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Das Hotel ist manchmal das bessere Daheim: Wenn es dringend wird, die eigenen vier Wände auszutauschen
Die Pandemie lockt zu Wohnexperimenten. Ein Hostel im früheren Getreidespeicher auf der Erlenmatt und ein Hotel im einstigen Bürogeschoss des Volkshauses Basel sorgten für einen Tapetenwechsel.
An den ersten beiden Tagen der Corona-bedingten Isolation erschien mir die Beschränkung auf das eine Zimmer noch interessant. So genau hatte ich es bisher kaum betrachtet, schliesslich halte ich mich im Schlafzimmer üblicherweise nur nachts auf. Ich erkundete die Möglichkeiten, auf der neben dem Bett verbleibenden Bodenfläche Sport zu treiben. Weiter verschiedenste Sitzpositionen auf Hocker oder Bettrand, stehend am Fensterbrett, liegend vor dem Laptop. Auch die Mahlzeiten, die die Familie mir wie einem Zootier auf die Türschwelle stellte, positionierte ich mal aufs Bett, mal auf den Hocker, meistens auf meine Knie.
Nach gut zwanzig Monaten Pandemie sind solche Wohnexperimente in der Isolation keine Seltenheit. Hunderttausende haben in Isolation und Quarantäne das Arbeiten am Küchentisch und das Schulzimmer im Korridor erprobt: die einen in engen Wohnungen, die anderen in geräumigen Häusern. Alle waren wir anfangs überrascht von der Situation und ihrer bald überdrüssig. Frische Luft, ja, gerne. Aber mir war nach mehr Veränderung: andere vier Wände.
Reiselust
Es gibt Gründe, in andere Städte zu fahren, die gar nichts mit diesen Orten zu tun haben. Vielmehr aber mit dem Daheim, in das man schon viel zu lange nicht mehr freudig zurückkehren konnte. Weil man dort nämlich über Wochen, Monate, bald Jahre festsitzt. Klar: Wir haben alles schöner hergerichtet, neu eingerichtet, repariert und angemalt. Und wieder Wochen am selben Ort verbracht.
Während ich mir verschiedene Hotels anschaute, fragte ich mich, ob ich da nicht gleich bleiben könnte. Wie Coco Chanel, die vierunddreissig Jahre im Pariser Luxushotel Ritz wohnte. Damals kostete die Suite, die nun nach ihr benannt ist, noch etwas weniger. Aber sicher so viel, dass das Leben im Hotel etwas Exklusives war. Exklusiv waren nicht nur die Räumlichkeiten, die Chanel nach dem eigenen Geschmack mit weissen Möbeln einrichtete, sondern auch der Service und die zentrale Lage.
Für meine Familie werden einige wenige Nächte und auch Hotels unter der Fünfsternkategorie den Zweck von etwas Abwechslung erfüllen: Hauptsache, wir müssen keine Landesgrenze überqueren. Und wohnen an einem Ort, der ganz anders wohnlich ist als das Zuhause: zum Beispiel ein Hostel in einem ehemaligen Getreidespeicher oder ein Hotel auf einer Büroetage, auf der alle Wände herausgerissen wurden. Beides gibt es seit dem Frühling 2020 in Basel, noch nicht lange also – aber lange genug, dass diese Herbergen unterdessen länger unter den Bedingungen der Pandemiemassnahmen als in einem Normalbetrieb geöffnet sind.
Die Kunst des Schlafens
Schläft man in einem Haus mit dicken Wänden, in dem früher Getreide und Kakao eingelagert waren, besser als zu Hause? Nicht zwingend. Aber die Träume sind intensiver, wenn man zuvor die riesigen Silotrichter betrachtet hat, die aus der Decke des Restaurants ragen und in den Obergeschossen, von der Brücke zwischen den Schlafräumen, in die Tiefe zeigen.
Das «Silo Hostel» im Neubauquartier Erlenmatt am nördlichen Basler Stadtrand verbindet die Idee einer Jugendherberge mit der des Boutique-Hotels: So viel clevere Design- und Architekturideen für so wenig Geld gibt es wohl in keiner anderen Gastunterkunft der Schweiz (ohne damit die Schweizer Jugendherbergen zu verärgern: Wer könnte ohne das Erbe einer Siloruine so futuristische Räume errichten, die sich jeder leisten kann?). Dabei gibt es in diesem Silo mehr als nur Zweier- und Viererschlafräume und ein Restaurant: Nach den Ideen der Stiftung Habitat und des Vereins Talent tummelt sich hier ein kleines Universum von Nutzerinnen und Nutzern, es gibt darin neben Restaurant, «Dorms» und Doppelzimmern auch Ateliers, Gewerbe- und Besprechungsräume, in den Nachbarhäusern ein Wohnhaus für Studierende und eines für Künstler.
Umgestaltet hat das Silogebäude der Basler Lagerhausgesellschaft für Getreide und Kakaobohnen aus dem Jahr 1912 der Architekt Harry Gugger, Partner der ersten Stunde von Herzog & de Meuron. Seit 2010 führt er sein eigenes Studio in Basel. Die enormen Kreisausschnitte in den Fassaden signalisieren die neue Aktivität im Haus allen Vorbeifahrenden auf der Autobahnauffahrt hinter dem Badischen Bahnhof.
Von innen her blickt, wer in einem der majestätisch grossen und silomässig roh belassenen Schlafsäle mit ihren fast fünf Metern Raumhöhe steht, weit über die Gleisanlagen nach Deutschland. Ohne Autolärm, so dicht sind die Fenster. Dafür hier gerade mit beträchtlichem Lärm drinnen, denn es wird geklettert und auf den Bettabschrankungen Waschbrett-Musik getrommelt – eine entfesselte Teenager-Schar erkundet die Schlafkojen. Weiter weg von zu Hause konnten wir, gefühlt, kaum reisen. Es sei denn, man fliegt ins Weltall – aber der schwere Beton gefällt uns viel zu gut, als dass man ihn gegen weltraumtauglichen Leichtbaukunststoff austauschen wollte.
Aufwachen im Wald
In der zweiten Nacht, immer noch in Kleinbasel, diesmal im Volkshaus-Hotel, loben die Kinder die Matratzen sowie die Oliven- und die Orangenseife, die in telefonkabinenartigen Duschnischen bereitstehen. Auch zu Hause riecht die Seife gut, das Besondere aber ist im Hotel viel einfacher zu entdecken und zu geniessen. Ob Greta Garbo sich deshalb für vier Jahre im Miramar-Hotel im kalifornischen Santa Monica einmietete? Und Udo Lindenberg fast drei Jahrzehnte lang eine Suite im Hamburger Hotel Atlantic besetzt?
Von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre wissen wir, dass sie im Hotel wohnten, um keine Energie an Hausarbeit zu verschwenden. Das machen wir nun auch so: Die Brasserie des Basler Volkshauses spielt alle Karten aus: ausser der Speisekarte und dem Ambiente auch einen Joker – Kunst ist hier nämlich Teil des Programms. Gebäudeseitig hängt ein Frauenporträt von Franz Gertsch an der Wand, hofseitig finden sich gerahmte Künstlerarbeiten, die Rezepte beschreiben.
Mindestens so einprägsam wie die Kunstwerke sind die Tapeten, bedruckt mit einer digital aufbereiteten Radierung aus dem 17. Jahrhundert. Sie zeigen die Bäume am Petersplatz zur Zeit der ehemaligen Burgvogtei: ein Wald, sozusagen. In den Waschräumen der Brasserie verdichten sich Wände und Decken hinter der Waldtapete zu einem überwältigenden Gefüge, das einer Phantasiewelt gleicht. Es ist die gleiche Tapete, die grösser und heller die Hotelzimmer in den oberen Geschossen auskleidet. Wald überall, auch die Korridore vor den Hotelzimmern sind tannengrün ausgekleidet.
Start im Lockdown
Zur Brasserie und Bar mit Gartenhof sowie Event-Sälen haben die Basler Architekturstars Herzog & de Meuron das hundertjährige Volkshaus vor gut zehn Jahren umgebaut. Auch das Boutique-Hotel der zweiten Bauetappe, eingebaut in den ehemaligen Bürogeschossen im Volkshaus, trägt ihre Handschrift: Die Zimmer mit freistehenden Waschbecken und Betten übersetzen die Belle Époque in eine malerische Moderne. Das Betriebs- und Nutzungskonzept der Firma We Are Content, bestehend aus dem Architekten Leopold Weinberg und dem Juristen Adrian Hagenbach, ging beinahe auf – ausser dass zehn Tage nach der Eröffnung des Hotels im März 2020 ein schweizweiter Lockdown verhängt wurde. Immerhin wurden die beiden als Hotelunternehmer des Jahres 2021 geehrt.
Während der trotz Corona veranstalteten Basler Kunstmesse im September 2021 waren Hotel, Brasserie und Bar genauso wie die Ausstellungs- und Festsäle des Volkshauses ausgebucht. Zwar hätten Kunst und Kulinarik, so sagen die beiden Unternehmer von We Are Content, miteinander nichts zu tun. Doch sie passen zusammen, der Hochbetrieb bewies es.
Dann kamen der Winter, Omikron und die Stornierungen aus dem Ausland. Wir zumindest sind hier, im nicht vollen, aber doch bevölkerten Volkshaus, und überlegen uns, wie es wäre, jahrelang hier zu wohnen. Berühmt für seine Langzeitmieter sind nicht nur «Ritz», «Atlantic», «Montreux Palace» oder das «Waldhaus» in Sils, sondern auch Unterkünfte wie das heruntergekommene Hotel Chelsea an New Yorks 23. Strasse. Über Jahrzehnte wurde das «Chelsea» von seinen Langzeitmietern abenteuerlich ausgebaut und eingerichtet. Weil sie ihre Zahlungen mit Kunst leisten konnten, war nicht nur das Treppenhaus eine Sensation, sondern das ganze Haus, als «place to be» für Allen Ginsberg, Patti Smith und Robert Mapplethorpe, Arthur Miller, Stanley Kubrick, Bob Dylan und Dylan Thomas.
Fenster in 240 Farben
Der Terrazzoboden, die rundum mit Zink eingefasste Bar, die Spiegelwand hinter der Bar und vor allem die rundherum schwarzen Wände und Decken könnten sich geradeso gut in New York City befinden, die Aura der Grossstadt jedenfalls wäre auch hier am Claraplatz gegeben. Zu schwarz und zu farblos, meinten manche in der Rheinstadt.
Seit einem knappen halben Jahr heisst die Volkshaus-Bar nun neu «Imi Bar», nach dem deutschen Künstler Imi Knoebel. Dieser hat in den denkmalgeschützten Fenstern zur Strasse, wie vor einigen Jahren in der Kathedrale von Reims, farbige Gläser in die Fensteröffnungen gesetzt. In der Bar des Volkshauses sind es 240 verschiedene Farbtöne, die im Augenwinkel spielen, wenn die Nase sich über das Cocktailglas beugt.
Als Weinberg 2020 während des Lockdowns seinem Freund, dem Galeristen Stefan von Bartha, zum ersten Mal von der Idee für mehr Farbe erzählte, war von Barthas Antwort: «Das könnt ihr vergessen.» Imi Knoebel mache schliesslich Kunst und keine Farbgestaltung für Architekten. Was bewegte den weltweit tätigen Künstler schliesslich dazu, an einer Basler Gasse vier profane Fenster umzugestalten, und was meint der Architekt dazu, dessen Plan es war, eine schwarze Bar zu kreieren?
Weinberg und von Bartha besuchten Knoebel und seine Frau in Düsseldorf, mehrmals. Carmen Knoebel hatte dort einst den «Ratinger Hof» betrieben, der unter ihr legendär geworden ist. Sie sprachen über die Idee, Imi Knoebels Arbeiten an die Wände zu hängen. Der 80-jährige Maler aber interessierte sich mehr für die Fenster. Für die Realisierung des Projekts kam er dann in die Schweiz, auch in die Glasfabrik Mäder in Rüschlikon, wo er unter einer scheinbar unendlichen Auswahl von Tönen seine 240 Farben wählte. An der Volkshaus-Fassade hat er sie nun ähnlich wie in seiner Werkserie «Anima mundi» von 2012 in vier um ein inneres Rechteck gelegte schmale Balken komponiert.
Architektur im Gebrauch
Die Zusammenarbeit mit den Architekten war einfacher, denn Jacques Herzog hatte kein Problem mit den neuen Farbakzenten in dem von ihm in tiefes Schwarz versenkten Raum. «Ich glaube, Architektur muss das auch aushalten, dass sie sich verändert. Es ist vielleicht auch eine Altersfrage, dass wir nun besser damit umgehen können, wenn sich unsere Architektur durch den Gebrauch verändert», erzählte er mir bei der Eröffnung des Museums Küppersmühle, in dem auch Werke von Imi Knoebel hängen.
Vor dreissig Jahren hätte er sich wohl mehr geärgert, das gibt Jacques Herzog zu, schliesslich müsse man sich als junger Architekt abgrenzen. Unterdessen nimmt er es gelassen. Das kann er gut: In Basel nämlich ist kaum eine Bewegung möglich, ohne dass ein Werk von Herzog & de Meuron ins Blickfeld kommt.
Etwas Farbe im Augenwinkel, wie Knoebels 240 Gläser, mindert nicht die Wirkung und auch nicht die schwarze Kraft des Raums. Vielmehr schärft sie die Sinne für die vielen Schichten der Geschichte, die im Volkshaus Basel eingelagert sind. Etwas Wald, etwas Weite, das Hotel könnte durchaus ein Zuhause auf Dauer sein.
Hervorragende Designerinnen gibt es viele. Jetzt stehen ihre Werke im Rampenlicht
Statt über die Benachteiligung von Frauen zu jammern, braucht es Ausstellungen wie «Here We Are!».
Bunt und beige, kantig und geschwungen bespielen die Tassen, Liegen und Stoffe die Museumsräume und kümmern sich nicht um die Frage nach einem gemeinsamen Stil. Es geht hier um anderes: Die derzeitige Ausstellung auf dem Vitra-Campus widerlegt die landläufige Annahme, dass das weibliche Geschlecht zu wenig bleibende Beachtung fände – und bespielt eine ganze Ausstellung mir ihren Werken.
Viele Werke erfolgreicher Frauen wurden zur Zeit ihres Erscheinens publiziert, kritisiert, ausgestellt, gefilmt. Die zeitgenössische Literatur nannte ihre Namen. Doch später wurden sie kaum mehr gezeigt. Designerinnen und Designerinnen-Teams tauchten im ganzen letzten Jahrhundert zwar immer wieder auf, aber meist nur für kurze Momente. Darüber könnte man nun jammern und Frauen darob zu Opfern stilisieren, aber dies würde sie erst zu solchen machen. Also ist eine andere Taktik angesagt: Die üppigen und vielfältigen Arbeiten brauchen mehr Rampenlicht.
Perspektivenwechsel
«Here We Are!» betiteln nun die Kuratorinnen die umfangreiche Schau im Vitra Design Museum und gehen der Frage nach, warum die späteren Generationen die Werke so selten für Ausstellungen auswählten: Waren sie nicht genial genug? Entsprachen sie nicht dem klassischen Kanon?
Ein Satz der Kuratorin Susanne Graner, fast beiläufig während des Gangs durch die Ausstellung fallengelassen, ist besonders bemerkenswert: «Beim Vorbereiten ist uns einmal mehr bewusst geworden, wie viele Entwürfe von Designerinnen in unserer Sammlung bereits vorhanden waren.» Als Leiterin der Sammlung des Vitra Design Museum mit gut 7000 Möbeln kennt Susanne Graner die Bestände seit elf Jahren sehr genau. Und allen Vorurteilen zum Trotz, dass es vielleicht nicht genügend Frauenarbeiten gebe, konnte auch die derzeitige Schau mit Werken von gut 80 Designerinnen zum grössten Teil aus dem eigenen Archiv bespielt werden.
Einzelne Neuzugänge kamen im Rahmen der Vorbereitungen dazu, beispielsweise ein Gartenstuhl der umtriebigen deutschen Innenarchitektin Herta-Maria Witzemann (1918–1999). Im Lauf der Ausstellungsvorbereitung wurde die hauseigene Präsenzbibliothek um einige von deren Büchern ergänzt und auch um solche der St. Galler Architektin Berta Rahm (1910–1998). Unter der Buchvitrine steht Rahms für ein Haus in Hohfluh entworfener Holzstuhl, der seit 2000 in zwei Exemplaren in der Sammlung vorhanden ist.
Während Witzemann eine durchaus erfolgreiche Karriere erlebte, an Hochschulen lehrte und Präsidentin des Berufsverbands wurde, durfte Rahm trotz Wettbewerbserfolgen und ausgezeichneten Fachkenntnissen viele ihrer Projekte nicht ausführen, prozessierte erfolglos gegen die Männerbünde und musste ihren Beruf 1966 schliesslich aufgeben. Die Bücher in der Ausstellung erschienen in ihrem in der Folge gegründeten feministischen Ala-Verlag. Kürzlich wurden Teile ihres Werks an der ETH Zürich und im Zentrum für Architektur Zürich (ZAZ) ausgestellt, und auch in «Here We Are!» erhält sie einen prominenten Auftritt – mit einer grossen Fotografie ihres Pavillonanbaus für die Schweizer Ausstellung für Frauenarbeit («Saffa») von 1958.
Design-Ikonen und Unbekannte
Design-Ikonen und Möbelklassiker gibt es in der Sammlung ebenfalls: So sind Stücke von Aino Aalto, Gae Aulenti, Ray Eames, Eileen Gray, Charlotte Perriand und Lilly Reich seit langem umfangreich dokumentiert. In den meisten Fällen gingen diese Frauen – ungeachtet der fehlenden Anerkennung – ihren gestalterischen Berufungen dank ausgiebigen finanziellen Mitteln aus einem Familienerbe oder einer Partnerschaft mit einem männlichen Kollegen (oft beidem) nach.
Eine, die um Anerkennung kämpfte, war die Bauhaus-Studentin und -Meisterin Gunta Stölzl (1897–1983). Besonders freut Susanne Graner ein Zufallsfund aus ihrem Schaffen: Ein wunderbarer Wandteppich der bedeutenden Weberin und Textildesignerin aus dem Archiv der Schule für Gestaltung Basel ist als Leihgabe in die Schau integriert. Zwar wird immer wieder erzählt, wie das Bauhaus im Gegensatz zu anderen Schulen viele Frauen aufgenommen habe. Dass sie aber nur bestimmte Fächer, wie Keramik und Textil, belegen konnten und wenig vom Bauhaus-Rampenlicht abbekamen, empfanden sie – nachvollziehbar – als unbefriedigend (mehr dazu auch in der Schau «Vergessene Bauhaus-Frauen», Bauhaus-Museum, Weimar, bis 3. Januar 2022).
In der Ausstellung des Vitra Design Museum erfährt man ausserdem, dass parallel zum Bauhaus eine Designschule nur für Frauen in Loheland gegründet wurde und vieles mehr. Zwischen Möbeln, Teppichen, Büchern und Filmmaterial gibt es Keramiken zu bestaunen, etwa von Eva Zeisel, die 1938 in die USA emigrierte und im Museum of Modern Art in New York eine Einzelausstellung ausgerichtet bekam. Andere, wie ihre Zeitgenossin Trude Petri, blieben unbekannt, weil ihre Namen in den Firmen, in denen sie angestellt waren, nie hervorgehoben wurden. Auch die russische Weltraumdesignerin Galina Balaschowa (* 1931) entwarf weit mehr, als sie dann auch signierte. Die Kosmonauten erinnern sich bestens an ihre Arbeit, die Designgeschichte holt nun auf. So sind in Weil am Rhein ein aus dem Moskauer Kosmonautenmuseum geliehenes Interview und Bildmaterial zu ihren futuristischen Interieurs für Raumkapseln zu sehen.
Die Ausstellung erzählt von schönen und intelligenten Objekten, aber auch von der Geduld und Ungeduld, von Engagement, Frustrationen und Erfolgen der Designerinnen. Die vier Räume der Ausstellung sind, beginnend um 1900, chronologisch geordnet und zeigen bestimmte Entwicklungen auf: So gab es bei der Heimarbeit keine Autorschaft, handwerkliche Arbeit blieb fast immer anonym. Erst Reformbewegungen und Industrialisierung im 20. Jahrhundert eröffneten Berufsfelder, in denen Frauen tätig werden und ihre Entwürfe oft auch signieren konnten.
Vorwürfe, dass Frauenarbeiten einem abwertenden Blick unterworfen gewesen und sogar systematisch übersehen worden seien, treffen auf die Rezeption vieler der hier gezeigten Protagonistinnen zu. Die Co-Kuratorin Nina Steinmüller sprach anlässlich der Eröffnung mit Nachdruck von der jungen Generation, Viviane Stappmanns, die dritte im Bunde der Kuratorinnen, von den «Leerstellen» in der Designgeschichte. Und der Museumsdirektor Mateo Kries stellte fest, dass die Vorbereitungen für diese Übersichtsschau auch eine tiefgreifende Reflexion über die Sammlungskriterien ausgelöst habe.
Sogar wenn es so war, dass für Werke von Frauen andere Massstäbe als für jene der männlichen Kollegen galten – es gibt keinen Grund, dies für die gegenwärtige und zukünftige Generationen zu wiederholen. Dafür braucht es nicht «Women only»-Shows (auch diese hier ist keine, denn viele dieser Frauen arbeiteten gemeinsam mit Partnern), sondern Aufmerksamkeit und Teamwork.
Auch das Schaudepot auf dem Vitra-Campus wurde mit dem Titel «Spot On. Designerinnen in der Sammlung» neu eingerichtet. Die auf Entwürfen von Frauen basierenden Objekte sind in den Regalen speziell gekennzeichnet. Auf den Podesten stehen neben Highlights der jüngeren Generation auch Ikonen wie Zaha Hadids «Mesa Table» von 2007.
Und nicht nur im Vitra Design Museum gibt es mehr Werke von Frauen in der Sammlung als gemeinhin angenommen. Im Museum of Modern Art in New York wurde Ähnliches festgestellt. Der Schweizer Martino Stierli, Chefkurator für Architektur und Design, stellte im letztjährigen Interview mit der NZZ fest, dass die Bestände des Museums gar nicht so homogen seien: «Die grosse Überraschung war nämlich, dass diese enorm grosse Sammlung viel diverser ist, als wir das alle gedacht hätten.»
Ein Blick in die Zukunft
Also liegt es in den Händen der gegenwärtigen Generation, die Erinnerung an das gestalterische Schaffen zu bewahren. So hat die über achtzigjährige Schweizer Innenarchitektin Verena Huber gemeinsam mit elf weiteren Personen im letzten Juli stilgerecht in der Zürcher «Kronenhalle»-Bar das Archiv Innenarchitektur Schweiz (AIS) gegründet. Anwesend waren als Gründungsgäste auch das legendäre Paar Trix und Robert Haussmann. Die Bar ist Teil seines Frühwerks, und Robert Haussmanns kürzlicher Tod unterstreicht, wie dringlich das Aufbewahren auch für die Designgeschichte ist. Der Verein fordert alle über achtzigjährigen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen dazu auf, ihren Vorlass zu ordnen, damit dafür ein Archiv gefunden werden könne.
Weil am Rhein ist nur die erste Station dieser Ausstellung. Die Kuratorinnen von «Here We Are!» fordern nun die an einer Übernahme interessierten Ausstellungshäuser dazu auf, in ihre eigenen Archive zu schauen. Die Kunsthalle Rotterdam hat sich bereits dazu verpflichtet, die Schau fürs eigene Haus zu erweitern und dafür die eigene Sammlung unvoreingenommen nach Designerinnen-Werken abzusuchen. Wie viel es dort wohl jenseits des etablierten Kanons zu entdecken gibt?
Die Frage nach neuen Blickwinkeln verschiebt das Problem der unterrepräsentierten Frauen aus der Vergangenheit in die Gegenwart: Nicht die Archive, sondern die Auswahlkriterien sind das Problem. Schönheit mag in den Augen der Betrachter entstehen. Sichtbarkeit aber braucht mehr, nämlich einen zugewandten Blick und die Bereitschaft, die Objekte aus den Kellern ans Licht zu holen.
[ «Here We Are! Frauen im Design 1900 bis heute», Vitra Design Museum / «Spot On. Designerinnen in der Sammlung», Schaudepot, Vitra-Campus, Weil am Rhein (mit Tram 8 direkt vom Basler Bahnhof erreichbar), bis 6. März 2022. ]
Das Ende des Spektakels: Herzog & de Meurons Bau im Ruhrgebiet wirkt wie immer schon da gewesen
Die weltberühmten Architekten überraschen: Ihre Erweiterung für das Museum Küppersmühle für Moderne Kunst setzt auf Kontinuität. Es ist auch ein Manifest gegen die Oberflächlichkeit.
Nein, antwortete der Taxifahrer, drinnen gewesen sei er noch nie. Das Museum steht seit mehr als zwanzig Jahren offen, einmal pro Woche ist der Eintritt für die Stadtbewohner von Duisburg frei. Dennoch überschreiten vor allem Besucherinnen und Besucher aus fernen Städten diese Schwelle, um Werke der grossen Maler und Bildhauer der Nachkriegszeit zu betrachten.
Die Anreise ist für die meisten weit: Erst fährt man durch Düsseldorf, später käme dann Essen. Irgendwo dazwischen liegt Duisburg: eine Halbmillionenstadt im Ruhrgebiet, die bisher weder für eine Kunstakademie noch für ein Museum, nicht einmal für ein Industriedenkmal bekannt war. Mit der Erweiterung wird das Museum in der ehemaligen Mühle, die seit ihrer Gründung 1860 über ein Jahrhundert lang für Brot in der gesamten Gegend sorgte, zum Kunstversorger der Region. Nur, wenn das Ruhrgebiet diese Kunst braucht, wie bringt das Museum sie zu den Leuten?
Wie schon immer da gewesen
Gute zwanzig Kilometer entfernt liegt die Zeche Zollverein, die seit 2001 einen Unesco-Welterbe-Status innehat. Dort setzten Rem Koolhaas und sein Büro OMA entsprechend dem damaligen Zeitgeist ein spektakuläres Zeichen: Die Wucht der stillgelegten Bergwerksanlagen wurde mit der supermodernen Intervention einer überlangen Rolltreppe, die hinauf in die Kohlenwäscherei führt, dramatisch überzeichnet.
Herzog & de Meurons Erweiterungsbau für die Küppersmühle macht es ganz anders: Wie schon immer da gewesen wirkt das Gebäude der ehemaligen Mühle, in dem das Museum Küppersmühle für Moderne Kunst (MKM) untergebracht ist. Riesig ruht der Backsteinbau mit seinen prägnanten Silotürmen an einem stillgelegten Arm des Duisburger Innenhafens, der einst der grösste Binnenhafen Europas, womöglich der ganzen Welt war. Auf den ersten Blick deutet nur der aus über tausend handgeschnittenen Klinkern geformte, eingemauerte Schriftzug mit dem Namen des Museums darauf hin, dass hier etwas geschah. Die hart gebrannten Backsteinziegel fügen sich diskret in die industriell geprägte Umgebung ein.
Sind die Zeiten der wilden Formen vorbei, brillieren nun auch Stars mit subtilen Eingriffen? Die Basler Architekturstars H&deM, die in fast allen Weltstädten gebaut haben, wissen, was es heisst, grosse Publikumsströme durch eine Institution zu lenken. Hier aber ist die Geste nach aussen diskret. Ist dies etwa ein Privatmuseum? Natürlich nicht. Dieser privat finanzierte Bau ist öffentlich zugänglich und will in der internationalen Museumswelt mithalten, auch mit den anderen, fast gleichzeitig fertiggestellten Museumsneubauten von H&deM wie dem SongEun Art Space in Seoul und dem Kulturzentrum M+ in Hongkong.
Die wichtigste Referenz bleibt die Tate Modern in einem ehemaligen Elektrizitätswerk, die H&deM kurz vor der Jahrtausendwende gleichzeitig als Kunstmuseum im Duisburger Getreidespeicher planten. Beide sind riesige Backsteinbauten, die Grösse der Räume kommt auch der Kunst zugute. «Heroen» nennt Architekt Jacques Herzog die in der Sammlung Ströher zusammengetragenen Künstler: Baselitz, Penck, Kiefer, Richter, Götz, Knoebel und viele mehr. Einen so umfassenden Überblick über das Schaffen in der Nachkriegszeit zeigen nur wenige Museen in einem so breiten Querschnitt wie hier. Für diese eine Generation von Künstlern wurden die Ausstellungsflächen von 3600 auf 6100 Quadratmeter erweitert.
Kunst im Industriegebiet
Der Erweiterungsbau fügt sich in die Lücke zwischen den 45 Meter hohen Silotürmen und der Autobahn 59, wo bereits früher schon ein Anbau des Getreidespeichers stand. Sind es solche Reminiszenzen an die Vergangenheit, mit denen die hiesige Bevölkerung angesprochen werden könnte? Jacques Herzog erklärt mir unter einem grossen Baum vor dem Museumsrestaurant, wie die Städte im Ruhrgebiet keine Ränder hätten, vielmehr fast übergangslos zusammengewachsen seien. Und dass in diesem Siedlungsbrei Orte der Identifikation fehlten. Duisburg ist keine kulturaffine Stadt, die wichtigsten Arbeitgeber stellt immer noch die Industrie. Übrigens ist auch nur ein einziger der hier ausgestellten Künstler, der Bildhauer Michael Schoenholtz, hier geboren. Sein Leben spielte sich dann vor allem in Berlin ab, wo die meisten Künstler hinwollten.
Der Vater des Manns am Steuer meines Taxis war auch schon Taxifahrer, nachdem er seine Stelle bei Thyssen verloren hatte. Dort hatte schon der Grossvater gearbeitet. Mein Fahrer ist Duisburger der dritten Generation, aber im Museum war er noch nie. Aufgefallen ist ihm das Gebäude schon, allein wegen seiner Grösse. Die Infrastrukturbauten im Ruhrgebiet sind alle riesig, und über den stillgelegten Anlagen schwebt eine stille Melancholie. Rostige Kranbahnen säumen die Industrielehrpfade, neue Industrien nisten sich in teils bestehenden, teils neu gebauten Fabriken ein. Duisburg lebt weiterhin von und mit der Industrie, die Bevölkerungszahlen schrumpfen in diesem Kohle-Erz-Bergwerk-Gebiet zusammen mit den Arbeitsplätzen.
Gegenüber dem Museum Küppersmühle reihen sich nach einem Masterplan der britischen Koryphäe Sir Norman Foster generisch anmutende Bürohäuser entlang der Uferpromenade. Neue Möglichkeiten tun sich auf: Man könnte hier entlang dem Industrielehrpfad spazieren gehen, auch um den Umbau eines Kornspeichers für das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen von Ortner & Ortner zu sehen. Der Taxifahrer könnte ins Museum gehen – oder einfach nur unter einem Baum vor dem Museum die Landschaft betrachten.
Der gescheiterte Wolkenbügel
So unspektakulär, wie der Erweiterungsbau nun am Boden steht, war er nicht immer geplant. Wenige Jahre nach der Eröffnung des MKM im Gebäude der ehemaligen Mühle im Jahr 1999 wurde erstmals eine Erweiterung in Angriff genommen: Eine minimalistische, riesige Box hätte über den Silos schweben und weit in die Landschaft ausstrahlen sollen. Im Hinterkopf war diese Box vielleicht, dies gibt Jacques Herzog nachdenklich zu, eine Reminiszenz an die Kunstkiste, einen «krassen Betonklotz», den das junge Büro zur Mitte der 1990er Jahre für die Sammlung Grothe in Bonn plante. Er hätte die Nachkriegskunst beherbergt, die nun in Duisburg ausgestellt ist, weil das Ehepaar Ströher vor fünfzehn Jahren die ganze Sammlung des gebürtigen Duisburger Bauunternehmers Hans Grothe kaufte.
Mit den Kunstwerken sind auch die Architekten wieder nach Duisburg gekommen und haben ihr Projekt seither mehrmals verändert. Es scheint Jacques Herzog ernst mit der Bezeichnung des krassen Betonklotzes, er wiederholt sie und erklärt: «Die Kunstkiste war Ausdruck unserer Position, die in den 1990er Jahren im Gegensatz zum postmodernen Mainstream stand: eine radikale und rohe Architektur ohne jeden Firlefanz.» Die Kiste war ein Statement gegen Gustav Peichls postmodern-verspielte Volumen der Bonner Bundeskunsthalle.
Nur stand dieser Betonklotz in Bonn noch auf dem Boden. Die Kiste über dem Duisburger Museum sollte, wie einst El Lissitzkys Vision der «Wolkenbügel» für Moskau, hoch oben über der ehemaligen Mühle schweben. Diese Kunstkiste unter den Wolken wäre wohl zum postindustriellen Architekturspektakel Nummer zwei im Ruhrgebiet geworden, nach den Interventionen von OMA auf der Zeche Zollverein. Doch dann kam alles anders, die Stahlstruktur erwies sich, noch bevor sie auf die Silos aufgesetzt wurde, als zu schlecht gebaut, der Unternehmer ging in Konkurs und nahm auch gleich das Geld mit.
Die Kehrtwendung im Entwurf der Erweiterung kam unfreiwillig. Nach dem Fiasko in der Planung des Wolkenbügels gab es einen Neustart in mehrfacher Hinsicht. Für den verantwortlichen Partner Robert Hösl sind diese Projekte, pragmatisch gesehen, drei separate Nummern: Die erste für die Umnutzung der Mühle zum Museum trägt die Nummer 151 (1997–1999, damals beschäftigte das Büro gut 200 Mitarbeiter), die Nummer 301 geht als nicht realisiert in die Geschichte ein (2006–2011), die Nummer 433 (ab 2013 in der unterdessen über 500-köpfigen Firma geplant) wurde im September 2021 feierlich eröffnet.
Schleier aus Backstein
Projekt Nummer 433 beginnt mit der nun vollendeten Sanierung der Silotürme, die denkmalgerecht mit einem taubengrauen Schutzanstrich versehen sind, und schreibt die Geschichte der ehemaligen Mühle in abstrahierter Form gegen Osten, so nahe, wie das Bauen entlang der Autobahn erlaubt ist, weiter. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man dort das besondere, aufwendig ausgetüftelte Mauerwerk.
Dieses neu zugefügte Backsteingewebe wirkt subtil. Es nimmt die Sprache des Ortes auf und erfindet sie gleichzeitig erst, lässt sie die alte Schwere abschütteln und verleiht ihr eine neue Würde. Jeder einzelne Ziegel wurde in zwei Hälften gespalten und mit den löchrigen Innenseiten nach aussen so vermauert, dass eine hohe Wand mit textiler Wirkung entsteht: Wie ein leichter Vorhang scheinen die porösen Backsteine sich um das Haus zu legen, schleierhaft nicht nur in ihrer Anmutung, sondern auch in ihrem Schwebezustand zwischen Schwere und Leichtigkeit. Wenige hohe Fensterschlitze durchbrechen diesen Schleier und setzen den Rhythmus der Fensterreihen der alten Mühle in vereinzelten Akzenten fort.
Das grosse Haus mit der grossen Kunst zu betreten, stimmt ehrfürchtig. Nicht nur sind hier berühmte Künstler in hoher Konzentration unter einem Dach, die Aura dieser Kunst wird durch den Kontrast zur tristen Umgebung noch verstärkt. Es ist eine Aura im Sinne Walter Benjamins: Wie am ersten Tag fühlt es sich an, in diesen grossen Räumen in eine andere Zeit einzutauchen, als die Künstler mit informellen Gesten die Schrecken ihrer Generation zu verarbeiten versuchten.
Nicht nur das Haus, auch die Räume sind gross. Spektakulär der neu geschaffene Hohlraum zwischen den hohen Silotürmen, der den vor über zwanzig Jahren sachte umgebauten Altbau mit der Erweiterung verbindet. Die grossen Räume beherbergen Reihen von kleineren Bildern, aber auch ausgreifende Gemälde wie jene von Gerhard Richter, dem hier, wie so vielen anderen, ein eigener Saal gewidmet ist.
Wer im Erdgeschoss die Wechselausstellung durchschritten hat, die derzeit einer monumentalen Schau von Andreas Gurskys grossformatigen Fotografien (bis 30. Januar 2022) gewidmet ist, findet auch den Weg zum zwar viel kleineren, aber längst nicht kleinen Raum mit mehreren Skulpturen und installativen Werken von Gerhard Hoehme, der im Zweiten Weltkrieg Jagdflieger war. Sein Werk erzählt von Körpern und Körperteilen, vom Versehren und Heilen. Nicht das Fliegen, vielmehr die Bodenhaftung, die jener Generation zuweilen verloren ging, ist auch das Thema dieser deutschen Nachkriegskunst.
Die Sammlung Ströher
Seit der Eröffnung des MKM 1999 ist Walter Smerling als Direktor verantwortlich für das Haus, und seit gut fünfzehn Jahren besteht die enge Zusammenarbeit mit dem Sammlerpaar Sylvia und Ulrich Ströher, deren MKM-Stiftung eng mit der in Bonn ansässigen Betreiberin des Museums, der Stiftung für Kunst und Kultur, kooperiert.
Die Ströhers haben auch massgeblich an der Neupräsentation ihrer Sammlung mitgewirkt. Bei der zufälligen Begegnung mit dem Sammlerpaar – ein Glücksfall, schliesslich meiden sie bewusst den Kontakt zu Presse und Öffentlichkeit – berichten die beiden stolz, dass ihre Tochter Kunstgeschichte studiere und ihre Aufgabe einmal übernehmen werde. Dies allerdings ist keine dringende Angelegenheit, denn gemessen am Umfang der hier versammelten Werke deutscher Nachkriegskunst sind die Sammler selbst noch ziemlich jung. 1987 kauften sie das erste der hier ausgestellten Bilder, ein Werk des 2000 verstorbenen Malers Walter Stöhrer, dem sie dann 2010 eine grosse Ausstellung widmeten.
Auch er gehört zur als deutsches Informel zusammengefassten Kunst der Nachkriegsjahre, die im MKM in einem grossen Panorama erfahren werden kann. Über 2000 Werke umfasst die Sammlung von Sylvia und Ulrich Ströher unterdessen, über 300 davon sind nun in Duisburg ausgestellt. Eine Besonderheit ihrer Sammlung ist die Konzentration auf wenige Künstler, die dafür mit mehreren Werken vertreten sind.
Sogar von Alfred Schulze, bekannt unter dem Kürzel Wols, hängen hier nebeneinander zwei Werke, obwohl er in seinem kurzen Leben keine vierzig geschaffen hat. Die hier zu sehenden jedenfalls waren seine beiden letzten, und es gibt vielleicht kein anderes Museum, das zwei Werke dieses Künstlers miteinander zeigen kann. Die Sammler sind schon die dritte Generation einer Familie, die als Sammlerdynastie in die deutsche Kunstgeschichte eingehen wird. Sie geht auf den Darmstädter Industriellen und Wella-Erben Karl Ströher zurück, dessen Besitz von amerikanischer Minimal und Pop Art beispielsweise die Gründung des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt ermöglichte.
Malerei, Bildhauerei und Fotografie sind allerdings nicht die einzigen Leidenschaften von Sylvia und Ulrich Ströher. Als sie 2013 in der Zeitung lasen, dass der Suhrkamp-Verlag in Schwierigkeiten sei, suchten sie den Kontakt – nicht hauptsächlich, aber auch wegen der Verbindung zu den Künstlern hier im Haus. Anselm Kiefer beispielsweise hatte bei Suhrkamp Bücher herausgegeben. Maler lassen sich von der Literatur inspirieren und vice versa, bei alledem bleiben die beiden Künste separate Genres. In beiden Sparten hat sich das Ehepaar Ströher mit seinem Engagement einen Namen gemacht.
Thematische Kontinuität
Kontinuität scheint ihnen wichtig, wie innerhalb der hier versammelten Werkzyklen spürbar wird. Im MKM sind viele der 36 teilweise riesigen Räume einem einzigen Künstler gewidmet: Dies ist möglich, weil das Ehepaar sich auf die Nachkriegsgeneration konzentriert. Der Direktor Walter Smerling schwärmt für diese Sammlung, denn aus der Vielfalt liessen sich die Eigenheiten der persönlichen Handschriften dieser Maler, vereinzelt auch Bildhauer ablesen. Vor allem tauche jeder dieser Räume dank solchen Zusammenhängen in eine eigene Atmosphäre, erklärt er mit Begeisterung. Nachbarschaften von Lehrern und Schülern, wie zum Beispiel K. O. Götz und Gerhard Richter, vertiefen dieses Beziehungsnetz. «Diese Vergleichsmöglichkeiten sind ausserordentlich und in kunsthistorischer Hinsicht einzigartig in dieser Dimension.»
Im dritten Obergeschoss des Neubaus ist Anselm Kiefers eigens für die Räume des MKM erarbeitete Installation aus Ästen und Steinen zu sehen – die Arbeit «Klingsors Garten» (2018) lässt fragen: Ist es ein Werk für diesen Raum oder ein Raum für dieses Werk? Beides.
Neuentdeckte Zurückhaltung
Während die Sammlung eine beeindruckende inhaltliche Tiefe erreicht, wirkt die Architektur mit allen Mitteln in der Höhe und der Tiefe des Raums. In den Ausstellungsbereichen bleibt die Gestaltung zurückhaltend, spielt einzig mit Raumsequenzen, tiefen Durchblicken und einzelnen Ausblicken. In den Treppenhäusern aber inszeniert sie die Körperhaftigkeit der Architektur. Wände und Stufen winden sich in Rundungen in die Höhe. Der terrakottafarbene Kunststein mit feiner Körnung, eingefärbt mit Klinkerschrot und Farbpigmenten, ist weich und fast lebendig, im an den Altbau angefügten Treppenhaus ebenso wie in der zweiten Version dieser Treppe im Neubau. Kein Bild hängt hier, kein Fenster zeigt die Welt draussen, dafür gibt es hier haptische Oberflächen. Als ob sie die Innereien, Lungen und Blutbahnen eines Organismus wären, werfen die Treppenhäuser in der alten Mühle die Besucherinnen und Besucher auf sich selbst zurück.
Genauso organisch, aber nicht aus rötlichem Kunststein, sondern aus dunkelrotem Samt sind die Treppen im Stadtcasino Basel, wo das gleiche Architekturbüro vor einem Jahr ebenfalls mit einer unscheinbaren Intervention Aufsehen erregte. Gemeinsam ist den Projekten für den Basler Musiksaal und das Duisburger Kunstmuseum aber vor allem, dass das erfolgreiche Büro nicht mehr mit spektakulären Formen, sondern mit auf den ersten Blick unsichtbaren Eingriffen brilliert.
Werden die Basler Architekturstars nun zu Meistern der Zurückhaltung? Nicht nur, antwortet Jacques Herzog: «Ich habe keine Vorliebe für diese oder jene Architektursprache. Es ist mir wichtig, eine möglichst breite Palette zu bespielen, nicht nach Lust und Laune, aber in präziser Reaktion auf eine bestimmte Aufgabenstellung. Hier bei der Küppersmühle ergab es Sinn, dass der Neubau sich in einer Addition anfügt und das, was schon da ist, in verwandter Art ergänzt: eben beinahe so, als ob es schon immer hier gewesen wäre.» Die Architektur bewirke, so Herzog, mit gezielten Eingriffen entscheidende Veränderungen. Er vergleicht dies mit Akupunktur. «Architektur kann Potenziale zum Leben bringen oder unterdrücken. Da spielt es eine Rolle, wo die Türe und wo die Fenster gesetzt sind, ob ein Museum als eine hermetische Kiste gebaut ist oder eben nicht. In diesem Museum gibt es unterschiedliche Durchsichten zwischen den Räumen und Aussichten zur Stadt und zum Hafen – auf jeder Seite.»
Als vor zehn Jahren der Wolkenbügel über dem Museum Küppersmühle mit einem Baustellen-Fiasko scheiterte, war das Drama um die Kostenüberschreitungen beim Bau der Elbphilharmonie noch nicht einmal am Horizont zu sehen. In Hamburg haben die Architekten ein spektakuläres Zeichen über den Dächern der Stadt gesetzt und sich, trotz viel politischem Trubel, um das neue Wahrzeichen der Stadt verdient gemacht.
Mit der Hamburger Situation lässt sich die Küppersmühle aber kaum vergleichen – in Duisburg würde ein Wolkenbügel über einem leeren Park schweben. Rückblickend gesteht Jacques Herzog ein: «Das eine Projekt hilft dir, das andere zu verstehen und auch kritisch zu betrachten. Heute denke ich, dass der Wolkenbügel skulptural sehr überzeugend wäre, aber er hätte noch viel mehr Leben hier vor Ort eingefordert. Wenn du eine Architektur machst und es dann kein Leben gibt, ist es schwierig, die Architektur selbst am Leben zu erhalten. Dann ist es besser, ein kompakteres Projekt zu machen, wo das Erlebnis erst im Innern stattfindet.» So ist es nun: Der Backsteinkoloss wirkt auch würdig, wenn keiner da ist.
Die fehlenden Frauen
Die Duisburger Sammlung und ihre Museumsarchitektur nehmen Kontinuität ernst und erreichen so viel Tiefe: in der kunsthistorisch-inhaltlichen genauso wie in der räumlich-konstruktiven Dimension. Aktuelle Trends wie Inklusion und Diversität, die den Rest der Welt in Atem halten, haben aber darin keinen Platz. Vor der versammelten Presse kritisiert Jacques Herzog anlässlich der Eröffnung, es sei ja alles wunderbar, nur ein paar Frauen mehr solle die Sammlung bitte zeigen. Nun, man könnte einige einladen, am besten nicht weisse, nicht alte und nicht je zuvor ausgestellte, zumindest für eine Wechselausstellung, und ihre Porträts auf Plakaten vergrössern, wie es zurzeit fast alle tun. Nur, was wäre damit gewonnen?
Hier ist nichts glatt. Die Sammlung erreicht mit der Konsequenz, sich mit einer einzigen Generation von Künstlern zu beschäftigen, eine enorme Tiefe. Die Architektur baut um sie herum aufgefächerte Wände aus aufgebrochenen Backsteinen. Globale Trends und Moden, Bestrebungen, möglichst viele Kontinente, Disziplinen oder Geschlechter mit einzuschliessen, bleiben hier aussen vor, darum geht es hier nicht.
Immerhin ist jeden Donnerstag der Museumseintritt frei. Das ist weit wichtiger als eine oberflächliche Korrektur der bisherigen Geschichtsschreibung. An einem Tag pro Woche dürfen sie alle umsonst dieses Museum betreten: die lokale Bevölkerung dieser sich entvölkernden Industrieregion, von deren Angehörigen die meisten weder mit der Nachkriegskunst noch mit der Genderdebatte eine Auseinandersetzung pflegen. Diese auch im Kleinen gewaltige Präsentation aber macht das Leiden und das Hoffen einer früheren Generation ganz ohne Vorbildung, durch die Kunst selbst spürbar.
Das Museum Küppersmühle ist, im wörtlichen und im bildhaften Sinn, ein Manifest gegen die Oberflächlichkeit. Es bleibt zu wünschen, dass diese Ernsthaftigkeit den Kontakt zum Ort aufzubauen vermag und auch mein Taxifahrer das Innere der alten Mühle anschauen kommt.