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Artikel

23. März 2007 Bauwelt

City of Collision

Jerusalem and the Principles of Conflict Urbanism

„Learning from Jerusalem“? Dass die Befestigung dieser bedeutungsschwangeren und vielleicht meist­umkämpften Stadt der Welt – explizit (eine Mauer um die Stadt) und implizit (Verwaltung der Wasserversorgung, Unterlassung von Infrastrukturinvesti­tionen, getrennte Straßenführung) – „almost alright“ wäre, würden die Herausgeber keinesfalls behaup-ten. Die Parallele zwischen dem Lernen von Las Vegas 1972 und dem harten Alltag von Jerusalem 2006 liegt im Versuch, die oft übersehene städtebauliche Realität einer Stadt auf den Tisch zu bringen. Es geht in „City of Collision“ weder um städtebauliche Visionen, noch um vereinzelte Eingriffe und schon gar nicht um ein Plädoyer für eine politische Lösung, was, selbstverständlich, die Grundlage wäre, um überhaupt etwas im Zusammenleben zwischen Isra­elis und Palästinensern zu verändern. „City of Collision“ unterschiedet sich von den zahlreichen früheren Initiativen für Jerusalem, etwa Moshe Safdies „Jeru-salem Studio“ oder Michaels Sorkins „The Next Jerusalem“. Lernen im Sinne der Herausgeber heißt hier: einerseits zu verstehen, mit welchen Mitteln die physische Trennung von zwei Bevölkerungsgruppen in einer Stadt in den letzten vierzig Jahren vorangetrieben wurde, andererseits aufzuspüren, mit welchen Mitteln die Menschen mit dieser Trennung umgehen und „alltäglichen Widerstand“ leisten. Ko-Herausgeber Philipp Misselwitz und Tim Rienties artikulieren die „Hoffnung, dass eine Stadt die einen solchen Urbanism hervorgebracht hat, auch als Labor für Handlungsweisen dienen kann, die jenen Zustand untergraben, erodieren und dagegen verstoßen“.

Der Sonderfall Jerusalem wird in den Kontext der Ausbreitung kriegsähnlicher Zustände in Städten wie New York, Madrid oder London gestellt, und der auch dort zunehmenden baulichen Abgrenzung zwischen vermeintlich unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. In Jerusalem ist die seit 2001 errichtete Mauer zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten, die sich auch um die von beiden Seiten in Anspruch genommen Hauptstadt legt und die Stadt von ihrem Umland trennt, dafür das jüngste und dras­tischste Beispiel.

„City of Collision“ ist das Ergebis einer multi-lateralen Initiative. Es dokumentiert einerseits die Beiträge der im November 2004 in Jerusalem gehaltenen gleichnamigen Konferenz, an der sich vierzig Experten der Architektur, des Urbanismus, der Kunst und der Ethnologie aus Israel, Palästina und dem Ausland zusammenfanden. Gleichzeitig versammelt das Buch die Arbeitsergebnisse des europäisch-isra­elisch-palästinensischen Studienprojekts „Grenzgeografien“ zwischen UdK Berlin, der Kunsthochschule Bezalel (West-Jerusalem), dem International Peace and Cooperation Center (Ost-Jerusalem), und der ETH Zürich, wo Tim Rienties lehrt.

Der Hoffnungsschimmer, Jerusalem könne angesichts urbaner Unterdrückung ein Labor für alternative Strategien sein, wird auf geschickte Weise schon früh in dem als Editorial dienenden Gespräch mit den Jerusalem-Experten Meron Benvenisti und Salim Tamari gedämpft. Das Konzept des „alltäglichen Widerstands“ wird in Frage gestellt. Als Beispiel: Der innerhalb der Stadtgrenzen lebenden palästinensi­schen Bevölkerung werden von der israelischen Verwaltung kaum Baugenehmigungen erteilt; auf is­raelischer Seite dagegen werden extensive Neubau­gebiete von quasi-staatlichen Institutionen in ihrer Gesamtheit geplant und umgesetzt. Den „illegalen“ palästinensischen Hausbau als Widerstandshandlung zu deuten, halten die Gesprächspartner jedoch für übertrieben. Auch nehmen Benvenisti und Tamari dem Leser die Hoffnung, dass ein multi-ethnisches Zusammenleben möglich sei. Sie machen deutlich, dass dies auch unter Osmanischer Herrschaft über Jerusalem und dem damaligen anderen Verständnis von nationaler Zugehörigkeit keinesfalls so rosig ausgesehen habe, wie heute oft vermittelt wird. Wenn man verstanden hat, das es zumindest zu unseren Lebzeiten im Grunde keine Lösung für Jerusalem gibt, ist man für das Buch gewappnet.

Je spezifischer ein Beitrag, je genauer er die Entscheidungen und Handlungsmöglichkeiten oder auch die persönlichen Überzeugungen eines Einzelnen beschreibt, desto mehr hilft er, das Irrationale dieses Zentrums des Nahostkonflikts ein wenig zu verstehen. Rema Hammami beispielsweise beschreibt den Markt, der sich an einem Checkpoint zwischen der östlich von Jerusalem gelegenen Stadt Ramallah und seinem Nachbarort nach Beginn der zweiten Intifada 2001 entwickelt hat. Er benennt den Widerspruch, dass dieser Kontrollposten einerseits den Waren- und Personenverkehr und damit das Rück­­-grat der lokalen Wirtschaft unterbrochen hat, er aber zugleich zu einem der wenigen Wachstumsfaktoren in der Krise geworden ist. Das Bild von Tierhälften, die von Trägern vom Schlachthof auf der einen Seite zur Siedlung auf der anderen Seite des Postens befördert werden, macht deutlich, was Eingriffe in Infrastruktur, Straßenbau Überwachung bedeuten.

Gleichzeitig braucht es das große Bild, um die Strategien von räumlicher Kontrolle in den Beiträgen aufzuarbeiten: Grundstücksenteignung, Wasserpolitik und Siedlungsbau gehören dazu. Einzelne Beiträge sind fürs Verständnis manchmal zu kurz gehalten, und gewisse inhaltliche Wiederholungen hätten von den Herausgebern ausgemerzt werden können. Aber auch hier hilft immer wieder der Blick auf das Spezifische: Die von den Studierenden erarbeitete Kartierung des arabischen Dorfes Beit Sahur und der jüdischen Siedlung Har Homa, die sich auf zwei Hügeln gegenüberliegen, verdeutlicht große wie kleine Mittel der Raum­kontrolle. In Form von Einschüben findet sich diese Kartierung in gesamten Text. Gegliedert werden die Texte außerdem durch eine sie durchziehende Bild­reihe der Fotografen Bas Princen und Polly Braden. Diese zeigt eine Durchquerung Jerusalems und seines Umlands von Nord nach Süd. Die Bilder sind unendlich hilfreich, um sich Menschen, Bushaltestelle und Hügel überhaupt vorstellen zu können.

Wer von Jerusalem lernen kann, bleibt unklar: die „unten“ oder die „oben“? „City of Collision“ aber ist ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, Kräfte, die Städte formen, überhaupt zu verstehen und sichtbar zu machen. Gleichzeitig ist das Projekt selbst eine Zusammenarbeit von Personen mit vermeintlich unvereinbarer Herkunft, unterschiedlichen Interes-sen und Erlebnissen – ein Beispiel für eine der wenigen Möglichkeiten, überhaupt eine Basis für eine gemeinsame Zukunft zu schaffen.

[ City of Collision | Jerusalem and the Principles of Conflict Urbanism | Herausgegeben von Philipp Misselwitz und Tim Rieniets | 400 Seiten mit Abbildungen, 43 Euro | Birkhäuser, Basel Berlin Boston 2006 | ▸ ISBN 3-7643-7482-2 ]

12. Januar 2007 Bauwelt

Ein Wonderbra für Boston

Die „Machine for Seeing' ist eine Obsession des New Yorker Architekturbüros Diller Scofidio Renfro. Auch in Boston, beim neuen Institute of Contemporary Art (ICA), geht es um die Steuerung des Sehens und um die Erneuerung der Wahrnehmung. Die Erwartung an den ersten Hochbau der bislang für theoretische Projekte und Installationen im Kunstsektor bekannten Architekten - man denke an das „Blur Building', eine begehbare Wolke, die 2002 auf dem Neuenburger See in der Schweiz realisiert wurde (Heft 21/2002) - ist entsprechend hoch. Bezogen auf Boston ist diese Strategie ohne Zweifel gelungen: Wer das ICA nutzt, kann sich nicht länger der Tatsache verschließen, dass diese Stadt am Atlantik liegt, was den Blick auf diese zu Recht als puritanisch verschrieene Stadt verändert. Was das Betrachten von Kunst angeht, bietet das Gebäude jedoch keinerlei Neuerung, was eher der Institution als den Architekten anzurechnen ist: Eine Obsession von Kuratoren ist der „neutrale' weiße Raum.

Hier, in Reichweite jener Stelle, an der 1773 amerikanische Kolonisten überteuerten englischen Tee in den Bostoner Hafen stürzten (und damit die Amerikanische Revolution aus- lösten); hier, wo man die spektakulärsten Blicke auf die Geschäftstürme der Downtown genießt; hier, wo die Entwicklung des ehemaligen Hafengebiets trotz massiver Infrastrukturmaßnahmen wie der Untertunnelung der Innenstadt nur schleppend vorangeht; hier also setzt sich das ICA wie ein Starlet in Cannes direkt ans Wasser, schlägt sich mit seiner Auskragung in Pose, den Busen gen Wasser gerichtet. Und die Bürotürme (Hugh Stubbins' breitbeinige Federal Reserve Bank sei hier besonders hervorzuheben) blicken gierig herüber.

Das Grundstück des ICA ist ein Teil von „Fan Pier', einem gut neun Hektar großen Areal, für das 1999 ein Bebauungs- plan für Büro-, Wohn-, Geschäftshäuser und Hotels von insgesamt 270.000 Quadratmeter Nutzfläche erstellt wurde. Um die Dichte politisch zu rechtfertigen, verpflichtete die Stadt die Investoren, ein 1765 Quadratmeter großes Wassergrundstück an eine öffentlich zugängliche Kultureinrichtung zu vergeben. Das ICA war einer von drei Bewerbern. Während die Bebauung von Fan Pier selbst noch auf sich warten lässt - die Pritzker-Familie, der damalige Eigentümer, verkaufte 2005 das Gelände weiter -, hat das ICA seine Neubaupläne zielbewusst umgesetzt und stellt sich heute als etwas bizarrer Vorreiter in- mitten parkender Autos dar.

Diese Pose passt zum Selbstverständnis des ICA. 1936 gegründet, rühmt es sich als das älteste Museum der USA, das sich ausschließlich moderner Kunst widmet. Als Kunsthalle ohne eigene Sammlung arbeitend, erlebte es zahlreiche Auf- und Abstiege. Ab 1975 bespielte es eine umgebaute Polizeiwache. Kamen dort zu Spitzenzeiten pro Jahr 210.000 Besucher, so sackte diese Zahl in den neunziger Jahren auf 16.000 ab. 1998 holte man Jill Medvedow vom Bostoner Isabella Stewart Gardner Museum, und unter ihrer ehrgeizigen Leitung hat sich die Institution neu positioniert. 1999 fiel die Entscheidung so- wohl für ein neues Gebäude als auch für den Aufbau einer Sammlung, um den Ruf und die Glaubwürdigkeit des Hauses zu festigen. Nachdem das Grundstück im Rahmen des Fan Pier-Verfahrens ausgewählt worden war, zog man vier Architekturbüros in die engere Wahl: Peter Zumthor, Studio Granda, Office dA, ein junges, auf experimentelle Fabrikationsweisen spezialisiertes Büro aus Boston, sowie Liz Diller und Ricardo Scofidio aus New York, die trotz Jahrgang 1954 bzw. 1939 noch immer den Ruf eines jungen, abtrünnigen Büros genießen. In der Museumslandschaft der Stadt nimmt das ICA nun auch architektonisch die Rolle des experimentierfreudigen Vorreiters ein, zumal mit Norman Foster für die Erweiterung des Museum of Fine Arts und mit Renzo Piano für die des Gardner Museum auf zwei vertraute Namen gesetzt wird. Abgesehen von minimalen öffentlichen Zuschüssen kommt das Budget für das ICA, wie in den USA üblich, aus privaten Spenden: Bis- lang wurden für den Bau und die Sammlung 66 Millionen Dollar zusammengetragen, die Baukosten beliefen sich auf 41 Millionen, die Gesamtkosten auf 51 Millionen Dollar.

Die Museumsleitung erreichte die Verdreifachung der Ausstellungsfläche auf 2000 Quadratmeter und bestand darauf, sie auf einer Ebene anzuordnen (die Feuerwache hatte acht Ebenen, ein offenbar traumatischer Hintergrund). Um die Fläche auf dem Grundstück unterzubringen, wurde sie in die Höhe verlagert und mit einer Sondergenehmigung der Stadt in den Luftraum über dem Harbor Walk gehievt, den vier Meter brei- ten, das gesamte Ufer säumenden Fußweg. So entstand die von den Architekten beschriebene Strategie, „den öffentlichen Raum vom Boden aus nach oben zu entwickeln', die Ausstellungsräume „vom Himmel nach unten'. Unter der 25 Meter weiten Auskragung, den Einbuchtungen und Falten schiebt sich die offene, zum Wasser weisende Tribüne in das Gebäude hinein, bildet dort ein 325 Plätze fassendes Auditorium und kehrt als auskragendes, in Industrieglas gehülltes Ausstellungsgeschoss wieder. Grau-blau-braun schimmerndes Tropenholz belegt diese Flächen, innen wie außen, über das Treppenhaus hoch bis zur Unterseite des Daches. Die daraus „ausgeklappte' Mediathek unterstreicht das behagliche Dekolleté dieser Vorderseite. Im Vergleich dazu ist der nach Süden gestreckte Po eben doch nur eine Rückseite, aber Anlieferung, Bühnenräume, Büros und Werkstätten mussten ja irgendwo untergebracht werden. Die Bebauung wird irgendwann näher rücken und alles kaschieren.

Das Innere lebt von den Blickbezügen auf das Wasser: vom eigentlichen Eingang, der sich an der Südwestecke unter das Auditorium schiebt und zum vollverglasten Foyer mit Buchhandlung, Café und Schulungsraum führt, zur Kulisse des Auditoriums mit Übereck-Blick nach Nordwest; zur verglasten Nordgalerie, die die beiden nur durch Oberlicht erhell- ten Ausstellungssäle verknüpft; zum schwindelerregenden, gerahmten Blick aus der Mediathek hinab auf den Wellengang. Leider bleibt der Weg durch das Gebäude, von einem Blick- Raum zum anderen, uninspiriert. Von den Faltungen und Kurven, welche die Nutzungen nach außen demonstrieren, ist im Inneren nichts zu erleben. Die Räume sind auf- und nebeneinander gestapelt, ohne räumliche Reibungen oder programmatische Überlagerungen. Diese Ebenen durch den 13 Quadratmeter großen gläsernen Aufzug verbinden zu wollen, genügt nicht, und das sorgfältig detaillierte Treppenhaus ist doch nicht mehr als ein Fluchtweg. Kann unser Starlet derart langweilig gestrickt sein?

Diese innere Anordnung hat Konsequenzen für die Kunstpräsentation. Die knapp fünf Meter hohen Räume, gefasst durch elegante, textilbespannte Deckenpaneele, deren Rahmen Beleuchtung und Sprinkler integrieren, die weißen Wände, die grauen Betonböden, alles ist standesgemäß - und genau dies ist das Problem! Die alte Polizeistation, so unzu- länglich sie war, gab der Kunst einen Rahmen und zwang sie, sich zu behaupten; sie war ungemütlich, unförmig und dunkel, aber eben das tat der Kunst, oder besser: dem Einfallsreichtum der Kuratoren, gut. Der Umgang mit den neuen ebenmäßigen Räumen erfordert Mut, wenn wir Kunst neu sehen sollen.

Publikationen

2010

Candide. Journal for Architectural Knowledge Heft 2

»Candide. Journal for Architectural Knowledge« ist ein internationales, wissenschaftliches Forum für Architekten, Planer, Ingenieure, Sozialwissenschaftler, Ethnologen und Geographen. »Candide« veröffentlicht zweimal jährlich Forschungsergebnisse aus dem umfangreichen Feld der Architektur und des Bauens
Hrsg: Susanne Schindler, Axel Sowa
Verlag: transcript Verlag

2009

Candide. Journal for Architectural Knowledge
Heft 1/2009

Candide. Journal for Architectural Knowledge ist ein neues internationales, wissenschaftliches Forum für Architekten, Planer, Ingenieure, Sozialwissenschaftler, Ethnologen und Geographen. »Candide« veröffentlicht zweimal jährlich in englischer und deutscher Sprache Forschungsergebnisse aus dem umfangreichen
Hrsg: Susanne Schindler, Axel Sowa
Verlag: transcript Verlag