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16. Januar 2021 Der Standard

Berliner Kollisionen

Eine Initiative von Rekonstruktionsfreunden, fast 600 Millionen Euro öffentliches Geld, sieben Jahre Bauzeit und jede Menge Streit – kurz vor Weihnachten wurde das Humboldt-Forum im wiederaufgebauten Berliner Stadtschloss für fertig erklärt. Offen ist es noch nicht. Was darf man erwarten?

Das Schloss ist fertig. Sosehr seine Initiatoren jahrelang auf diesen Satz hingefiebert haben, so viel Kopfschütteln verursacht das Projekt noch immer bei seinen Kritikern. 18 Jahre nachdem der Deutsche Bundestag mit 380 zu 133 Stimmen für den Wiederaufbau des 1950 gesprengten Stadtschlosses stimmte, ist er fertig, der teuerste Kulturneubau der Republik, der offiziell Humboldt-Forum heißt. Um das Bauwerk kommt niemand herum. Nicht nur wegen der nachgebauten Fassaden des Barockbaumeisters Andreas Schlüter und der unübersehbaren Kuppel, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass dieser von Rekonstruktionsfreunden initiierte, auf 105 Millionen Euro privater Spenden basierende und zum Großteil staatlich finanzierte Repräsentationsbau auf prominentem Terrain im Zentrum von Berlin steht. Doch wofür steht er?

Im Jahr 2008 hatte Franco Stella aus Vicenza den internationalen Wettbewerb gewonnen. Drei Außenfassaden, so hatte es der Bund als Auftraggeber festgelegt, sollten originalgetreu wiederaufgebaut, die Ostseite konnte frei gestaltet werden. Das Raumprogramm des Wettbewerbs sah vor allem Ausstellungssäle vor, was genau darin gezeigt werden sollte, war damals noch nicht klar. Entschieden war lediglich, dass unter anderem die außereuropäischen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin aus Dahlem in die Stadtmitte ziehen sollten.

Wuchtig und banal

Mit seinem als Folge von Stadtplätzen verkauften Entwurf einer glasbedeckten Agora im ehemaligen Eosanderhof, einem inneren Säulenkorridor und einer durchgerasterten Fassadenordnung hatte Stella die Jury überzeugt. Schnell war klar, dass sein kleines Büro die Aufgabe allein nicht würde stemmen können. Mit Großprojekten erfahrene Partner wurden ihm zur Seite gestellt: das Büro Hilmer & Sattler und Albrecht und das Baumanagement Berlin, eine Tochtergesellschaft des international agierenden Büros gmp, das unter anderem für den Entwurf des Berliner Flughafen BER verantwortlich ist. Die Gesamtbaukosten liegen bei 677 Millionen Euro. Soweit die Fakten.

Bei allem Respekt vor den vielen Tausend Stunden Arbeit, unter anderem für rund 2800 Figuren und 23.000 Sandsteinelemente – aber das Humboldt-Forum wirkt an allen Ecken und Enden seines voluminösen Auftritts aus der Zeit gefallen. Und damit ist nicht die an drei Seiten nachgebaute barocke Fassade gemeint, sondern der Ostflügel, der laut Wettbewerbsausschreibung als dezidierte Neuinterpretation gedacht war: Franco Stella hat ihm ein derart wuchtig banales Aussehen verpasst, dass so manches Berliner Ministeriumsgebäude aus den Nullerjahren im Vergleich elegant erscheint. Auch die von der Wettbewerbsjury einst gelobte Passage mitten durch den Schlossbaukörper mit ihren verschobenen Raumhöhen oder das glasüberdachte, viergeschoßige Foyer im Westen, das an ein leeres Luxuskaufhaus erinnert, machen den Eindruck, als hätte der Architekt selbst wenig Freude an der Gestaltung gehabt.

Es gibt Architekturen, die gerade wegen ihrer immanenten Kontraste und Widersprüche großartig sind. Beim Humboldt-Forum ist das Gegenteil der Fall. Hier kollidiert so ziemlich alles, was aus verschiedener Planerhand oder anvisierter Zeitepoche aufeinandertrifft und erstickt jeden Versuch, ein Fünkchen Begeisterung für die Architektur zu entwickeln.

Fremdeln mit der Realität

Zum Beispiel, wenn Stellas Theorie des „trilithischen Systems“ an der Ostfassade in einer Betonfertigteilverkleidung der dahinterliegenden Tragstruktur resultiert. Wenn die Neubauteile lustlos an die nachgebauten „alten“ docken, ohne jenen Respekt erkennen zu lassen, den das Wettbewerbsmodell einst suggeriert hatte. Oder wenn der Rekonstruktionsansatz auf das zeitgenössische Corporate Design vom Büro Holzer Kobler Architekturen kracht, indem sich eine riesige Stele mit aufgespießten Anzeigetafeln neben dem pseudohistorischen Eosanderportal erhebt.

Völlig bizarr wird es in einem der Säle, wo ovale Öffnungen in der Wand plötzlich unterhalb der großen Fenster auftauchen, weil die Geschoßebene abgesenkt wurde. Die Aussage der Fassaden und Raumgestalt des Humboldt-Forums passt so wenig zur Aura der Namensgeber Wilhelm und Alexander von Humboldt wie die religiöse Inschrift der Kuppel inklusive Kreuz zum Anspruch, ein Haus für die Kulturen der Welt zu sein. Die Aufzählung ließe sich fortführen bis hin zu kleinen Details, an denen die Rekonstruktionsbedürfnisse mit den baurechtlichen Anforderungen des 21. Jahrhunderts kollidieren und dabei verdeutlichen, was passiert, wenn eine Kopfgeburt mit der Realität fremdelt.

Doch jetzt steht das Schloss nun mal da, und wir müssen mit ihm umgehen. Die Suche nach den positiven Aspekten seiner Existenz aber ist mühselig. Dabei fällt der Blick aus den teils noch leeren Räumen nach draußen auf die ganze Komplexität der Zeitschichten an diesem Ort, in die sich der Bau wie eine Chimäre einreiht: auf die Türme von Schinkels Friedrichswerderscher Kirche, auf die Säulenreihe des Alten Museums, das Marx-Engels-Forum mit Ostberlins schönster Skyline aus Vierzehngeschoßern, Marienkirche, Fernsehturm und Rotem Rathaus. Die noch nicht eröffnete Dachterrasse des Humboldt-Forums wird ganz neue Perspektiven auf die Klassiker des historischen Berlins eröffnen, darauf kann man sich freuen.

Der Teufel im Gründungsdetail

Und so landet die letzte Hoffnung der Schlossehrenrettung bei seiner Nutzung. Verschiedene museale Institutionen werden in die Räume einziehen, im Laufe des Jahres sollen mehrere Ausstellungen eröffnet werden. Wenn es den im Humboldt-Forum arbeitenden Wissenschaftern und Ausstellungsmachern gelingt, sich vom Erwartungsdruck der Rekonstruktionsfreunde und dem Reinregieren des Geldgebers freizumachen, könnte es ein interessantes Haus werden.

Doch leider steckt der Teufel im Gründungsdetail der gleichnamigen Stiftung, die, zu einhundert Prozent vom Bund finanziert, Bauherrin, Eigentümerin und Betreiberin ist. Als Institution mit einem überwiegend politisch besetzten Stiftungsrat kann sie kaum fachlich unabhängig agieren. Damit dürfte die Stiftung Humboldt-Forum nicht zuletzt als Blaupause für die jüngst gegründete Bundesstiftung Bauakademie gelten. Auch hier ist der Stiftungsrat überwiegend politisch besetzt, auch hier steht, direkt gegenüber dem Humboldt-Forum, eine „Wiedererrichtung“ der im Krieg zerstörten Schinkel’schen Bauakademie im Raum. Den Versuch einer Direktionsbesetzung aus den Reihen der Politik immerhin haben prominente Proteste aus der Bau- und Kulturszene verhindert. Architektur kann, ja muss mehr können als Rekonstruktion.

[ Der Text erschien am 15. Dezember 2020 im Architektur-Onlinemagazin „baunetz.de“ und wurde für diese Ausgabe leicht überarbeitet. ]

29. April 2017 Der Standard

Reibungswiderstände erleben

Theorie war gestern, doch heute fordert die Architekturausbildung immer häufiger ihren ganz praktischen Tribut. Wie „Design-Build“ die europäischen Hochschulen erobert.

A ls ich vor 20 Jahren mit einem DAAD-Stipendium an der University of Washington in Seattle studierte, änderte sich meine Sichtweise auf den Architekturberuf. Damals hörte ich den Begriff zum ersten Mal: „Design-Build“. Mein Professor Sergio Palleroni hatte mich eingeladen, für drei Monate nach Mexiko zu kommen, um eine Dorfschule zu bauen. Ich zögerte keine Minute, das klang aufregend. Nicht weit von Mexiko-Stadt war ich mit den existenziellen Problemen einer illegal entstandenen Siedlung konfrontiert – mit Kommunikationshürden und körperlicher Arbeit, wie sie mir das Baupraktikum nicht vermittelt hatte. Gemeinsam mit den Bewohnern bauten wir drei Klassenräume, eine Brücke über einen Geländesprung und einen Pausenhof.

Zementsäcke und Wassereimer

Wir – das waren zwei Hochschullehrer und 30 Studierende der Architektur und Landschaftsarchitektur aus Seattle. Wir versuchten, die Bedürfnisse und bautechnischen Möglichkeiten in einen Entwurf zu übersetzen. Wir merkten, wie lange es braucht, eine Bodenplatte zu bewehren, wie viel Kraft, um Beton mit der Schaufel anzumischen, denn in dem durch erstarrte Lava zerklüfteten Gelände gab es keinen Weg, auf dem ein Mischer hätte fahren können. Wir erlebten die Dorfbewohner, die Zementsäcke und Wassereimer schleppten und mithalfen, wo sie nur konnten.

Was damals als studentisches Globetrotter-Hobby galt, wird heute an immer mehr europäischen Hochschulen praktiziert. Auf dem Zürichsee beispielsweise schwamm vergangenen Sommer der Manifesta-Pavillon, gebaut von Studenten der ETH Zürich. Durch Europa tourte eine Containerküche, entwickelt von Studenten der TU Berlin. Im Weinviertel haben Studierende der TU Wien einen denkmalgeschützten Gutshof zur Herberge umgebaut, die nun von Menschen mit Behinderungen betrieben wird.

Doch was treibt die Hochschulen zu dieser praxisorientierten Arbeit an? Vielleicht ist es die Einsicht, dass Architekturstudenten frühzeitig Erfahrungen bei der Umsetzung ihrer Ideen sammeln sollten? Vielleicht ist es der Vorwurf, Universitäten agierten im Elfenbeinturm? Vielleicht ist es mancherorts auch der Frust über die offizielle Haltung zur Flüchtlingsunterbringung, der die Arbeits- und Innovationskraft von Studierenden weckt?

Für die Bewegung „Design-Build“ existieren viele Begriffe. „Live-Projects“ nennen es die einen, „1:1-Projects“ die anderen. In den USA spricht man von „Public-Interest-Design“ und meint damit, ganz unabhängig von studentischer Beteiligung, jene planerische Praxis, die eine soziale, ökonomische und gesunde Lebensumgebung für alle schafft. Für viele Architekten auf der Welt ist das – wenn überhaupt – ein Lippenbekenntnis. Umso wertvoller ist es, wenn Studierende nicht nur lernen, Defizite zu erkennen, sondern diese mit ihren Mitteln auch zu verändern. Ob das öffentliche Plätze, Unterkünfte für Obdachlose oder Gemeinschaftszentren betrifft. In den USA, wo der Staat keine Verpflichtung zur Daseinsfürsorge übernimmt, hat diese Arbeit eine lange Tradition.

Soziale Verantwortung

Dass sich immer mehr Studierende und Architekten weltweit der sozialen Verantwortung des Berufsbildes stellen, verdeutlichten unter anderem die vielen regionalen Organisationen SEED Network, design/build exchange, Live Projects Network, dbXchange oder Pacific Rim Community Design Network. Anfang April trafen sich rund 150 Vertreter auf einer Konferenz in Portland, die Sergio Palleroni und Bryan Bell, Gründer des Public Interest Design Institute, organisiert hatten. Sie präsentierten Projekte, diskutierten über die Messbarkeit des Erfolgs und überlegten, wie sie ihre Arbeit der Gesellschaft und innerhalb der Hochschulen besser vermitteln können.

In einer auf schöne Bilder und Alphatiere ausgerichteten Medienwelt ist das nicht leicht. Design-Build hat keine Stars und keine glänzenden Produkte. Das Kollektiv und der Prozess stehen im Vordergrund. Auch das ist ein Grund, warum viele Universitäten Design-Build als Sonderfall wahrnehmen und die Teilnehmer keine angemessenen Seminarpunkte erhalten – und das, obwohl Design-Build überzeugende Antworten auf die wichtigste Frage der Branche hat: Wie beeinflusst Architektur die Gesellschaft? Und was kann die Architekturausbildung dazu beitragen?

Wie mühsam die Arbeit im Sinne der Gemeinschaft bisweilen sein kann, aber auch wie wertvoll selbst kleine Projekte für alle Beteiligten sein können, zeigten die Vorträge über Projekte, die in einem von den Netzwerken ausgelobten Wettbewerb ausgezeichnet wurden. Von einwöchigen Interventionen im spannungsgeladenen Nordirland berichtete Ruth Morrow, Professorin an der Queen’s University Belfast, die mit ihren Studenten versucht, die zerstrittenen Parteien innerhalb von Belfast temporär an einen Tisch zu bekommen, und der Meinung ist, dass es nicht immer darum gehen muss, Probleme zu lösen, sondern zu lernen, mit ihnen umzugehen.

Arbeit in einer fremden Kultur

Vom Leben auf der Elektroschrotthalde Agbobloshie im afrikanischen Ghana, wo Menschen Plastik verbrennen, um an Kabel zukommen, und aus alten Rechnern Öfen oder Armreifen herstellen, berichtete Designer DK Osseo-Asare. Diese Mikroökonomie unterstützte er mit Studierenden, indem sie Atemfilter entwickelten, den Prototyp einer Werkstatt bauten, in der montiert und demontiert werden kann, und eine App programmierten, die den Weiterverkauf des Materials ermöglicht.

Peter Fattinger, der seit vielen Jahren an der TU Wien das Design Build Studio betreibt, sieht das Ziel von Design-Build nicht darauf reduziert, einfach nur ein Bauwerk zu realisieren. „Es geht vielmehr darum, den Studierenden die Möglichkeit zu geben, die unmittelbaren Auswirkungen ihres Denkens, Kommunizierens und Handelns in einem breiteren Kontext zu verstehen und die Reibungswiderstände zu erleben, die auftreten, wenn man ein Projekt vom Plan in die gebaute Wirklichkeit übersetzt“, sagt er. Ursula Hartig, die an der Hochschule München Planen und Bauen im globalen Kontext lehrt, wünscht sich sogar, dass alle Studierenden in ihrer Studienzeit an einem solchen Projekt mitarbeiten können. „Die Lehrpläne fordern, dass wir international und interdisziplinär arbeiten, dass die Studierenden interkulturelle Kompetenzen entwickeln“, so Hartig. „Wo können Studierende dies besser lernen als bei der Arbeit in einer fremden Kultur, wo die eigenen Werte mit anderen konfrontiert werden?“

Zur Aufgabe von Planern und Architekten gehört heute, das gesamte System zu betrachten und bestehende Orte oder Gemeinschaften so auszustatten, dass ihre Bewohner den Alltag bewältigen – ganz gleich, ob dafür ein neues Haus gebaut, ein Brunnen gegraben oder eine Brücke gespannt werden muss. Was wird aus welchem Grund wirklich gebraucht? Das ist vielleicht das Wichtigste, was Studierende bei Design-Build lernen können.

Publikationen

2021

Die Stadt nach Corona

Homeoffice, Onlineshopping, Undertourism: Die disruptiven Umbrüche durch die Covid-19-Pandemie fordern Architektur und Stadtplanung heraus. Neue Handlungsräume eröffnen sich, aber werden sie auch genutzt? Von der fairen Verteilung des Verkehrsraums bis zu städtischer Ernährungspolitik, von neuen Orten
Hrsg: Friederike Meyer, Doris Kleilein
Verlag: JOVIS