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Profil

Urbanist, Studium der Architektur, Schwerpunkt Städtebau; Studien zu Stadtentwicklung und Wohnen. Publikationen: Pläne für Wien. Theorie und Praxis der Wiener Stadtplanung von 1945 bis 2005, 2005 (mit Kurt Stimmer); Wohnen in Wien 1848–1938, 1988 (mit Wolfgang Hösl).

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Artikel

10. Januar 2015 Spectrum

Unter den Dächern der Profit

Über die Dachbodenstiege hetzte ich, wenn mir die Wohnung zu eng wurde, zum Lesen, zum Spüren der Stille. Der Dachboden war der Raum der Marder, Schwalben, Fledermäuse. Der Raum meiner Träume. Heute ist er der Traum der Dachbodenverwerter. Zum Verschwinden eines urbanen Topos.

Der Film von Rene Clair heißt „Unter den Dächern von Paris“, aber das Mansardenzimmer (mit dem Blick auf die unzähligen Kamine) ist – unter dem Dach und über den Dächern – Teil einer Stadtschicht, in der Künstler, Dichter und Träumer, Gauner, Dienstboten, Prostituierte nicht eine „Unterschicht“, sondern der Stoff der Großstadterzählung sind. Während man hierzulande bei Mansarden an denkmalgeschützte Kleinstadtkerne und an die wie Geschwüre aufbrechenden Gaupen des Dachausbaus denkt, sagt das Lexikon, dass die Pariser Mansarde vom Architekten des Louvre, Pierre Lescot, erfunden und von den Baumeistern und Architekten François Mansart und Jules Hardouin-Mansart als Typus, der fortanParis mitprägte, verbreitet wurde: im Unterschied zum Wiener Dachausbau der unzähligen – verschieden erträglichen bis unsäglichen – Einzellösungen.

Wenn Alfred Hitchcocks Komödie „To Catch A Thief“ zu „Über den Dächern vonNizza“ eingedeutscht wurde, trifft dies nicht nur eine Handlungs-, sondern auch eine Wahrnehmungsebene der Stadt, die sich über dem Meer, umgeben von Felsen und Bergen, erhebt. Ein kohärentes Gefüge aus Steildächern zeigt, im Blickvom Schlossberg, die Grazer Altstadt. Eine entsprechend konsistente „Dachlandschaft“ hat Wien nicht zu bieten. Aber gerade in Wien wurde die „Wiederherstellung“ eines abgebrannten Dachstuhls in der Hofburg zur Frage der nationalen Identität hochgespielt.

Ansonsten ist Wiens vorrangiges Thema der Interpretation des Weltkulturerbes der Canaletto-Blick, ein Blick in die Ferne, in der man nicht die Details sieht, wie von der Mariahilfer Straße die Königsklostergasse hinunter in die Gumpendorfer Straße, die tiefer liegt, womit sich auf Augenhöhe ein zweigeschoßiger Hausaufbau zeigt. Das Visier, zwischen dessen Metallbändern Sehschlitze blitzen, ruiniert nicht nur eine ein Jahrhundert bewahrte Gebäudeästhetik, in der das Café Sperl nistet, sondern auch die Aussicht ins Wiental.

Wenn Wien laut allen Prognosen massiv wachsen wird, wachsen die Begehrlichkeiten auch. Speziell nach den mehr als 20.000 Dachböden, die laut dem Leiter der Magistratsabteilung 19, zuständig für Stadtgestaltung, „darauf warten, ausgebaut und bewohnt zu werden“. Und wenn selbst der, bisher als dicht geltende Bezirk Mariahilf künftig massiv wachsen soll; und wenn die Stadtplanung quer über die Stadt „Nachverdichtung“ will, zeichnet sich eine Entwicklung ab, in der die bisherigen Dachaus- und -aufbauten der Start einer „flächendeckend“ angelegten „inneren Stadterweiterung“ waren.

Eine Bilanz des Wiener Dachausbaus ist noch nicht erfolgt. Sieht man vom Ruin der Ästhetik unzähliger Gründerzeithäuser ab, wäre die Frage interessant, inwieweit die Freigabe und Stimulierung des Dachausbaus zur Wohnungsteuerung beigetragen hat. Er öffnete, zumindest, das Ventil, das die – kapitalistisch determinierten – Wohnverhältnisse unter der Last der Reste des von 1917stammenden Mieterschutzes hemmte, und zeigt, was Kapitaldynamik entlang kaufkräftiger Nachfrage ist. Während Altbauwohnungen in der Vermietung „gedeckelt“ sind, gilt dies für den Dachausbau auf dem Altbau nicht. Oben, „wo es am schönsten ist“, wurde die sozialpolitische Schranke – der Wien seine „Leistbarkeit“ verdankt – aufgehoben.

Das Kapital ist ein Schnüffelhund, der dunkle Ecken und Nischen sucht und es hier besonders einfach hat. Der brachliegende Raum verspricht den größten Profit. Das Kapital liebt Sprünge, in der (scheinbaren) Behäbigkeit und Ruhe der alten Stadt, in der der neue Hausherr, der nicht mehr ein Hausherr, sondern die Figur des Immobilieninvestments ist, den Dachboden zum Baugrund macht und die Grundrente vom Boden nach oben treibt. 150 Jahre nach Engels' Ausführungen zur kapitalistischen Lösung der Wohnungsfrage und smarter als Haussmann oder die Developer in Istanbul oder in Chinas Städten. Ohne direkten Landraub, über die Verwertung einer Allmende, die imHauseigentum (einer Mieterkonvention) herumlag, ähnlich der Umwidmung von Ackerfläche zu Bauland in den äußeren Gebieten. Aber was dort für Investoren meist schwer vorhersehbar ist (was die Planung vorhat), ist beim Dachboden eine einfache Rechnung. Marktkonform ausbauen und denZu-Fall, den Mehrwert des Blicks von oben, bestmöglich lukrieren. Der smarte Mister Benko, der von den Tiroler Bergen kommt, hat via Dachausbau das Vermögen gemacht, das ihn befähigte, ein Filet der Gründerzeit auch auf der ebenen Erde, auf der jetzt Sicherheitskräfte, wie vormals vor der angesagtesten Disco stehen, zu Wiens „goldenem Quartier“ zu machen.

Auf Brownfields zu bauen gilt für Ressourceneffizienz besser als auf Greenfields,und wer bestreitet, dass in den Gründerzeithäusern allerlei Dreck steckt, nicht nur in den Bleirohren des berühmten Hochquellwassers. Allerdings erfordert das „Draufsetzen“ (Titel einer Ausstellung, mit der die „sanfte Stadterneuerung“ ihr Ende feierte) Energieeinsatz. Kürzlich ist ein Gründerzeithaus in der äußeren Mariahilfer Straße während des Draufsetzens eingestürzt. So zeigt sich, dass die Gründerzeithäuser alt geworden sind, wie ein hoher Planungsbeamter sagte, und man muss froh sein, dass der Dachaufbau die Gründerzeithäuser verjüngt –wie der Beamte sagte –, ohne sie abzureißen. Das Kapital wird die Dämmprobleme lösen, dass man Styropor nicht nach 30 Jahren als Sondermüll entsorgen muss und die Rigipswände, die häufig nicht lang nach ihrer Errichtung springen, je nach Kaufkraft/Investitionsbereitschaft der Nachfragenden bessere Nachfolger finden.

Während es ein Jahrhundert lang nicht gelang, flexible Grundrisse und funktionell taugliche und finanziell erschwinglicheSchiebesysteme zu entwickeln, um die Wohnungen nach der Zellenaddition beweglicher zu machen, entwickeln sich auf dem Dachboden neue Produktgenerationen, auch wenn sie dessen Offenheit und schöne Rohheit, die für Josef Frank der Stimulus eines neuen Wohnens war, nach wie vor beseitigen. Der Dachausbau (Verzetnitschs undGrassers Penthäuser als Symbole, dass im Kapitalismus Aufstieg möglich ist) wurde zur „neuen Wiener Mischung“ stilisiert, in der die alte Beletage Klassendistinktionszeichen nach oben abgegeben hat. Er wurde – seit Coop Himmelb(l)au und deren Adepten – poppig, lässig, „dekonstruktiv“. Jetzt steht seine Demokratisierung an. Wollt ihr die Nachverdichtung, ein „Wohnen auf dem Dach“, das man sich leisten kann? Nachdem der Traum der Metastrukturen (Yona Friedman) und der walking city(Archigram) – einer urbanen Fläche für alle über den alten Stadtstraßen – und selbst der sozialdemokratische Traum des Vollwertwohnens (Hausswimmingpool auf dem Dach) ausgeträumt sind, und weil das geförderte Wohnen deutlich kleiner werden soll („MeinTraum ist die kleinstmögliche Wohnmaschine“, sagte kürzlich Walter Stelzhammer und verwies auf die Arbeit eines japanischen Architektenkollegen, der in der elterlichen Wohnung auf 32 Quadratmetern durch flexible Raumteiler und technische Ausstattung ein hochqualitatives Lebensumfeld geschaffen hat), sollen Ambiente und Ausblick die schwindenden Wohnflächen kompensieren. Darling, ich wohne kostengünstig unter den Sternen, verspricht die von der Stadtplanung propagierte (innere) Nachverdichtung.

Der Immobilienteil sagt anderes. Bereits im unteren „High-End“-Bereich – die Musik spielt auf dem Dach – kosten Penthäuser 10.000 Euro pro Quadratmeter. So deutet sich ein neuer, vertikaler (und zugleich horizontaler) Klassenkampf an. Früher hätte man „Es kracht im Gebälk“ gesagt. Neue Metaphern sind selten geglückt. Der Harvard-Ökonom, Larry Katz verglich kürzlich die US-Gesellschaft mit einem Haus, auf dem neue Penthäuser errichtet werden, während die Untergeschoße sich brechend füllten, die mittleren Etagen sich leerten und der Aufzug (Aufstieg) nicht mehr funktioniere.

Entspannter Blick: „Es gibt, die Bewohner des sechsten Stocks wissen das, ein Alpenglühen der Dächer, das an trostvoll schwermütiger Schönheit dem im Gebirge gleichkommt“ (Alfred Polgar, „Lob der Mansarde“).

Ich gehe durch Straßen und Gassen unter alten Traufen und blicke auf Dächer, die über dem durch Verkehrsführung und „Möblierung“ verwirrten Stadtraum ruhige Flächen bieten, gehe entlang der Traufen wie unter einem Schirm, im Winter zwischen Installationen der Hausbesorger, die auf die Gefahr der „Dachlawinen“ weisen, und denke an Gaston Bachelards „Poetik des Raumes“. „Der von der Einbildungskraft erfasste Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt.“ „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit.“

Der Speicher – diese Metapher, die Bachelards Poetik durchzieht – ist ein altes Wort für den Dachboden, als dieser noch handfeste Funktionen hatte. Der Dachboden war nicht nur der poetische Raum (Josef Franks Mansarde, aus der er das neue Wohnen entwickeln wollte), und in ihm war nicht nur – beinahe existenziell – das „starre Gerippe des Balkenwerks bloßgelegt“. In diesem Raum, der allen und niemandem gehörte, nahm man „Teil an der soliden Geometrie des Zimmermanns“, war man, in Staub und Dreck, Plunder und Dämmerlicht Teil einer Gesellschaft, in der auch die Toten waren, enger dem Haus verbunden als in der Addition von Fortschritt durch Kleinfamilie, und Voyeur der von Frauen dominierten „Hauswirtschaft“, in der, lustvoll, die schmutzige Wäsche gewaschen und getrocknet wurde. Notgedrungen dort, weil die Höfe – entlang der Nachverdichtung der Spätgründerzeit – immer knapper bemessen, zu Hinterhöfen, dann zu Lichthöfen, dann zu Schlitzen geworden waren.

Über die Dachbodenstiege (am Schluss war es keine Treppe mehr) hetzte ich, wenn mir die Wohnung zu eng wurde (und ich nicht auf die Gasse wollte), zum Lesen, Spüren der Stille unter der Luke, über der der Mond ging. Gelegentlich hing eine Leine am Balken, und an der Leine hingen Wäscheklammern. Der Dachboden war der nicht kapitalisierte Raum, der – in der Verwertungslogik – nutzlose Raum, der als Rest einer älteren Geschichte übrig geblieben war. Vom „ganzen Haus“, in dem Lehrlinge und Dienstboten in der Hitze und Kälte unter Dach und Fach einquartiert waren. Gelegentlich auf „Hängeböden“.

Der Dachboden war der Raum der Mäuse, Marder, Schwalben, Fledermäuse. Er war eingehaust, aber mit Schlupflöchern, nicht nur der Luke, und Verstecken (spielen). Man erzählte vom Krieg, und dass man in die Keller gehen musste; und dass dann auf dem Dachboden Flüchtlinge hausten (auch so ein Wort, das vom Haus kommt). Dann wieder war er der Raum, in dem im Winter Äpfel und Birnen lagen. Nicht selten saß ich im Wohn- oder Esszimmer und träumte vom Gehäuse, das keine Zwischenwände und keine „Wohnfunktionen“ hat. Unter dem Dachstuhl stand unter der Luke ein alter Stuhl, das Ausgedinge der Häuslichkeit, die eine Unhäuslichkeit brauchte (und hatte), damit die Hausinsassen Luft bekamen. Einmal fand ich alte Bilder, die verrottet waren, brachte sie zum Restaurator. Das Gestühl war die einzige Schräge in der Horizontalität und Vertikalität der Häuser, bevor Coop Himmelb(l)au die Schräge des alten, in sich ruhenden Dachstuhls durch den nervösen (und zugleich spekulativen) „Dekonstruktivismus“ ruinierten. Der alte Dachboden war der zwar eingehauste Raum – der freiere Raum war die Gasse (wie Wald und Wiesen) –, aber offener und unbestimmter als der funktionalisierte Raum der Wohnung und, trotz des Staubs, des Dämmerlichts und der Spinnweben, luftiger als der Keller.

Der Dachboden – mit Sparren und Spinnen – kann noch immer herzzerreißend sein. Die Enkelin schaut in Schränke, die nichts mehr hergeben, weil die alte Frau, von der die Dinge sind, die sie nicht wegwarf, im Rollstuhl sitzt, und entdeckt einen Mantel aus gutem Stoff, der vielleicht nie getragen wurde. Die Mutter der Enkelin, die Schwiegertochter der Frau im Rollstuhl, die nie wieder zum Dachboden kommen wird, probiert ihn an, und er schaut schick aus, und alle freuen sich.

Die alten Mietverträge, die bei Weitem nicht so „günstig“ waren, wie man sie heute darzustellen beliebt (man zahlte hohe Ablösen, die – als Schwarzgeld – in die Retro-Aufrechnung der alten Mieterschutzmieten nicht einfließen), umfassten – explizit – das Recht auf ein Kellerabteil und als Gewohnheitsrecht die Benutzung des Dachbodens, der allen Hausparteien gemeinsam „gehörte“. Dieses unausgesprochene Gemeinschafts recht der Mieter ist angesichts derheutigen Dachbodenverwertung verwunderlich. Und dass es selbstverständlich ist, dass der Aus- und Aufbau Kollateralschäden ergibt. Der energieexzessive Liftein- und Garagenausbau ist nicht nur eine langwierige Beeinträchtigung, sondern häufig die nachhaltige Zerstörung des „Hausfriedens“ (auch so ein Wort): nicht zuletzt durch die Spaltung des Stiegenhauses (das zwischen Dachboden und Keller das Haus zusammenhielt) in die, die gehen, und die, die fahren. Und gelegentlich rieselt das überschüssige Wasser des Pools oder der Pflanzenbewässerungsanlage von der Dachterrasse nach unten, zu denen auf der ebenen Erde.

„Wenn alles gefüllt wird, bleibt keinHandlungsspielraum mehr; wenn jede Leere beseitigt wird, wird auch der Spielraum zerstört, der die freie Entfaltung der Wirkung erlaubte“ (François Jullien, „Über die Wirksamkeit“). Ich gehe durch eine Straße, beschirmt von alten Dachtraufen, darüber ein Stoff (wie ein Wundverband) im Yves-Klein-Blau, wie der Himmel in der Kirche, noch viel schöner, weil die profane Gründerzeitarchitektur mit Dächern als schwarze Flächen interveniert, hinter denen die Dachböden sind.

11. Oktober 2014 Spectrum

Abschied von der Stadt

Die neue Mariahilfer Straße: so weit derzeit absehbar, ein vergleichsweise gelungenes Stück Fußgängerzone. Doch die grundsätzliche Frage bleibt: Wozu überhaupt Fußgängerzone? Erste Wahrnehmungsübungen zwischen Mariahilf und Neubau.

Schwellenlos und störungsfrei benutzbar zeigt sich der neue Stadtraum. Die Gehsteigkanten, die ein Stolperstein und im Probelauf vor zwei Jahren je nach Empfinden ein Relikt oder eine Reminiszenz der Straße waren, sind beseitigt. Ich erinnere mich noch gut: Ein Stück der Straße, die vorher eine berühmte, lang gezogene Stadtstraße war, in der Fußgänger, Radfahrer, Autoinsassen, dicht und langsam sich schoben oder „flanierten“, war abgesperrt, stillgelegt, still und breit wie eine Gasse im Cottage, aber in größerem Format. Es war, je nach Stimmung ein Störfall, eine Besetzung, ein Fest, ein Abschied von der Stadt. Auf dem Asphalt lagen junge Leute auf Decken und zelebrierten mit Thermoskannen, Papptellern und Plastikbesteck die Befreiung von den Zwängen der Straße. Musik aus Boxen ersetzte das Stadtgeräusch. Nach Erregungen, Kontroversen, Polemiken, zugeschnittenem Abstimmungsverfahren wurde das Projekt real, wie es immer ein Wunder ist, wenn nach endlosen Debatten die Bauarbeiter mit ihren schweren Geräten aufmarschieren: ein überdurchschnittlich gelungenes Stück FUZO, dem ersten Augenschein nach weniger die Stadtraumästhetik ruinierend als anderswo.

Das transformierte Stück Straße, die immer schon eine der breitesten war, ist in der Wahrnehmung noch einmal breiter geworden. Nicht nur wegen des Ausschlusses der Autofahrer und des Busses, der Abschaffung des Fahrradstreifens und der Gehsteigkante, sondern auch wegen des Bodenbelags, der im Verhältnis zur großen Fläche kleinteilig gemustert ist. Nicht unähnlich den Oberflächen der historistischen Fassaden, nicht banal-protzig-brav (dass man nur nichts falsch macht) wie bei der Neubelegung der FUZO Kärntner Straße, der man den Rest der Pflastersteine entfernte, die einmal so wienerisch waren, aber sich für Stöckelschuhe nicht eignen. Hier flirrt es, bei bestimmtem Wetter, wie ein Mosaik aus dem Süden. Dem Oberflächendesign ist der Spagat gelungen, billiger als in der Kärntner Straße, aber nicht schäbiger zu sein. Bewirkt vom Recycling alter Platten und der Freigabe des Layouts an die Pflasterer, wie man sie früher nannte.

Die grotesk überdimensionierten Masten der ehemaligen Mariahilfer Straße wirken jetzt weniger penetrant als die Kulissen der Beleuchtungskörper in der ehemaligen Kärntner Straße. Die FUZO und ihr Bodenbelag zeigen die Sockelzonen der Geschäftshäuser weniger schäbig; als ich sie (im Vergleich mit Kärntner Straße/Kohlmarkt/Graben) früher empfand. Der neue Bodenbelag bewirkt eine Aufhellung, und man könnte daraus lernen, alle 20 Jahre die Stadtstraßen Wiens von Grund auf zu reinigen, gesponsert von Kärcher. Man könnte sich, speziell bei Sonnenuntergang, der für die Mariahilfer Straße immer schon wie ein Naturwunder war, die main street für einen Wiener Western denken, ein erinnerungswürdiger Showdown. Die Raumerinnerung ist schwach und die Macht der Gewohnheit schafft an. Wer erinnert sich noch, wenn er durch die Segmente der ehemaligen Straße geht – Begegnungszone, Fußgängerzone, Begegnungszone –, dass der Historismus neu dimensionierte Stadtstraßen und in diesen Prototypen, Sequenzen, Serien (Bänke, Pissoirs, Kioske, Beleuchtungskörper, Otto Wagners Stadtbahnkreuze) schuf; dass die Stadt in der Ästhetik und der Benutzung durchgängig war; dass das 19. und frühe 20. Jahrhundert das noch nachwirkende Bild der Großstadt schufen. Wer zieht daraus Schlüsse (die Konsequenzen kämen dann), dass heutzutage der öffentliche Raum, im Gegensatz zum vorgeblichen Liberalismus, der dennoch wirklich (und) geschichtsmächtig ist, in komplizierter Weise unterteilt, zoniert, zerniert wird.

Die „Zone“ – ursprünglich dem Militär vorbehalten – hat sich „zivilisatorisch“ ausgebreitet und ausdifferenziert. Wir leben in und zwischen Raucherzonen, Graffitierlaubniszonen, Parkraumbewirtschaftungszonen, Bezirksparkerzonen, Ladezonen, Tempo-30-Zonen, Entwicklungszonen, Demonstrationsverbotszonen, Straßenstricherlaubniszonen, Schutzzonen, Grillzonen, Fußgängerzonen, Begegnungszonen, Straßenmusikantenzonen, Gratis-WLAN-Zonen. In der chinesischen Millionenstadt Chongqing wurde ein Gehweg ausschließlich für Handynutzer eröffnet. „Wie Fahrräder und konventionelle Fußgänger mit eigenen Wegen voreinander geschützt werden, sollen sich auch Leute, die unterwegs auf ihr Smartphone starren, zum eigenen Schutz vom Rest abgesondert fortbewegen. Markierungen auf dem Boden wie Pfeile mit der Laufrichtung helfen beim Vorankommen mit gesenktem Blick.“ (Spiegel Online) Laut einer Untersuchung der Ohio State University wurden 2008 mehr als 1000 Personen in die Notaufnahme eingeliefert, weil sie stolperten, fielen oder mit Hindernissen kollidierten, während sie ihr Handy benutzten. In London rüstete die Organisation „Living Street“ zum „Schutz der Fußgänger mit Handy-Ablenkung“ Laternenpfähle mit Polstern auf. Das Gratis-WLAN in der FUZO ist ein Geschenk mit Folgen.
Ich weiß großartige Texte, Bilder, Filme von Stadtstraßen (unter den vielen die Via Veneto in Fellinis „La Dolce Vita“), aber kein einziges hochkulturell oder subkulturell interessantes Sujet einer FUZO. Zwar gibt es jene komischen Hollywoodfilme, in denen sich Verfolgungsjagden abspielen und Autos oder Motorräder durch Auslagenscheiben preschen, und ein Teil wird in FUZOs gedreht worden sein, weil man dort weniger absperren muss. Dieser kommerzielle Anarchismus Hollywoods im ordnungsstaatlich befriedeten Liberalismus weist, würde vielleicht Adorno meinen, im Rahmen des beschädigten Lebens (der Stadt) auf ein legitimes (?) Zerstörungspotenzial: hintergründiger als Ulrich Seidls Penetrierung des Kellers und als krachender Hinweis darauf, dass es an der Zeit wäre, sich mit dem Massenphänomen FUZO auseinanderzusetzen.

Darling ich bin in der FUZO, in der chinese box des Massenkonsums, zusammen mit einer Klientel vom „Land“, die sich in die Stadt wagt, mit Touristen, die vom Sightseeing müde sind, mit vom Land in die Stadt Gespülten, die von den Dörfern träumen, mit jenen, die ein Penthouse auf dem Dach erobert haben und mit ihren SUVs aus der Hausgarage zur nächstgelegenen Autobahnauffahrt brettern. Wenn sie in der Stadt sind, die sich nicht fürs Brettern eignet (was seit Langem die Schwachstelle der Mariahilfer Straße war), bevorzugen sie die FUZO. Dort kann sie kein anderes Auto überholen, und sie fühlen sich „mediterran“. Sie lassen sich Zeit und entspannen nach dem Slow Food. Die „Scripts“ überschneiden sich, entlang derer die Subjekte agieren, und sie und wir alle sind in der FUZO, und es ist vergeben und vergessen, dass die Vorkämpfer des FUZO-Projekts die Skeptischen und Offen-Kritischen als Zurückgebliebene abtaten.

Die FUZO ist ein Teil der Wahrheit der zonierten Stadt. In der Stadt der Geschichtsverdrängung und der Entmischung/Gentrifizierung (des Ausverkaufs des Öffentlichen an das Geld, hätte man früher gesagt) treibt sie die Differenzierung/Polarisierung des finanziellen, sozialen und symbolischen Kapitals weiter. Während anderswo der motorisierte Verkehr sich multipliziert, in Wien die „Tangente“ die mitteleuropäische Magistrale und die „Ausfallstraßen“ häufig ein Ausfallfall sind, errichtet sich die FUZO als Geh- und Ruhezone. Dass Zonen ausschließen, ist deren Bestimmung. Auch die Stadtstraße war und umfasste nicht alles, aber sie behauptete nicht den schönen neuen Stadtkonsum für alle, sondern enthielt (und zeigte!) einen Rest des Reichs des Notwendigen, der Arbeit, des Transports (in gewisser Weise für die ganze Stadt).
Der Mythos der FUZO schließt dies aus, verwandelt die notwendig vorhergegangene Arbeit in Freizeitkonsum. Zwar sind ein paar um ihr Leben Arbeitende, Straßenmusikanten und Bettler zu sehen, überwacht und kontingentiert bis zum nächsten Erlass (wie die Straßenprostitution in Zonen, die woanders sind), aber man geht an ihnen vorbei oder über sie hinweg, diesen Gadgets des Amüsements. Es ist nicht ohne Weiteres zu sehen, dass die schöne neue Innenstadt vorrangig von jungen Mittelschichtlern aus liberalen Milieus (keine Ahnung, woher der Großteil sein Geld hat, wenn nicht von den Eltern) belebt und auf Trab gehalten wird. Frühstück bis 16 Uhr. Der Mythos der FUZO, die so viele lieben, überdeckt die Selektion. Der Mythos umfasst alle, die zwei Beine haben, und ist für den Rollstuhl schwellenlos, und wenn es jemand dorthin nicht schafft, hat es andere Gründe.

In den vergangenen Monaten sind in und an der Mariahilfer Straße verschwunden (unvollständige Aufzählung): ein Libro (der letzte Nahversorger für einfache und billige Büromaterialien); die Bar Italia; der Slama; ein Wiener Herrenmodegeschäft, dessen Name mir nicht einfällt; demnächst schließt das Klavierhaus Reisinger; das kleine Wettgeschäft hält sich. Da Nespresso einzieht, deutet sich an, dass die FUZO eine gehobene Variante der immergleichen FUZO-Ketten in allen Großstädten der Welt wird. Was der Beruhigung der globalen Konsumenten in der Allgegenwärtigkeit des immergleichen Konsums dient.

Ich fühle mich in einem Stadtraum nicht angeödet, wenn er einen Rest von Differenz (die schwache Form des „anderen“) enthält. Die Mariahilfer Straße wurde groß und bedeutend, als sie vor Jahrhunderten eine Poststraße wurde, was einen hochrangigen Kommunikationsweg bedeutete. Jetzt ist sie eine zonierte Post-Straße.

Die Stadtgrünen haben es geschafft, den Dirigismus, der ihnen anlastet, in ein Symbolprojekt der neuen Stadtfreiheit umzumünzen, in der der Individualismus, der Platz greift (und braucht), mit dem Neoliberalismus (der Befreiung vom Zebrastreifen, diesem obrigkeitsstaatlichen Relikt, auf dem die Beatles gingen, auf dem berühmten Abbey-Road-Cover) und dem „Ökologischen“ sich paart, denn Gehen ist ökologischer als Fahren und daher gut, und alles andere ist schlecht, und selbst die Radfahrer sind bereit, ihr Gerät durch die FUZO zu schieben.

Der Drang zur FUZO kam unterschwellig von den Kunden der Stadtpolitik und der Stadtverwaltung, die von dieser nicht mehr als Bürger, sondern als Konsumenten begriffen werden, das schreibt der globale Kapitalismus dem new public management vor. Und wenn früher Stadtluft frei machte und Straßen, Plätze, Parks (außen die Gstettn) die besonderen Orte der öffentlichen Freiheit waren (in Städten wie Peking, Kairo, Teheran, Istanbul, Madrid, Athen es immer noch sind und immer wieder werden), ist in den kommerziell „gesättigten“ Gesellschaften das neue Ding die FUZO. Tatsächlich enthält sie ein doppeltes Versprechen: man kann besser konsumieren, aber muss es nicht.
Es war die Enge der alten Straße, obwohl sie breit war, dass es für die Gesellschaft, die immer mehr Platz braucht, nicht mehr ging. Das hat mehrere Facetten. Erstens brauchen die Körper mehr Raum: die Jogger, die Handybenutzer (häufig mit ausgefahrenen Ellbogen), die Babys in den X-Large-Kinderwagen wie kleine SUVs, die Transporteure der Rollkoffer, die Fettleibigen und so weiter. Zweitens werden die Waren, die man abschleppt, trotz der Tendenz zur Miniaturisierung wegen ihrer Menge raumgreifender. Drittens – vor allem – steigen die Empfindlichkeiten.

Ein Raucher in einem Abstand von zwei Metern ist eine Bedrohung, eine Bank, die für zwei ist (wegen der Sandler knapp bemessen), wird mit Vorliebe von einem Gegenstand als Abstandhalter besetzt, auf den Sesselliften werden trotz Warteschlangen die Mehrzahl der Plätze nicht benutzt, im Railjet liegen mehr Gegenstände als Abstandhalter auf den Plätzen, als Fahrgäste sitzen, in den Flugzeugen finden Platz- und Luftraumkämpfe statt, der Trend zu den Luftabzügen in den Küchen und zum Singlewohnen ist ungebrochen. Wir haben nicht die Kultur der kleinen weißen Masken, mit denen Japaner den Abstand signalisieren.

Die Stadtgrünen haben begriffen, dass sich mit den schmalen Zuschnitten der Bürgersteige, die in der Gründerzeit und dann in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts verbreitert wurden, die Vielzahl und Multiplikation der Distinktionsbedürfnisse (auch so ein Wort: früher sagte man Unverträglichkeiten, Neurosen, Allergien) nicht mehr ausging. Und wenn, laut Aussagen von Mittelschichtjugendlichen, ein Teil der Fahrgäste trotz Klimatisierung in der U-Bahn unerträglich stinkt, ist es wie die Wiederkehr der antiurbanen „schaurigen Bilder“, in denen die Stadt eine große Kloake war. Der Hygienediskurs ist nicht so unschuldig, wie er scheint.

Ein Querdenken der FUZO ist aussichtslos und betrifft nicht nur die gekappten Querungslinien, die – unökologische – Umwege der Autofahrer (schlecht) bedingen, im Netz, das die Stadt einmal war. Auch das Entlang-gehen fällt mir nicht selbstverständlich leicht, wie es sollte. Gehen war einmal der selbstverständlichste Akt, aus dem der Gang der Geschichte der Menschheit hervorgegangen ist, weder gut noch schlecht, und jetzt soll Gehen etwas Besonderes und besonders Gutes geworden sein. Gehen in einer Zone, abgeschnitten, beleuchtet, ein bisschen privilegiert, diskret überwacht. Jetzt hat sie endlich mehr Platz und Ruhe, die „Gesellschaft des organisierten Konsums“ (Henry Lefevbre). Der Schwachpunkt ist, dass man in der FUZO nicht liegen darf.

Die Schaufenster, die tatsächlich raffinierter werden, tun ihr Bestes, zeigen einen winzigen Ausschnitt der „ungeheuren Warensammlung“ (Karl Marx) und spiegeln zurück, was draußen schlendert. Es verbreitet sich die narzisstische Kontemplation, die vormals der fließende Verkehr beschränkte. Und es sind tatsächlich nicht alle Kunden der Geschäfte, ein zunehmender Teil sind Informanten (Spione hätte man früher gesagt, Scouts später). Sie erkundigen sich in aller Ruhe, im Ambiente der analogen Wirklichkeit, und kaufen dann bei Amazon, Ebay, Zalando, Rakuten, Alibaba.

Je mehr sich die FUZO der FUZO angleicht und die letzten speziellen Wiener Geschäfte verschwinden, desto schutzloser gegen den boomenden e-Kommerz wird sie sein. Und mancher mag sich die Autokundschaft aus den äußeren Shopping-Cities als Restposten wieder herbeiwünschen. Eher geht der Weg in Richtung einer (zonierten) Residenzia (bei diesem Nachfragedruck in Wien, dessen berühmte Lebensqualität und Sicherheit eine „urban orientierte“, kaufkräftige Klientel anzieht), als in ein Freizeitparadies für alle. Vorläufig ergibt sich das Bild einer, mit öffentlichen Mitteln ausstaffierten Etappe in der Entwicklung des Kapitals, das – noch immer ein wenig territorial – in die nächste Spirale eintritt.