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29. November 2008 Neue Zürcher Zeitung

Bote göttlicher Harmonie

Vor fünfhundert Jahren wurde der italienische Renaissancearchitekt Andrea Palladio geboren

Vor 500 Jahren wurde Andrea Palladio in Padua geboren. Wie kein anderer der grossen Architekten wurde er zu einem Fixstern der italienischen Kunstgeschichte. Obwohl über ihn kaum biografische Angaben vorliegen, lebt seine ästhetische Auffassung im Palladianismus fort.

Der Name wurde ihm erst später zuteil. Getauft wurde Palladio am 30. November 1508 in Padua als Andrea di Pietro della Gondola. Zweierlei deutet das Epitheton Palladio an: zum einen ein humanistisches Umfeld, das den Fonds für das gesamte Wirken des Architekten bildete. Zum anderen die Tatsache, dass die Persönlichkeit des Meisters eigentlich nur über sein Werk zu fassen ist. Das scheint den Intentionen Palladios bis zu einem gewissen Masse entsprochen zu haben. Nicht einmal das Frontispiz seines 1570 erschienenen Architekturtraktates, der «Quattro Libri dell'Architettura», trägt sein Bildnis, sondern die Druckermarke des Verlegers, die aber trotzdem gut passt: Das Emblem von Domenico de Franceschi zeigt das Schifflein der Fortuna. Diese war Palladio in der Tat überaus hold, wie die nachhaltige Wirkung des Theoriewerks schlagend belegt.

humanistisches Umfeld

Den Namen Palladio erdachte sein grosser Förderer, Graf Giangiorgio Trissino (1478–1550). Dieser Patrizier aus Vicenza hatte am Hofe Papst Leos X. eine glänzende Karriere als Diplomat gemacht und sich in dem humanistischen Milieu auch als Dichter versucht. In ihm verkörperte sich die Antikensehnsucht der Renaissance mustergültig. Wer hätte besser geeignet sein können, den damals dreissigjährigen Steinmetzen unter seine Fittiche zu nehmen, der als Handwerker an der im Entstehen begriffenen Villa des Grafen bei Vicenza arbeitete? Offenbar erkannte Trissino das schlummernde Talent des aus Padua stammenden Mannes. Der zugedachte Übername ist dabei in gewisser Weise programmatisch, denn ein Palladio tritt in seinem epischen Werk «Italia liberata dai Goti» als architektonisch interessierter himmlischer Bote auf.

Wie dieser sollte der Architekt Palladio – in Trissinos Vorstellung – Italien vom Einfluss des schlechten nordalpinen Geschmackes befreien. Trissino gab Palladio zu lesen, was mit Architektur, Konstruktion, alter Topografie und Militärwesen zu tun hat. Neben die antiken Fachautoren trat bald auch ein zeitgenössischer, der sich bisweilen in Vicenza aufhielt: Sebastiano Serlio. Just Ende der 1530er Jahre erschienen Teile seines Architekturtraktates. Dessen eminenter Vorteil lag in einem Gleichgewicht von Abbildungen und Text, wie man es zuvor nur aus anatomischen Lehrbüchern kannte.

Für die damaligen Architekten stellte Serlio das Bindeglied zwischen Norditalien und Rom her, denn er tradierte architektonisches Wissen aus der römischen Hochrenaissance, etwa von Raphael und Baldassare Peruzzi. Vor allem bemühte er sich aber um eine Systematik der verschiedenen antiken Säulenordnungen (dorisch, ionisch, korinthisch) sowie von deren nachantiken Varianten toskanischer und kompositer Ausformung. Als 1540 von ihm eine Beschreibung der antiken Bauten Roms erschien, muss für Palladio der Anreiz gross geworden sein, die Zeugnisse vergangener Grösse selbst zu sehen. Unter der kundigen Führung Trissinos reiste er erstmals 1541 in die Ewige Stadt. Damit setzte eine wiederholte Reisetätigkeit ein, die ihn bis Neapel im Süden, bis nach Trient und Innsbruck im Norden und möglicherweise bis in die Provence im Westen führte. Auf diesen Reisen zeichnete und vermass er alles, was an antiken Ruinen sichtbar war und was an Renaissancebauten sein Auge reizte.

Die Architektur seiner unmittelbaren Vorgänger Raphael und Giulio Romano studierte er ebenso beflissen wie diejenige mancher Zeitgenossen, etwa des Venezianers Andrea Sansovino. Sie alle verband in gewisser Weise das Streben, es der antiken Baukunst gleichzutun und diese – wenn möglich – noch zu übertrumpfen. Die Frucht von Palladios Rom-Studien erschien 1554 unter dem Titel «Le antichità di Roma». Auf dieser Schrift basierend, reifte allmählich sein Hauptwerk heran, die 1570 erschienenen «Quattro Libri dell'Architettura». Einen Meilenstein auf dem Weg dorthin bildete auch seine Mitarbeit an der von Daniele Barbaro kommentierten und von ihm illustrierten Vitruv-Ausgabe von 1556, der bedeutendsten des 16. Jahrhunderts.

In Vicenza, wo er seinen Wohnsitz bis 1570 oder 1571 hatte, gehörte Palladio einer Vereinigung von Adeligen, Literaten und Künstlern an, der 1555 gegründeten Accademia Olimpica. Viele derartige gelehrte Gesellschaften entstanden in jenen Jahren, aber nicht überall vereinigten sich in ihnen gesellschaftliche Gruppen so ungezwungen wie in der Provinzstadt Vicenza. Für diese Accademia sollte Palladio gegen Ende seines Lebens eines seiner Hauptwerke bauen: das Teatro Olimpico – geplant für die Aufführung von Tragödien der Antike und von solchen, die in deren Geiste neu geschrieben wurden.

Streben nach Würde und Grösse

In diesem von Antikensehnsucht und humanistischem Gedankengut geprägten Milieu verhalf Palladio nicht zuletzt auch ein fruchtbarer Irrtum zu anhaltendem Ruhm. Immer wieder wurde Vitruv – gemessen am heutigen Stand archäologischer Kenntnisse – falsch interpretiert und durch diese Brille auch die antike Architektur entsprechend gedeutet. Für Palladio gehört dazu die Vorstellung, antike Villen seien durch einen tempelartigen Säulenportikus ausgezeichnet gewesen, wie er es in Barbaros Vitruv-Ausgabe auch dargestellt hatte. Er war der Erste, der die Tempelfront überall einsetzte, um sie bei Kirchen wie bei Villen in neuer Weise mit der Hauswand zu verbinden. Gerade dieser Irrtum hatte eine lange Nachwirkung im Schloss- und Villenbau bis über den Klassizismus hinaus. So hat Palladio dem Bild von Herrschaft über Jahrhunderte – wenn man so will bis hin zum Kühlergrill des Rolls-Royce – den gültigen architektonischen Ausdruck verliehen.

Ins gleiche Kapitel fällt der Versuch, im Konventsgebäude des Klosters von Santa Maria della Carità in Venedig (1560/61) ein antikes Stadthaus zu rekonstruieren. Dazu stellte sich Palladio ein Atrium mit einer korinthischen Kolossalordnung über zwei Stockwerke vor. Dem Atrium sollte ein Klosterhof mit Arkadenarchitektur folgen. Vom Hof ist nur einer von vier Flügeln erhalten, alles andere kennen wir nur von einer Abbildung seines Architekturtraktates.

Ein bauliches Element wurde zu Palladios Markenzeichen. In einem seiner frühesten Gebäude, der sogenannten Basilica in Vicenza, setzte Palladio erstmals eine Form der Wandöffnung ein, die fürderhin mit seinem Namen besonders verbunden bleiben sollte: Ein mittlerer, breiter Bogen wird durch Säulen von zwei seitlichen Öffnungen mit Gebälk getrennt. Bereits Sebastiano Serlio kannte diese Form, aber Palladio erhob sie zum Leitmotiv einer Fassade. Als «Palladio-Motiv» lebt sie denn auch bis heute fort.

Neben das Bemühen, mit Hilfe der Tempelfassade wie überhaupt durch die reiche Verwendung von Säulen am Aussen- wie am Innenbau der Architektur Würde und Grösse zu verleihen, traten in Palladios Denken auch Kriterien einer funktionalen Angemessenheit. Bequemlichkeit und Zweckmässigkeit sind Grundlagen seiner Profanarchitektur. Er selbst hat dazu immer wieder im Traktat Stellung bezogen. Die Aufgabe des Architekten bestand seiner Ansicht nach darin, dieser Funktionalität ein würdevolles und ansprechendes Aussehen zu verleihen. Insbesondere hatten alle Teile in harmonischer Weise miteinander zu korrespondieren. Das war nur möglich, wenn Grund- und Aufriss eng aufeinander abgestimmt wurden. Palladio entwickelte dazu recht eigentlich ein System, bei dem er gewissen Prinzipien überall Geltung verschaffte.

Eines der hervorstechendsten Prinzipien ist die Hierarchisierung der Gebäudeteile und die Orientierung von sekundären Teilen auf einen zentralen Kern hin. Für den Villenbau bedeutete das: Von einem zentralen Saal in der Mittelachse sind eine Reihe von Nebenräumen, kleinere Wohn- und Schlafzimmer, abhängig. Auf der Basis von einfachen, wohlproportionierten Modulen konnte eine grosse Bandbreite an Variationen durchgespielt werden. Von seinen gut zwei Dutzend Villen basieren eine Mehrzahl auf ähnlichen Grundriss-Schemata, ohne sich im Aufriss zu wiederholen. Das herrlichste Beispiel, die vollkommenste Ausformung ist zweifelsfrei die auf den Hügeln von Vicenza gelegene Villa Rotonda, jener auf allen vier Seiten gleichartig mit Tempelportiken versehene Zentralbau mit grossem Mittelsaal und angrenzenden Annexräumen.

Funktionalität und Harmonie

Im Zusammenhang mit Palladios Proportionssystem wurde immer wieder auf die gleichzeitige Musiktheorie und die Ableitung harmonischer Verhältnisse daraus verwiesen. Tatsächlich sind in Palladios Grundrissen Seitenlängen wie 1:3, 2:3 oder 3:5 anzutreffen, was auf einem Monochord einer grossen Sext, einer Quinte oder zwei Oktaven gleichkäme. Im intellektuellen Umfeld Palladios wurden hierzu mathematische Überlegungen angestellt, sie mögen von dort in sein Bewusstsein gedrungen sein. Auch das Verhältnis von Grund- und Aufriss liess sich über klare Proportionen harmonisch regeln. Bezüglich eines seiner Frühwerke, des Palazzo Iseppo Porto in Vicenza, weist er selbst in seinem Architekturtraktat nach, wie dem quadratischen Atrium mit einer Seitenlänge von 30 Fuss die das Gewölbe tragenden Säulen von 15 Fuss Höhe entsprechen.

Palladio konnte am Ende seines Lebens – er starb im August 1580 möglicherweise in Maser, wo er am Tempietto Barbaro arbeitete – auf ein Œuvre zurückblicken, das eine stattliche Anzahl von Villen, mehr als 20 Palastprojekte sowie 3 grosse Kirchen umfasste. Vielleicht bildete die Krönung seines Schaffens das bereits erwähnte Theater für die Olympische Akademie, das ebenfalls auf einem fruchtbaren Irrtum beruhte, nämlich der fälschlichen Annahme, eine antike Bühnenfront habe sich über drei perspektivisch verkürzte Gassen in den Kulissenraum hinein geöffnet. Sein gesamtes an der Antike geschultes Formenrepertoire mit Säulen und Pilastern, Statuennischen, Gebälk und eingelassenen Relief- und Schrifttafeln umspielt hier ein monumentales Palladio-Motiv, bestehend aus dem mittleren Bogen und den beiden seitlichen Durchgängen.

Der Lehrmeister der Architekten

Palladios Ruhm ist nur zu einem gewissen Masse an seine gebaute Architektur gebunden, auch wenn viele Reisende auf ihrem Grand Tour Palladios Bauten besuchten. Aber wichtiger als die gebaute Wirklichkeit war für die internationale Anerkennung sein Architekturtraktat. Dessen Systematik verlieh ihm Handbuchcharakter. Palladio beginnt mit allgemeinen Aussagen über Baumaterial und Baugrund. Darauf folgt – nach dem Vorbild anderer Architekturtraktate – eine Abhandlung über die Säulenordnung und deren Proportionen. Ihr schliesst das zweite Buch mit den «Exempla» an, jenen vorbildhaften, zumeist dem eigenen Werk entnommenen Beispielen, mit denen Palladio den Bau des idealen Privathauses innerhalb und ausserhalb der Stadt erläutert. Das dritte und das vierte Buch beschäftigen sich mit Städtebau (der Anlage von Strassen, Brücken, Plätzen usw.) und Tempelbauten. Hier sind die Beispiele grösstenteils der Antike entnommen, aber auch Bramantes Tempietto in Rom findet seinen Platz unter ihnen. Dabei konnte der Leser sich immer in der Gewissheit wähnen, letztlich antikes Gedankengut aufbereitet zu bekommen. Der Bezug zu Vitruv ist im Vorwort zum vierten Buch explizit erwähnt: «Und zweifellos werden die, die dieses Buch lesen und die die Zeichnungen sorgfältig betrachten, jene Stellen bei Vitruv verstehen, die als sehr schwer gelten.» Wer sich des Buches bediente, konnte von Palladios Ideen und von Vitruvs Geist profitieren.

Einer der ersten wirklichen Nachfolger Palladios war der englische Architekt Inigo Jones (1573–1652). Nicht nur versuchte er, dem Meister in zahlreichen seiner eigenen Bauten nachzueifern, er leitete auch den Palladianismus in England ein. Zur Blüte gelangte dieser ab den 1720er Jahren, als der Gentleman-Architekt Lord Burlington für dessen Verbreitung sorgte und selbst in seiner Villa in Chiswick die Villa Rotonda nachempfand. Von England aus schwappte die Palladio-Begeisterung in die Neue Welt über. Zahlreiche private und öffentliche Bauten bis hin zum Weissen Haus in Washington hätten ohne den Renaissancearchitekten nie zu ihrer Form gefunden. Palladio erwies sich als sicheres Rezept zur Realisierung ansprechender Herrschaftsbauten.

Der internationale Palladianismus machte seine Baukunst zu einer Art Markenzeichen, zu dem der französische Theoretiker Quatremère de Quincy im ausgehenden 18. Jahrhundert ohne weitere Erläuterungen bemerken konnte: «C'est du Palladio.» Bis in die Moderne hielt die Gültigkeit der Proportionsgesetze nach dem Vorbild Palladios an. Le Corbusier jedoch sah in der Baukunst des Meisters aus Vicenza noch mehr. Eine Abbildung der Villa Rotonda kommentierte er mit dem Satz: «Ce sera l'architecture qui est tout ce qui est au-delà du calcul», eine Architektur, die jenseits vom reinen Prinzip steht. Gemeint ist damit eine Architektur, die nicht auf sturen Regelwerken beruht, sondern eine beinahe emotionale Wirkung auf den Betrachter entfaltet. Das trifft vielleicht nicht des Pudels Kern – und doch ist auch das Palladio.

[ Dr. Axel Christoph Gampp ist Privatdozent für Allgemeine Kunstgeschichte an der Universität Basel. ]

2. September 2005 Neue Zürcher Zeitung

Die Faszination der Ruinen

Leon Battista Albertis Blick auf Roms antike Bauwerke

Vor 600 Jahren wurde Leon Battista Alberti geboren. Der überragende Intellektuelle hat der aufkeimenden Renaissance in Mittelitalien wesentliche Impulse gegeben und ihr den Weg geebnet. Freilich war er nicht alleine. Der Kontext, in dem er sich in Rom bewegte, wird in einer römischen Ausstellung vortrefflich rekonstruiert.

Üblicherweise erscheint die Renaissance als Welle der Euphorie, die das gesamte Italien des 15. und 16. Jahrhunderts in einen Taumel versinken liess wegen der Freude über die Wiederentdeckung der Antike und das Ende des düsteren Mittelalters. So hat uns Vasari die Situation vor Augen gestellt, so wurde sie Gemeinplatz. Doch vergisst man darüber, dass die antiken römischen Monumente in der Ewigen Stadt nie so gefährdet waren wie nach der Rückkehr des Papsttums im Jahre 1420, als der «Wiederaufbau» einsetzte und Baumaterial gesucht war. Der Humanist Poggio Bracciolini hatte zu Beginn des 15. Jahrhunderts den Saturntempel auf dem Forum noch fast intakt gesehen, bei seiner späteren Rückkehr standen bloss noch die bis heute sichtbaren acht Säulen. Der Triumphbogen des Augustus wurde überhaupt erst 1546 abgetragen. Vollbrachten in späteren Zeiten die Sammler und Andenkenjäger ihr Zerstörungswerk, so waren es in der Frühphase vor allem die Kalkbrenner, in deren Öfen das halbe Forum verschwand. Der zunächst literarisch geprägten Antikensehnsucht musste erst eine Antikenliebe für die realen Monumente folgen, damit diese der Nachwelt erhalten werden konnten. Sie initiiert oder an ihr zumindest partizipiert zu haben, ist das grosse Verdienst Albertis; den Prozess nachzuzeichnen, dasjenige der Ausstellung «La Roma di Leon Battista Alberti».

Dicht gedrängte Monumente

Wie wichtig jederzeit die antike Architektur für das Selbstverständnis und das Stadtbild Roms war, belegen einige frühe Rom-Ansichten. Auf allen haben Kolosseum, Pantheon, Engelsburg, Trajans- und Marc-Aurel-Säule für die Orientierung eine gleichberechtigte Stellung neben den Hauptkirchen. Zahlreiche Ruinen von Thermen oder Aquädukten besetzen das Zentrum sowohl auf dem Plan von Pietro del Massaio von 1473 wie auf jenem von Alessandro Strozzi von 1474. Noch frühere Darstellungen sind in der Ausstellung in den Kapitolinischen Museen in Form von Abbildungen vertreten; lassen sich doch Fresken wie jene des Masolino da Panicale in Castiglione Olona nicht transportieren. Hingegen bietet die goldgehöhte Grisaille eines anonymen Florentiner Malers mit der Darstellung der Episode des Horatius Cocles von etwa 1480 einen wunderbaren Blick auf die dicht gedrängten Monumente hinter den Aurelianischen Mauern.

Alberti selbst hat keine Zeichnungen hinterlassen, aber eine Beschreibung der wichtigsten Denkmäler der Antike, seine «Descriptio urbis», die nun in Rom in einer Kopie des 16. Jahrhunderts ausgestellt ist. Während seines ersten Aufenthaltes in Rom ab 1432 erwiesen sich die politischen Verhältnisse noch als instabil. Gleichwohl ist ein wichtiges Werk der Frührenaissance in jenen Jahren unter Eugen IV. (1431-1447) entstanden, ein kühner Paukenschlag, der seine Wirkung gewiss nicht verfehlt hat: die Bronzetüren für St. Peter von Filarete 1445. Sind in der Grossform zunächst Peter und Paul zu erkennen, so fabulieren die Ränder von antiken Wesen und antiker Mythologie. Jene Bronzeplatte, auf der sich der Künstler mit seiner Werkstatt selbst dargestellt hat, ist neben einer weiteren in der Ausstellung zu sehen.

Erst beim zweiten Romaufenthalt Albertis zwischen 1448 und 1455 während des Pontifikates von Nikolaus V. beruhigte sich die Lage, ein antikenbegeisterter Papst lieh sein Ohr auch Alberti. Dieser verfasste damals nicht nur die Stadtbeschreibung, sondern auf ihr, auf Vitruv und auf exakter Antikenkenntnis aufbauend auch seinen Architekturtraktat. Wie sich dieses Antikenstudium im Bild niederschlug, belegen zahlreiche Zeichnungen verschiedenster Künstler. Im Auf- und Grundriss, in der Aussen- und Innenansicht werden Pantheon oder Kolosseum aufgenommen, ihre Säulen, Architrave, Gesimse und Friese minuziös vermessen. Dass diesen Studienblättern in der Ausstellung bisweilen ein antikes Architekturelement, ein Kapitell oder eine Basis, gegenübergestellt wird, verdeutlicht das Bemühen um genaueste Erfassung auf dem Papier. Eines ist jedoch das Studium der Antiken, ein anderes die Anwendung der Erkenntnis in der Praxis. Jenes führte zu dieser hin. Unter Nikolaus V. sollte der Neuerungswunsch auf antiker Basis auch St. Peter erfassen. Bekanntlich hätten in seinem Pontifikat Chor und Querhaus abgebrochen und neu aufgebaut werden sollen. Die Projekte sind im Modell zu sehen, auf einem Plan Bramantes aus dem frühen 16. Jahrhundert ist der tatsächlich errichtete Chor im Grundriss deutlich zu erkennen.

Unter den Nachfolgern von Nikolaus V. hält die Neubautendenz an. Pius II., in einer wundervollen Büste aus der Werkstatt des Paolo Romano fast leibhaftig anwesend, hatte erstmals für die (heute zerstörten) Loggien neben St. Peter die Säulenordnung des Kolosseums übernommen, sein Nachfolger, Paul II., folgte ihm auch darin nach und spiegelte sie in der Fassade von San Marco, der Palastkirche seiner Residenz, des Palazzo Venezia.

Die Architektur erwies sich in Sachen Antikenrezeption als Vorreiterin. Doch gerade der päpstliche Hof unter Nikolaus V. war ein wahrer Musenhort, wo sich das Blatt vom Mittelalter zur Neuzeit bildlich wendete: Eine karolingische Chorschranke aus Marmor wurde einfach gedreht, und auf ihrer Rückseite wurden von Cosmatenhand die gekreuzten Schlüssel Petri eingelegt. Einige bedeutende Maler wurden nach Rom gelockt, allen voran Fra Angelico. Ein kleines Bild mit der Geburt des heiligen Nikolaus von 1437 illustriert, wie rasch die Architektur all'antica bei ihm Einzug gehalten hat, wenngleich die Figuren noch wenig vom Antikenkult erkennen lassen. Das ist anders bei einer besonders glücklichen Gegenüberstellung: auf der einen Seite ein Fragment eines römischen Sarkophags mit einer Trauernden, daneben das Skizzenblatt Mantegnas aus dem späten 15. Jahrhundert, das aufnimmt, aber doch auch schon künstlerisch verwandelt.

Die Antikenrezeption der Künstler

Gänzlich neu gefasst ist Filaretes Mark Aurel in der Kleinbronze aus Dresden, einer der frühesten Antikenrezeptionen in diesem Medium überhaupt. Während man sich hier um die Verkleinerung des Originals bemühte, scheinen andernorts die Bestrebungen in die entgegengesetzte Richtung gegangen zu sein, dahin nämlich, das Vorbild an Grösse noch zu übertreffen. Wäre der Pferdekopf aus dem Donatello-Umkreis aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts Teil einer Reiterstatue geworden, sie hätte wahrhaft monumentale Dimensionen erreicht. Dass allerdings die Grösse nicht immer das ausschlaggebende Kriterium zu sein braucht, belegt die Ausstellung selbst. Von überschaubarer Dimension, teilt sie doch alles Wissenswerte überzeugend mit. Überzeugend ist auch der Katalog, an dem die wesentlichen Kenner der Zeit wie Christoph L. Frommel, Arnaldo Bruschi oder Arnold Nesselrath mitgearbeitet haben. Ohne ihr vereinigtes Wissen wäre eine so konzis konzipierte Schau wohl nie zustande gekommen.

[ Bis 16. Oktober in den Kapitolinischen Museen in Rom. Katalog: Leon Battista Alberti e Roma. Architetti e umanisti alla scoperta dell'antico nella città del Quattrocento. Hrsg. Fiore Francesco Paolo. Skira, Mailand 2005. 384 S., Euro 65.-. ]

8. Januar 2000 Neue Zürcher Zeitung

Endlich vollendet

Abschluss der Restaurierung in der Sixtinischen Kapelle

Fast zeitgleich mit dem Pontifikat des seit 1978 amtierenden Papstes begannen die Restaurierungsarbeiten in der Cappella Sistina. 1979 hatte man an der Eingangswand angefangen; fortgesetzt wurden die Arbeiten 1980-84 an den Lünetten mit den Sibyllen und Propheten Michelangelos, bevor 1985-1989 die Decke folgte. Den Abschluss der Restaurierungen der Michelangelo-Fresken bildete die Reinigung des Jüngsten Gerichtes 1990-1994. Im Laufe dieser Arbeiten wurde immer deutlicher, dass die obere Zone der Kapelle mit ihren in neuem Glanz erstrahlenden Farben in einem zu starken Kontrast zu den Fresken aus dem 15. Jahrhundert in der unteren Zone stünde. Deswegen entschloss man sich beizeiten, nach Abschluss der Arbeiten an Altarwand und Decke auch die Restaurierung der Seitenwände in Angriff zu nehmen. 1995 konnte damit begonnen werden. Nun, nach Beendigung, ist die Kapelle erstmals seit 20 Jahren von Gerüsten frei.


Malerwettstreit im Quattrocento

Die aufgefrischten Fresken des späten 15. Jahrhunderts werden in der Wahrnehmung gerne von denjenigen Michelangelos überstrahlt. Doch muss in Erinnerung gerufen werden, dass sie von den bedeutendsten Meistern ihrer Zeit stammen. Die Hauptprotagonisten sind Sandro Botticelli, Raffaels Lehrer Pietro Perugino, Michelangelos Lehrer Domenico Ghirlandaio und Cosimo Rosselli. Die Mitarbeit Luca Signorellis ist ebenfalls bekannt. Verträge wurden 1481 abgeschlossen, schon im folgenden Frühjahr waren die Fresken ausgeführt. Zwei Zyklen stehen sich gegenüber: auf der Evangelienseite (linke Wand vom Eingang aus) sechs Szenen aus der Moses-Vita, auf der Epistelseite sechs Szenen aus der Vita Christi. Obwohl sämtliche Künstler aus umbrisch-toskanischem Ambiente stammten, brach - glaubt man der Schilderung Vasaris - sofort ein Konkurrenzkampf aus, als sie sich alle auf derart engem Raum vereint sahen.

Verschärft wurde er durch eine von Papst Sixtus IV. in Aussicht gestellte Siegesprämie für den besten Künstler. Der schwächste unter ihnen sei Cosimo Rosselli gewesen, bei dem die «Anbetung des Goldenen Kalbes», die «Bergpredigt» und das «Abendmahl» in Auftrag gegeben wurden. Weil er um seine Unbeholfenheit bei Bildfindung und Zeichnung wusste, glaubte er, diese Mängel am besten durch den Auftrag teuren Materials kaschieren zu können. Dazu verwendete er in reichem Masse Ultramarin, viel Gold und kräftige Farben, «so dass kein Baum, kein Kraut, kein Gewand, keine Wolke war, die nicht leuchtete» (Vasari). Obwohl er damit den Spott seiner Kollegen auf sich zog, konnte er doch den Papst mit dem Farbglanz überzeugen und erhielt die Prämie zugesprochen.

Die jahrhundertealte Schmutzschicht hat bislang die Anekdote wenig nachvollziehbar gemacht, doch auf den frisch restaurierten Fresken lässt sich nun einiges davon unmittelbar erkennen. Der etwas dürftigen Pressemitteilung zum Abschluss der Restaurierung ist etwa zu entnehmen, dass Rosselli hellgelbes «giallorino» (Neapelgelb), Botticelli hingegen das goldgelbe Schwefelaresenik, sogenanntes Rausch- oder Königsgelb (Auripigmentum) verwendete. Die letztgenannte Farbe lässt aufhorchen: ihr Gebrauch war schon von Plinius in der Antike beschrieben worden, der ausdrücklich die Empfehlung beifügte, man möge sie auf Kreidegrund und nicht auf nassen Grund auftragen. Tatsächlich haben die chemischen Untersuchungen zutage gefördert, dass die Fresken der unteren Zone nicht auf normalem Putz gemalt wurden, sondern auf einem ebenfalls aus antiken Beschreibungen bekannten und hier in der Neuzeit erstmals wieder angewandten Malgrund aus Kalk und Pozzolanerde, der offenbar viel feiner ist. Von blossem Auge lässt sich erkennen, dass sich der «schwächere» Rosselli durch den besonders reichen Einsatz von Goldhöhungen hervortut, namentlich etwa in der «Anbetung des Goldenen Kalbes», wo er sogar bis in die Himmelssphäre hinein ausgedehnt wird und zur tatsächlich einzigen leuchtenden Wolke im gesamten Zyklus führt. Demgegenüber fällt die Flusslandschaft im Hintergrund, die nun wieder in feinsten Nuancen zu erkennen ist, gegenüber jenen von Botticelli oder Ghirlandaio in der «Versuchung Christi» oder der «Apostelberufung» merklich ab.

Auch hier deckt sich Vasaris Aussage mit der Wirklichkeit. Die Feinheit der chromatischen Abstufungen hängt übrigens wiederum unmittelbar mit dem Malgrund und der Technik zusammen. Wie man bei der Restaurierung hatte erkennen können, wurden nur einige Pigmente auf den nassen Grund gemalt («al fresco»), andere hingegen später darübergelegt («mezzo fresco»), um den Arbeiten schliesslich mit trockenen Farben oder Goldhöhungen den letzten Schliff zu geben. Die differenzierte Vorgehensweise steht an sich der Tafelmalerei näher als der traditionellen Wandmalerei und stellte in ihrer Zeit eine absolute Novität dar.


Diskrete Eingriffe

Nach der Reinigung sind alle zwölf Fresken wieder von jener kristallinen Klarheit durchdrungen, die auch die Tafelmalerei der Zeit auszeichnet. Die Restaurierung ist offenbar sehr behutsam erfolgt. Insbesondere haben diesmal die Restauratoren auf eine unerträgliche Eitelkeit verzichtet: Während an der Decke und im Jüngsten Gericht immer wieder dunkle Stellen belassen wurden, um den Vorzustand zur Schau zu stellen, hat man hier solchen überflüssigen Schnickschnack weggelassen. Zwei Schäden wurden behoben: Zum einen hatte man auch schon bei früheren Auffrischungen Wasserschäden von den Fenstern zu beseitigen versucht, teilweise durch Übermalungen. Sie wurden behutsam rückgängig gemacht. Die anderen Schäden an den unteren Bildrändern stammten von den Leitern, die immer wieder zu liturgischen Festtagen angelegt wurden, um in der Kapelle die Teppichserie Raffaels aufzuhängen. Auch hier konnte Abhilfe geschaffen werden.

Der Gesamteindruck ist bestechend: Über alle künstlerischen Unterschiede hinweg verbindet eine sanfte Harmonie die gesamte Zone, die ihr einen hohen Eigenwert verleiht und eine Eigenständigkeit gegenüber den Fresken Michelangelos, welche mit viel stärkeren Effekten arbeiten. Wo nun alles in einem neuen Lichte erscheint, vermögen sich die Quattrocento-Malereien durchaus gegenüber der oberen Zone zu behaupten.

Im Zuge der Restaurierungsarbeiten wurden auch die unter den Szenen gemalten Vorhänge, das marmorne Chorgitter sowie die Brüstung der Sängertribüne gereinigt. Auf der Tribüne kamen unter späteren Übermalungen über 200 Graffiti hervor, darunter das einzige bekannte Autograph von Josquin Desprez sowie dasjenige von Carpentras, dem Chorleiter unter Leo X. Beide lassen die Ahnung aufsteigen, wie herrlich der Raum erst gewesen sein muss, wenn er noch zusätzlich mit ihrer Musik angefüllt war.

24. Dezember 1999 Neue Zürcher Zeitung

Das Künstlergenie im barocken Universum

Borromini zum zweiten - in Rom

Die eben zu Ende gegangene Tessiner Borromini-Ausstellung «Il giovane Borromini» findet ihre Fortsetzung in der Ausstellung «Borromini e l'universo barocco» im römischen Palazzo delle Esposizioni. Wurden in Lugano die Anfänge Borrominis dargestellt, so würdigt die zweite Ausstellung umfassend Leben und Werk des Architekten.

Rom dürfte das Heilige Jahr so anfangen wie der römische Palazzo delle Esposizioni seine Borromini-Ausstellung: Überall wird noch gearbeitet, gehämmert und geklopft. Eine weitere Parallele zwischen der Stadt und der eben eröffneten Ausstellung drängt sich auf: Obwohl vieles im neuen Gewand erscheint, bleibt doch letztlich alles beim alten. Mit dem Bild Borrominis, das einem in der Ausstellung entgegentritt, verhält es sich jedenfalls so. Noch immer steht im Vordergrund das Künstlergenie, das sich in einer hermetischen Formensprache selbstverwirklicht. In einem Aufsatz des Kataloges - der übrigens eher ein Aufsatzband als ein Ausstellungsbegleiter ist - geht Werner Oechslin anhand der Forschungsgeschichte diesem Bild auf den Grund. Dem Klassizismus war die Architektur Borrominis ein Dorn im Auge, ein endgültiges ästhetisches Verdikt konnte mit dem Hinweis auf einen pathologischen Geisteszustand ihres Schöpfers zementiert werden. Umgekehrt musste gerade das den Anreiz für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema bieten, zumal das Künstlergenie zweifellos das Lieblingskind der Kunstgeschichte ist. Doch Borrominis Freund, der Bibliothekar Fioravanti Martinelli, hat das ganz anders gesehen. Borromini, so schreibt er, habe gelehrt zu bauen, ohne vorher alles zu zerstören, und gezeigt, wie man auch den kleinsten Baugrund mit der Architektur adeln könne. Aus diesen Worten tritt ein Architekt entgegen, der sich sehr an der Aufgabe orientiert, ihr fast dienend gegenübersteht und die Auftraggeberwünsche umzusetzen vermag - alles Aspekte, die dem Geniegedanken abhold sind.

Die römische Ausstellung schwankt gerade zwischen diesen beiden Polen. Einerseits will sie das Ingeniöse vorführen, andererseits kann sie aber nicht umhin, durch die Erläuterung des kulturellen Umfeldes darzustellen, wie Borromini den Kontext berücksichtigte. Hier scheint die Vision eines Architekten auf, der gar nicht als avantgardistischer Künstler nach Selbstverwirklichung trachtet, sondern sich unermüdlich bemüht, eine ihm gestellte Aufgabe bis ins kleinste Detail zu erfüllen, unter Einbezug aller zur Verfügung stehenden intellektuellen und handwerklichen Mittel. Verschiedene Sektionen der Ausstellung thematisieren diese Haltung. Im Eingangsbereich wird der damalige Kenntnisstand von Wissenschaft und Geschichte sowie der profanen und sakralen Symbolik rekonstruiert. Dem schliesst sich ein Cursus monumentorum an, der die Paläste Barberini, Pamphili, Falconieri, Giustiniani und Carpegna einbezieht, die Kirchen S. Carlo alle Quattro Fontane, S. Maria delle Sette Dolori, S. Agnese, S. Ivo della Sapienza, S. Andrea delle Fratte, das Oratorium der Philippiner, den Lateran sowie das Collegio di Propaganda Fide und die geplante Sakristei für St. Peter. Durchgezogen wird diese Ansammlung von Borrominis Bauten durch thematische Einschübe wie den «Antikenbezug», die «Architettura obliqua», also die verformte Architektur, oder die «Morphologie des Raumes». Der formale Einfluss der eben kartographierten Villa Adriana in Tivoli etwa auf die Gestaltung des Vestibülbereiches von S. Maria delle Sette Dolori springt ins Auge. Ebenso schlagend ist die Gegenüberstellung von Borrominis Raum und Dekorationskonzeption und den Sphärenvorstellungen seiner Zeit, wie sie von Kepler oder Galilei entwickelt wurden und in der Ausstellung in verschiedenen astronomischen Objekten präsent sind.

Und gleichwohl wird das Repertoire in einer Weise vorgeführt, als sei es um seiner selbst und nicht um der Aufgabe willen entwickelt worden. Dabei verdeutlicht etwa Martin Raspe in seinem Katalogbeitrag, wie stark die Antikenrezeption nach ihrem ikonologischen Gehalt und nicht nach ihrer formalen Wirkung erfolgte. Es wird dem Besucher auch nicht entgehen, dass sich zwar in der Ausstellung ein Interesse Borrominis an der Antike verfolgen lässt, dieses materialiter aber von jenem an mittelalterlichen Zeugnissen übertroffen wird. Spätestens seit der Borromini-Ausstellung in Lugano (NZZ 10. 9. 99) dürfte bekannt sein, welche Bedeutung die Mittelalter-Rezeption sowohl in inhaltlicher wie in formaler Hinsicht für Borromini hatte. Durch das Mailänder Milieu wie durch Martinelli war er nämlich auch mit jener Kirchengeschichte vertraut, die Cesare Baronio zu Ende des 16. Jahrhunderts neu verfasst hatte und in der naturgemäss dem Mittelalter eine weit grössere Bedeutung zukam als der Antike. Es erstaunt deswegen nicht, dass der Umgang mit dieser Epoche etwa bei den Lateranumbauten besonders sorgfältig war. Wenn die Klassizisten Borromini stets vorwarfen, er sei «gotico», so muss sich ihre Kritik auf eine Formensprache bezogen haben, die dem Mittelalter viel verdankt und die durchaus auch positiv verstanden werden könnte. Aber anstatt hierauf einzugehen, rückt die Ausstellung nur die Antikenrezeption in den Vordergrund.

Den Blick hier etwas zu weiten hätte bedeutet, den Kontext in jeder Hinsicht stärker in Rechnung zu stellen. Das Verdienst Borrominis wäre dadurch gewiss nicht geschmälert worden, sondern seine Leistung hätte sich noch deutlicher gezeigt. Anstelle der Suche nach einem System oder nach Prinzipien wäre die komplexe Verbindung von topographischen Verhältnissen, Auftraggeberwünschen und architektonischer Eigenleistung im Einzelfall zu prüfen gewesen. Bisweilen bleibt diese Entflechtung auch nicht aus: wie gering etwa der Anteil Borrominis gerade an einem seiner bekanntesten Eingriffe, nämlich dem Durchgang in perspektivischer Verkürzung im Palazzo Spada ist, erläutert die Ausstellung. Hier hatte der mathematisch beschlagene Kardinal Spada die Federführung fest in der Hand.

Wenngleich insgesamt nicht eben ein neues Borromini-Bild präsentiert wird, so soll doch die Bedeutung der Ausstellung nicht in Abrede gestellt werden. Es wird auf Jahre hinaus die letzte Gelegenheit sein, derart viele Architekturzeichnungen Borrominis im Original sehen zu können: 184 Blätter stammen allein aus dem 500 Zeichnungen umfassenden Fundus der Albertina in Wien; Windsor, Berlin, Stockholm und natürlich der Vatikan haben weitere bedeutende Originale beigesteuert. Für einmal erweisen sich die Computer-Animationen, die aus den Grund- und Aufrisszeichnungen ein scheinbar dreidimensionales Bild des geplanten Bauwerkes entstehen lassen, als tatsächlich hilfreich. Am eindrücklichsten ist hier zweifellos die Rekonstruktion der im Projektstadium verbliebenen Sakristei von St. Peter, die sowohl in der Aussenansicht wie im Innern betrachtet werden kann und sich als ein Bau von überraschend moderner Formensprache erweist. In einem Aufsatz des Katalogs stellt Paolo Portoghesi denn auch den Bezug zur Moderne her. Ihm ist ebenfalls eine Idee zu verdanken, die eher auf die pathetische Seite fällt. Im Katalog dedizieren Architekten wie Mario Botta, Frank O. Gehry, Hans Hollein, Richard Meier oder Renzo Piano ihre Werke Borromini, der sie angeblich alle inspiriert habe. Der «Borrominismo» lässt sich aber wohl doch differenzierter an jenen spätbarocken Beispielen verfolgen, die Elisabeth Kieven zusammengestellt und im Katalog besprochen hat, als an Frank Lloyd Wrights Guggenheim Museum in New York, wenngleich dort auch eine Spirale wie an der Kuppel von S. Ivo della Sapienza auftaucht.


[ Die Ausstellung «Borromini e l'universo barocco» ist im Palazzo delle Esposizioni, Rom, bis zum 28. Februar zu sehen, anschliessend in der Albertina, Wien, vom 12. April bis zum 25. Juni. Der Katalog ist bei Electa Milano erschienen; er enthält Aufsätze von Joseph Connors, Christoph L. Frommel, Richard Bösel, Heinrich Thelen, Werner Oechslin, Elisabeth Kieven u. a. und kostet L. 70 000. Zudem ist für Rom ein Itinerario Borrominiano herausgegeben worden, der zu Borrominis Monumenten führt (Electa Milano, L. 18 000). ]

9. Oktober 1999 Neue Zürcher Zeitung

Herausgeputzt ins Heilige Jahr

Die Renovation der Fassade in St. Peter ist abgeschlossen

Unter Papst Paul V. erweiterte der Tessiner Architekt Carlo Maderno den nicht ganz vollendeten Zentralbau von Michelangelos Peterskirche in Rom um ein Langhaus und die Fassade. Fast 400 Jahre nach deren Vollendung erstrahlt die Stirnfront nun in alter Pracht. Dennoch führte die rekonstruierte Polychromie der Travertinfassade in Italien zu einer heftigen Debatte.

Die Enthüllung der schon fast fertiggestellten Fassade von St. Peter im Jahre 1612 hatte einen Skandal zur Folge. Denn der regierende Papst Paul V. aus der Familie Borghese hatte unterhalb des mittleren Giebelfeldes statt des Namens des Apostelfürsten und Kirchenpatrons Petrus seinen eigenen und denjenigen seiner Familie placiert: PAULUS V. BURGHESIUS ROMANUS. Die eben erfolgte neuerliche Enthüllung nach zweijähriger Restaurierung brachte erneut einen Skandal mit sich - so das Verdikt von Carlo Bertelli. Denn nach Auffassung des bedeutenden italienischen Kunsthistorikers ist alles falsch gemacht worden. Ihm gemäss hat man es hier nicht mit einem konservatorischen Akt, sondern mit einer «innovativen Leistung» der Restauratoren zu tun. Mit anderen Worten: was ans Tageslicht gekommen ist, sei eine Schöpfung der Spezialisten.


Hochtechnologie im Dienst der Kirche

Doch bei diesem zweiten Skandal dürfte es sich eher um ein Skandälchen handeln, und noch nicht einmal das ist sicher. Denn Bertelli steht die geschlossene Riege seiner Berufskollegen gegenüber. Sie verteidigt unisono das Resultat des Eingriffes, das sich in der Tat sehen lassen kann. Die Restaurierung wird bereits als «Restaurierung des Jahrhunderts» gefeiert. Auch wenn man etwas vorsichtiger ist, muss man anerkennen, dass noch nie zuvor ein vergleichbarer technischer Aufwand betrieben wurde. Die Analyse schloss den Einsatz von Röntgenstrahlen, Ultraschall und verschiedener elektromikroskopischer Techniken ebenso ein wie komplexere Verfahren: etwa Thermogravimetrie oder Röntgenfluoreszenz-Spektroskopie. Im Laufe der Untersuchungen hatte man auf den Wandflächen zwischen den Säulen Farbreste gefunden. Nachforschungen im Archiv ergaben, dass tatsächlich zur Bauzeit Maler für Arbeiten an der Fassade bezahlt wurden. Ein Gemälde aus dem Jahre 1640 verdichtete die aufkeimende Vermutung zur Gewissheit: Teile der Fassade waren einst koloriert. Diese Polychromie ist nun wiederhergestellt. Die tonale Differenz besteht aus dem Travertinweiss der Säulen und dem hellen Ockerton der Wandfläche. Sie findet sich übrigens auch in anderen Bauten des 16. und 17. Jahrhunderts wieder und wird in entsprechenden Quellen als «color travertino chiaro» bzw. «color travertino scuro» bezeichnet, als helle und dunkle Travertinfarbe. Eine derartige Kolorierung ist häufig dort erfolgt, wo die Travertinplatten (aus Kostengründen) nicht ganz regelmässig verlegt werden konnten. Unter einem leichten Anstrich konnte man die Fugen etwas verbergen.

Doch es gab auch inhaltliche Gründe für den Farbauftrag. In St. Peter ist die Benediktionsloggia im Zentrum der Fassade besonders ausgezeichnet. Das umfangende Wandfeld ist hier grün gestrichen und von zwei roten Pilastern gerahmt. Dadurch wird die Bedeutung jenes Balkons hervorgehoben, von dem aus nicht nur der Papst den Segen erteilt, sondern auch das Resultat der Papstwahlen verkündet wird. Nach Meinung einiger Experten hätte das Gesimsband mit der oben erwähnten Inschrift Pauls V. ebenfalls eine Weisshöhung verdient. Unzweifelhaft wäre dadurch das architektonische Grundgerüst der Fassade noch evidenter geworden. Nun tritt den weiss gehöhten Säulen als Gegengewicht erst die Attika zuoberst entgegen, die - ebenfalls im helleren Farbton gehalten - fast wie ein späterer Zusatz aussieht. Doch dieser Eindruck täuscht.

Michelangelo hatte bekanntlich für St. Peter einen Zentralbau auf griechischem Kreuz geplant. Der ästhetische Wert dieses weitgehend ausgeführten Projektes hatte lange Zeit eine Fertigstellung verhindert, denn über den Abschluss und eine Fassade konnte man sich nicht einigen. Erst unter Paul V. wurde nach langwieriger Debatte der Entscheid gefällt, an den Kuppelraum doch noch ein Langhaus anzufügen und diesem eine grossartige Tempelfassade vorzublenden. Ausführender Architekt war der aus Capolago gebürtige Tessiner Carlo Maderno. Der Planungsprozess lässt sich heute im farblich differenzierten Bild der Fassade teilweise ablesen, wobei den herausgehobenen weissen Säulen und Pilastern eine zentrale Rolle zukommt. Der erste Plan hatte überhaupt nur die vier vollplastischen Säulen im Mittelrisalit unterhalb des Giebels vorspringen lassen. Ein nachfolgendes Projekt fügte schon die übrigen, heute weissen Halbsäulen hinzu, sah aber noch keine seitlichen Türme vor. Dadurch verkürzte sich die Fassade links und rechts um jene beiden Achsen, die heute durch weissen Pilaster leicht abgesetzt sind.


Michelangelos Bau und Madernos Fassade

Mit diesen seitlichen Durchfahrten wirkt die endgültige Fassade etwas langgezogen und gedrückt. Das ist nur zum Teil die Schuld Madernos. Hätten dort die flankierenden Glockentürme hochgezogen werden können, wäre die stark horizontale Betonung aufgehoben worden. Doch dieses Projekt wurde nie umgesetzt, und die später von Bernini errichteten Türme mussten wegen Terrainsenkungen bald wieder abgetragen werden. Die etwas kleinteiligen Uhren von Valadier aus dem frühen 19. Jahrhundert können nicht mehr deutlich machen, dass die beiden äusseren Achsen darunter eigentlich Turmbasen sind, die als vertikale Elemente der Horizontalen hätten entgegentreten sollen.

Die Idee der polychromen Differenzierung dürfte Maderno von seinem Vorbild Michelangelo übernommen haben. Bei jenem war das Spiel zwischen rotem Ziegel und weissem Travertin beliebt, wie andere Renovationen der jüngsten Vergangenheit, etwa jene des Palazzo Farnese oder des Kapitols, in Erinnerung gerufen haben. Dabei dient der Einsatz der Polychromie dazu, die architektonische Grundstruktur zu verdeutlichen. Die Fassade von St. Peter unterscheidet sich von den anderen Beispielen nur durch die Homogenität des Materials. Dass sie sich nun farblich in den Reigen von Michelangelos Meisterwerken einfügt, muss man eher als Glücksfall denn als Skandal bezeichnen.

10. September 1999 Neue Zürcher Zeitung

Jugendjahre eines Genies

Der Tessiner Barockarchitekt Francesco Borromini in Lugano

Das Museo Cantonale d'Arte in Lugano widmet anlässlich des 400. Geburtstags von Francesco Borromini dem aus Bissone stammenden Barockarchitekten eine grosse Ausstellung. Unter dem Titel «Dagli esordi a San Carlo alle Quattro Fontane» versucht sie die künstlerische Entwicklung des genialen Baumeisters bis hin zu seinem ersten römischen Meisterwerk nachzuzeichnen.

Der Pressemitteilung zur Borromini-Ausstellung im Museo Cantonale d'Arte in Lugano ist zu entnehmen, dass die Namen aller grossen Barockarchitekten mit «B» beginnen: Bernini, Borromini, Berrettini (Pietro da Cortona). Folgt man dieser Logik, so muss die Liste in die Gegenwart hinein erweitert werden: «B» wie Botta. Denn die Hand des Tessiner Stararchitekten ist bei der Präsentation des alten Meisters omnipräsent. Der Ausstellung ist der Einfluss freilich ausgezeichnet bekommen. Hier hat sich der eine Architekt in den Dienst des anderen gestellt und Ausserordentliches ermöglicht. Es ist Bottas Beziehungsnetz zu verdanken, dass das wissenschaftliche Komitee mit hochkarätigen Persönlichkeiten besetzt wurde (Thelen, Connors, Scotti, Oechslin, Bertelli usw.) und dass mehrere von ihnen auch einen Beitrag zum vorzüglichen Katalog geleistet haben. Pikant freilich, dass ausgerechnet ein Aufsatz zu San Carlo aus der Festschrift Bertellis nicht in der Bibliographie Erwähnung findet. Aber insgesamt hat sich der Aufwand gelohnt, der zugleich der Architekturakademie von Mendrisio die Gelegenheit zu einem Auftritt bot. Diesen hat sie in vielerlei Hinsicht mit Bravour bestanden. Derzeit sähe sich kein anderes Schweizer Universitätsinstitut zu einer vergleichbaren Leistung imstande. Pläne und Modelle wurden von der Akademie beigesteuert; selbst die diskrete Ausstellungsarchitektur aus Karton scheint aus ihren Werkstätten hervorgegangen zu sein.


Lehr- und Wanderjahre

Das Grundproblem der Ausstellung ist, dass der zu dokumentierende Lebensabschnitt erst an seinem Ende in einem interessanten Bau, San Carlo alle Quattro Fontane zu Rom, gipfelt. Bis zu diesem Punkt verläuft die Biographie Borrominis eigentlich unspektakulär, aber trotzdem ist sie von grösster Bedeutung, weil erst durch sie das spätere architektonische Werk verstanden werden kann. Der Ausstellungsbesucher wäre daher gut beraten, wenn er sich mit dem Katalog, dem eigentlichen Glanzstück des Projekts, vorab vertraut machen würde. Zwar geben Tafeln einige Hinweise, aber bei den einzelnen Objekten wurde weitgehend auf Erläuterungen verzichtet.

Für Borrominis Laufbahn war entscheidend, dass er früh schon auf der Mailänder Dombaustelle beschäftigt wurde. Später, in Rom, wurde Borromini immer wieder vorgeworfen, er sei «gotico». In zahlreichen Architekturzeichnungen und vor allem im exzellenten Aufsatz von Aurora Scotti und Nicola Soldini setzt sich die Ausstellung mit der Frage auseinander, was denn wohl der Mailänder Anteil an diesem Attribut gewesen sei. In der lombardischen Kapitale war damals das Problem der Domfassade noch nicht gelöst, der gotische Bau harrte seines Abschlusses. Dass es dabei zur intensiven Auseinandersetzung zwischen modernen Formen und dem Erbe der Vergangenheit gekommen ist, machen verschiedene Exponate einsichtig. Borromini selbst hat spätgotische Cherubim verschiedentlich in barockisierter Form in seinen Kirchenbauten verwendet. Diverse Einzelformen lassen sich ebenfalls bis auf diese Lebensphase zurückverfolgen.

An der Dombauhütte scheint Borromini eine profunde Bildung erhalten zu haben. Insbesondere dürften dazu Kenntnisse in Mathematik und Geometrie zählen. Wie gross das Interesse auch anderer Mailänder Architekten der Zeit daran war, ist genau zu verfolgen. Nicht nur zur Planung neuer Kirchen wurden geometrische Grundformen herangezogen. Auch ältere Bauten - etwa das frühchristliche San Lorenzo - wurden auf ihre geometrischen Grundstrukturen hin befragt. Eine wegweisende Persönlichkeit war Francesco Maria Ricchino, dessen Mailänder Bauten durch ihre schwingenden Innenräume zweifellos einen Referenzpunkt für den jungen Borromini darstellten. Zahlreiche Pläne und ein Modell führen dem Besucher die Zusammenhänge eindringlich vor.

Ein weiterer Punkt ist die Ausbildung Borrominis: Aus einer Familie von Steinmetzen und Bauunternehmern stammend, wurde auch er zunächst zum Bildhauer bestimmt. Die Konsequenzen dieser Ausbildung kommen in der Ausstellung hinsichtlich eines Punktes zu kurz: Aus Borrominis Testament geht hervor, dass er bei sich zu Hause Wachsmodelle seiner wichtigsten Bauprojekte aufbewahrte. Wachs als Entwurfsmaterial des Architekten ist nur dann verständlich, wenn dieser Architekt eben auch Bildhauer ist und als solcher modellierend plant. Für die Ästhetik seiner Bauten ist dieser Aspekt nicht zu unterschätzen, denn er kann unmittelbar mit deren plastischer Durchgestaltung in Verbindung gebracht werden und erklärt ihre dynamischen Grund- und Aufrisse zu einem guten Teil. - Auch in Rom war Borromini zunächst als Bildhauer gefragt. Verwandte hatten ihm dort das Terrain schon geebnet, so dass er unter seinem Landsmann Carlo Maderno und unter Bernini in St. Peter, später auch am Palazzo Barberini mitarbeiten konnte.


Erster römischer Triumph

Den Exponaten gemäss blieb sein Wirken vorerst aufs Dekorative beschränkt. Der Eintritt in eine Baufirma seiner Verwandten machte ihn zum Unternehmer und verschaffte ihm finanzielle Unabhängigkeit. Sie ermöglichte ihm, sich ohne Lohn für jenes Projekt anzubieten, das ihm den Durchbruch als Architekt und die Ausstellung auf ihren Höhepunkt bringt: San Carlo alle Quattro Fontane. Die zahlreichen Originalpläne, Skizzen und das eigens hergestellte Modell verdeutlichen, wie Borromini in diesem Bau die Früchte seiner bisherigen Karriere ernten konnte. Dieser Höhepunkt ist ausserhalb des Museums nochmals präsent. Auf einem Ponton im Luganersee steht ein Modell der Kirche im Massstab 1:1, das - aus Holzbrettern gleichsam aufgeschichtet - einen Schnitt durch deren Inneres zeigt. Beim Nachbau verkehrt sich das Verhältnis von zudienendem und gefeiertem Architekten ins Gegenteil. Die raison d'être dieses Modells ist laut Botta folgende: Weil Wien und Rom - Schauplätze geplanter Borromini-Ausstellungen - den Zeichnungsfundus bzw. die Kirchenbauten besässen, das Tessin aber die Landschaft, habe man durch einen Nachbau den Diskurs zum lokalen Kontext schaffen wollen.

Freilich lässt sich am Modell nicht nachvollziehen, was man als Erkenntnis aus der Ausstellung mitgenommen hat. Wenn es Borromini um das Spiel mit geometrischen Formen geht, so muss ihm eine Rhythmisierung des Innenraums zentrales Anliegen gewesen sein. Diesen in der Mitte zu zerteilen und nur eine Hälfte zu zeigen ist, als bräche man etwa Ravels Boléro nach der Hälfte der Takte ab. Auch die Innenproportionen sind verzerrt: von der Last des Kuppelgewölbes befreit, scheinen die Säulen ungehemmt in die Höhe zu schiessen. Am besten wirkt das Modell aus der Ferne und bei Tag. Dann zeigen die schwarz eingefärbten Schnittflächen durch die Architektur die feinen Profile, und man kann das Ganze als eine Art Ruinenarchitektur lesen. Von nahem aber führt die Schichtung der Holzbretter dazu, dass jede Krümmung abgetreppt und nicht gekurvt ist und sich der Gedanke an Computerdiagramme einstellt. Ob sich da Borromini nicht im Grabe umdreht? (Bis 14. November)


[ Katalog: Il giovane Borromini. Dagli esordi a San Carlo alle Quattro Fontane. Hrsg. Manuela Kahn-Rossi und Marco Franciolli. Skira Editore, Mailand 1999. 528 S., Fr. 70.-. ]

30. Juni 1999 Neue Zürcher Zeitung

Menschenwürdiges Haus

Die Domus Aurea in Rom wiedereröffnet

Der Ausdruck «Groteske» bezeichnet bekanntlich die dekorative Verbindung von Architektur-, Pflanzen- und Tiermotiven zu einem metamorphorisierenden Ganzen. Darüber hinaus umfasst der Begriff in nuce einen wesentlichen Teil der Geschichte des Goldenen Hauses von Kaiser Nero. Denn der immense Bau, gegen 64 n. Chr. begonnen, blieb bei dessen Tod 68 n. Chr. unvollendet und wurde von seinem Nachfolger Trajan zugeschüttet, um als Fundament der darüber errichteten Trajansthermen zu dienen. Erst ab 1480 entdeckte man nach und nach die Räume und deren Ausmalung wieder. Weil man um den genauen Hergang damals nicht wusste, hielt man sie für unterirdisch angelegte Gemächer, italienisch: Grotti. Ihre Bemalung, die die geschilderten Motive vereinte, wurde folglich Grottenmalerei (italienisch: Grottesche) genannt. Ihre neuerliche Beliebtheit verdanken die Grotesken übrigens dem Umstand, dass sofort nach Entdeckung der Malereien alles, was in Rom Rang und Namen hatte, herbeieilte. Bekannte Besucher waren Ghirlandaio, Pinturicchio, Raffael und Giovanni da Udine. Erstmals taucht die Dekorationsform in den frühen Fresken der Cappella Sistina auf, aber für deren Verbreitung sorgte v. a. die Raffael- Schule.


Problematische Statik

Die topographische Situation der Domus Aurea hat dazu geführt, dass sie zu Beginn der achtziger Jahre für das Publikum gesperrt werden musste. Aussalzungen, eindringendes Regenwasser und Wurzeln hatten namentlich die Fresken schwer beschädigt. Auch heute noch, nach Abschluss der Arbeiten, bleibt die Lage prekär. Denn durch die Ausgrabungen ist die Stabilität des Baus beeinträchtigt, zumal sich nach wie vor darüber der Park des Colle Oppio mit seinem alten Baumbestand und den Resten der Thermen erstreckt. Die Sopraintendenza Roms plant langfristig, das ganze Gebiet abzugraben und die durch eine Strasse zerschnittenen Thermen wieder als Einheit kenntlich zu machen.

Auch unter der Erde wartet noch ausreichend Arbeit. Denn derzeit sind bloss 32 von 150 bekannten Räumen dem Besucher zugänglich. Weitere 15 Räume warten überhaupt noch darauf, ausgegraben zu werden. Die gesamte Fläche des Baus beträgt etwa 10 000 Quadratmeter. Von den 30 000 Quadratmetern bemalter Wände in seinen durchschnittlich 10 Meter hohen Räumen sind eben 1200 Quadratmeter restauriert; 55 Restauratoren sind ständig mit der Weiterarbeit beschäftigt. Der riesige Komplex war ein Bestandteil der ausgedehnten kaiserlichen Palastanlagen, die sich über Palatin, Esquilin und Monte Celio auf einer Fläche von insgesamt etwa 80 Hektaren erstreckten. In ihrer Mitte lag jener künstliche See Neros, an dessen Stelle sich heute das Kolosseum erhebt. Die Domus Aurea mit ihrer fast 400 Meter langen Front auf den See hin scheint in diesem Gefüge eine Art überdimensionaler Gartenpavillon gewesen zu sein, der dem kultivierten Beisammensein und dem intellektuellen Austausch diente. Jedenfalls sind bis heute keine Räume aufgetaucht, die an eine ständige Bewohnung denken liessen. Beschreibung von Tacitus, Sueton und Plinius schildern den ausserordentlichen Luxus, den herrlichen Ausblick des Hauses auf den neroischen See sowie dessen Einbettung in Felder, Wiesen und Weiden mit vielerlei Getier.


Neuer Rundgang

Der neu erschlossene Rundgang durch die erwähnten 32 Gemächer führt durch einige Vorsäle und am langen, bemalten Kryptoportikus vorbei hin zu jener oktogonalen Aula, in deren Innenrund sich einstmals eine drehbare Plattform befand. Hier soll Nero selbst zur Leier gegriffen haben, während das Publikum sich in den seitlichen Ausbuchtungen kulinarischen Genüssen hingeben konnte. Ein angegliedertes Nymphäum sorgte mit durchlaufendem Wasser für angenehme Kühle. Im Oktogon haben sich allerdings keine Fresken erhalten. Demgegenüber zeigen die Achilles- und Hektor-und-Andromache-Säle szenische Darstellungen, denen die Restauration überraschende Frische und Klarheit zurückgegeben hat. Eingefügt in das beschriebene Dekorationssystem aus Architekturelementen, Blumen- und Tiermotiven, stehen sie für jenen vierten pompejanischen Stil, dessen Vergleichsbeispiele in Pompei eine Periode kurz vor dem Untergang der Stadt markieren. Der Maler namens Fabullus ist bei Plinius überliefert.

Inhaltlich wird in der Malerei auf die Ilias und damit letztlich auf den Mythos von Rom als dem neuen, auf der Asche des alten erstandenen Troja angespielt und beiläufig daran erinnert, dass die Errichtung der Domus Aurea erst durch den Brand von Rom möglich wurde. Der häufig dargestellte Gott Dionysos ruft allerdings das Thema von Wiedergeburt in Erinnerung, das seinerseits in einem unmittelbaren Zusammenhang zum Sonnenkult stand. Er wiederum fügt sich in die von Nero nachdrücklich betriebene Selbststilisierung als Sonnengott ein, der übrigens die gesamte Innenausstattung dienstbar gemacht wurde. Denn Böden und Wände waren mit spiegelndem Marmor verkleidet und ganze Raumteile vergoldet. Wasser durchfloss verschiedene Gemächer und wurde in grossen Becken unter freiem Himmel gesammelt. Die Verbindung von Aussen- und Innenraum war durch Öffnungen und Peristyle derart geschickt gelöst, dass das hereinfallende Sonnenlicht auf all diesen spiegelnden Flächen vielfach reflektiert wurde. Dadurch entstand laut Plinius der Eindruck, das Licht komme nicht von aussen, sondern es sei in den Sälen bereits eingeschlossen.

Eine Ahnung von dieser Pracht stellt sich am ehesten in der erwähnten Aula mit ihrer grossen Oberlichtöffnung ein. Sie legt auch am besten vom Können der beiden Architekten Severus und Celerus Zeugnis ab, die den Akzent völlig auf die Innenraumwirkung setzten, während der Palast von aussen kaum gegliedert war und mit seinem Bleidach wie ein Meer in der Sonne glänzte (Sueton). Vielleicht entsprach sogar das der Intention Neros, dem die gesamte Palastanlage sehr gefiel: endlich - meinte er - sei ein Haus entstanden, das zu bewohnen eines Menschen würdig sei.


[ Die Domus Aurea ist täglich von 9 bis 22 Uhr zu besichtigen. Der Eintritt kostet 10 000 Lire. Vorbestellungen können unter der Nr. (0039) 06/39 74 99 07 getätigt werden. Zur Eröffnung sind zwei Publikationen erschienen: ein Kurzführer «Domus Aurea» von Elisabetta Segala und Ida Sciortino für 18 000 Lire (ISBN 88-435-7163-X) und eine etwas detaillierte Dokumentation von Irene Iacopi für 60 000 Lire (ISBN 88-435-7174-5), beide bei Electa Milano. ]