aufgenommen wird.

Diese Stimmung setzt sich im hellen, leichten Inneren des weißen Holzzubaus fort. Die Treppe in den ersten Stock verschwindet hinter einer Schiebetür mit Bullauge, jedes Kinderzimmer hat eine raumhohe Fenstertür auf den Balkon, der sich die gesamte Südfassade entlang und ums Eck nach Osten zieht. Weiße, verschiebbare Streckmetallpaneele sorgen für Sonnen- und Blickschutz. Über dem Bullauge, das der Badewanne zu einem fulminanten Ausblick verhilft, führt eine Außentreppe auf die große, gedeckte, halbrunde Südterrasse, die sich um das private Elternwohnzimmer im ersten Stock wickelt. Weich rahmt deren Dachform das Panorama über dem Wasser, das Flachdach hat nur noch den Himmel über sich. Zwei witterungsgebeutelte Fauteuils bezeugen, wo der Bauherr am liebsten sitzt.

10. Mai 2024 Spectrum

Wien-Penzing: Wer will in der Schule wohnen?

Die Doppelhauptschule von Helmut Richter in Wien-Penzing ist ein ikonischer Bau. Seit 2017 steht sie leer, seit Kurzem unter Denkmalschutz, der Schulbedarf des Bezirks ist gedeckt. Nun sucht die Stadt nach einer zukunftsfähigen Nutzung: als Wohnbau?

Es dauerte lang: Mit Schreiben 30. April 2021 informierte das Bundesdenkmalamt die Stadt Wien von seiner Absicht, die Doppelhauptschule von Helmut Richter in Wien-Penzing unter Schutz zu stellen. Seit 25. Jänner 2024 ist sie rechtskräftig ein Denkmal. „Wir haben einen sehr aufwendigen Prozess aufgesetzt, um zu einer guten Lösung zu kommen“, so Wolfgang Salcher, der Leiter des Landeskonservats für Wien. Er hofft auf Planer, die „richtig tief einsteigen“. Wie Adolf Krischanitz, der Karl Schwanzers 20er Haus so glücklich sanierte.

Mehrfach ersuchte die Stadt um Fristverlängerung, am 3. März 2023 übermittelte sie ein Privatgutachten von Architekt Manfred Wehdorn, einer Koryphäe der Denkmalpflege. Es prüfte die wirtschaftliche Abbruchreife, ließ keine Zweifel an der „höchsten architektonischen Qualität“ der Schule, stellte aber „verheerende Bauschäden“ fest. Das Bundesdenkmalamt schloss eine „faktische Unmöglichkeit der Instandsetzung“ aus und stellte klar, dass der Verlust der Schule eine Beeinträchtigung des österreichischen Kulturbestands und ihre Erhaltung im öffentlichen Interesse sei.

Offene Räume erweitern den Horizont

Man betrat die Schule seitlich über einen Steg in einer großen, hellen Aula aus Stahl und Glas, 15 Meter hoch, darüber ein schräges, blau getöntes Glasdach, das auch Fassade war, auf einem Tragwerk aus Stahl. Dahinter ein zweites Schrägdach, 1500 m² Glas über einem tief ins Erdreich eingegrabenen Dreifach-Turnsaal. Dazwischen ein Pausenhof, oft wurden die Dächer als Libellenflügel rezipiert, Peter Cook sprach von „hand-tailored tech“.

Die Schule liegt auf einem wasserführenden Hang, der nach Süden steil abfällt, Dach und Gebäude folgten seiner Neigung. Die drei zweihüftigen Klassentrakte, die wie Finger ins Gelände ragen, sind zwischen zwei und vier Geschoße hoch. Offene Erschließungsstege und Treppenkaskaden durchmaßen die gesamte Länge, man überblickte Aula und Turnsaal. Lüftungsrohre, Installation, Stahlknoten, Zugseile, Sonnensegel: alles offen, alles ablesbar, fast jedes Detail ein Unikat. 600 Schüler besuchten die Schule. Richter hatte sie 1991 geplant, sie stand für Aufbruch, Transparenz und die Überzeugung, dass offene Räume mit viel Bewegungsfreiheit den Horizont erweitern.

Alfred Dorfer als Lehrer in „Freispiel“

Richter strebte nach konstruktiver Innovation, formvollendeten Details und orientierte sich an Renzo Piano, Richard Rogers, Norman Foster. Als Professor für Hochbau brachte er frischen Wind und internationale Vortragende an die TU Wien. 16 Jahre lehrte er dort und lebte vor, was es heißt, für Architektur zu brennen. Diese Schule war sein Hauptwerk, ein Direktauftrag und Leuchtturmprojekt des „Schulbauprogramms 2000“ von Stadtrat Hannes Swoboda. Architekten pilgerten in Scharen hin, als Musiklehrer im Film „Freispiel“ unterrichtete der junge Alfred Dorfer an dieser Schule. Es regnete Auszeichnungen, die avancierte Stahl-Glas-Architektur hatte ihren Preis.

Die Akustik der harten Oberflächen war brutal, unbarmherzig brannte die Sonne auf das Glas, Bauschäden kamen heraus und Mängel häuften sich. Keine andere Schule war im Betrieb so teuer. Richters Kompromisslosigkeit war mit den ökonomischen Sachzwängen und dem Pragmatismus der MA 56 nicht kompatibel. Statt der geplanten Drainage, zwischen deren Steinen das Hangwasser durch- und abrinnen sollte, setzte man den Bau in eine Dichtbetonwanne. Die Bauphysik war mit kühlender Nachtluft berechnet, die dafür vorgesehene Lüftungsklappe blieb zu. Die projektierten Fotovoltaikpaneele auf dem Dach gab es nie.

Die Stadt beauftragte Gutachten, die des Werkraum Wien (2015) und von KPPK (2016) hielten eine respektvolle Mängelbehebung zu vertretbaren Kosten für möglich. Bestandserhaltende Maßnahmen wurden auf 5,6 Mio. Euro geschätzt, nichts geschah. Ein Gutachten von Ingenieur Ribarich (2018) ging von etwa 60 Mio. Euro für eine Generalsanierung aus, viel zu viel. Die Stadt lud Experten zu zwei Sounding Boards, niemand war für einen Abriss.

Seit 2017 steht die Schule leer, ein Tod auf Raten. Sie blieb ungesichert, es kam zu Vandalismus, ohne Strom keine Sumpfpumpe, Wasser drang ein, zerbrochenes Glas wurde nicht ersetzt, jeder Schaden ist ein Schritt mehr zur wirtschaftlichen Abbruchreife. Die Stadt als Schulerhalterin schaute zu, die Fachwelt war alarmiert. Architektin Silja Tillner, Helmut Richters Witwe, mobilisierte. Prominenz von Wolf D. Prix abwärts, die ZV, die Ögfa, die IG Architektur, das AzW, die Initiative für Denkmalschutz, „Bauten in Not“: Alle standen in ungeahnter Einigkeit hinter der Schule. Am 18. September 2019 – dem Tag des schutzlosen Denkmals – gab es eine Demo-Lecture, am 23. Oktober einen Fachworkshop an der TU Wien, Architekt Johannes Zeininger brachte eine Petition zum Erhalt der Schule ein.

In der Dauerausstellung des AzW ist die Richter-Schule vertreten, eine Podiumsdiskussion dazu am 26. Jänner 2022 war ausgebucht, das Büro Tillner & Willinger präsentierte dort sein FFG- und „Stadt der Zukunft“-Forschungsprojekt, das die Idee der Solarpaneele auf dem Dach weiterentwickelt und den Bestand zum Fallbeispiel für eine zukunftsweisende energetische Sanierung macht. „Man kann an diesem Gebäude zeigen, wie sich viele Probleme von Glasarchitektur lösen lassen“, erklärt Tillner.

Unweit des Bahnhofs Hütteldorf eröffnete im Oktober 2022 ein neuer Bildungscampus mit 29-klassiger Ganztagsschule für rund 1100 Kinder, damit ist der Schulbedarf des Bezirks gedeckt. Die Richter-Schule muss nun nie mehr Schule sein, die Widmung des Grundstücks lässt Wohnbau zu. Wien kann Wohnen, Wohnen wird gebraucht und rechnet sich.

Erneut Leuchtturmprojekt?

Im Auftrag der Stadt startete die WSE Wiener Standortentwicklung GmbH nun ein Konzeptverfahren. Die Ausschreibung wurde EU-weit veröffentlicht, die Jury darf nicht genannt werden. Zuschlagskriterium ist vorrangig die Qualität der Projekte in Verbindung mit dem angebotenen Preis. Gesucht ist ein Investor mit einem „qualitativ hochwertigen“ Zukunftsszenario für den Bestand. Eine weitere Schul- sowie anderweitige Nutzung durch die Stadt wird dezidiert ausgeschlossen, der Bestand im Baurecht vergeben. „Dadurch behalten wir ein Mitsprachrecht. Wir haben uns über ein Jahr mit der Baudirektion ausgetauscht, nehmen den Denkmalschutz sehr ernst und werfen die Schule nicht einfach auf den Markt“, so Andreas Meinhold, Geschäftsführer der WSE. Wohnen ist möglich und das Verfahren bewusst weit gefasst. Es dient auch dazu, die Interessenslage auf dem Markt abzufragen. „Wir sind für alles offen. Jede Immobilie, die leer steht, tut mir weh“, so Meinhold. „Wenn Helmut Richter noch lebte, sähe diese Schule ganz anders aus. Er hätte sie laufend verändert und angepasst.“

Man weiß es nicht. Was man weiß: Diese Schule ist ein außergewöhnlicher Bau, sie verträgt keine Kompromisse. Das hat sie bewiesen. Wie lässt sie sich erhalten, ohne sie zu zerstören? Die Antwort auf diese existenzielle Frage muss außergewöhnlich sein. Nur dann könnte sie sich treu bleiben und wieder Leuchtturmprojekt werden.

12. April 2024 Spectrum

Neue Wohnanlage in Kirchdorf in Tirol: Wo der Wilde Kaiser grüßt

Wohnbau ist immer zugleich Städtebau – das gilt auch und besonders auf dem Land. Am Anfang der neuen Wohnanlage in Kirchdorf in Tirol stand ein Wettbewerb.

Kirchdorf in Tirol hat einiges richtig gemacht. Die kleine Gemeinde mit knapp über 4000 Einwohnern ist erfreulich kompakt und hat ein eindeutiges Zentrum, die Häuser sind moderat dimensioniert. Zwei bis drei Geschoße, darüber die ortstypischen flachen Satteldächer. Der Dorfplatz beginnt bei der mittelalterlichen Pfarrkirche St. Stephan. Von dort zieht er sich die Straße nordostwärts weiter über das Gemeindeamt bis hin zu seinem gleichermaßen profanen Pendant schräg gegenüber. Dort gruppieren sich alle wesentlichen öffentlichen Einrichtungen, die eine Gemeinde am Leben halten, zu einem angenehmen, ruhigen Dorfplatz.

Der kleine Musikpavillon mit seiner ziehharmonikaartigen, akustisch wirksamen Dachstruktur ist straßenseitig Bushaltestelle, zum Platz hin eine Bühne. Einträchtig fassen der neue Kindergarten, der bestehende Turnsaal, die neue Volksschule und der alte Dorfsaal inklusive Heimatbühne reihum den Platz ein. So ein geglückter öffentlicher Ort fällt nicht vom Himmel, er ist Resultat eines Wettbewerbs, den Parc Architekten und Markus Fuchs gewonnen haben. Selbst das angrenzende Bächlein wurde dafür verlegt.

Kirchdorf liegt im Speckgürtel von Innsbruck, unweit von St. Johann, die Gemeinde ist entsprechend attraktiv, ihr Wohnbedarf sehr hoch. Einen Steinwurf vom Dorfplatz, gleich hinter der Volksschule, lag ein großer Baugrund brach. Insgesamt 13.000 Quadratmeter, eine signifikante Größe für so einen Ort. Im Nordosten schlängelt sich besagtes Bächlein um eine kleine Kapelle, auch im Südosten begrenzt die Großache das Grundstück, der Baugrund war entsprechend schlecht. „Bei so einem großen Bauvorhaben hat ein städtebaulicher Wettbewerb durchaus Sinn“, so Michael Wurzenrainer, Prokurist der sozialen Wohnbaugenossenschaft Frieden Tirol, die sich stark über Architekturqualität profiliert.

Ein Ort, an dem man plaudert

Ein Wettbewerb verursacht Mehrkosten, bei der Wohnbauförderung ist naturgemäß die dafür festgesetzte Kostenobergrenze des Landes Tirol einzuhalten, den Bedarf erhebt die Gemeinde. Die Frieden Tirol schloss sich mit der Alpenländischen Heimstätte zusammen, kaufte den Grund, schrieb gemeinsam mit der Gemeinde 2019 einen städtebaulichen Wettbewerb aus und kooperierte mit der Architektenkammer Tirol; elf Büros nahmen teil. Das Programm umfasste 115 Wohnungen und einen Jugendtreff.

Die Entscheidung der Jury erfolgte einstimmig: Das Projekt von Architekt Veit Pedit und dem Büro Burtscher Durig siegte. Danach erfolgte die Bauwidmung. Gemeinsam entwickelten sie eine Art abgeflachter, trapezförmiger Punkthäuser, die geschickt zwischen dem Maßstab der öffentlichen Bauten am Dorfplatz und den Einfamilienhäusern vermitteln. „Wir wollten keine Reihen oder Blöcke auf das Grundstück stellen, sondern Häuser schaffen, die in den örtlichen Maßstab passen“, erklärt Veit Pedit. Die neun dreigeschoßigen, frei stehenden Baukörper haben trapezförmige Grundrisse, die zwischen 16 und 23 Meter breit sowie 24 und 29 Meter lang sind, jeder ist ein wenig anders. Sie sind so gegeneinander verdreht, dass sich zwischen ihnen kleine Plätze und Wege bilden. Die Eingänge sind an einem Eck in die Häuser eingeschnitten, in diesem gedeckten Freiraum trifft jedes Haus auf Straße und Platz.

Die ersten drei Häuser sind fertig, sie wurden mit Wohnbaufördermitteln des Landes Tirol errichtet. Die Wohnungen waren in kürzester Zeit vergeben, am 17. Oktober 2023 erfolgte die Schlüsselübergabe. Die Stimmung ist gut, auf fast jeder Tür ist „Willkommen“ zu lesen, auf den Balkonen wird Wäsche getrocknet, auch Fahrradständer und Postkästen stehen im Außenfoyer unter Dach, zwischen den V-förmigen Stützen spannt sich eine Bank. Zwei pro Foyer plus Eingang, das macht einen Ort, an dem man plaudert.

Umsetzung innerhalb der Kostenobergrenze

Der Spielplatz für Kleinkinder ist dem Abenteuerspielplatz der Gemeinde keine Konkurrenz. Ein Mädchen schaukelt, das Weidenzelt wartet auf besseres Wetter, und am Bach liegen Findlinge in einem Kreis. Architekt und Bauleiter haben sie gebracht. Jede Wohnung bietet schöne Ausblicke. Den Gipfel des Wilden Kaisers sieht man fast von überall, das Kitzbüheler Horn oft, auch Kirchturm und Bach bieten einen malerischen Anblick, nicht zuletzt die gegenüberliegenden Häuser. Alle Dächer sind extensiv begrünt, schließlich sieht man sie von den umgebenden Bergen aus.

Sie zeigen, dass auch die letzte Hürde – die Umsetzung innerhalb der Kostenobergrenze – souverän gemeistert wurde. „Es wird immer schwieriger, das zu stemmen“, so Christoph Riml, Bauleiter der Frieden, „wir müssen ständig Varianten erstellen.“ Die Anlage hat Passivhausstandard, Grundwasserwärmepumpe, kontrollierte Lüftung. Auch das wird gefördert, ohne rigorose Kostenkontrolle läuft nichts.

Die Architekten hatten die künstlerische Oberleitung und die Planung der Leitdetails inne. Das ist entscheidend, um mit geringstem Qualitätsverlust einzusparen. Von Anfang an gab es nur zwei Fensterformate, aber alle raumhoch. Einmal 90 Zentimeter schmal, französisch, für Schlaf- und Kinderzimmer, einmal drei Meter breit für die Wohnküchen. Aus Kostengründen sind es keine Holz-Aluminium-Fenster mehr, der günstigeren Kunststoff-Alternative sieht man mit dunklen, eingeputzten Rahmen ihr Material nun gar nicht an. Ausgeschrieben war beides.

Spielerisch-mediterrane Anmutung

Die Stiege in der Mitte hat Oberlicht, Wohnungen am Eck sind von zwei Seiten belichtet, fast jede mit zwei Balkonen, gesamt fast 25 Prozent der Wohnfläche. Die Grundrisse sind sehr gut geteilt und ausgestattet: Eichenstabparkett, großformatige, weiße Fliesen in den Bädern. Dafür kommen die Tiefgarage mit Sichtbeton und die Balkongeländer und Fahrradständer mit verzinktem Stahl aus. Keine Mehrkosten für Anstriche. Die Balkonplattformen aus Beton sind auf einer Seite zur Brüstung hochgeknickt: Das schafft Sicht- und Windschutz und verbessert die Statik. Vor allem ist es schön. Wie die Flugdächer und Fenster, die nicht strikt übereinander, sondern gegeneinander versetzt sind. Das gibt der Anlage etwas Spielerisches, sie wirkt fast mediterran und hat eine freundliche Ausstrahlung. Das ist nicht hoch genug zu bewerten.

Die Erdgeschoßeinheiten verfügen über Eigengärten, in der 99-Quadratmeter-Wohnung über der Tiefgarageneinfahrt lebt Familie Gartner, 1390 Euro brutto kostet die Wohnung im Monat, nur Strom kommt noch dazu. Die Familie schätzt sehr, dass die Zimmer ihrer Kinder Leon und Julia französische Fenster auf die Terrasse haben. „Wir wollten immer, dass unsere Kinder selbstständig nach draußen gehen können. Wir lieben diese Wohnung!“, so Steffi Gartner. Vom Esszimmer sieht man das Kitzbüheler Horn. Und die Kinder. Die Einreichplanung für das nächste Haus ist schon in Arbeit.

17. Februar 2024 Spectrum

Adolf Loos wird umgebaut – die Mustersiedlung am Wiener Heuberg

Wiens Siedlern auf der Spur: Auf dem Heuberg reihen sich kleine Häuser mit großen Nutzgärten aneinander, 17 Planer entwickelten 17 Haustypen. Eines dieser Häuser wurde nun ausgebaut.

Die Geschichte der Siedlerbewegung ist eine von solidarischer Selbstermächtigung. Sie begann um 1918 mit einer illegalen Landnahme durch Zehntausende verzweifelte, verarmte, ausgestempelte, hungrige Menschen aller Klassen. Sie bauten ihr eigenes Gemüse an und errichteten sich „um alle Eigentumsrechte unbekümmert“ (Otto Bauer) provisorische Behausungen in sogenannten Bretteldörfern im Wald- und Wiesengürtel Wiens, aber auch auf Militärparadeplätzen, in Parks und Brachstätten der Stadt. In den 1920er-Jahren wurden sie von der Stadtregierung legalisiert und in die Verwaltung eingegliedert.

Adolf Loos leitete das städtische Siedlungsamt, er plante auch die Siedlung auf dem Heuberg. Minimierte Reihenhäuser in Schottenbauweise mit Nutzgarten zur Selbstversorgung, Loos parzellierte sie so, dass die Gärten 40 bis 50 Meter lang und gut besonnt waren, er zeichnete sogar die Beete ein. Siedler und Siedlerinnen leisteten 3000 Arbeitsstunden am Bau, die fertigen Häuser wurden verlost. 17 Architekten entwarfen auf dem Heuberg 17 Haustypen, auch Loos’ Mitarbeiterin Margarethe Schütte-Lihotzky plante zwei Häuser.

Loos realisierte dort acht Musterhäuser als „Haus mit einer Mauer“, das er 1921 patentieren ließ. Es fasst Feuer- und Außenmauer zweier benachbarter Häuser zur gemeinsamen tragenden Trennwand zusammen. Beider 5,5 Meter lange Deckenbalken konnten sie als Auflager nutzen, das sparte wertvolles Baumaterial.

Einst winzig wie eine Skihütte

Für heutige Verhältnisse sind die Häuser sehr klein, die großen Gärten, das merkbar kühlere Mikroklima und die günstigen Mieten machen sie resilient. Sie so umzubauen, dass auch die Nachkommen der Errichtergeneration gern darin wohnen, birgt großes Zukunftspotenzial. Die Mauern sind hellhörig, die Nachbarschaft kommt einander sehr nah. Soziale Verträglichkeit empfiehlt sich, auch das birgt Zukunftspotenzial.

Das Siedlerhaus der Bauherren wurde von Stadtbaumeister Hans Uvodich geplant. Es ist eines der Reihenhäuser in der Röntgengasse, nur 5,90 Meter breit, 7,10 Meter lang, mit kleinem Vorgarten, der Nutzgarten ist riesig. Der Eingang liegt fünf Stufen erhöht an der linken Trennmauer, wo eine gewendelte Treppe ins Obergeschoß führt. Zwei Zimmer und ein Kabinett, straßenseitig das größte mit 16 Quadratmetern, die kleineren zehn und sechs Quadratmeter groß. Im Erdgeschoß eine Wohnküche, dahinter der Stall für das Kleinvieh, die Spüle und der Abort, wichtig zur Düngerproduktion.

Der Urgroßvater der Bauherrin war einer der ersten Siedler der ersten Stunde, später erbte der Onkel das Haus. Er nutzte es vor allem am Wochenende, die einstige Spülküche wurde zum Bad und der Stall zur Küche, sonst änderte sich nicht viel. Später zogen die Bauherren ein, damals noch Studierende. Im Sommer ist es auf dem Heuberg wesentlich kühler und viel ruhiger als in der Stadt, die Bauherren hatten Hochbeete und Obstbäume im Garten. Doch das Haus war winzig und gedrückt wie eine Skihütte, an einen Umbau dachten sie schon lang, im Jahr 2018 begann Architektin Katharina Urbanek mit der Planung.

Geschichte des Hauses erhalten

Die Reihenhäuser auf dem Heuberg wurden von der Genossenschaft Gartensiedlung neu gedämmt, ihre Fassaden tragen nun einheitlich weißen Vollwärmeschutz und Isolierglas in grünen Rahmen. Sie fallen in die Schutzzone, an der Straße wurde nichts verändert; gartenseitig gestattet der Bebauungsplan noch einen 2,9 Meter breiten Grundstreifen über die gesamte Parzellenbreite. Immerhin. „Für mich war klar: Die Geschichte des Hauses sollte ablesbar bleiben“, sagt Katharina Urbanek.

Gleichermaßen archäologisch legte sie Schicht für Schicht frei. Die Holzbalken wurden von den abgehängten Decken befreit und sandgestrahlt, die 40 Zentimeter tiefen Hohlräume dazwischen lassen die Räume wesentlich luftiger und größer erscheinen. „Außerdem kann man Schaukeln aufhängen“, lacht der Bauherr. Oben in der Küche baumelt nun eine von der Decke, die Familie hat drei Kinder.

Katharina Urbanek drehte die Nutzungen um und höhlte den Bestand komplett aus. Von den ehemaligen Zwischenwänden gibt es keine mehr, die alte Treppe wurde durch eine sehr leichte, einläufige Stahlstiege ersetzt, innen minzefarben; eine Außenstiege gibt es auch, vanillegelb führt sie von der Wohnebene in den Garten, der nun besser zugänglich ist.
Fast schwebend über dem Garten

Der Putz der einstigen Außenmauer wurde abgeschlagen. In den rauen, alten, im ökonomischen Rattefallen-Verband – hochkant alternierend zwei parallele Läufer um einen Hohlraum, dann ein Binder – verlegten Ziegeln mit dem hervorquellenden Mörtel vermittelt sich viel Geschichte. Im Wohngeschoß blieben nur ein mittlerer und zwei schmale, seitliche Wandpfeiler stehen, der alte Betonkranz wurde von einem Stahlträger verstärkt.

Der Übergang zu Küche und Esstisch im gartenseitig verglasten Zubau, einer leichten Holzkonstruktion, ist fließend. Er macht sich die Erkerregelung zunutze und kragt um die noch zulässigen 80 Zentimeter über das Erdgeschoß hinaus. Das schafft ein loftartiges Raumgefühl; man hat den Eindruck, über dem Garten zu schweben. Die niedrigen Hauszeilen und großen Grünflächen der Siedlung ermöglichen es, den Blick weit über Wien schweifen zu lassen.

Neben der Treppe ist ein Luftraum eingeschnitten: Das erzeugt zusätzliche Offenheit, verstärkt die Verbindung zwischen oben und unten und verschafft dem Wohnraum eine kleine Galerie. Vom dortigen Arbeitsplatz hat man nun Treppe und Wohnen im Blick.

Räume lassen sich abtrennen oder verbinden

Im Erdgeschoß ist es Katharina Urbanek mit der sehr klugen Anordnung von Türen in der richtigen Aufschlagrichtung und einer Vorhangschiene im Elternschafzimmer gelungen, die familiäre Privatheit zu schützen, obwohl man dort das Haus betritt. Die Treppe zieht nach oben, eine vanillegelbe Wand, von der auch das WC zugänglich ist, flankiert unmissverständlich den Durchstich zum Garten. Die neue dortige Außenwand ist wie früher massiv: Kalksandsteinziegel, unverputzt.

Dank zweier Schwingtüren im Bad, das als Puffer zwischen Kinder- und Elternschlafzimmer liegt, lassen sich diese Räume jeweils für sich abtrennen oder miteinander verbinden. Ähnlich funktioniert der Vorhang, der sich in einer leichten Rundung um das Elternschlafzimmer schieben lässt. Ist er zu, schafft er einen weichen, intimen, uneinsichtigen Raum. Ist er offen, vergrößert sich das Schlafzimmer um die angrenzende Gangfläche. Sind auch die anderen Türen offen, können die Kinder rund um das WC und die verbleibende Trennwand im Kreis laufen.

Erstaunlich, wie viel Raum in einem Siedlerhaus steckt. Dafür muss aber die richtige Architektin auf die richtigen Bauherren treffen. Das passt zur Siedlerbewegung: Sie ist so stark wie die Menschen, die sie leben.

26. Januar 2024 Spectrum

Hauptschule im Vorarlberger Satteins: Sanierung für die Boomer

Viele vorgefertigte Stahlbetonschulen der 1960er- und 1970er-Jahre haben nun Sanierungs-
und Erweiterungsbedarf. Die Hauptschule im vorarlbergischen Ort Satteins zeigt, dass sich
dieser Bestand erstaunlich gut adaptieren lässt.

In der Schnittmenge aus Architektur, Pädagogik und Lehrplan manifestieren sich Ideale und Werte eines Staates. Den Nationalismus noch in den Knochen, bekannte sich die Zweite Republik zur Demokratie und gleichen Bildungschancen für alle. Das Schulgesetzwerk 1962 erhöhte die Schulpflicht auf neun Jahre, führte eine Lehrerbildung an der pädagogischen Akademie ein, ermöglichte Schulversuche und den Wechsel von niederen zu höheren Schulen.

Die Zeichen standen auf Wirtschaftswachstum, Zuversicht und Babyboom. Der Schulbedarf war hoch, man setzte auf vorgefertigte Bauweisen. Die damals fortschrittlichste Technologie war kostengünstig und rasch. Viktor Hufnagl, Franz Kiener, Ferdinand Kitt, Fritz G. Mayr, Herbert Thurnher und Ottokar Uhl erforschten im Auftrag des Ministeriums für Bauten und Bildung zwei Jahre europaweit die Vorfertigung im Schulbau. Sie empfahlen den in Skandinavien weitverbreiteten, hierzulande unüblichen Typus der Hallenschule, die um eine zentrale, großzügige Erschließungshalle organisiert ist und folglich das Land überzog.

Schulreformen halten lang. 1993 und 1997 wurde die Möglichkeit eines integrierten Unterrichts für behinderte Kinder eingeführt, von 2009 bis 2017/18 wurden alle Haupt- zu Neuen Mittelschulen umgewandelt. Die Systemschulen der 1960er und 1970er kommen nun ebenso in die Jahre wie die Babyboomer. Letztere sind pensionsreif, die Schulen müssen an neue Vorschriften und moderne Pädagogik angepasst werden. Das bedeutet: neue, flexible Räume für unterschiedlichste Lernformen.

Typisch für die Zeit

Die Mittelschule am westlichen Ortsrand von Satteins ist ein typisches Kind ihrer Zeit. 1970 gewann Architekt Hugo Purtscher den öffentlichen, baukünstlerischen Wettbewerb. Nach nur 14 Monaten war der vorgefertigte Stahlbetonbau mit den durchgehenden Fensterbändern 1971 – ohne Innenausbau und Turnhalle – zur Benutzung freigegeben, ab 1975 voll ausgebaut.

Auf dem Titelblatt der Eröffnungsbroschüre stürmt eine fröhliche Kinderschar auf den Hof vor dem Eingangstrakt, der zwischen dem vierstöckigen Klassenturm im Osten und dem Turnsaaltrakt im Westen liegt. Letzterer hatte eine „Turnhalle mit internationalen Maßen und Zusehertribüne für 300 Personen“. Im Untergeschoß gab es einen Mehrzwecksaal mit Bühne für ebenfalls 300 Menschen, außerdem eine Lehrschwimmhalle mit einem Becken von 16,66 mal acht Metern.

Von Anfang an hatte die Schule einen Sportschwerpunkt, im Schulversuch „Integrierte Gesamtschule“ wurden auch Sonderschüler:innen unterrichtet. Der Klassentrakt hat einen quadratischen Grundriss mit einem offenen Stiegenhaus zwischen vier Stahlbetonstützen in der Mitte. Um diese zentrale Vertikalerschließung waren pro Ebene vier Norm- und zwei Spezialkassen angeordnet, die ein wenig aus der Fassade vorstanden. In den verglasten Fugen dazwischen lagen die klassenzugeordneten Garderoben.

„Die Architektur war der Pädagogik voraus“

Für Lehrende sah man offensichtlich kaum Platz vor: Sie mussten sich mit einem kleinen Raum beim Eingang begnügen. Konstruktiv ist die Schule ein Stahlbetonskelettbau mit Massivdecken aus Ort- und Fassadenelementen aus Sichtbeton, denen man in den 1980ern Vollwärmeschutz und gelbe Fenster verpasste. Zeitgenössische Pädagogik geht auf Persönlichkeit und Talente der Kinder ein, lernschwache werden unterstützt, leistungsstarke gefördert. Das kann im Einzelunterricht, kleinen, größeren Gruppen und individuell erfolgen. Dazu braucht es „Lernlandschaften“, die sich meist um die Stammklassen anlagern, ebenso wie zentrale „Marktplätze“ zur sozialen Interaktion.

Der Bestand musste räumlich erweitert, neu organisiert sowie punkto Akustik, Sicherheitsvorschriften, Gebäudetechnik und Barrierefreiheit aufgerüstet werden. Den Architekturwettbewerb dazu gewannen Gruber Locher Architekten. Das Bregenzer Büro plant Schulen oft, gern und gekonnt, es erweiterte bereits die von Werner Pfeifer entworfene Schule Mittelweiherburg in Hard.

„Die Architektur war damals der Pädagogik voraus“, erklärt Architekt Reinhold Locher. „Der Vorteil der Bauweise von Schulen dieser Zeit ist, dass es großzügige Flächen außerhalb der Klassen gibt.“ Gruber Locher näherten sich dem Bestand voller Respekt, legten seine Potenziale frei, korrigierten Schwächen, die Eingriffe sind moderat und wirksam. Wegen des Sportschwerpunkts ist der Druck auf die Freiflächen groß, die Architekten versiegelten so wenig wie möglich.

Gute Akustik

Der Eingangstrakt ist rückseitig um einen u-förmigen, zweigeschoßigen Zubau erweitert, der ein Innenatrium ausbildet. Rundum verglast, erhellt es den umlaufenden Gang. Trennwände aus Glas lassen vom Eingang durch Atrium und Lehrerzimmer hindurch über das ganze Geschoß hinwegblicken. „Für uns ist es ein Traum zum Arbeiten. Ich finde diese Transparenz im Haus sensationell“, sagt Direktorin Monika Getzner. 32 Lehrende betreuen derzeit 244 Kinder, davon fünf mit hohem sonderpädagogischen Förderbedarf. Auf dem Atrium gibt es noch einen Ruhe- und Aufenthaltsraum für Lehrende.

Das Gelände fällt vom Eingang im Norden bis zu den Freiflächen um ein Geschoß ab, die Sonderunterrichtsräume im Untergeschoß setzen beim rückseitigen Pausenhof auf, der vom Zubau zwar flächenmäßig reduziert, aber mit aufmerksamer Gestaltung aufgewertet wurde. Die großzügige Erschließung wird zum Marktplatz mit Direktzugang zum Pausenhof, an den sich die neue Bibliothek und der Speisesaal anschließen. Die neue Zentralgarderobe schafft Raum für Kleingruppen. Zwischentrennwände aus Glas, neue Möbel und Oberflächen machen den einst drückenden Bestand sehr freundlich.

Ein frei im Raum stehendes Regal schafft einen lose vom Marktplatz getrennten Bereich für die Kinder. „Das Wichtigste an einer Schule ist mir eine gute Akustik“, so Locher. Man verpasste dem Estrich in der Halle einen akustisch wirksamen Teppich und hängte in den Klassen Baffles (schalldämpfende Raumelemente) auf. Die Turnhalle wurde erneuert und um einen neuen Gymnastiksaal ergänzt. Der Veranstaltungssaal mit Bühne bekam ein kleines Foyer mit Küche. Fossile Energie braucht man auch keine mehr: Nun gibt es Fernwärme, Grundwasserbrunnen und Solarkollektoren an Teilen der Fassade und auf allen Dächern.

24. November 2023 Spectrum

Nordbahnareal Wien: Dieser Tanker bietet Platz für alle(s)

Im Nordbahnareal, einem der größten inneren Stadtentwicklungsgebiete Wiens, steht die HausWirtschaft. Ein Ort zum Wohnen und Arbeiten unter einem Dach.

Von außen sieht es ziemlich wuchtig aus: ein Haus wie ein Tanker auf einem annähernd dreieckigen Grundstück. Acht Geschoße, eierschalenfarbene Lochfassade, ein paar Balkone. Die HausWirtschaft vereint Wohnen und Arbeiten unter einem Dach und ist bei Weitem das größte, komplexeste Baugruppenprojekt, das das einschlägig spezialisierte Büro Einszueins Architektur je realisierte: Sie bildet eine neue Kategorie.

Der kompakte Baukörper ist energetisch effizient, gewinnt mit jedem Meter und wird innen richtig schön: Zwei zentrale Atrien machen aus der Grundstückstiefe einen Gewinn. Sie erhellen die Arbeitsflächen in den unteren drei Geschoßen und die umlaufenden Laubengänge in den fünf Wohnebenen darüber. Deren Regelgeschoß mit Ein- bis Fünfzimmertypen wurde partizipativ mit der Bewohnerschaft geplant.

Urbane Wildnis zähmen

Die HausWirtschaft steht im 85 Hektar großen Nordbahnhofsareal. Bis 2026 sollen dort 10.000 Wohnungen und 20.000 Arbeitsplätze entstanden sein. Das Areal ist eines der größten inneren Stadtentwicklungsgebiete Wiens. Das letzte 32 Hektar große Teilgebiet, das Nordbahnviertel, ist noch am Werden. Dessen städtebauliches Leitbild „Freie Mitte – vielseitiger Rand“ stammt vom Planungsteam StudioVlayStreeruwitz, Agence Ter und Traffix. Es beruht darauf, die urbane Wildnis, die zwischen der Schnellbahntrasse im Westen und dem denkmalgeschützten Wasserturm im Osten entstanden war, zu zähmen und dem Neubaugebiet als „freie Mitte“ zu erhalten. Der Preis dafür ist eine hohe Dichte von 2,1 bis 5,4 am Rand.

Zwischen Scheiben und Riegel mischen sich Türme als städtebauliche Hochpunkte zwischen 60 und 100 Meter Höhe. Letzterer, „Schneewittchen“ von Pevk Berović Arhitekti, ist nur einen Block weiter. „Der Aushandlungsprozess um die Grenzen der Bauplätze war intensiv, die Gebäudeform ergibt sich aus dem Grundstück“, sagt Annegret Haider von Einszueins. „Im Erdgeschoß haben wir einen großzügigen Durchgang, der nicht gewidmet war.“ Im Nordosten rückt der 66 Meter hohe Wohnturm „Laywand“ von Franz und Sue Architekten der HausWirtschaft schon sehr nah. Dort springt der Baukörper zurück und ist der Durchgang. Hier wird das Haus durchlässig und streckt seine Fühler in den öffentlichen Raum aus.

Freiluft-Foyer

Hier beginnt der leicht zurückversetzte, terrakottafarbige, dreigeschoßige Bauteil, vor dem sich im Norden die „freie Mitte“ ausbreitet. Vor dem „Bug“ schafft ein Raster zwischen sich und den Glasfassaden jeder Ebene ihren gedeckten Freiraum. Im vier Meter hohen Erdgeschoß dient er dem „NordbahnSaal“ als Freiluft-Foyer. Davor führt eine Treppe in einen abgesenkten Innenhof – die Ouvertüre. In der HausWirtschaft manifestiert sich eine Haltung zur Stadt, die auf Gemeinschaft fußt und einen Beitrag leisten will. Sie wurde aus Mitteln des Klima- und Energiefonds gefördert, was Exkursionen zu anderen Projekten und die soziale Begleitung durch das einschlägig spezialisierte Büro Realitylab ermöglichte. Die Open Hauswirtschaft war ein Forschungsprojekt des Future Lab RC der TU Wien im Programm „Smart Cities Demo – Living Urban Innovation 2018“ und 2022 bei der Wiener IBA vertreten, Bauträger ist die Erste gemeinnützige Wohnungsgesellschaft (EGW).

Die HausWirtschaft vereint Wohnen und Arbeiten im Verhältnis 50:50. Der Maßstab ist beachtlich: 48 Wohnungen, 3500 Quadratmeter Gewerbe, davon 700 Quadratmeter Co-Working Spaces und die „HausPension“, ein kleines Hotel mit neun Zimmern. Die Lobby mit Empfang ist sieben Meter hoch, der erste Stock der physischen und seelischen Gesundheit gewidmet. Dort befinden sich zwölf Praxisräume für Therapeuten aller Art, ein Kindergarten, ein Rechtsanwaltsbüro sowie zwei große Seminarräume mit großen Fensterfronten, davor ein gedeckter Balkon mit freiem Blick auf die „freie Mitte“.

Geringe Fluktuation

Im zweiten Stock liegt darüber der drei Meter hohe Co-Working-Bereich, die umlaufenden Gänge rund um das zweite, große Atrium im tiefen Baukörper dahinter sind tief und hell genug für informelles Begegnen und Arbeiten. Hier reihen sich Büros, die Ateliers einer Töpferin, einer Siebdruckerin und die Feinwerkstatt aneinander. Im dritten Obergeschoß beginnt das Wohnen an Laubengängen um einen Innenhof. Erste Pflanzen und Schuhe erobern den Sichtbeton, vor der riesigen Gemeinschaftsküche im „Bug“ mit dem Tisch für 20 Personen breitet sich das Dach des niederen Bauteils aus. Die Landschaftsarchitekten von ZwoPK haben es als Garten mit Hügeln und Spielplatz gestaltet. Auch ihr Büro ist in der HausWirtschaft.

„Begonnen hat alles ganz klein im Sommer 2016, ich suchte Kollegen und Kolleginnen für eine Gemeinschaftspraxis“, erzählt Shiatsu-Praktiker Peter Rippl, der seit Oktober 2016 „nebenberuflich hauptsächlich“ der Initiator und Projektentwickler der HausWirtschaft war. Damals kam die Idee auf, Wohnen und Arbeiten zu verbinden, rasch waren Einszueins Architektur im Boot. „Dann konnten wir die EGW als Bauträger gewinnen, und alles wurde immer konkreter“, sagt Angela Kohl, die sich heute mit Peter Rippl die Geschäftsführung teilt, für HausPension und FlexRäume zuständig ist.

Gut besuchte Yoga- und Pilates-Kurse

An die 200 Menschen leben und arbeiten in der HausWirtschaft, die genossenschaftlich organisiert ist. Das heißt: Jeder Kleinunternehmer und jede Kleinunternehmerin zahlt beim Einstieg einen fixen Genossenschaftsbeitrag und ist damit Mitglied. Fast jeder, der hier wohnt, arbeitet auch hier. Fast jeder, der hier arbeitet, identifiziert sich mit der Idee. „Das hat den Vorteil, dass die Fluktuation sehr gering ist und jeder die strategische Entwicklung mitbestimmen kann“, sagt Rippl. Jeder Gewinn kommt der Genossenschaft zugute, ihr Ziel ist klar: leistbaren Wohn- und Arbeitsraum zu schaffen.

„Es war eine große Challenge, wir haben alle noch nie ein Haus gebaut“, sagt Kohl. Die Aussicht, etwas zu tun, was es bis dato in Wien so noch nicht gab, beflügelte die Baugruppe. Zwischen 2016 und 2022 hatte sie kontinuierlich an die 50 Mitglieder, in den jüngsten 1,5 Jahren waren es 85, jeder brachte monatlich gute 15 Stunden Arbeitszeit und seine spezifische Expertise in das Projekt ein. „Wir konnten das nur leisten, weil sehr viele Leute aus der Gruppe sehr viel mitgearbeitet haben. Bis zum Einzug haben wir alles selbst gemanagt.“ Inzwischen gibt es Angestellte. Für die Geschäftsführung, den Betrieb der HausPension, der FlexRäume und des NordbahnSaals.

Seit September 2023 ist das Gebäude besiedelt, bis auf ein paar Co-Working-Plätze ist alles vergeben. Die sonntäglichen Yoga- und Pilates-Kurse waren bestens besucht. Sie weckten sogar bei künftigen Bewohner:innen des benachbarten Wohnturms „Leywand“ Interesse, dabei ist Letzterer noch gar nicht fertig . . .

10. November 2023 Spectrum

Kind sein in Traiskirchen: Hüpfen und spielen im Labor

Die Zukunft einer Gemeinde liegt im Wachstum ihrer Einwohnerzahl. Die einstige Arbeiter- und Industriestadt Traiskirchen profiliert sich als besonders familienfreundlich. Das zeigt sich auch an der Verwandlung der einstigen Zwach-Villa in das Kinderabenteuerlabor KALO!.

Traiskirchen kennt man vor allem aufgrund des dortigen Asyl-Erstaufnahmezentrums und seines Bürgermeisters, der seit 6. Juni auch Vorsitzender der SPÖ ist. Andreas Babler hat nicht nur ein Herz für Asylwerbende und Flüchtlinge, er hat auch eines für Kinder und Familien. Die Gemeinde kaufte leerstehende Industrieareale als Reserveflächen auf, um Traiskirchen zur besonders familienfreundlichen Stadt zu entwickeln.

17 Spielplätze, sechs Schulen, 13 Kindergärten und Krabbelstuben sind am Kinderstadtplan Traiskirchen verzeichnet. Seit September 2022 kennt er einen Ort mehr: KALO! – das KinderAbenteuerLabor. Andreas Babler und Gemeinderätin Karin Blum initiierten das Projekt. „Es war definitiv Chefsache“, erzählt die Leiterin Nina Panozzo. Die engagierte Elementarpädagogin hatte die Vision eines ganzheitlichen Ortes für Kinder zwischen zwei und zwölf zum Forschen, Entdecken, Spielen und Lernen.

Die sogenannte Zwach-Villa auf dem einstigen WAERAG-Areal stand schon lange leer. Die Firma stellt lufttechnische Anlagen für die Papierindustrie her. Käthe Zwach, die Witwe des Firmengründers, verkaufte das Areal an die Stadt Traiskirchen, dort hat sich u. a. das Jugendzentrum Komet eingenistet. Es grenzt an den Garten der Zwach-Villa. Sie ist kein protziger Firmengründersitz, sondern ein sympathisches, eingeschoßiges Einfamilienhaus mit Walmdach aus den 1950er-Jahren. Es steht auf einem Eckgrundstück am Kreuzungspunkt dreier Straßen in einem dispersen Umfeld, das für Traiskirchen bezeichnend ist. Die Gürtelstraße im Norden führt durch eine begrünte Wohnbebauung, die Fabrikstraße im Südwesten bildet die Demarkationslinie zur Industrie. Hier beginnt der Gewerbepark Traiskirchen im ehemaligen Semperit-Werk, gleich gegenüber an der Einmündung der Wienersdorfer Straße steht die Zwach-Villa in einem großen Garten.

Kindgerechte Nutzung der Villa

Eine angemessene Nutzung zu finden, ist überlebenswichtig für die gedeihliche Zukunft jedes Altbaus. ASAP Architekten erstellten eine Vorstudie zur kindgerechten Nutzung der Villa. „Es war ein sehr spannender, integrativer Prozess, wir haben von Anfang an unser Raumprogramm mit dem pädagogischen Konzept mitentwickelt“, sagt Florian Sammer von ASAP. Im ständigen Austausch mit Nina Panozzo machten sie aus dem gediegenen Heim der Industriellenfamilie einen Erlebnisort, eine spielerische Forschungs- und Begegnungsstätte für Kinder, deren Eltern und pädagogisches Personal.

Die Villa hat einen hakenförmigen Grundriss, ihre beiden Gebäudeflügel – der lange, schmälere im Westen und der etwas breitere im Norden fassen eine großzügige Terrasse am Garten ein, die sowohl von der Morgensonne als auch von Süden her beschienen wird. Der frühere Haupteingang lag an der Westseite, genau in der Überschneidung der beiden Trakte. Die Miniaturausgabe der Andeutung einer Freitreppe mit vier Stufen führte hinauf zur Haustür, durch einen kleinen Windfang gelangte man zur Halle im Nordtrakt, wo eine schöne, gediegene, einläufige Treppe aus Eichenholz an der Mittelmauer vor dem terrassenseitigen Wohnzimmer nach oben ins Dachgeschoss führte.

Den Architekten war es wichtig, den wohnlichen Charakter des Hauses zu wahren. Die Holztreppe blieb erhalten, das zweite Fenster der Halle wurde zum neuen Eingang verlängert. Er liegt nun also an der Gürtelstraße und ist vollkommen barrierefrei. KALO! steht in Blau, Zinnober-, Dunkelrot und Sonnengelb in einem rotgerahmten, gläsernen Feld im Zaun, die alten Pfeiler und weiteren Latten blieben. Eine rote Rampe führt im Zick-Zack zum großzügigen Podest vor der roten Tür mit dem runden Guckloch.

Das Budget verschonte die alten Ziegelmauern und selbst das Dach vor Vollwärmeschutz, dafür sind alle Fenster ausgetauscht und thermisch verbessert. Ein paar Zwischenwände wurden abgerissen, ein paar Fensteröffnungen verändert, ein neuer Deckendurchbruch geschaffen. „Wir wollten den Bestand aufbrechen, um Überraschungselemente einzubringen“, sagt Sammer. Dieser Durchbruch erfolgte im System des Bestands. Aus dessen Fertigteildecken wurde ein Deckenfeld entfernt und stattdessen ein Netz eingehängt, von dem ein runder Netzschlauch bis in das darunterliegende Abenteuerlabor im Erdgeschoss führt.

Maulwurfsgänge in die Zwischenräume

Das Innere ist liebevoll als räumliches Umfeld zum kindlichen Empowerment gestaltet. Ein 60 cm hoher Doppelboden aus Seekiefernsperrholz macht das frühere Wohnzimmer zum Abenteuerlabor. In den Boden sind vier Öffnungen eingeschnitten, die man mit Seekiefersperrholzplatten abdecken kann. Öffnet man sie, tun sich 60 cm tiefe Mulden mit rotem Teppichboden auf, von denen Maulwurfsgänge in den Zwischenraum führen. Für die kleinen ist das ein Abenteuer, für größere macht die Sitzmulde den Boden zum Tisch. Der Netzschlauch wird zur Kindertreppe, im Netz, das über den Durchbruch gespannt ist, kann man hüpfen, springen, spielen. Im Dachraum gibt es ein Malatelier und eine Werkstatt.

„Dieses Projekt hatte sehr viele Facetten“, sagt Sammer. „Wir arbeiteten sehr rauminstallativ. Alles sollte multifunktional sein.“ Nina Panozzo und Karin Blum standen nicht nur dahinter, sie gingen mit. Natürlich erfüllt dieses Haus alle OIB-Richtlinien (OIB = Österreichisches Intitut für Bautechnik) und Sicherheitsauflagen für Kindereinrichtungen. So müssen Treppengeländer mindestens 1,10 Meter hoch sein. Alte Bestandstreppen erfüllen das so gut wie nie, ASAP spannten ein raumhohes Auffangnetz vor das Geländer und stellten in der Halle eine Bank davor. So wird das Netz zur Garderobe, auf der jedes Kind in jeder Höhe seinen Mantel aufhängen kann. Lösungen wie diese sind hier viele zu finden. Sie gelingen nur, wenn alle an einem Strang ziehen. Die Stadt, die Nutzer und die Architekten.

26. Oktober 2023 Spectrum

Der Sonnenweiher in Grafenwörth ist auch ästhetisch fragwürdig

Die Stadt Hohenems zeigt, wie man eine Altstadt wiederbelebt und dabei den Bodenverbrauch minimiert. Gegenbeispiel: der umstrittene Sonnenweiher in Grafenwörth. Entsteht hier eine Parallelgesellschaft von Menschen, die aus den Städten flüchten und das Landleben scheuen?

Kürzlich wurden wieder die Bauherrenpreise der Zentralvereinigung der Architekt:innen vergeben. Einer ging an den Umbau des Kärnten Museums in Klagenfurt, geplant von Winkler+Ruck Architekten und Ferdinand Certov. „Ein Gesamtkunstwerk aus historischer und zeitgenössischer Architektur“, resümiert die Jury. Ein Preis wurde für die Wohnbebauung Marburger Höfe in Graz vergeben, die anstelle der abgesiedelten Legero Schuhfabrik nach Plänen von Balloon Architekten entstanden. Ein weiterer Preis ging an Projektentwickler Markus Schadenbauer und die Gemeinde Hohenems für die Wiederbelebung der dortigen Altstadt.

Drei Preise also, die Vorhandenes nutzen und ergänzen. Die Altstadt von Hohenems ist ein Musterbeispiel für nachhaltige Zentrumsentwicklung. Eine hohe Verkehrsbelastung beförderte über viele Jahre Leerstand und Niedergang. Wird anderswo oft befürchtet, dass Verkehrsberuhigung und Denkmalschutz der wirtschaftlichen Entwicklung schaden, erwies sich in Hohenems das Gegenteil als richtig. Die Verkehrsentlastung durch eine Umfahrungsstraße und die Unterschutzstellung der Häuser in der Marktstraße im Jahr 2010 trugen maßgeblich zu einer Neuerfindung der 17.000-Einwohner-Stadt bei. Treibende Kraft ist Markus Schadenbauer: Ihm gelang es, im Zusammenspiel von privatwirtschaftlichem Engagement und der Stadtgemeinde unter frühzeitiger Einbindung der Bevölkerung ein Gesamtkonzept für die Marktstraße und die Harrachgasse zu entwickeln und eine Reihe von Investoren ins Boot zu holen. Zahlreiche Gebäude wurden denkmalgerecht saniert und die Altstadtstruktur mit behutsam eingefügten Neubauten nachverdichtet. Keine Filialen großer Handelsketten, sondern eigentümergeführte Ladenlokale beleben die Erdgeschoße. Geöffnete Innenhöfe und Durchgänge schaffen neue Verbindungen für Fußgänger.

Stärkung der Ortskerne

Das neue Stadtgefühl ist alles andere als oberflächlich. In zehn Jahren wurden über 40 neue Betriebe angesiedelt und gut 130 Arbeitsplätze geschaffen. Aus den einst vom motorisierten Verkehr in Beschlag genommenen Straßen und Plätzen wurden verkehrsberuhigte öffentliche Räume von hoher Aufenthaltsqualität. Anwohner, Gäste, Wirtschaftstreibende, die historische Bausubstanz und das Klima – alle profitieren. Die Stärkung der Orts- und Stadtkerne ist heute eine der größten Herausforderungen: Fußläufige tägliche Wege, attraktive öffentliche Räume und Orte der Begegnung dienen nicht nur der Bequemlichkeit und dem sozialen Miteinander, richtig gemacht sind sie auch essenzielle Beiträge im Kampf gegen Klimawandel und Bodenverbrauch.

Medial viel präsenter als diese drei Vorzeigebeispiele ist seit dem Sommer das noch nicht fertige Siedlungsprojekt Sonnenweiher in Grafenwörth (NÖ). Selbst die Landeshauptfrau konnte angesichts fragwürdiger Grundstücksgeschäfte des Bürgermeisters nicht anders, als eine „schiefe Optik“ zu konstatieren. Eine noch viel schiefere Optik hat die Tatsache, dass nach wie vor kaum nachzuvollziehen ist, auf welcher fachlichen Basis diese Siedlungsentwicklung auf welchen Ebenen durchgewinkt wurde. Greenpeace hat Ende Juli beim Land Niederösterreich gemäß Umweltinformationsgesetz die Herausgabe aller Gutachten in der Causa Sonnenweiher beantragt.

In der Zwischenzeit sind diese eingelangt und werden geprüft. Für das Siedlungsprojekt gab es sogar einen geladenen Architekturwettbewerb, dessen Inhalte allerdings nicht öffentlich sind. Gewonnen hat ihn 2019 das Büro Pichler & Traupmann Architekten. Mit der Planung beauftragt wurde hingegen das Büro Holzbauer und Partner. „Der See ist zentrales Element der Anlage, zugleich Rückzugsort, Erholungs- und Kommunikationszone“, heißt es auf der Website von Holzbauer & Partner Architekten über den Sonnenweiher, der mit seiner Schlangenform, dank der die Zahl der Seegrundstücke maximiert wird, an den Canal Grande erinnert. Lässt es sich in Wasser schwimmend besser mit dem Nachbarn kommunizieren als auf dem Dorfplatz? Ist das die Zukunft des Wohnens auf dem Land? Oder entstehen hier Parallelgesellschaften von Städtern, die sich die Mühen des Landlebens nicht antun wollen? Hauptsache, ein Haus mit eigenem Seezugang? Sozusagen Seevillenarchitektur für Nichtmilliardäre?

Ökologischer als Haus mit Pool?

Die vis-à-vis gelegene Friedhofsmauer ist einladender als die Straßenfront der Reihenhäuser. Das Vorfeld bildet ein Gehsteig- und Parkplatzstreifen, zu dem sich die Reihenhäuser abschotten. Nur ein mit einer fetten dunkelgrauen Fasche umrandetes Fenster blickt pro Haus traurig aus der See-Idylle hinaus. Braune Geräteboxen bilden weitere Puffer zur Außenwelt. Im Norden, entlang der Lärmschutzwand, soll der „Campus Lakeside“ der Senecura, eine Kombination aus Fachhoch- und Krankenpflegeschule, Studierendenheim, Ambulatorium und Hotel, entstehen. Teil des ursprünglichen Wettbewerbs war das offenbar nicht; mehrere Architektenbüros lieferten Studien. Ob der vor zweieinhalb Jahren vorgestellte Entwurf von Querkraft umgesetzt wird, konnte vor Redaktionsschluss nicht eruiert werden.

Klickt man sich durch die einschlägigen Immobilienportale und Internetseiten der Developer, wird klar, dass Siedlungen an Schotterteichen und künstlichen Folienseen boomen. Mangels boulevardtauglicher Skandale hält sich die Aufregung darüber in Gren­zen. Mag sein, dass die Seeressorts eine ­ökologischere Alternative zum Einfamilienhaus-Wildwuchs mit je einem Swimmingpool pro Parzelle sind. Den Handel und andere Funktionen zurück in die Ortskerne bringen, den motorisierten Verkehr reduzieren, für die Menschen mehr Platz schaffen, um sich zu Fuß oder per Rad fortzubewegen und sich auf kühlen begrünten Plätzen zu treffen, und die Zentren wieder als lebenswerten Wohnort attraktiveren: Das ist nicht rasch und einfach umzusetzen. Zahlreiche Räder müssen ineinandergreifen, Allianzen der Willigen geschlossen und Konfliktpotenziale entschärft werden. Das geht nicht im Alleingang Einzelner und nicht von heute auf morgen. Stimmen die Rahmenbedingungen und werden die Entwicklungsprozesse gut organisiert, passt auch das Ergebnis. Wenn es aber nur darum geht, wie man am besten Ackerboden zu Gold macht und die darauf entstandenen Retortendörfer optimal vermarktet, wird nichts gelingen, was dem Gemeinwohl dient.

19. September 2023 Spectrum

Michaelerplatz in Wien: Ein Platz sieht grün

Große und kleinere Bäume, Pflanzbeete, Trinkhydranten und Wasserspiele vor dem Looshaus: An der klimagerechten Neugestaltung des Michaelerplatzes in Wien scheiden sich die Geister. Die wesentliche Frage lautet: Wie geht man künftig mit Europas historischen Plätzen um?

Der Wiener Michaelerplatz ist ein heißes Pflaster. Fast alle Bauten, die ihn rahmen, stehen unter Denkmalschutz, sind aus Stein und für Jahrhunderte geschaffen. Der öffentliche Platzraum dazwischen fällt in die Zuständigkeit unterschiedlichster Magistratsabteilungen. Die unebenen Kopfsteinpflaster sind für Radfahrer eine Tortur, die Gehsteigkanten nicht behindertengerecht, die Steinplatten mit Asphalt geflickt, selbst ein Großteil des Kopfsteinpflasters. Alles versiegelt, eine Hitzeinsel. Auch die zwei historischen Brunnen, „Macht zur See“ von Rudolf Weyr und „Macht zu Lande“ von Edmund Hellmer, ändern daran nicht viel. Eine Entsiegelung des angrenzenden Heldenplatzes könnte wohl einiges bewirken.

Mitte Juni präsentierten Planungsstadt­rätin Ulli Sima und Bezirksvorsteher Markus Figl die klimagerechte Neugestaltung des Platzes. Architekt Paul Katzberger plante das Projekt mit neun großen Bäumen, einigen kleineren entlang der Hofburg, fünf Pflanztrögen beim Kohlmarkt und einem Wasserspiel mit 39 Düsen vor dem Looshaus. Der Weg dorthin war lang, holprig und variantenreich. 2018 hatte Katzberger mit der Planung für zwei Bauherren – die Privatinitiative zur Neugestaltung des Platzes und die Stadt – begonnen. Die Bedürfnisse verschiedenster Nutzergruppen waren zu berücksichtigen.

Der Michaelerplatz ist ein touristischer Hotspot, Fiakerstandplätze sind dort gut positioniert. Sie auf vier zu reduzieren und die restlichen zehn als Nachrücker entlang der Schauflergasse parken zu lassen war ein schwer errungener Kompromiss. Drei neue Bäume vor der Michaelerkirche sollen den dortigen Hochzeiten künftig einen feierlichen Rahmen geben, neue Granitplatten auf dem Boden für eine ebene Fläche und Barrierefreiheit sorgen. An der Neugestaltung entzündet sich nun eine grundsätzliche Debatte. „In unmittelbarer Nähe von großflächigen Grünräumen wie Heldenplatz, Volks- und Burggarten erscheint das Pflanzen von Bäumen am Michaelerplatz wie eine Alibi-Aktion“, sagt Andreas Nierhaus, Architekturhistoriker und Kurator des Wien Museum.

Zwischen imperial und bürgerlich

Der Michaelertrakt der Hofburg, entworfen von Fischer von Erlach, wurde erst um 1890 von Ferdinand Kirschner vollendet. Hoheitsvoll inszeniert er das stadtseitige Entrée in den Hofburgkomplex. Der Doppeladler der k. k. Monarchie krönt die glockenförmige Kuppel über dem Michaelerdurchgang, der Nahtstelle zwischen dem Machtzentrum des Habsburgerreichs und der Stadt. Sie bildet den Auftakt des Defilees über den Heldenplatz durch das Heldentor bis zum Maria-Theresien-Platz zwischen den Hofmuseen.

„Der Michaelerdurchgang ist der Knoten zwischen imperialer und bürgerlicher Welt, er geht auf eine Initiative von Bürgermeister Cajetan von Felder zurück“, sagt Maria Auböck, Landschaftsplanerin und Vorsitzende der Zentralvereinigung der Architekt:innen Österreichs. „Nicht alle klassischen historischen Plätze in Europa sind als Standorte für Bäume geeignet. Am Josefsplatz dürfte man aufgrund der einzigartigen Raumwirkung nie Bäume pflanzen. Für öffentliche Räume im Weltkulturerbe der Inneren Stadt bräuchte es unbedingt eine begleitende Kontrolle.“ Die ZVA fordert das schon lange.

Anfang der 1990er-Jahre hatte Hans Hollein, Österreichs bis dato einziger Pritzker-Preisträger, eine Kerbe in den Platz geschlagen. Sie verläuft von der Einmündung der Herrengasse bis zur Reitschulgasse. Vier Stufen unter Bodenniveau legt dieses „Archäologiefeld“ von römischen Ausgrabungen über die Fundamente eines Palais des 19. Jahrhunderts und metallumhauste Leitungsrohre der Gegenwart einen Querschnitt durch die Stadtgeschichte frei. Man kann dadurch nicht mehr direkt vom Kohlmarkt aufs Michaelertor zugehen. Hollein legt sich quer. Er zwingt einen, sich der Geschichte zu stellen oder ihr auszuweichen. Paul Katzberger wollte diesen Spalt ursprünglich auch überbrücken. Das war 2018. Vier Jahre später wurde Holleins Intervention unter Schutz gestellt. „Es ist eine der wenigen herausragenden Platzgestaltungen der Postmoderne. Diese Epoche ging sehr selbstbewusst mit Geschichte um“, sagt Wolfgang Salcher. Der stv. Landeskonservator von Wien im Bundesdenkmalamt war von der akribischen Recherche zu dem Projekt tief beeindruckt. Die Neugestaltung sieht Kräuter zwischen den Artefakten vor. „Es muss nicht alles in der Stadt mit Bäumen bepflanzt sein, aber der Wunsch nach Schatten und Aufenthaltsqualität ist zu berücksichtigen“, so Salcher. „Der Klimawandel ist in der internationalen Denkmalpflege ein großes Thema, die Rahmen­bedingungen haben sich völlig geändert.“

Supermarkt statt Literaturcafé

Hofburg, Michaelerkirche, Looshaus: alles unter Denkmalschutz. Letzteres ein subtiler Affront: Die Kolossalsäulen des Geschäfts- und Bürohauses referieren auf das Michaelertor, Adolf Loos, die klassische Moderne und das wohlhabende, gehobene jüdische Bürgertum positionierten sich 1910 damit als unmittelbares Gegenüber – damals ein Skandal. Das Looshaus befindet sich zwischen Kohlmarkt und Herrengasse, wo das einstige Palais Herberstein, geplant von Architekt Carl König, sich mit einem runden Eck elegant in den Platz reiht. Einst trafen sich dort Literatenzirkel im Café Griensteidl, heute ist da eine Supermarktfiliale.

Beherzt, engagiert, stilsicher und großteils auf eigene Kosten hatten die Anrainer die Neugestaltung der Herrengasse in die Hand genommen. Rechtsanwalt Wolfgang Spitzy, Vorsitzender der Eigentümergesellschaft des Hochhauses Herrengasse, spielte eine tragende Rolle. 5,5 Millionen Euro zahlten die Privaten, eine halbe Million die Stadt. Die Herrengasse wurde nach Plänen von Architekt Clemens Kirsch erneuert, war 2016 fertig und sehr gelungen, der Michaelerplatz deutlich ungepflegter. 2017 stieß der Pfarrer der Michaelerkirche, Pater Rauch, die Idee zur Neugestaltung an. Unter Spitzys Federführung formierten sich Wirtschaftskammer, Burghauptmannschaft, Michaelerpfarre und andere Gleichgesinnte zur Initiative für die Neugestaltung des Michaelerplatzes. Sie beauftragten Architekt Paul Katzberger mit der Planung, die in Abstimmung mit allen betroffenen Anrainern und der Stadt laufend adaptiert wurde. 1,2 Millionen Euro werden Private zu den geschätzten Gesamtkosten von 8,5 Millionen Euro beitragen, der Platz soll 2024 fertig sein.

Architektur von Weltrang formt den Michaelerplatz. Jede gibt in ihrer Art Antwort auf die Fragen ihrer Zeit. Jede Neugestaltung sollte sich an Fischer von Erlach, Adolf Loos und Hans Hollein messen und das Hitzeproblem der Gegenwart lösen können. Dieser Anspruch ist hoch und legitim – natürlich kann er scheitern. Aber man sollte es versuchen, der Michaelerplatz wäre es wert. Was bleibt, ist eine Zeitschicht mehr. Sie wird für sich sprechen.

27. Juli 2023 Spectrum

Baudenkmal wie aus dem Film: Haus Dellacher in Oberwart

Die Skizzen wurden seinerzeit über den Atlantik geschickt, weil Architekt Raimund Abraham in New York lebte. Nach dem Tod des Eigentümers geriet das Haus Dellacher im burgenländischen Oberwart in Vergessenheit. Nun steht es frisch saniert offen für Besichtigungen – und Übernachtungen.

Raimund Abraham (1933 bis 2010) war ein Architekt mit Charisma. Er baute wenig, zeichnete, dachte und lehrte viel. Zeitlebens vom Nimbus des Genies umgeben, zählte er zur künstlerischen Avantgarde seiner Zeit. Abraham begriff Architektur als Symbiose aus Ideal und Methode. Seine Architektur sollte die Essenz des Daseins in Raum, Zeit und Landschaft fassen. Diesen Anspruch konnte er im Haus Dellacher quasi prototypisch realisieren, weil er auf einen Bauherrn traf, der „die Sensibilität mit seinem Architekten teilte“.

Der Fotograf Max Dellacher war nicht ganz so charismatisch wie Abraham, aber immerhin in Italiens Hollywood, der Cinecittà, tätig. Das Buch „Le Fontane di Roma“ von Cesare d’Onofrio mit seinen kunstvollen Schwarz-Weiß-Fotos war ein Riesenerfolg und ist heute vergriffen. Abraham und Dellacher verbanden ihr Geburtsort Lienz und eine alte Freundschaft. Dellachers Frau Gisela, geborene Blasy, stammte aus dem Burgenland. So verschlug es den italophilen Fotografen ins beschauliche Oberwart, um das örtliche Fotoatelier zu übernehmen. Um 1963 bat Abraham um eine Skizze für sein Haus.

Drehknöpfe wie in den USA

„Jede architektonische Schöpfung ist ein Zusammenstoß mit dem jeweiligen Ort“, so Abraham. Das Grundstück wurde sehr bewusst gewählt. Keine vier Kilometer westlich von Oberwart steht nun am Rand eines Wäldchens das Haus Dellacher auf einem leichten Hügel zwischen zwei Feldern. Die Nähe der Grazerstraße B50 ist eine Konzession an das Automobil. Das Haus zelebriert den Ort: Man nähert sich ihm von Osten, schreitet einige Stufen auf den Eingang an der rückwärtigen Nordseite zu, hinter dem sich die runde Mauer der Wendeltreppe aus der Wand drückt, ein Flachdach verbindet sie mit der Garage, es bildet sich eine Art Portal. Im Süden führt eine ausladende Freitreppe auf die Terrasse. Abraham plante sie einseitig, Dellacher ordnete auf der Baustelle zwei palladinisch symmetrische Treppenläufe an. Im Osten bindet ein Weg, der von einer nischenbildenden Mauer gefasst wird, Sonnendeck und Pool an, davor stehen Essigbäume.

Der Baukörper ist aus der Grundform des Quaders heraus durch Einkerbungen und Additionen skulptural entwickelt. Eine Oberlichtkuppel erhellt den zentralen Esstisch für zehn Personen zwischen Küche und Wohnzimmer. Ohne Bezug nach außen wird er zu einem introvertierten Ort der Konzentration. Hier wird in der Mitte des Hauses das gemeinsame Essen zur Zeremonie erhoben. Raimund Abraham weigerte sich, Möbel zu entwerfen, was Max Dellacher mit umso mehr Hingabe übernahm. Alle Türen haben Drehknöpfe wie in den USA, türkise Türrahmen frischen die Gangwände aus Eschenholz auf. Einbauschränke, Wandverkleidungen, Lampen wurden von ihm akribisch geplant, teils entworfen und ausgeführt. Küche und Essplatz sind japanisch inspiriert, die Klinker auf dem Boden des Kaminzimmers, wo sich die damalige Kunstszene traf und heute ein Teil von Abrahams New Yorker Bibliothek steht, aus Großbritannien importiert.

Das Haus, das von außen archaisch behäbig wirkt, zeigt sich innen erstaunlich wohnlich. Die von oben erhellte Wendeltreppe mit der Stahlspindel und den Holzstufen ist überraschend leicht, alle Öffnungen in den massiven vor- und rückspringenden Wänden inszenieren den Ausblick, schaffen Verbindungen ins Freie und Bezüge zueinander. Zwischen Wohn- und Schlafzimmer verläuft gartenseitig ein Arkadengang, aus dem sich in der Mitte eine lange, schmale Terrasse entwickelt. Beidseitig führt symmetrisch rechts und links eine Freitreppe auf die Wiese. Die Anlage wirkt fast imperial, unter die Terrasse ist zwischen zwei mächtigen, weißen Pfeilern das verglaste Atelier von Max Dellacher eingeschoben. Das scheint ein Widerspruch, gerade dadurch aber ist das Atelier nicht exponiert, sondern beschattet und atmosphärisch angenehm.

Seit 2007 unter Denkmalschutz

1964 zog Abraham nach New York, ab dann erfolgte die Planung über exorbitant teure Ferngespräche; Skizzen wurden über den Atlantik geschickt. Architekt Rudolf Schober, ein guter Freund von Gisela Dellacher, übernahm die Baustelle. Die 43 Zentimeter dicken Außenwände wurden aus Voll- und Hochlochziegeln von der nahen Ziegelei Rotenturm gebaut. 1969 zogen Max und Gisela Dellacher mit ihren zwei Töchtern in das teure Haus, Giselas Sohn aus erster Ehe und dessen Familie wohnten da, Künstlerfreunde kamen, hier herrschte viel Leben. Dellacher starb 1984, hinterließ Schulden; eine Bank kaufte das Haus, passende Mieter fanden sich schwer.

2015 erwarb Johannes Handler das Haus, „eine reine Bauchentscheidung“. Das Burgenland erlebte unter Landeshauptmann Theodor Kery gerade einen einzigartigen Modernisierungsschub und wurde zum Inkubator aktueller Tendenzen. Fast in jedem Ort entstanden Kulturzentren, Schulen, Krankenhäuser, viele davon Betonbrutalismus in Reinkultur; die Osterkirche von Günther Domenig und Eilfried Huth in Oberwart entstand zeitgleich mit dem Haus Dellacher. „Es hat damals noch eine Zukunft gegeben“, sagt Handler, der dieses Haus, „das völlig aus der Zeit gefallen war“, der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte.

Seit 2007 steht das Haus unter Denkmalschutz. Es sah mit seinem vermoosten Putz katastrophal aus, seine Substanz aber war „so gut wie die von Gründerzeitbauten“, so Handler. „De facto musste man vor allem den nachträglich aufgebrachten Vollwärmeschutz abtragen.“ 2017 wurde das Haus in Absprache mit dem Bundesdenkmalamt sorgfältig saniert. Man erneuerte die Blecheindeckung, dämmte den Dachstuhl mit Zellulose, reparierte Fenster und Putz. Innen war noch fast alles original erhalten. Seit 2017 bietet der gleichnamige Verein unter der Obmannschaft von Johannes Handler Führungen an, außerdem Workshops für Kinder. Als Ferienhaus, Film- und Event-Location ist das ikonische Haus mit Pool zu mieten.

Vor dem Eingang steht eine schlanke, hohe Skulptur des Bildhauers Rudolf Kedl. Sie begrüßt und verabschiedet alle Besucher und Besucherinnen. Es ist Max Dellachers Grabstein, der hier zum Wächter seines Hauses wird.

14. Mai 2023 Spectrum

Zug fährt ab – Eine Stadt braucht einen Bahnhof

Bahnhöfe haben heute in erster Linie inklusiv und effizient zu sein. Wo Fahrpläne getaktet sind, bleiben Wartehallen auf der Strecke. In Hall in Tirol lässt sich das gerade gut beobachten.

Eine Stadt braucht einen Bahnhof“, sagt Oliver vom Hove mit dem Brustton der Überzeugung. Er spricht von Hall in Tirol. Einem Ort mit einem außergewöhnlich schönen, mittelalterlichen Stadtkern, etwa 14.322 Einwohnerinnen und Einwohnern und einem grundsoliden, sympathischen Bahnhof, Baujahr 1957 – beziehungsweise dem, was davon blieb: die Halle, die von den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) als „Aufnahmegebäude“ bezeichnet wird, und die der moderne Bahnhof nicht mehr braucht.

„Siebzig Jahre lang war das eine Art Visitenkarte, ein Empfangsportal für den Personenverkehr, ein zentraler Punkt, an dem man sich begegnet“, sagt Gerald Aichner, Alpenvereinsvorsitzender Tirol. „Man sollte die Halle revitalisieren. Das kann ja nicht adäquat und zeitgemäß sein, dass man draußen warten muss, wenn es regnet oder schneit.“ Gemeinsam mit Oliver vom Hove initiierte Aichner im Mai 2019 eine Unterschriftenaktion zum Erhalt des alten Bahnhofs. Auch Ex-EU-Kommissar Franz Fischler zählt zu den prominenten Unterstützern: „Es gibt nur noch wenige Beispiele dieser Architektur des internationalen Modernismus aus den 1950er-Jahren. Dass man den Bahnhof von Wattens erhält, den von Hall aber nicht, ist nicht nachvollziehbar.“ Noch mehr erbost ihn das Argument mit den Parkplätzen, denen der Bestand weichen soll.

Der alte Bahnhof in Hall hat eine hohe handwerkliche Verarbeitungs- und Materialqualität; außerdem haben viele Menschen eine emotionale Beziehung dazu. Der Bahnhof ist das Tor zur Stadt, doch er steht nicht unter Denkmalschutz. Sein Architekt ist unbekannt, das Bundesdenkmalamt stellte als Fallbeispiel dieser Epoche den Bahnhof Seefeld unter Denkmalschutz. Den hatte Hubert Prachensky, eine prominente Architektenpersönlichkeit in Tirol, geplant. Gebäude unter Denkmalschutz haben gleichermaßen eine amtlich verbriefte Existenzberechtigung, alle anderen tun sich schwer. Umso mehr, wenn es für sie scheinbar keinen Nutzen mehr gibt.
Wenn Sie Gefallen an diesem Artikel gefunden haben, loggen Sie sich doch ein oder wählen Sie eines unserer Angebote um fortzufahren.
Nur noch Haltestelle

„Wichtig ist heute, einen diskriminierungsfreien Zugang zu den Mobilitätsangeboten zu schaffen“, sagt Christoph Gasser-Mair, Pressesprecher der ÖBB. „Auftrag der ÖBB ist, eine bedarfsgerechte Infrastruktur für Reisende im öffentlichen Verkehr zur Verfügung zu stellen.“ Neue Bahntechnik, eine neue Unterführung, zwei neue, 220 Meter lange Bahnsteige, eine neue Überdachung, Lifte, Monitore, Wartekojen: Der Umbau des Bahnhofs zur barrierefreien Verkehrsdrehscheibe erfolgte zwischen 2018 und 2020, er betrug elf Monate Bauzeit und kostete 11,5 Millionen Euro.

Das alte Aufnahmegebäude wurde geschlossen, teilabgebrochen und von allen Infrastrukturabschlüssen abgeschnitten – es sollte längst nicht mehr stehen. „Wir können auf Kosten des Steuerzahlers kein Gebäude erhalten, dessen Nutzung für die Erbringung von Mobilitätsdienstleistungen nicht relevant ist“, so Gasser-Mair. „Im Gegenteil: In Hall sind Fahrradabstellplätze ein großes Thema.“ Das heißt: Das Mobilitätskonzept bedarf einer Park&Ride-Anlage, keiner sanierungsbedürftigen Halle. Doch die ÖBB haben der Gemeinde noch bis Ende Juni Zeit gegeben, um ein Nutzungskonzept vorzulegen.

Als der Bahnhof Hall gebaut wurde, begann das Land langsam aufzuatmen. Der Terrazzo auf dem Boden, die Fliesen an den Wänden, draußen mattgrün, drinnen ockergelb, die Glastüren und großen Fenster in der hohen Halle erzielten mit bescheidenen Mitteln viel Wirkung. Man sieht auf die Bergkette des Inntals, der kleine Bahnhof strahlt Zuversicht aus, aufkeimende Lebensfreude und Reiselust. Man kaufte seine Zeitung, setzte sich nieder, wartete, kam ins Plaudern, brachte hin, holte ab und kam an. Ein Ort der Vorfreude und des Verweilens.

Heute sind Bahnhöfe „bedarfsgerechte Infrastruktur“ – also vor allem Haltestellen zum Um-, Ein- und Ausstieg, so inklusiv, barrierefrei und sicher wie möglich, mit klar bezeichneten Wegeleitungen. Nachhaltig, energieeffizient, ressourcenschonend, österreichweit einheitlich geplant. Das Nutzerverhalten hat sich geändert: Die meisten wissen genau, wann ihr Zug fährt, und kommen erst ganz knapp davor auf den Bahnsteig. „Jeder Nahverkehrszug, der in Hall wartet, hat ein WC an Bord“, so Gasser-Mair. Das dringende Bedürfnis wurde gleichermaßen in kleinen Stationen wegrationalisiert. Wer in Hall dennoch eine Toilette nutzen musste, ging in die nahe gelegene Bürgerstube. Schließlich stellte die Stadt ein WC auf und finanzierte Reinigung und Wartung; inzwischen sind die ÖBB zur Errichtung eines solchen bereit.


Kein Geld für die Sanierung

Als moderner Mobilitätsdienstleister haben die ÖBB keinen Bedarf an einem „Aufenthaltsgebäude“ und dementsprechend kein Interesse an dessen Erhaltung. Sie ist allerdings bereit, die alte Halle zu moderaten Konditionen an die Gemeinde zu vermieten. „Die ÖBB sind Eigentümer, sie wollen dieses Gebäude nicht mehr. Sie möchten aber auch nicht gegen den Willen der Gemeinde agieren“, erklärt Ex-Bürgermeisterin Eva Maria Posch. Daher wurde der geplante Abriss bis dato auch immer wieder verschoben.

Posch beauftragte den Architekten Benedikt Gratl mit einer Nutzungsstudie. „Der Zustand des Gebäudes ist nicht so schlecht, man sollte die Halle und das Vordach, das umlaufende rote Band, die strukturierten Fliesen und den schönen Terrazzo im Inneren unbedingt erhalten.“ Gratls Konzept sieht vor, zwei von außen zugängliche Container mit öffentlichem und Personal-WC sowie Technik- und Lagerinfrastruktur für ein Lokal in die zwei früheren Eingänge zu schieben und den Bestand innen als Wartezone mit Bäckerei, Trafik, Raum für Stadtteilentwicklung oder Tourismusinformation nutzen. Als Pendant zum neuen, barrierefreien, überdachten Abgang zur Unterführung hat Gratl auf der anderen Seite des Bestands auch einen Bereich für Park&Ride geplant.

Beim Wunschszenario sind sich alle einig: Die schöne, lichte Halle bleibt, ein kleiner Bäcker zieht ein, vielleicht eine Trafik, ein Café. „Ideen gibt es viele“, sagt der amtierende Bürgermeister Christian Margreiter. „Dass die Gemeinde für die Sanierung etwa eine Million Euro in die Hand nimmt, ist politisch nicht umsetzbar.“ Außerdem fand sich bisher kein überzeugendes Nutzungskonzept mit gesicherter Finanzierung. Für Bäckereien und Trafiken ist der Standort nicht rentabel, Bahnhofsrestaurationen sind für die Bahn tabu. „Bei aller Wertschätzung für den Einsatz zum Erhalt der Halle: Der Zug ist abgefahren. Zu so einem Gebäude muss man ,Ja‘ sagen, es hat keinen Zweck mehr für die Bahn.“

Eines ist jetzt schon sicher: Wo es kein Aufenthaltsgebäude gibt, hält sich auch niemand auf. Die ganze Welt spricht von sanfter Mobilität – der Abriss einer Wartehalle zugunsten von Park&Ride scheint zumindest sehr kurzsichtig. Wer weiß, wie das Reisen und die Stadt Hall sich entwickeln. Bis Ende Juni ist noch Zeit für ein alternatives Nutzungskonzept.

13. April 2023 Spectrum

Wohnen mit leichtem Gepäck in Vorarlberg

Bodenversiegelung ist ein Problem. In Wolfurt hat man es mit Fundamenten gelöst, die wieder abgebaut werden können. Inmitten von Streuobstwiesen entstand so eine temporäre Wohnanlage.

Die Idee ist toll: Wohnraum schaffen, ohne den Boden dauerhaft zu versiegeln und ihn der nächsten Generation zu erhalten, am besten aus wiederverwertbaren Baustoffen. Bauherr Gerd Arnold und Simone Burtscher vom Büro Querschnitt Architekten setzten sie beim Projekt „Q4: wiR wohnen im Rheintal mit der Landschaft“ um. Das untere Rheintal zählt zu den dynamischsten, innovativsten Regionen Europas, über 320.000 Menschen leben in 42 Gemeinden. Verkehrsinfrastruktur, Preisniveau, Siedlungsdichte und Nutzungsdruck auf Grünraum und Freizeiteinrichtungen steigen ständig. Viele große Unternehmen sind hier angesiedelt, in einer Werkstatt in Wolfurt begann der Siegeszug von Doppelmayr um die Welt.

Der Ort wuchs zum unüberschaubaren Siedlungskonglomerat an. Rund um die einst bäuerlichen, großen Rheintalhäuser und Wiesen breiten sich Einfamilienhäuser, Wohnbauten und Industrie immer weiter aus. „Es gibt einen großen Siedlungsdruck auf die kommunalen Randzonen“, sagt Architektin Simone Burtscher. „Das Rheintal ist immer noch von landwirtschaftlichen Strukturen geprägt, viele besitzen zentrumsnahe Grundstücke, die vor Jahrzehnten als Bauland gewidmet, aber nie bebaut wurden.“ Man behält sie einfach, ihr Wert steigt mit derselben Sicherheit, wie sich die Orte ausdehnen. 11,5 bis 13 Hektar Land werden in Österreich pro Tag versiegelt, das sind zwischen 16 und 20 Fußballfelder.

Auch Gerd Arnold, Geschäftsführer der Trockenbaufirma Raumwerk, und sein Bruder Egon Arnold besitzen eine baulandgewidmete, große Streuobstwiese in Wolfurt. Ihr Vater hatte hier eine Landwirtschaft, die Lage an der Brühlerstraße, die mitten durch den Ort führt, ist günstig. In der Nähe gibt es eine Bushaltestelle, der Bahnhof ist fußläufig erreichbar. Aber: Im ländlich geprägten Ortsteil Rickenbach fehlt ein Nahversorger. „Ich bekam sehr gute Angebote für das Grundstück“, sagt Arnold. „Ich wollte es nicht verkaufen, nicht versiegeln und trotzdem wirtschaftlich nutzen.“ Konventionelle Wohnbauten mit einem Bauträger und Tiefgarage kamen für ihn nicht infrage.

Die Streuobstwiese sollte für künftige Generation bewahrt werden, Arnold dachte an Tiny Houses oder Container, möglichst unkompliziert, etwa 20 Stück. Er zog Simone Burtscher zurate. Sie plädierte dafür, den Bestand mit der Hofeinfahrt, den Parkplätzen an der Straße, einem Schuppen für Gerätschaften, Gemüsebeeten und dem großen Nussbaum in das Konzept einzubeziehen. „Man kann doch so ein Rheintalhaus weder schleifen noch brachliegen lassen.“ Sie sah sich den Grund an. An der begrenzenden Stickerstraße im Norden betreibt ein Bauer im Nebenerwerb eine Landwirtschaft; seine Kühe weiden im Frühjahr auf besagter Streuobstwiese, auch im Süden und Westen gibt es noch Felder. Der Teil des Grundstücks mit der Landwirtschaft ist als Misch-, die anschließende Wiese als Wohngebiet gewidmet. Sie musste unbedingt frei bleiben. 2018 fand ein Workshop mit Roland Wück, einem Landschaftsplaner der Wiener Boku, statt. Er lehrte das Lesen der Kulturlandschaft: In den Mulden an den Grundstücksrändern zeichneten sich ehemalige Entwässerungsgräben ab, auch die von Ost nach West verlaufenden Reihen, in denen früher die Obstbäume standen, sind noch erkennbar. Streuobstwiesen sind am Schwinden, keiner der verbliebenen Bäume sollte gefällt werden; einer musste dran glauben, alle anderen überlebten die Baustelle. „Der Kerngedanke war, dass sich die vorgefertigten Einheiten leicht per Lkw transportieren lassen“, sagt Burtscher. So sind sie bei Bedarf leicht auf einem anderen Streifenfundament auf einer anderen Wiese zur inneren Verdichtung zu parken. Das Konzept kam bei der Gemeinde gut an, im Juli 2019 war die Baueingabe, Ende 2020 zogen die ersten, Anfang 2021 die letzten Mieter:innen ein, seither einige wieder aus. Gewohnt wird in zweigeschoßigen Holzboxen, die über eine offene Stiege miteinander verbunden sind. Je zwei Quader, 4,60 Meter breit, 15 Meter lang, 6,50 Meter hoch, mit je zwei Wohnungen, machen vier: „Q4: wiR wohnen im Rheintal mit der Landschaft.“ Drei an der Sticklergasse im Norden, zwei grenzen an die Wiese im Süden, dazwischen ein breiter Grünstreifen. Jede Box ist seitlich bis auf zwei Fensterschlitze beim Bad geschlossen, an den Breitseiten raumhoch verglast, der südseitige Wohnraum dehnt sich auf die 2,5 Meter tiefe Loggia aus.

Ohne Auto geht hier gar nichts

Die Zimmerei Oasys aus Alberschwende baute die vorgefertigten Holzelemente in einer holzwollegedämmten Pfosten-Riegel-Konstruktion, sie standen in kurzer Zeit, die Holzfenster stammen aus dem Bregenzerwald: regionale Wertschöpfung. Die Boxen halten locker 40 Jahre und sind extrem kompakt: Man betritt sie gegenüber dem Installationskern mit Waschmaschine, Dusche, Toilette, eingangsseitig eine Garderobe, südseitig die einzeilige Küche. Der Bauherr fertigte das Trockenbauelement selbst. Es teilt die Einheit in eine Wohnküche von etwa 20 Quadratmetern mit zehn Quadratmeter Loggia und ein etwas größeres Zimmer. Je zwei können für Familien oder zum Arbeiten und Wohnen zusammengeschlossen werden. Das tat kaum jemand.

Viele Loggien sind sehr vollgestellt, eine Familie okkupierte die Wiese vor ihrer Einheit mit Griller und Gartenmobiliar. Vielleicht zu wenig Stauraum? Architektin und Bauherr verneinen, jeder hätte einen Spind vor der Tür, ein Kellerabteil und den Fahrradraum im Altbau, der schon lange Baustelle ist. Der Bauherr saniert ihn, künftig soll man auch im Bestand wohnen können. Dort befindet sich auch die Pelletheizung der Anlage, die man sich autofrei wünschte. Doch ohne Auto geht hier gar nichts, der Parkplatz ist voll.

An der Grenze zur Streuobstwiese steht ein Hochbeet, erste Setzlinge recken ihre Blätter der noch schwachen Sonne entgegen. „Das Hochbeet ist eines meiner Projekte, das verwende zu 90 Prozent ich“, sagt Ramona Brunner lachend. Sie lebt mit ihrer Partnerin Melanie Dobler im Erdgeschoß, die beiden kommen mit ihren knapp 50 Quadratmetern gut aus, einzig die Küche ist etwas klein. „Es ist schön, da zu wohnen, die Lage ist mega.“ Die Miete wurde kürzlich auf 810 Euro pro Monat angehoben, dazu kommen zehn Prozent USt. und 110 Euro Betriebskosten. Zu zweit ginge das noch, für Singles und Familien sei es sehr viel.

„Aus finanziellen Gründen tut man das nicht, reich wird man so nicht“, sagt Gerd Arnold. Die Nachfrage ist hoch, auch die Optionswohnung für die Gäste aller ist fix vergeben. Die Mieter:innen sind 20 bis 60 Jahre alt, meist Singles oder Pärchen, Kinder gibt es kaum, für Auszubildende und Lehrlinge ist es zu teuer; aber gerade sie brauchen dringend kleine Wohnungen.

10. März 2023 Spectrum

Die Purkersdorfer proben den Aufstand

Parks, Denkmale und Kulturgüter haben keine Lobby – außer einer engagierten Zivilgesellschaft. Die geplante Bebauung eines Grundstücks im Sichtfeld des berühmten Sanatoriums von Josef Hoffmann in Purkersdorf schlägt hohe Wellen – ein Fallbeispiel.

So viel ist sicher, es bleibt erhalten“, sagt Stefan Steinbichler, Bürgermeister von Purkersdorf. In seiner Gemeinde steht das ehemalige Sanatorium „Westend“ von Josef Hoffmann, ein epochales Stück Weltarchitektur an der Schwelle vom Jugendstil zur Moderne. 1996 inszenierte Paulus Manker dort sein faszinierendes Polydrama „Alma – A Show Biz ans Ende“ zum ersten Mal, sechs Jahre lang folgte das Publikum dem Spielverlauf über die mehrläufige Prachtstiege mit Oberlicht durch Zimmerfluchten, Bäder in den mondänen Speisesaal. Alle waren überwältigt.

Seit der Kundmachung einer beabsichtigten Widmungsänderung des Grundstücks 170/14 in der Wiener Straße 68 im Dezember 2022 gehen die Wogen hoch. Die Parzelle grenzt direkt an den Park des Hoffmann-Sanatoriums – bzw. das, was davon übrig ist. Im Westen wird er von Wohnbauten begrenzt, im Norden von der neuen Seniorenresidenz, die über den denkmalgeschützten, verglasten Wandelgang mit Hoffmanns Bau verbunden ist. Decken- und Stiegenkonstruktion nutzen die modernste Technologie ihrer Zeit, ebenso wesentlich war der Park als integrativer Teil des Gesamtkunstwerks.

„Das Hoffmann-Sanatorium verdient aufgrund seiner hohen künstlerischen Qualität und seiner architektur- und kulturhistorischen Bedeutsamkeit erhalten zu werden“, schrieb Eduard F. Sekler, Hoffmann-Biograf und architekturhistorische Eminenz der Harvard University. „Nicht nur im Interesse Österreichs, sondern als Teil des kulturellen Erbes der Menschheit.“ Erstaunlich spät – 1992 – wurde es unter Denkmalschutz gestellt.

1904/05 war das Sanatorium auf einem riesigen Grundstück des jüdischen Industriellen Victor Zuckerkandl als luxuriöse Kuranstalt für Heilbäder und physikalische Therapie errichtet worden. Hoffmann hatte es als Gesamtkunstwerk mit Möbeln und Interieur entworfen, auch der Park gehörte dazu. Alma Mahler, Arthur Schnitzler, Arnold Schönberg, Hugo von Hofmannsthal zählten zu den illustren Gästen, dann kamen Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus, Enteignung und Ermordung der Besitzerfamilie, Kriegsversehrte und die Russen. Das Rückstellungsverfahren an die einzigen zwei Überlebenden, Fritz Zuckerkandl und Hermine Müller-Hofmann, endete 1952 in einem Vergleich.
Rückführung auf geplante Kubatur

1953 kaufte der Evangelische Verein für Innere Mission das Sanatorium und betrieb es bis 1984 als Krankenhaus und Pflegeheim. Dann stand es leer und verfiel langsam, aber sicher. Im selben Jahr widmete man den Grund von Grünland – Krankenanstalt in Bauland – Sondergebiet, Altersheim, Krankenanstalt um. Damit wurde aus dem Hoffmannpark ein gefährdeter Park. 1991 erwarb der Baumeister und Immobilienmakler Walter Klaus das Areal, man verpflichtete ihn zur Sanierung; Architekt Sepp Müller renovierte das Sanatorium vorbildlich und führte es originalgetreu auf die von Hoffmann geplante Kubatur zurück. Dafür bekam Klaus die Baugenehmigung für eine Seniorenresidenz für betreutes Wohnen samt Hotel und frei finanzierten Eigentumswohnungen. Das Büro Hlawenicka & Partner erstellte den Bebauungsplan, teilte das Grundstück in mehrere Parzellen, die Widmung wurde entsprechend angepasst.

Das Grundstück 170/14 ist 5017 m2groß, 60 Meter lang, etwa 30 Meter tief, derzeit Freifläche, achtlos gestaltet. Parkplatz, Wiese, ein paar alte Bäume – aber unbebaut; dem Parkplatz ist der ungehinderte Blick aufs Sanatorium zu verdanken. Die momentane Widmung ist Sondergebiet – Pflegeheim Seniorenbetreuung. Es gilt Bauklasse III, also acht bis elf Meter Höhe. Altortgebiet, Zentrumszone. Ziel des Bauwerbers, der Auris Immo Solutions GmbH, die das Hoffmann-Sanatorium im Portfolio führt, ist der Bau eines Generationenwohnhauses mit zwei Kindergruppen im Erdgeschoß, darauf drei Geschoße plus zurückgestuftes Dachgeschoß, macht rund 41 Wohnungen (47 bis 76 m²). Dieses Projekt bedarf der Umwidmung von Bauland – Sondergebiet, Pflegeheim, Seniorenbetreuung in Bauland-Kerngebiet – Generationenhaus. Die Höhe bleibt gleich, die mögliche Kubatur verändert sich; die generierbare Nutzfläche vermehrt sich um marginale 57,8 m², rechnet Steinbichler vor. Der Wert pro Quadratmeter aber steigt nicht unbeträchtlich.

Zu viel Geld für eine Wiese

Architekt Fritz Waclawek sammelte Unterlagen, Bescheide, Unterschutzstellungen, Widmungsänderungen, machte mobil und verfasste einen Einspruch gegen die Umwidmung. Auch die Zentralvereinigung der Architekt:innen Österreichs, die Initiative für Denkmalschutz und viele andere taten das. 138 bis 160 Einsprüche trudelten ein, die Quellen divergieren; über 60 Menschen kamen zur Bürgerversammlung im Hotel Friedl. „Bei einer Infoveranstaltung ohne Freibier habe ich das noch nie erlebt“, sagt Bina Aicher, Obfrau der Bürgerliste „Pro Purkersdorf“. Frust und Ärger sind groß, man hat die Umwidmungen satt und den Typus „Generationenwohnen“, der keinerlei Rechtsverbindlichkeit hat. Die Website von „ProPurkersdorf“ ist voller Beispiele: meist Lochfassaden mit Vollwärmeschutz und Eigentumswohnungen, einige davon für Senioren, der Rest normal verkauft. Das bringt Rendite: deutlich mehr als ein Pflegeheim, besonders mit Blick auf Weltarchitektur. Mit dieser Parzelle wäre eine der letzten Grünflächen im Ortsgebiet für immer verbaut. 2018 sammelte „ProPurkersdorf“ über 650 Unterschriften für einen Initiativantrag und erwirkte 2019 einen Baustopp im gesamten Ort, der um ein Jahr verlängert wurde.

Steinbichler ist sehr stolz auf seine Idee mit dem Generationenhaus. „Ich möchte das Optimum für die Purkersdorfer:innen herausholen. Wir brauchen leistbaren Wohnraum und Kindergartenplätze.“ Natürlich sei er traurig, dass man das Sanatorium dann nicht mehr sähe, ein Grundtausch aber sei unmöglich – es gäbe es keine vergleichbar große Baufläche mehr, einzig den Sportplatz mit 8200 m². Bliebe der Rückkauf. Wie immer man dessen Wert berechnet: zu viel öffentliches Geld für eine Wiese. Die Gemeinderatssitzung, bei der die Umwidmung behandelt werden sollte, wurde um drei Monate auf Juni verschoben: um Bedenkzeit zu gewinnen und Skeptiker umzustimmen. Petra Eichlinger vom Ortsbildschutz Niederösterreich war auch schon da. „Bauland ist Bauland“, sagt sie. „Das Einzige, was man tun könnte: die Baufluchtlinie so zu verändern, dass mehr von der Sichtbeziehung bleibt.“

Der Fall ist symptomatisch. Parks, Denkmale und Kulturgüter haben keine Lobby, ihr Erhalt kostet Geld, ihr Verlust bringt fast immer Gewinn und Rendite, für Gemeinden, Bauträger, Investoren. Kulturgut schwindet still und heimlich. Doch das Bewusstsein einer hoch engagierten Zivilgesellschaft dafür wächst.

26. Januar 2023 Spectrum

Schöner Stiegen steigen in Penzing

In zwei Häusern in Wien-Penzing exerzieren die Architekten die hohe Kunst der schönen Treppe im sozialen Wohnbau, denn: Ein Stiegenhaus ist wichtig für die Orientierung und sollte ein räumliches Erlebnis bieten.

Rein funktional betrachtet, sind Treppen dazu da, eine Höhendifferenz zu überwinden. Das birgt gestalterisches Potenzial. Kein Schloss ohne Prachtstiege, auf der des Kunsthistorischen Museums posieren Hochzeitspaare gern, auch die der Staatsoper eignet sich bestens zum Defilee. Jugendstil und Gründerzeit waren reich an opulenten Treppen, selbst die der Mietzinskasernen scheinen im Vergleich zur heutigen Norm großzügig. Optimierungswille und Kostendruck ließen den Typus der Stiege, die den Geschoßwechsel zelebriert, nach und nach verschwinden. Froetscher Lichtenwagner Architekten (FLA) haben ein Faible für schöne Stiegenhäuser und Jahrzehnte Erfahrung im sozialen Wohnbau. Dessen Quadratmeterpreise sind an Baukostenobergrenzen, die Wohnbauförderung an die Kriterien Ökonomie, soziale Nachhaltigkeit, Architektur und Ökologie gebunden. FLA wissen den Rahmenbedingungen möglichst viel Qualität abzutrotzen.

2016 gewann Architekt Georg Driendl den offenen, städtebaulichen Wettbewerb auf dem Areal der Körner-Kaserne in Wien Penzing. Es wird im Norden von der Spallartgasse, im Osten von der Kendlerstraße, im Süden von der Hütteldorfer- und im Westen von der Leyserstraße begrenzt. Der Park der Kaserne wuchs über Jahrzehnte hinter einer graffitibesprühten Ziegelmauer dschungelartig zu. Driendls Bebauungsplan formierte Baukörper von den Rändern her so geschickt zu hofartigen Strukturen, dass trotz hoher Dichte nur wenige alte Baumriesen fallen mussten. Es gibt viele Durchgänge, Anrainer spazieren gern im Park, auch Fuchs und Dachs wurden gesichtet.

FLA planten den Neubau mit dem L-förmigen Grundriss an der Leyserstraße 4 für die Wohnbauvereinigung für Privatangestellte (WBV-GPA). Um Bäume zu erhalten, ist der längere Bauteil zehn Meter vom Gehsteig abgerückt, im rechten Winkel dazu ragt ein kleinerer Bauteil in den Park. Die vorgegebene Trakttiefe von 20 Metern ist ein klarer Fall für Mittelgang, beidseitig Wohnungen, alle rollstuhlgerecht adaptierbar, umlaufend Balkon-/Loggienzone. Von 108 Einheiten sind 36 besonders geförderte Smart-Wohnungen zu Mietkosten von 7,50 Euro pro Quadratmeter. Ihre Grundrisse sind hocheffizient. „Das lässt so gut wie keinen Gestaltungsspielraum“, sagt Lichtenwagner. Bleibt die Erschließung. Auch ein Haus kann einen guten ersten Eindruck machen.

Geschoßwechsel spürbar machen

Die Stiege in der Dunkelzone am Eck ist der einzige Fluchtweg und muss daher als Sicherheitsstiege mit Druckbelüftung ausgeführt sein. Eine große Herausforderung für eine natürlich belichtete Stiege mit einer attraktiven Wegführung, die den Geschoßwechsel spürbar macht. „Wir beteten mantraartig herunter, dass ein schönes Stiegenhaus für die Orientierung wichtig ist und ein räumliches Erlebnis bieten muss“, sagt Lichtenwagner. Die WBV-GPA war bereit, die Mehrkosten dafür zu tragen.

Der Haupteingang ist etwas eingerückt an der Leyserstraße, dunkelbraune Klinkerriemchen an den Seitenwänden ziehen nach innen, links die Postkästen, dahinter weitet eine rückspringende Wand den Raum vor den Liften mit der Bank, zum Sitzen, für Einkäufe und Post. Sie lenkt den Blick auf den Treppenantritt, der die Stiege aus ihrem finsteren Eck ins durchgesteckte Foyer vorzieht und durch den Hintereingang Licht erhält. Am Boden, robust, preiswert: Feinsteinzeug. Hier ist aus den Fliesen – anthrazit, hellbeige, diagonal geschnitten – eine Art Tangram gelegt. Wie ein Teppich zwischen Treppe, Lift und Bank. Drei Wohnungen sind für Sehbehinderte und Blinde, auch ihre Leitlinien führen über den Teppich. Sie sind auf den Lift angewiesen, alle anderen sollten die Stiege nehmen.

Sie steigt sich fast von selbst, jedes Eck ist gerundet, das setzt Handlauf und Schritt in eine fließende Bewegung, der Antritt lenkt um 90 Grad in Gehrichtung. Um ein rechteckiges Stiegenauge – groß genug, damit Licht und Blick bis nach unten dringen – windet sich die Treppe abwärts, einläufig führt sie einen Stock höher auf ein frei ausschwingendes, halbkreisförmiges Podest, leichtfüßig folgt man der Drehung, anstrengungslos eben führt ein Steg aufs Liftpodest, in das alle Mittelgänge einmünden. Von Geschoß zu Geschoß schraubt sich diese Stiege durch einen haushohen Luftraum, der nach oben hin immer heller wird. Im sechsten Stock führt ein Steg auf die Dachterrasse am niederen Bauteil. Ab hier zelebriert eine drei Geschoß hohe Glaswand die neue Freiheit, bunte Scheiben zerlegen das Licht in seine Spektralfarben: je nach Tageszeit anders, je mehr Sonne, umso bunter.

Verwerten von jedem Quadratmeter

Die meisten Stiegen werden als Fertigteile zwischen dem oberen und unteren Podest eingehängt. Beim frei in den Luftraum ragenden Halbkreis funktionierte das nicht. Kragplatten und Treppenlauf mussten betoniert, Letzterer in die Wand eingespannt, die darauf aufliegende Fertigsteilstiege schalltechnisch entkoppelt werden. Das erforderte zwischen beidem eine Trittschalldämmung, die Treppenwangen aus weiß lackiertem Stahl gehen mit der Rundung.

Der zweite Wohnbau liegt etwas höher am Eck Leyserstraße/Spallartgasse, auch sein Grundriss ist L-förmig. Er hat 71 Wohnungen und wurde von der gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft Eisenhof umgesetzt. „Das Stiegenhaus liegt an der Innenecke des Hauses; ein Raum, der de facto nicht als Wohnung genutzt werden kann“, sagt Willi Froetscher. „Das Verwerten von jedem Quadratmeter ist ein gefährlicher Sport, der viele Qualitäten vernichtet.“ Dieser Fall ist besonders: Im Erdgeschoß gibt es einen Supermarkt, der fast den ganzen Längstrakt an der Leyserstraße einnimmt, die Zulieferung erfolgt ums Eck von der Spallartgasse aus. Sie muss an das Geschäftslokal angebunden sein, die Verbindung verläuft rückseitig, Foyer und Stiege können also in den zwei Geschoßen, die der Supermarkt und seine Büros einnehmen, nicht durchgesteckt sein. Der Weg vom Eingang zur Stiege ist zwangsläufig lang und verzogen.

FLA glückte ein einladendes Entrée. Zur linken die Postfächer, Gold eloxiert, zur rechten mündet eine Holzbank in die schräge Wand mit dem Fenster zum Park, der Übergang zur Stiege ist fließend. Drei Stufen sind es auf das Zwischenpodest, von dem eine einläufige Treppe diagonal quer über den Luftraum zum Beginn der regulären Stiege führt. Die Bauarbeiter tauften sie „Harry-Potter-Stiege“. Die Situation ist so großzügig, dass sie sich vor Ort sehr belebt zeigt. Die Stiege wird genutzt. Sie variiert die Kombination aus gerader, einläufiger Treppe mit freischwingendem, halbkreisförmigem Podest und Plattform zum Lift durch einen haushohen Luftraum. Ein Einschnitt in den Baukörper bringt mehr Tageslicht; Handlauf und runde Ecken ziehen leichtfüßig nach oben. Die Dachterrasse belohnt mit Blick auf Schönbrunn und Gloriette.

Publikationen

2021

Architektur in Niederösterreich 2010–2020
Band 4

Der vierte Band der erfolgreichen Reihe Architektur in Nieder­österreich dokumentiert das Baugeschehen in diesem Bundes­land zwischen 2010 und 2020. Hundert mittels Text, Bild- und Planmaterial beschriebene Projekte legen Zeugnis ab von der Vielfalt und der Qualität ausgewählter Beispiele in sieben Ka­tegorien.
Hrsg: ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich
Autor: Isabella Marboe, Eva Guttmann, Franziska Leeb, Gabriele Kaiser, Christina Nägele
Verlag: Park Books

2012

Architektur in Linz 1900-2011

Der Architekturführer erzählt die Linzer Baugeschichte der letzten 110 Jahre. Über das Moment des Gebauten wird u.a. dem Linzer „Stadtgefühl“ nachgespürt, historische Typologien unterschieden oder die wechselvolle Geschichte der Stadt vermittelt. Neben den wesentlichsten 200 Bauwerken aller Typen beinhaltet
Hrsg: Andrea Bina, Lorenz Potocnik
Autor: Isabella Marboe, Theresia Hauenfels, Elke Krasny
Verlag: SpringerWienNewYork