Akteur

Cecil Balmond

Der Bauingenieur als Künstler

Cecil Balmond weist der Architektur des Computerzeitalters neue Wege

Während Jahrhunderten bestimmte der rechte Winkel das Erscheinungsbild der Architektur. Doch spätestens seit Gaudí und Erich Mendelsohn gewannen organische Formen an Bedeutung. Nun eröffnen kreative Ingenieure mit nicht euklidischen Geometrien der Baukunst neue Möglichkeiten. Ihr Leitstern ist der 1943 in Sri Lanka geborene Cecil Balmond.

14. Juli 2007 - Roman Hollenstein
Mit der Sachlichkeit der Ingenieure versuchten einst die puritanischen Götter der Moderne der Architektur den Hang zum künstlerischen Pomp auszutreiben. Allen voran Le Corbusier, der früh schon anonyme Silos und Fabrikbauten bewunderte und seine Villen als Wohnmaschinen verstand. Als dann aber nach dem Zweiten Weltkrieg die nüchterne Moderne zum seelenlosen Funktionalismus zu verkommen drohte, setzte der grosse Schweizer auf organische Formen und goss diese – anders als einst Antoni Gaudí oder Erich Mendelsohn – in Beton. Die Kapelle von Ronchamp wurde so zu einer der ersten Bauskulpturen des 20. Jahrhunderts. Damit schien die Kunst sich wieder über die Ingenieurtechnik zu erheben. Doch Le Corbusiers plastisch durchgeformte Nachkriegsbauten wollten Architektur sein. Sie unterscheiden sich damit von den Werken jener Stars von heute, welche ihr Handwerk wieder als expressive Kunst betreiben. Anders als ihre Kollegen in früheren Epochen denken sie beim Entwerfen aber nicht mehr an Gesimse, Säulen oder Giebel, sondern an spektakuläre Baukörper und holen sich Anregungen aus vielen Disziplinen: vom Film über die Ökologie bis zur Algorithmik.

Innovative Strukturen

Bei solchen Bauten wirken meist kreative Köpfe aus dem ingenieurwissenschaftlichen Bereich entscheidend mit. Denn sie beherrschen den Computer im Bereich innovativer Strukturen. Schon Eero Saarinen, ein Grossmeister der skulpturalen Architektur, verliess sich bei der Realisierung seines seit 1956 geplanten rochenartigen TWA-Terminals in New York ganz auf die neuste Ingenieurtechnik. Der ursprünglich zum Bildhauer ausgebildete Architekt glaubte zwar an Intuition, hielt aber gleichwohl fest, dass man sich bei der Umsetzung architektonischer Visionen – wenn immer möglich – auf den Verstand der Techniker und auf die ihm damals bereits zugänglichen Grossrechner von IBM verlassen sollte.

Sein Interesse am Ausloten baukünstlerischer Randzonen war mit ein Grund dafür, dass er 1957 als Juror so entschlossen für Jørn Utzons Entwurf des Opernhauses von Sydney eintrat. Die Ausführung des Tragwerks der hintereinandergestaffelten Schalendächer erwies sich dann aber als derart knifflig, dass das renommierte Londoner Büro des einst von Le Corbusier beeinflussten Philosophen und Ingenieurs Ove Arup ganz neue Lösungen finden musste. Seither garantiert der Name Arup, der 1937 mit der Realisierung von Berthold Lubetkins räumlich vielschichtiger Pinguin-Anlage des Londoner Zoos über Grossbritannien hinaus bekannt geworden war, wie kein anderer Sicherheit und technische Innovation. Es erstaunt daher nicht, dass die multidisziplinär ausgerichtete Ingenieurfirma hinter vielen aussergewöhnlichen Bauwerken von heute steht: vom Centre Pompidou bis hin zum Vogelnest des Pekinger Olympiastadions von Herzog & de Meuron.

Bevor die Baukünstler sich die bald organischen, bald kristallinen Meisterwerke von heute erträumen konnten, mussten sie aber die Möglichkeiten der in den sechziger Jahren aufgekommenen computergestützten Design-Methoden (CAD) erkunden. Frank Gehry liess in den neunziger Jahren seine bricolageartigen Modelle mit Hilfe des für die Flugzeugindustrie entwickelten Catia-Programms räumlich berechnen und darstellen. Dadurch erst konnten Gebilde wie die stählerne Magnolie des Guggenheim-Museums in Bilbao gebaut werden. Auch die gleichzeitig für die Architektur weitergedachten CAAD-Programme wurden zunächst vor allem für Entwurfsarbeiten eingesetzt, bevor man ihr Potenzial als gestalterisches Forschungsmittel zu nutzen wusste. Inzwischen werden im Computer Wolkenkratzer geplant, die sich verknoten und in den Himmel schlängeln, oder Häuser, die sich wie verdrehte Schwämme um bestehende Bauten winden. Nur an die Verwirklichung solcher Visionen mögen viele nicht recht glauben. Doch die ingenieurtechnischen Fortschritte sind so rasant, dass wohl in wenigen Jahren alles gebaut werden kann, was die Rechner uns heute vorgaukeln.

Sinnvolle Formfindungen

Trotz den Fähigkeiten des Computers stösst aber selbst das Formenrepertoire der schöpferischsten Architekten irgendwann an Grenzen, wie die Meisterwerke von Gehry, Zaha Hadid oder Santiago Calatrava zeigen. Während jedoch Calatrava, der als Ingenieur und Architekt gleichermassen über Statik und Ästhetik seiner Werke gebietet, sich in Sachen Formfindung im Kreise dreht, suchte Daniel Libeskind schon 1996, als er an der Erweiterung des Victoria and Albert Museum (V&A) in London arbeitete, die Inspiration des ingenieurwissenschaftlichen Querdenkers Cecil Balmond. Vielleicht auch deswegen, weil Balmond auf eine ähnlich schillernde Karriere wie Libeskind zurückblicken kann. 1943 in Colombo auf Sri Lanka geboren, wanderte Balmond 1961 nach Nigeria aus, wo er Mathematik studierte. Anschliessend vertiefte er sich im englischen Southampton ins Bauingenieurwesen, leitete aber auch einen Folk-Klub und trat selbst als Musiker auf. Nach der für ihn entscheidenden Aufnahme ins Büro Arup arbeitete der schnell als Tüftler, Erfinder und Künstler bewunderte Ingenieur mit Grössen wie Denys Lasdun und James Stirling zusammen, um schliesslich zum unkonventionellen Mitdenker von Rem Koolhaas zu werden. Seit dem nicht realisierten Rathausprojekt für Den Haag war Balmond an fast allen wegweisenden Koolhaas-Bauten beteiligt. Und der für das chinesische Staatsfernsehen in Peking entworfene CCTV-Tower (2003–2008), der mit seinen Knicken, Verdichtungen und Löchern brüchig wirkt, dank Netzwerkstruktur und statisch raffinierter Aussenhülle aber kräftemässig stabil wie eine Röhre reagiert, dürfte als «fraktales Haus» weitgehend Balmonds Gehirn entsprungen sein, auch wenn die anfängliche Idee auf Koolhaas zurückgehen mag.

Immer wieder betont Balmond denn auch, er dränge sich nicht vor. Bei der V&A-Erweiterung etwa liess er sich von Libeskind die Entwurfsidee genau erklären, brütete dann aber so lange über dem Projekt, bis er – ausgehend von Robert Ammanns aperiodischen Kachelmustern und der Teilung konzentrischer Kreise – zu einer chaotisch-kristallinen Spiralform fand, aus der dann die tanzenden Kisten der leider 2004 gescheiterten Erweiterung resultierten. Durch solche Vorgehensweisen unterscheidet sich die Recherche von Balmond, der den Computer immer wieder mit phantastischen, einer ganzheitlichen Weltsicht entstammenden Ideen herausfordert, von jener der meisten Ingenieure und Architekten. Um sich von naheliegenden Bildern und Lösungswegen zu befreien, greift er etwa zurück auf mittelalterliche Zahlenmystik, pflanzliche Strukturen oder nicht euklidische Geometrien.

Die aus dem V&A-Projekt hervorgegangenen Erkenntnisse flossen ein in den Entwurf des Sommerpavillons der Londoner Serpentine Gallery, den Balmond 2001 mit Libeskind realisierte. Seither war er bei den meisten dieser innovativen Temporärbauten mitbeteiligt: 2005 fand er zusammen mit den Portugiesen Alvaro Siza und Eduardo Souto de Moura eine dynamisch ausbalancierte Antwort auf die kurvig kassettierten Deckengewölbe Pier Luigi Nervis, und im vergangenen Jahr schufen Balmond und Koolhaas ein atmendes, ballonartiges Pavillondach. Einen besonders spannenden Einblick in die Möglichkeiten einer künftigen Baukunst aber gab der 2002 in einem geistigen Pingpong mit Toyo Ito erarbeitete Londoner Pavillon. Dessen vielfach durchlöcherte, von sich überschneidenden Linien und unregelmässigen Vielecken bestimmte Konstruktion veranschaulicht Balmonds Credo «Struktur ist Architektur», das er der modisch-oberflächlichen Verspieltheit der gegenwärtigen Baukunst entgegenhält. Denn es sind nicht verrückte Gebilde und verführerische Hüllen, die ihn primär interessieren, sondern neue strukturelle und materielle Ansätze.

Das Opernhaus von Taichung auf Taiwan, das er bis 2009 mit Ito vollenden will, könnte ein solch wegweisender Bau werden. Hier wandelt sich das algorithmische Linienmuster des Serpentine-Pavillons zu einem wogenden kettenförmigen Gewebe, dessen netzartige Strukturen erst seit kurzem im Computer berechnet und nun sogar im Hochhausbau angewandt werden können. Damit wird es laut Ito erstmals möglich, «die Architektur des Computerzeitalters zu realisieren» – eine Architektur, bei der es weniger um bis anhin wichtige Aspekte wie Schönheit und Funktionalität als vielmehr um neue räumliche Qualitäten geht. Diese erreicht Balmond, indem er Erkenntnisse aus dem Studium mehrdimensionaler Geometrien in die dreidimensionale Welt überträgt.

Fulminante Schau

Auch wer solchen Neuerungen gegenüber skeptisch ist und in der klassischen Entwicklungslinie von Vitruv über Palladio und Le Corbusier bis hin zur zeitgenössischen Schweizer Kiste den Höhenweg der abendländischen Baukunst zu erkennen glaubt, wird fasziniert einen Blick in die jüngste Spezialausgabe des japanischen Architekturmagazins «A+U» werfen, die ganz Cecil Balmonds kreativem Kosmos gewidmet ist. Er wird das von Einfällen nur so funkelnde Buch wie hypnotisiert durcheilen und die Architektur einmal mehr als Abenteuer erleben.

Nicht weniger eindrücklich als dieses Buch ist die grosse Cecil-Balmond-Schau, mit der zurzeit das Louisiana-Museum in Humlebæk bei Kopenhagen die Ausstellungsreihe «Grenzen der Architektur» eröffnet. Wie betörend Balmonds Theorien und Lösungsvorschläge sind, beweisen die Reaktionen der meist unvorbereiteten Museumsbesucher, die auf ihrem Rundgang durch den prachtvoll am Øresund gelegenen Musentempel von der pastellfarbenen Welt eines Philip Guston plötzlich in die an ein Wissenschaftsmuseum erinnernden Balmond-Säle gelangen.

Dem Motto «Rainbow» entsprechend ist der erste Ausstellungsbereich in regenbogenfarbenes Licht getaucht. Hier werden die unendlichen Anregungen vorgestellt, welche die Natur den Forschern seit der Antike gegeben hat und die sich auch Balmond zunutze macht. Der begnadete Lehrer erklärt mittels Video auf leicht zugängliche Weise ganz neue ingenieurtechnische Zusammenhänge und weiss dabei den Bogen zu spannen von Leonardos Wasserstrudel-Studien bis zur heutigen Chaosforschung oder von musikalischen Klängen bis zu den von diesen erzeugten geheimnisvollen, topologisch beschreibbaren Oberflächenstrukturen. Aus den die Schönheit der Natur bestimmenden Zahlen, Proportionen und mathematischen Gesetzen leitet er über dynamisch sich entfaltende Prozesse neuartige Formen ab. An unrealisierten Projekten (etwa dem Chemnitzer Stadion von 1995 oder dem Liverpooler Chavasse-Park von 2000) veranschaulicht er, wie ungeordnete Systeme nach Stabilität suchen. Dann wieder visualisiert er an dem jüngst mit Shigeru Ban gebauten Forest Park Pavillon in St. Louis, Missouri, die Dynamik architektonischer Gleichgewichte.

Unter dem Stichwort «Flux», das auf das Entstehen mehrdimensionaler Objekte in einem gefalteten dreidimensionalen Raum hinweist, demonstriert Balmond die wissenschaftliche Umsetzung seiner Ideen. Sie führt von der Fragestellung über Experimente mit Strukturen und Materialien zu Hypothesen und schliesslich zu Modellen oder konstruierten Organismen, wie man sie zuvor kaum je gesehen hat. Da trifft man auf die Verkleinerung einer kristallinen, räumlich verspannten Decke aus farbigem Glas, die im neuen South Park Theatre in London ihren Platz finden soll, oder auf die «mehr als eine Oberfläche, aber weniger als ein Volumen» verkörpernde Kettenstruktur der Fraktal-Installation «H-Edge». Dann wieder huschen gitterartige Formen über die Wand und erzeugen scheinbar unendliche Räume, durch die man alsbald zu schweben glaubt.

Geometrien, Strukturen und Materialien führen Balmond zu immer andern Bildern, aus denen er die Grundlagen einer zukünftigen Architektur zu extrahieren sucht. So sind denn in der abschliessenden Abteilung «Network» neben skulpturalen Raumobjekten aus Drähten und Netzen Balmonds wichtigste Erfindungen und Realisationen präsent: die für Siza ausgeklügelten Dachkonstruktionen der portugiesischen Weltausstellungspavillons von Lissabon und Hannover ebenso wie die von Linienknoten hergeleiteten, ondulierenden Ebenen des zusammen mit UN Studio entwickelten Bahnhofs von Arnhem (1997–2008), die auf magischen Zahlenfolgen basierenden tanzenden Fassaden einer 2002 mit Toyo Ito entworfenen Hofrandbebauung in Glasgow ebenso wie die Bibliothek von Seattle und die Casa da Música in Porto, die er zusammen mit Koolhaas 2004 und 2005 verwirklichte. Man begegnet aber auch den asymmetrischen Fussgängerbrücken von Coimbra (2006) und Philadelphia (2007) und nicht zuletzt dem ausgehend von welligen Texturen mit Shigeru Ban erarbeiteten Centre Pompidou in Metz (2004–2009), das zwischen Traumbild und Zukunftsvision oszilliert.

Höhepunkt dieses Schlussbuketts bildet neben den Modellen des Pekinger CCTV-Turms der Masterplan für die Erweiterung der Battersea Power Station in London. Hier ist Balmond erstmals als Architekt und ausführender Ingenieur zugleich tätig. Zusammen mit der von ihm im Jahr 2000 bei Arup ins Leben gerufenen multidisziplinären, durch das Crossover von Architektur, Kunst, Wissenschaft und Philosophie geprägten Forschergruppe AGU (Advanced Geometry Unit) entwarf er neben dem Gesamtprojekt auch das dreidimensional verdrehte Geschäftshaus Twist und das von einer Kristall-Geometrie hergeleitete neue South Park Theatre. Diese Arbeiten deuten Balmonds Entschlossenheit an, künftig unabhängig von Architekten Bauten zu kreieren, deren Formen und Räume vor allem die innere Dynamik spiegeln.

Gebaute Wahrzeichen

Auch wenn in der von Balmond mitentwickelten neuen Architektur viel kreatives Potenzial steckt, dürfte sie in nächster Zukunft wohl nur bei ganz spezifischen Bauaufgaben – vornehmlich im kulturellen Bereich – zur Anwendung gelangen. Zum einen, weil sich die neuen architektonischen Erscheinungsbilder nur in gezielten Operationen in unsere traditionellen Städte einpflanzen lassen, zum andern, weil im Wohnungs- und Bürobau, den wichtigsten Aufgabengebieten der Architektur, weiterhin konventionelle Häuser gefragt sein werden. Dies vor allem deshalb, weil sich orthogonale Räume leichter möblieren und damit auch vermieten oder verkaufen lassen als solche mit schrägen und gekrümmten Wänden, Decken oder Böden. Das hat jüngst Zaha Hadids verschachtelter Wohnkomplex am Wiener Donaukanal bewiesen, der bei den Mietern nicht gut ankommt. Balmonds Genie aber könnte Zürich helfen: in Sachen Kongresshaus nämlich. Denn eine von ihm ausgeklügelte, zukunftsweisende Struktur dürfte nicht nur am See ihre Wirkung entfalten; sie könnte auch an einem weniger attraktiven Ort zu einem Aushängeschild der Stadt werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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