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2. Dezember 2005 Neue Zürcher Zeitung

Dialog mit alten Mauern

Ein Umbau von Michele Arnaboldi in Pianezzo

Das heute immer wichtiger werdende Bauen im Bestand hat viele Gesichter. So hat der Locarneser Architekt Michele Arnaboldi in Pianezzo bei Bellinzona eine Gruppe von Rustici nach dem «Haus-im-Haus-Konzept» sanft saniert und um einen klar strukturierten Neubau zu einem zeitgemässen Wohn- und Atelierhaus erweitert.

Der Umgang mit Altbauten im Rahmen einer Sanierungsmassnahme kann sehr unterschiedlich sein. Dies ist längst nicht mehr nur eine Frage der Stadtbild- oder Denkmalerhaltung. Ebenso sind ökonomische und ökologische Aspekte zu berücksichtigen. Die Rohstoffsituation und Schadstoffemissionen verschärfen die Problematik dramatisch. Es ist deshalb ein Gebot der Stunde, auf vorhandene Bausubstanz zurückzugreifen, sie zu reparieren und weiter zu nutzen, statt Grünflächen zu zersiedeln und neue Ressourcen zu binden. Umbau- und Sanierungsmassnahmen werden in naher Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen - ihr Anteil am Gesamtbauvolumen liegt im westlichen Europa heute bei fast 40 Prozent. Im Bestand zu bauen, heisst nicht nur, sich mit historisch wertvoller Substanz zu beschäftigen, sondern sich zunehmend auch mit banalen Gebäuden der Nachkriegszeit zu beschäftigen oder aber - wie im Tessin - sich mit den vielen ungenutzten Rustici aus Bruchsteinmauerwerk abzugeben. Sie sind begehrt, da sie oft an schöner, abgeschiedener Lage stehen. Doch der Wildwuchs in Sachen Umbau war hoch - bis sich der Bund einschaltete und in gewissen Fällen sogar den Abbruch der neuer Bauteile verfügte.

«Haus-im-Haus-Konzept»

Oberhalb des bei Bellinzona in der Valle Morobbia gelegenen Tessiner Dorfes Pianezzo erwarb der Künstler Jakob Bill fünf baufällige, ineinander verschachtelte Bruchsteinhäuser. Sie fügen sich idyllisch in ein intaktes Umfeld ein. Von hier aus hat man eine herrliche Sicht auf die Berge und den Lago Maggiore. Bill nahm Kontakt mit dem Locarneser Architekten Michele Arnaboldi auf, von dem er sich ein spannendes Projekt versprach. Denn Arnaboldi ist bekannt für das Erforschen und das Ausprobieren konventioneller Materialien, die über die rein konstruktive Anwendung und über den sinnlich-taktilen Aspekt hinausgehen.

Beim ersten Anblick der Ruinen leuchtete es Arnaboldi nicht ein, warum sein Auftraggeber diese zerfallenen Mauern in ein Wohn- und Atelierhaus verwandeln wollte. Zu seinen Bedenken trug auch die Kostenseite bei. Doch dann setzte er sich mit der Bausubstanz auseinander und fand zu einer einfachen architektonischen Lösung. Die fünf Rustici aus Bruchstein wurden sanft umgebaut, und anstelle eines engen, viel zu kleinen Wohnhauses, das keinen denkmalpflegerischen Wert hatte, wurde ein Neubau geplant. Der älteste Rustico ist ungefähr 200 Jahre alt. Bei Bedarf bauten die früheren Besitzer jeweils einen neuen Rustico an. Da die fünf Steinhäuser in verschiedenen Zeiten gebaut wurden, waren sie auch in unterschiedlichem baulichem Zustand. Durch Arnaboldis Intervention entstand schliesslich ein attraktives Ensemble, bestehend aus den Rustici und einem klar strukturierten Neubau.

Das Gesuch für den Um- und den Neubau wurde von den Behörden genehmigt, da die Rustici in ihrer früheren Identität erhalten blieben. Der Ausbau erfolgte gemäss dem «Haus-im- Haus-Konzept», das heisst, es wurden selbsttragende Boden-, Wand- und Deckenelemente aus Holz eingesetzt. Deshalb gibt es im Innern der Häuser keinen einzigen rechten Winkel. Das Holzbauunternehmen Blumer & Lehmann aus Gossau (SG) errechnete die Holzelemente am Computer, und sie wurden auch per Computer millimetergenau zugeschnitten. Die fertigen Elemente wurden wie Möbel in die Steinhäuser hineingestellt, und der Holzboden wurde mit biologischen Materialien versiegelt. Die Umnutzung erfolgte somit ohne grosse Eingriffe in das bis zu fünfzig Zentimeter dicke Mauerwerk. Die bestehenden Fensteröffnungen wurden bis auf einige geringfügige Korrekturen kaum verändert.

Die für das Sopraceneri typischen Steindächer wurden neu gedeckt und brüchige sowie nicht stabile Mauern restauriert und ergänzt. Die Konstruktionen atmen und vermitteln deswegen ein gesundes Raumklima. Das Atelier wird mit einem Oberlicht aus Milchglas belichtet, das für eine angenehme Arbeitsatmosphäre sorgt. Durch die Holzbauten entstanden Räume auf verschiedenen Ebenen und mit diversen Höhen, die unterschiedliche Stimmungen evozieren. Bemerkenswert ist die Dachlandschaft, die auch im Innern erlebbar wird. Dazu tragen auch die Details bei, die eine erstaunliche handwerkliche Präzision aufweisen.

Filigraner Neubau aus Holzelementen

Die Aussenhülle des Neubaus besteht aus kanadischem Douglasienholz. Denn um das Dominieren von Glas am pavillonartig leicht wirkenden Neubau zu vermeiden, wurden vor dessen Fensterfront lamellenartige, verschiebbare Holzläden angebracht. Dadurch vermittelt das Innere Offenheit und Weite, ohne dass der Neubau von aussen in Konkurrenz zu den Rustici tritt. Dank der horizontalen Anordnung der Lamellen und der Schalung sowie der ebenfalls horizontalen Schichtung des alten Bruchsteinmauerwerks fügt sich der Neubau harmonisch in die gewachsene Einheit der Rustici ein. Die Komplexität verleiht dem Projekt seine sinnliche Intensität. Hier wurde ein bekanntes Thema in ganzheitlicher Weise abgehandelt, die vorhandenen Qualitäten wurden nicht nur aufgenommen, sondern auch überzeugend weitergeführt. Das Resultat ist beglückend: Hoch über der Magadinoebene und dem See entstand inmitten von Kastanienbäumen und Wiesen ein Ort der Entspannung, der Meditation und des kreativen Schaffens.

4. Mai 2001 Neue Zürcher Zeitung

Strenge Harmonie in Beton

Neue Bauten des St. Galler Architekten Marcel Ferrier

Die Suche nach stadt- und landschaftsräumlicher sowie nach geschichtlicher Kontinuität zeichnet die Arbeiten des St. Galler Architekten Marcel Ferrier aus. Bei kleineren Bauten oder in Quartierplanungen manifestiert sich sein Streben nach räumlicher Verschränkung, Fortführung und Ergänzung, aber auch nach Neuerfindung.

Experimentierfreude prägt die Atmosphäre im Architekturbüro von Marcel Ferrier, das sich in den loftartigen Räumen einer alten Lagerhalle in St. Gallen befindet. Der 50-jährige Architekt sieht sein Büro als eine Art Labor. Sein Schaffen ist nachhaltig geprägt durch eine ebenso präzise wie konsequente Denkweise. Auffallend in seinen bisher realisierten Bauten - unter anderem Villen, Verwaltungsgebäude, eine griechisch-orthodoxe Kirche und ein Museum - ist das architektonische Schichten einzelner Materialien, aber auch der Innen- und Aussenräume.


Minimalistisches Spiel

Ferrier hatte sein Studium in Paris noch nicht abgeschlossen, als er 1987 den Wettbewerb für den Erweiterungsbau des Natur- und Kunstmuseums in St. Gallen für sich entscheiden konnte. Die hier von ihm gefundene rationalistische Lösung beweist, wie stark er vom lateinischen Raum beeinflusst ist. Obwohl er die französische Kultur liebt, ist er im Kopf Deutschschweizer geblieben, überzeugt davon, dass ein Projekt auf klaren Strukturen aufbauen müsse. 1995 setzte er mit dem Betriebsgebäude Hauri in Bischofszell einen klärenden Akzent in ein Firmenareal. Die einfache Geometrie des lang gestreckten Körpers definiert unter Einbezug von Landschaft und Gartenanlage die unbestimmte Situation am Rande des Ortes neu. Zwei Jahre später baute Ferrier ein mit der Landschaft vernetztes Betonhaus auf einem schmalen, steil abfallenden Geländestreifen im St. Galler Stadtteil Winkeln. Ein offener, rechteckiger Raum, eine durchlässige Schichtung quer zum Südhang und die Vertikale des Eingangsbereichs strukturieren den Bau. Die versetzten Kuben sind im Hang verankert. Scheiben und Platten aus rohem Beton bilden und trennen die Räume. Nahtlos bündige Gläser unterstützen die räumliche Wirkung. Der Wohnraum öffnet sich zum Garten hin, wo am Ende des Grundstücks der Pavillon als Sommerzimmer und als Bindeglied zwischen Haus und Stadtzentrum dient. Der Bau zeigt Anklänge an die Häuser von Luigi Snozzi und von Louis I. Kahn: in der Schwere und Präsenz der Betonmauern, im flachen Dach und im Grundriss.

In Steckborn am Bodensee setzte Ferrier 1998 mit einem markanten schachtelartigen Haus aus Beton und Glas ein weiteres Zeichen. Das Gebäude ist als grosszügiger Flachdachquader konzipiert. In die mit feinkörnigem Mineralputz geschützte Aussendämmung sind knapp und bündig gefügte Fenster eingesetzt. Der aussen karg wirkende Baukörper erscheint im Innern leicht und weit. Auch bei diesem Bau hat Ferrier das minimalistische Spiel mit Raum und Volumen gewagt; und der raffinierte Einsatz von Beton, klarem und geätztem Glas, Schiefer und Buchenholz erinnert an die künstlerische Haltung des italienischen Architekten Carlo Scarpa.

Im 1998 vollendeten Z-förmigen Neubau in Mörschwil werden die beiden Hauptfunktionen - Gemeindeverwaltung und Raiffeisenbank - so zusammengebunden, dass sie über eine gemeinsame Eingangshalle erreichbar sind und trotzdem eine eigenständige Stellung behalten. Der transparente Eingangsbereich ist topographisch und landschaftlich von Bedeutung: Im steil abfallenden Gelände bildet er zusammen mit dem Vorplatz eine Kante, welche die Bodenseelandschaft wirkungsvoll in Szene setzt. Die gegliederten Fenster, die rötlich lasierten Holzsimse und die Dachuntersichten treten in einen Dialog mit dem alten Riegelbau. Innen und aussen prägen Ganzglaskonstruktionen den Erschliessungsbereich. Tages- und Kunstlicht, Transparenz und Spiegelung werden im polierten, schwarzen Granit des Fussbodens verstärkt. In den beiden Trakten dominieren wenige, einfache Materialien: Weissputz an Wänden und Decken, eine Sichtbetonwand, Ahornfurnier sowie der Granitboden.


Räumliche Sequenz

Den aus einem Wettbewerb hervorgegangenen und 1995 geweihten Neubau der griechisch-orthodoxen Kirche an der Zürcher Kornhausbrücke schloss Ferrier mit einer Hofumfassung gegen die verkehrsreiche Durchgangsstrasse ab und errichtete so einen Ort der Ruhe und der Einkehr. Zum Quartier hin ist der kreuzgangartige, durch eine Baumreihe begrenzte Rahmenbau offen. Ein Portikus, der sich rund um das Atrium zieht, geleitet die Besucher zur Vorhalle, von der aus sie in den elliptischen Sakralraum gelangen. Grossen Wert legte Ferrier auf die räumliche Sequenz im Übergang von der profanen in die sakrale Sphäre.

Primäre geometrische Formen interessierten ihn auch bei dem kürzlich fertig gestellten Umspannwerk im liechtensteinischen Schaan, wo er anstelle einer grossflächigen Anlage einen kompakten Baukörper realisierte. Ähnlich wie die Kolben eines Generators wird das zylindrische Gebäude von Ringen mit dazwischenliegenden Streifen umgeben. Es handelt sich um grosse, gekrümmte und verzinkte Walzprofile aus Stahl sowie um Bänder aus vertikal angeordneten Profilgläsern. Die grossen, gekrümmten Schiebetore sind als Schalen für die Steifigkeit des Tragwerks ausgebildet. Konzentrisch angeordnete Photovoltaikflächen ergänzen die verschiedenen Elemente der Gebäudehülle.

Zurzeit arbeitet Ferrier am Umbau des Luzerner Grossratsaals. Hier schafft er eine Art «gedeckten Aussenraum» mit Himmel, Bühnenhaus und einem Ring für die Parlamentarier. Textile Schichten führen den künstlichen Himmel vom Bühnenhaus über den Saal und die Kolonnade bis an die Aussenmauern, wo ein silberner Lichtvorhang dem Fenster-Mauer-Wechsel folgt. Hier wie bei seinen früheren Entwürfen geht Ferrier von der besonderen Form des Ortes aus. Bezeichnet Ferrier seine Villen als Messpunkte in der Topographie des Ortes, so versteht er seine neusten Arbeiten als Auseinandersetzung mit dem städtischen und territorialen Kontext.