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Artikel

23. Juni 2021 Neue Zürcher Zeitung

Die Smart City ist auch ein Spiel mit dem Feuer

Das viele Reden von Vernetzung und Effizienz beinhaltet viel gesellschaftliche Ambivalenz – aber es gäbe ohne diese Ideen keinen Fortschritt.

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17. Juli 2018 Neue Zürcher Zeitung

Ist die Platte die richtige Antwort auf die Wohnungsnot?

Die serielle Bauproduktion ist ein Erbe des Bauhauses. Nun wird sie von der Politik wieder in Beschlag genommen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Das könnte eine gute Idee sein.

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22. Mai 2017 Neue Zürcher Zeitung

Häuser und Beziehungen

Für die Integration von Flüchtlingen und Migranten in unseren Städten gibt es keine einfachen Rezepte. Ethnisch homogene Nachbarschaften können sich genauso bewähren wie gemischte Wohnquartiere.

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29. Juli 2016 Neue Zürcher Zeitung

Das Leben findet zwischen den Häusern statt

Wer nach praktikablen urbanen Zukunftsrezepten sucht, findet in den Arbeiten von Jan Gehl umfangreiches Anschauungsmaterial. Gehl glaubt zu wissen, wie die Stadt als Lebensraum zu fassen ist.

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17. Juni 2016 Neue Zürcher Zeitung

Die faulen Architekten

Für den dänischen Architekten und Städteplaner Jan Gehl sind Wolkenkratzer ein Symbol für die ortlose Verallgemeinerung von Architektur. Mit den Erbauern geht er hart ins Gericht.

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1. Dezember 2015 Neue Zürcher Zeitung

Shop till you drop

Die Lebendigkeit von Europas Städten wird geschätzt. Dabei spielt das Einkaufen eine wichtige Rolle. Doch Shoppingmalls und Online-Handel könnten den öffentlichen Raum in den Zentren veröden lassen.

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28. Februar 2015 Neue Zürcher Zeitung

Baukunst im Riesenformat

Die Vorstellung, dass nur grosse, komplexe Projekte genügend Kraft entwickeln können, um neue räumliche Ordnungen zu etablieren und Orte zu markieren, spielt in der Architektur heute eine wichtige Rolle. Alles zum Grossprojekt aufzublasen, ist aber fragwürdig, weil es kaum mit gewachsener Urbanität vereinbar ist.

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28. Juni 2014 Neue Zürcher Zeitung

Die Unteilbarkeit der Baukunst

Die richtige konstruktive Lösung führt nicht unbedingt zu harmonischen Bauten. Gestaltung ist auch im Zweckbau wichtig, weshalb es keine Trennung zwischen Architekt und Ingenieur geben sollte.

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25. April 2014 Olaf Schnur
Neue Zürcher Zeitung

Heimat bauen

Wohnen bedeutet, sich die Gewissheit des Geschütztseins real und symbolisch zu bewahren. Allerdings ist die Wohnungsfrage nach wie vor eine überindividuelle, weil sie in der Ökonomie wurzelt. Verschiedene Entwicklungen geben Anlass, neu über den Zusammenhang von Architektur und Gesellschaft nachzudenken.

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26. Februar 2014 Neue Zürcher Zeitung

Umgang mit einem besonderen Raum

Um das Erscheinungsbild und die Aufenthaltsqualität unserer Städte zu verbessern, müssen die verkehrsbelasteten Radialstrassen wieder lebenswert gemacht werden. Mit diesem Plädoyer lässt sich ein neues Buch zum Thema «Radialer Städtebau» zusammenfassen.

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3. Dezember 2012 Neue Zürcher Zeitung

Wahrheit und Ehrlichkeit

Vor nicht allzu langer Zeit wurden Gebrauchswert und Nutzen eines Hauses höher eingestuft als seine äussere Form. Heute präsentieren sich abstrakte, wenig regelhafte Baukörper in unterschiedlichster Verhüllung. Dabei galt das Zusammenspiel von innen und aussen einst als eine zentrale Kategorie der Architektur.

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27. Februar 2012 Neue Zürcher Zeitung

Sehnsucht nach Historie

Wer das Bewahrenswerte erhalten will, so heisst es, der müsse verändern, was der Erneuerung bedarf. Das klingt überzeugend, schafft aber – bezogen auf unsere historischen Städte – einige Probleme.

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22. April 2011 Bauwelt

Was einsparen: CO2 oder Kultur?

Für einen neuen Umgang mit dem Thema Energieverbrauch reicht es nicht, als Architekt allein auf technische Innovationen zu setzen: Es braucht sinnfällige Lösungen, die das Verhalten von Bewohnern und Benutzern berücksichtigen – letztlich eine neue Kultur der Planung.

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12. April 2011 Neue Zürcher Zeitung

Grün ist die Zukunft

Innovatives Bauen zielt heute vor allem auf Energieeinsparung. Das ist in Zeiten wachsender Kritik an der Atomkraft wichtig, aber unzureichend und aus kultureller Warte nicht ganz unproblematisch.

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23. Dezember 2003 Neue Zürcher Zeitung

Das Bild des Booms

Kuala Lumpur im Fieber umfassender Erneuerung

Kuala Lumpur bedeutet «schlammige Flussmündung». Was 1857, zu Beginn der Besiedelung, eine wenig ansehnliche Siedlung war, offenbart sich heute als eine Metropole, deren Gesicht sich durch private Bautätigkeit täglich ändert. Diese Stadt ist ein steinernes Abenteuer, in dem das Neue das Alte unerbittlich fortspült.

Dem Stadtbild von Kuala Lumpur ist mit den ästhetischen Begriffen europäischer Kapitalen nicht beizukommen. Denn die Hauptstadt von Malaysia ist keine mit abendländischer Ratio angelegte Stadt. Den einzigen nennenswerten Versuch, dem urbanistischen Wildwuchs ein Spalier zu liefern, unternahm Frank Swettenham: Nachdem 1871 die malaysischen Staaten zur Kronkolonie erklärt worden waren, erliess der britische Gouverneur die «five-foot ways» als zentrale Bauordnung.

Dieses Muster der zusammenhängenden, fünf Fuss breiten Arkaden vor allen Geschäftshäusern bildete fortan die wesentlichste städtebauliche Vorgabe. Sie basierte auf einer spezifischen «Shophouse»-Architektur, die durch ihre harmonischen Strassenfronten mit rhythmischen Ziegelfassaden beeindruckte, aber auch dem tropischen Klima angepasst war. Zudem bot sie alle Voraussetzungen für die Entstehung einer entwickelten Stadtkultur: gleiches Recht aller auf Nutzung und Begehung, mithin eine Reverenz an die Bedeutung des öffentlichen Raumes.

So entstand jener Typus, der konstitutiv für die Altstadtbereiche von Kuala Lumpur wurde, ob nun in der Petaling Street (Chinatown), der Pudu Road oder der Jalan Bukit Bintang, die mit ihren arkadengesäumten Shophouses von jeher das Zentrum der städtischen Handelsaktivitäten bildeten. Doch weichen sie mehr und mehr grossen Einkaufszentren und klimatisierten Malls. Der öffentliche Raum ist nur mehr ein vermeintlicher.


Dynamik des Umbaus

Kuala Lumpur gibt sich heute als eine brummende, hupende, rauchende, ölverschmierte Maschine. Eine Stadt in Vollgas. Und weitgehend ohne Vergangenheit. Unmittelbar hinter der Stelle, wo Klang und Gombak zusammenfliessen und vor 95 Jahren die älteste Moschee der Stadt, Masjid Jamek, errichtet wurde, herrscht beispielloses Baufieber. Gleich unbändigen Himmelsstürmern erheben sich immer mehr Appartementhäuser und Bürotürme, Luxushotels mit Atrien und hängenden Gärten sowie gigantische Shopping Malls aus dem Häusermeer der traditionellen Viertel - und das in einem bei uns kaum vorstellbaren Tempo. Alles scheint gleichzeitig zu passieren: Wolkenkratzer schiessen empor, Magistralen wie die Jalan Ampang werden auf sechs Spuren verbreitert und, quasi nebenher, eine Aufwertung ganzer Stadtviertel betrieben.

Spektakulärstes Zeichen für den metropolitanen Umbau ist das Kuala Lumpur City Centre. 1997 wurde, anstelle der alten Pferderennbahn, ein Komplex von Büro-, Einkaufs-, Freizeit- und Hotelbauten fertig gestellt, der in seiner Megalomanie kaum zu überbieten ist: Die beiden vom New Yorker Architekten Cesar Pelli konzipierten Petronas Towers (NZZ 7. 6. 97) waren - bis zur Fertigstellung eines noch höheren Turms vor wenigen Wochen in Taipeh - mit 98 Stockwerken und fast einem halben Kilometer Höhe die höchsten Bürohäuser des Globus, was die Bewohner von Kuala Lumpur wie einen persönlichen Triumph betrachteten. Das landschaftliche Environment, in das der Komplex geschickt eingebettet ist, schuf der brasilianische Gartenarchitekt Roberto Burle Marx.

Ähnlichen Ambitionen folgte der ein Jahr später eingeweihte Kuala Lumpur International Airport (KLIA), der auf einen Entwurf des Japaners Kisho Kurokawa zurückgeht. Eine hyperbolisch- paraboloide Schale, schräge Glaswände, ein innenliegender Tropenwald: Der grösste Flughafen Asiens verkörpert zwar, im Sinne seines Schöpfers, eine Symbiose von Natur und Hightech, wirkt aber steril und überdimensioniert. So erstaunt es nicht, wenn das Tradierte auch im modernisierungswütigen Kuala Lumpur Orientierung bietet. Wie etwa am Independence Square (Dataran Merdeka): An seiner Ostseite wird der Platz vom pittoresken Sultan Abdal Samad Building, 1894-96 nach Plänen von R. A. J. Bidwell gebaut, flankiert. Was hier im «Moorish Style» - einer Mischung aus europäischem Funktionalismus und islamischer Formensprache - errichtet wurde, wirkte beispielgebend für alle weiteren öffentlichen Bauten.

Eine eigene, moderne Identität auch baulich- räumlich auszubilden, ist nach wie vor ein Desiderat in Kuala Lumpur. In Fachkreisen stellt Ken Yeang, einer der wenigen malaysischen Architekten von Weltruf, diesbezüglich wohl das Mass der Dinge dar: Nicht umsonst hat sein Menara-Mesaniaga-Hochhaus im Stadtteil Petaling Jaya 1995 den Aga-Khan-Preis gewonnen. Junge Büros wie ZLG Architects eifern diesem Vorbild nach. Ausschlaggebender für Kuala Lumpur indes sind Developer wie Low Yow Chuan, der den 62-stöckigen Empire Tower und das benachbarte Crown Princess Hotel initiierte, und Hijjas Kasturi, der, am Auftragsvolumen gemessen, so etwas wie Malaysias «Staatsarchitekten» darstellt. Vor gut dreissig Jahren gehörte er zur ersten Handvoll einheimischer Baumeister mit besten politischen Kontakten, die selbständig praktizierten und versuchten, eine einheimisch geprägte Architektur zu entwickeln. Seine Bauten bestimmen das heutige Stadtbild: Das Luth Building, ein zylinderförmiges Gebäude mit schlanker Taille, die fünf Orgelpfeifen des Shahzan Tower oder das elegante Dato Zainal Building sind bis ins Detail dem Prinzip der Vertikalität verpflichtet. Sein kantig- asymmetrischer Maybank Tower hingegen wird in Kuala Lumpur als «the ugliest building this side of the Suez» bezeichnet.


Architektur des Mittelmasses

Kuala Lumpur wird weithin beherrscht von einer mediokren Architektur, die vorgibt, etwas eigenständig Malaysisches zu sein. Doch heute sind Proteste gegen zerstörerisches Development häufiger - und manchmal auch erfolgreich. Prominentestes Beispiel dafür ist der Central Market, ein Art-déco-Bau, dessen Abbruch von der «Save the City»-Bewegung verhindert werden konnte. Trotz solchen vereinzelten Versuchen gleicht Kuala Lumpur immer weniger sich selbst. Und da, wo es gelingt, die historischen Fassaden zu erhalten, werden diese zur blossen Touristenattraktion. Bis zur Ölkrise Anfang der siebziger Jahre hatte sich Kuala Lumpur fast ausschliesslich im Bestand entwickelt und verändert. Dann aber begann der radikale Umbau; ganze Strassenzüge verschwanden über Nacht, neue Quartiere traten an ihre Stelle. Diese können das Mosaik des vorherigen städtischen Lebens jedoch nicht ersetzen. Insofern ist Kuala Lumpur ein typisches Beispiel für die Metropolen der asiatischen «Tigerstaaten» - mit einer urbanen Morphologie, die weitgehend von der Ökonomie beherrscht wird und in der Marktmechanismen die Architektur bestimmen. Die Neubauten von heute sind die Ruinen von morgen. Kuala Lumpur ist eine Stadt moderner Trümmer, ein perfektes Baalbek, an einem Tag erbaut, am anderen schon verfallen, eine Stadt, von der man nie erwartet, dass sie fertig wird.

4. Juli 2003 Neue Zürcher Zeitung

Die Grenzen des Grünstreifens

Was bedeutet «Nachhaltigkeit» in der Architektur?

Nachhaltig, also ressourcenschonend und umweltverträglich, zu bauen, ist heute wichtiger denn je. Bereits vor 20 Jahren glaubte man anhand des «ökologischen Bauens» einen Paradigmenwechsel feststellen zu können. Doch was lässt sich von solch hehren Zielen wirklich einlösen? Dass Ökologie und Ökonomie nicht unbedingt einen Gegensatz bilden, wird in jüngster Zeit gebetsmühlenartig wiederholt. Umweltbewusstsein hat mittlerweile einen festen Platz im gesellschaftlichen Wertekanon erobert; es ist auch zu einer zentralen Prämisse des Bauens geworden. Doch Öko-Gadgets machen noch keine Öko-Architektur; Solarzellen und passive Sonnennutzung, ins Haus integrierte Gewächshäuser, Fassadenbegrünung und Wärmedämmung sind nicht hinreichend für ein wirklich zukunftsfähiges Bauen. Denn das erhebt den Anspruch, dezentral, kleinteilig und selbstgenügsam zu sein.


Zwiespältige Werturteile

In der herrschenden Diskussion erscheint Nachhaltigkeit, besonders wenn sie auf Innovation und Hochtechnologie bezogen wird, wie eine Dame ohne Unterleib, abgeschnitten von den kulturellen Fermenten und den sozialen Katalysatoren, ohne die noch nicht einmal die aseptisch gedachten wissenschaftlichen Entdeckungen, geschweige denn ihr gesellschaftlicher Gebrauch zu haben sind. Ein Wegbereiter diesbezüglich war Buckminster Fuller, dessen Wirken unter dem Motto «How to make the world work?» stand. Die Information der Teile über ihr Funktionieren im Ganzen wird zur Ausgangsfrage für Fullers «Systems Approach»; die Lösungsstrategie setzt bei der Integration der Einzelfunktionen an. Nachhaltiges Bauen gibt es demnach nur als Synthese von technologisch-ingenieurmässigem Handeln und gesellschaftspolitischen, wertbasierten und wertorientierten «Ansprüchen». Im Kanon dieser Ansprüche spielt der Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft - weg vom einseitigen Wirtschaftswachstum, hin zu mehr Lebensqualität - eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Lebensqualität indes drückt sich auch darin aus, dass man heute anders wohnt als früher. Steigender Wohnflächenbedarf stellt ein reales und qualitatives Anliegen dar. Nachdem die Architektur der Moderne Fragen der Ökologie, der Isolation und der Heizkosten jahrelang als zu vernachlässigende Grössen behandelt hatte, sind heute die bessere Orientierung und die Dämmung von Gebäuden zentrale Themen. Photovoltaik, Passivhaus-Standard, Wärmerückgewinnung: Fraglos ist hier viel erreicht worden. Eine Architektur jedoch mit dem Anspruch, etwas Integriertes, Vernetztes, Umweltbewusstes zu schaffen, bleibe letztlich «gleichgültige Technologie, ob hart, ob sanft, wenn nicht subjektive semantische Energien das technische Konstruktionsgerippe zu einem Bild eines anderen Lebens ergänzen können» (Ullrich Schwarz). Mit Bepflanzung, Brennwertkesseln, Solarzellen, rezyklierbaren Baustoffen und Energiekosten-Vergleichen ist es demnach nicht getan. Vielmehr und ganz entschieden handelt es sich um eine Frage der Bereitschaft, der Bewusstwerdung, der mentalen Veränderung - und dieser Frage haben sich weder Architekten und Bauträger noch Bewohner und Betreiber in der notwendigen Tiefe gestellt.

Obgleich viele Einsichten und Erkenntnisse darüber, wie nachhaltiges Bauen strukturiert sein müsste, bereits vorliegen, bleibt ihr Transfer in die Praxis weitgehend aus. Ob das mit der mangelnden «Sinnlichkeit» zusammenhängt? Peter Eisenman jedenfalls hat, als er unlängst befragt wurde, wie er es denn mit «sustainability» halte, eine unmissverständliche Antwort gegeben: «Mit mir über Nachhaltigkeit zu reden, ähnelt einem Gespräch übers Gebären. Bin ich gegen das Kinderkriegen? Nein. Aber würde ich meine Zeit damit verbringen, es zu tun? Nicht wirklich.» Das Thema scheint für Intellektuelle oder Künstlernaturen arg spröde zu sein und «ökologische Architektur» ein Label, das viele abschreckt. Dies der Ignoranz und Unlust zuzuschreiben, ist sicherlich nicht ganz falsch. Doch auch von Seiten der Ökologen wird ein «klassisches Architekturverständnis» als Feindbild aufgebaut. Dabei gibt es keinen Öko- oder auch nur Energiespar-Stil. Ein solches Bauen verlangt keine einheitliche Ästhetik und keine allgemein verbindlichen Regeln, es sei denn diejenigen eines vernünftigen, die Umwelt nicht zerstörenden Verhaltens. Insofern ist auch der gerne angeführte Widerspruch zwischen «Gestaltung» und «Umweltanspruch» bloss virtuell.

Fruchtbare Ansätze, das nachhaltige Bauen in eine zeitgenössische «Architektursprache» zu übersetzen, gibt es zwar - hier sei nur auf die Idee der «natürlichen Konstruktionen» hingewiesen, wie sie von Frei Otto experimentell entwickelt wurde. Aber wirklich konstitutiv ist dies bislang nicht geworden. Woran wiederum die Medien keineswegs unschuldig sind: Sie kanalisieren die öffentliche Debatte, über die Qualität zugeteilt wird. Zur Architektur zählt, was einer Besprechung in den Medien wert ist.

Um das Thema stärker in der Öffentlichkeit und im «normalen» Bauen zu verankern, bedarf es nicht so sehr exzeptioneller Öko-Avantgarde- Projekte. Vielmehr wären praktische Beispiele vorzuführen, müsste der Gebrauch von kostengünstigen, quasi alltäglichen, d. h. bereits gängigen und bewährten Technologien im Lebensalltag bewiesen und anschaulich gemacht werden. Ein simples Beispiel: Weil das von Gewohnheiten, Sorglosigkeit und Unkenntnis geprägte Benutzerverhalten von entscheidendem Einfluss auf den Energieverbrauch ist, muss die Planung just da ansetzen, sonst nützen auch die schönsten Massnahmen wenig. Wer den Anspruch erhebt, der Umwelt und ihren Ressourcen angepasst zu bauen, darf eben nicht auf in sich geschlossenen, höchst komplizierten technischen Systemen bestehen, zu deren Regulierung es eines ingenieurtechnischen Hochschulabschlusses bedarf. E. F. Schumachers Axiom «Small is beautiful» bietet eine Art Richtschnur - weniger im ideologischen Sinne als vielmehr in seiner Tendenz, dass nicht Grosstechnologien, sondern für den Einzelnen handhabbare Systeme zu kultivieren wären.


Vernetzte Zusammenhänge

Wenn es ein Grundprinzip der Nachhaltigkeit ist, in vernetzten Zusammenhängen zu denken, dann reichen diese Zusammenhänge, bildlich gesprochen, über die Grenzen des Grünstreifens hinaus und umfassen nahezu alle Muster unserer sozialen, ökonomischen und politischen Wertbestimmung. So wird, über kurz oder lang, auch das nachhaltige Bauen nicht länger als unverbindliche Lebensstil-Option mit privatem Weltanschauungszusatz misszuverstehen sein. Es geht um die Vernunft und Sinnhaftigkeit des Gebäudes in sich und in seiner Einpassung in Raum und Zeit, aber auch um die Prozesse der Rückkopplung zwischen Technik und Bewohner, um die Gesetze des Haushaltens, um Verständlichkeit, Einsicht, Nachvollziehbarkeit, Urteilskraft, Verhalten und Gebrauch. Um nicht mehr, aber auch nicht um weniger.

13. Februar 2003 Neue Zürcher Zeitung

Imperial und monumental

Neu-Delhi als Werk des Architekten Edwin Lutyens

Wenn ein Vordenker der architektonischen Moderne ein Spätwerk des Historismus lobt, so ist das aller Aufmerksamkeit wert: Kein Geringerer als Le Corbusier urteilte über Neu-Delhi, dass diese Stadt von Edwin Lutyens mit ausserordentlicher Sorgfalt, grossem Talent und wirklichem Erfolg geschaffen worden sei. Gleichwohl hat die Neugründung in den Lehrbüchern und Kompendien der jüngeren Architekturgeschichte höchstens am Rand Beachtung gefunden. Dieses Defizit versucht nun Andreas Volwahsen mit einer materialreichen Studie auszugleichen.

Von König George V. dazu auserkoren, Kalkutta als Hauptstadt Britisch-Indiens zu ersetzen, wurde Neu-Delhi zwischen 1912 und 1931 konzipiert und gebaut. Die Leitvorstellungen für die Kapitale des Raj waren insbesondere von drei Vorbildern geprägt: Baron Haussmanns Umbau von Paris, Christopher Wrens Plan für London 1666 und Pierre Charles L'Enfants Entwurf für Washington. Die Stadtanlage von Neu-Delhi besteht aus einem orthogonalen und einem hexagonalen System von breiten Boulevards, mit den wichtigsten Gebäuden an den Schnittpunkten. Ihr Zentrum ist durch das Haus des Vizekönigs markiert. Mit diesem Bauwerk wandte sich Lutyens vom neogeorgianischen und palladianischen Stil ab und einer wahrhaft römischen Dimension zu, bezog zugleich aber Reminiszenzen aus der architektonischen Vergangenheit Indiens behutsam mit ein. Vom Haus des Vizekönigs - flankiert von den sogenannten Sekretariaten, die Herbert Baker, Lutyens grosser Gegenspieler, mit gewaltigen Säulenportiken ausstattete - führt die zentrale Achse über die Jaipur-Column bis hin zum All India War Memorial Arch, der heute Gate of India genannt wird. Etwas exzentrisch dazu wurde das gewaltige Rund des Legislative Building placiert. Dieses Kreismotiv schliesslich findet am Connaught Place, der als neues Geschäftszentrum neben der historischen Altstadt und dem repräsentativen Regierungsbezirk einen dritten Pol bildet, im Entwurf von Robert Tor Russell eine plausible Wiederholung.

Axialität, Symmetrie und schiere Grösse sind kennzeichnend für diesen Plan, gelten indes nur für die Regierungsbauten und die kolossale Achse des Empire. Alle anderen städtischen Funktionen wurden zweckmässig und unprätentiös um diese Symbole arrangiert, wobei gerade der dem Pragmatismus geschuldete Massstabsprung die stadträumliche Wirkung noch erhöht. Dispersion und Weitläufigkeit, die Bedeutung von Parks, Grün- und Freiflächen: Sie verweisen auf eine weitere Tradition, und zwar eine mit reformatorischem Inhalt. Denn Lutyens war als Architekt mit Raymond Unwin in der Hampstead Garden City tätig gewesen und mit den Idealen Ebenezer Howards vertraut. Hier, in fremder Umgebung und bisher ungeahnter Grössenordnung, schuf er - einerseits dem klassischen Kanon der europäischen Baugeschichte verpflichtet, andererseits die Mogul- Stadt Fatehpur Sikri wenn nicht als einzige, so doch als zentrale indigene Architektur Indiens anerkennend - etwas Neues: ein Gesamtkunstwerk, amalgamiert aus unterschiedlichen Vorbildern, eklektisch und monumental, aber doch eine Eigenständigkeit und Alltagstauglichkeit erreichend, die nachgerade erstaunt.

Von Volwahsen werden ausführlich vorgestellt: die Protagonisten; der Entscheidungsprozess; die Tragweite der städtebaulichen Aufgabe; die wichtigsten Einzelbauten von Lutyens, Baker und Russell in Skizzen, Grundrissen, Aquarellen, Fotos; der diesen Bauwerken zugrunde liegende Symbolismus; und schliesslich die Einordnung des Unternehmens in einen breiteren kulturgeschichtlichen Kontext. Herausgekommen ist ein Buch, dessen opulente Ausstattung, stimmiger Aufbau, profunde Quellenlage und flüssiger Stil es zu einem Gewinn in der Historiographie des Städtebaus machen.


[ Andreas Volwahsen: Imperial Delhi. The British Capital of the Indian Empire. Englisch. Prestel-Verlag, München 2002. 304 S., 310 Abb., Fr. 125.-. ]

11. April 2002 Neue Zürcher Zeitung

Wirkungsmächtige Bilder

Die „europäische Stadt“ - ein Auslaufmodell?

Beim Stichwort «europäische Stadt» stellen wir uns in der Regel historisch gewachsene, klar voneinander abgegrenzte Zentren vor, für die der öffentliche Raum - Strasse, Platz und Park - prägend ist. Mit der Wirklichkeit hat das mittlerweile nur mehr wenig zu tun. Das heutige Siedlungsmuster in Europa könne man am besten nachts von einem Flugzeug aus erkennen, befand unlängst Peter Wilson. Was man sähe, sei «ein beinahe flächendeckendes Netz von Transportrouten, von verstreuten Industrie-, Wohn- und Freizeitfeldern. Die historische Stadt ist hier nur noch einer von vielen Knotenpunkten. Innen und Aussen gibt es nicht länger, nur örtliche Schnittflächen zwischen unterschiedlich beschaffenen Texturen. Die einstmals alles umfliessende Natur ist nun selbst umschlossen. Nunmehr sind es Landwirtschaft und Parks, welche die Mauern benötigen, die früher die Städte umgeben haben.»

Was hat angesichts dieser Tatsachen unsere Stadt(bau)kultur noch zu bieten? Mit dieser Frage setzt sich eine ebenso konzise wie streitbare Aufsatzsammlung auseinander, die auf eine prominent besetzte Expertentagung zurückgeht. Obgleich das Thema nicht ganz neu ist, wartet das Buch mit erhellenden Einsichten auf. Beispielsweise zeigt Wolfgang Christ, dass die Stadt europäischen Typs und die analoge Uhr gemeinsame Strukturmerkmale besitzen. Beide «vermitteln Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen Blick. Die traditionelle Uhr entwickelt die Zeit aus dem Verhältnis von Zwischenräumen, die die Zeiger hervorrufen. Die digitale Uhr symbolisiert eine andere Welt. Es ist eine Zeit ohne Zwischenräume und ohne lebensweltliche Referenz.»

Karl Schlögel verteidigt erwartungsgemäss die spezifische Identität der europäischen Stadt als eine «einzigartige zivilisatorische Entwicklung», deren Ergebnis durch alle Metamorphosen und Brüche hindurch heute noch sichtbar ist; selbst nach den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts sei sie «irgendwie und wunderbarerweise wieder auf die Beine gekommen». Andere Autoren erteilen indes jedweder Idealisierung eine Absage: So präpariert der Ethnologe Wolfgang Kaschuba einen ambivalenten Doppelcharakter heraus: Gehörten doch die Ungleichheit sozialer Status- und Rechtspositionen, die Ausgrenzung von beruflichen, ethnischen oder religiösen Gruppen, die Bevormundung der «unterbürgerlichen» Gruppen oder die strikte ökonomische Verregelung vom Marktrecht bis zur Gewerbeordnung zur städtischen Tradition. Insofern lasse sich die europäische Stadt als eine Form der Zivilgesellschaft lesen, die immer noch eine gewisse Exklusivität für sich beanspruche. Wie weit es damit noch her ist, fragt Walter Siebel und erlaubt sich den Hinweis, dass «der Prozess der Einhausung und damit der Privatisierung heute über den engen Bezirk der Wohnung und des Betriebes hinausgreift und immer weitere noch im öffentlichen Raum verbliebene Funktionen erfasst». Womit nicht nur die Differenz von Öffentlichkeit und Privatheit erodiere, sondern das Idealbild der Stadt schlechthin.

Um die Dimension der Veränderung zu illustrieren, bemüht Marco Venturi (Venedig) die Metapher vom Ei: «Bis zum Ende des Ancien Régime glich die Stadt einem gekochten Ei, wobei die Stadtmauern wie eine Eierschale eine äusserst dichte Mischung öffentlicher Gebäude, Handels- und Wohnhäuser umschlossen; bis zum Zweiten Weltkrieg war sie eher ein Spiegelei, wobei das Eigelb der alten Stadt vom Eiweiss der neuen, für das Industriezeitalter typischen Bezirke umgeben war, und über die letzten fünfzig Jahre hinweg haben wir uns hin zum Rührei bewegt - und die Stadtforschung bewegt sich mit Versuchen zur Anwendung der Theorie des Fraktalen, um Lage und Form der einzelnen Klumpen zu errechnen.» Dass man diesen Prozess aufhalten sollte, scheint Konsens zu sein in der Fachgemeinde. Unklar aber ist bis heute, wie man dies leisten kann - und ob dieser Versuch nicht womöglich in die falsche Richtung führt. Die Halbwertszeit der siedlungsstrukturellen Entwicklung offenbart den Funktions- und Bedeutungswandel Stadt im 21. Jahrhundert insgesamt: Sie folgt weder dynamischen noch normativen Gesetzen. Eine Stadtplanung, die darauf wirklich einzugehen gewillt ist, hat indes einen schwierigen Part, fordert sie doch von Bürgern, Architekten und Politikern ein neues Bewusstsein für den Bestand, nachhaltiges und ressourcenschonendes Bauen, mehr Denkmalschutz, weniger Prosperität - und wahrscheinlich auch: mehr Chaos. Wenn man die europäische Stadt, wie der Soziologe Bernd Hamm, als lokale Utopie in globaler Solidarität betrachtet, dann hat sie in der Tat eine Zukunftsperspektive. Die sie allerdings auch braucht.


[Auslaufmodell europäische Stadt? Neue Herausforderungen und Fragestellungen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Hrsg. Werner Rietdorf, Verlag für Wissenschaft und Forschung. Berlin 2001. 230 S., Euro 14.-.]

7. Dezember 2001 Neue Zürcher Zeitung

Weg vom Volksschullehrer-Modernismus

In den Niederlanden boomt die Architektur

Rechenschaft darüber abzulegen, was ein Architekt heute noch bewirken kann, in einer Welt, die von Desintegration, Unordnung, Massstabsvergrösserung, Flüchtigkeit und neuen Kommunikationsmitteln bestimmt wird, das ist eineTugend, über die nicht allzu viele Baumeister verfügen. In den Niederlanden indes hat dergleichen Konjunktur, wenn man Bart Lootsma Glauben schenken darf. Unter der Überschrift «Super Dutch» stellt der renommierte Kritiker ein Dutzend impulsgebender Büros vor, die seiner Meinung nach repräsentativ für ein neues Verständnis sind.

Seit zehn Jahren blüht in den Niederlanden eine Architektur, deren offenes Raumkonzept nach wie vor der Moderne verpflichtet ist, die jedoch eine reiche Bandbreite an Formen, Farben, Texturen und Materialien vor Augen führt. Der grafischen Abstraktion der Architektur von Wiel Arets stehen die komplexen, an den Tastsinn appellierenden Werke Ben van Berkels gegenüber. Adriaan Geuze vom Büro West 8 laboriertmit einer «funktionalistischen» Landschaftsarchitektur (Schouwburgplein in Rotterdam), währendMecanoo (etwa bei der Fakultät für Volkswirtschaft und Management in Utrecht) mit raffinierten Typologien arbeitet und eine starke Betonung auf die Gestaltung des öffentlichen Raums setzt. Das Atelier van Lieshout schliesslich lancierte Pläne, eine autarke Kommune namens AVL-Ville zu gründen inklusive Werkstätten für die Produktion von Waffen und Alkoholika - ein Vorschlagstark polemischen Charakters, eher darauf bedacht, eine Diskussion zu provozieren, als eine reale Umsetzung zu erfahren.

Das Vorgehen des Atelier van Lieshout ist bezeichnend für ein gesellschaftliches Klima, in dem neue Konzepte gedeihen können. Allerorts ist eine unbeschwerte «Just do it»-Mentalität spürbar, die sich - weitgehend frei von Moralismusund Ideologie - in den Dienst der Modernisierung stellt und mit Phantasie und Tatkraft aufeine Aufgabe stürzt. Mehrheitlich abgelehnt werden Bauformen, die sich allein auf die Ästhetik und das sinnliche Detail richten. Für die jungen Architekten heute beginnt jeder Auftrag deshalb mit einem buchstäblichen Kartieren aller denkbaren internen und externen Kräfte, die eventuelleinen wichtigen Einfluss auf das Zustandekommen eines Projektes haben könnten. Das macht selbst vermeintlich abgehobene Planungsansätze realitätstauglich. Kein Wunder also, wenn die niederländische Baukunst der neunziger Jahre in der Regel konzeptueller, minimalistischer, reduzierter oder auch «trockener» ausfällt als die des internationalen Mainstreams. - Dass sich die jüngere niederländische Architektur insgesamt einer durchschlagenden Wirkung erfreut, lässt sich indes auch auf das flankierende publizistischeLeuchtfeuer zurückführen, mit dem selbst die jungen Holländer sich und ihre Ideen höchst professionell vermarkten. Das Beispiel Rem Koolhaashat Schule gemacht: Mit provozierenden Vorträgen, fulminanten Buchprojekten, Gastprofessuren an internationalen Eliteschmieden und durch die Entwicklung von Theorien tritt man bewusst und medienwirksam in Erscheinung, will man sich selbst zum Markenartikel machen. In gewisser Weise knüpft das vorliegende Buch daran an: mit klarem theoretischen Impetus, attraktiver Gestaltung und alles andere als langatmig. Und es setzt Massstäbe für die weitere Rezeption.


[Bart Lootsma: Super Dutch. Neue niederländische Architektur. DVA, Stuttgart 2001. 264 S., 300 Abb., Fr. 98.-.]

7. September 2001 Neue Zürcher Zeitung

Beispielhafte urbane Qualitäten

Die Renaissance des niederländischen Reihenhauses

Das Reihenhaus schreibt in Holland Erfolgsgeschichte. Gerade die rigide technische Standardisierung scheint formale Experimente und ästhetische Vielfalt zu ermöglichen. Dabei geht es sowohl um die Typologie des Hauses, die veränderten Rahmenbedingungen des Wohnens als auch um die Beziehung zwischen Gebäude und Stadt.

Der Kulturkritiker Wend Fischer hat einmal mit Blick auf die Wohnarchitektur empfohlen, «dass die Brauchbarkeit das Kriterium der Qualität ist. Diese Wahrheit konzentriert die Dinge und Bauten auf den Menschen, der sie braucht; der Mensch ist der Sinn ihrer Zweckbestimmung, hierin beruht ihre selbstverständliche Humanität.» Ganz in diesem Sinne hat die niederländische Nachkriegsarchitektur eine reichhaltige Tradition an Bauten hervorgebracht, die weniger fertige Lösungen anbieten als vielmehr den Rahmen vorgeben, der von den Nutzern erst noch auszufüllen ist - davon ausgehend, dass eine prägnante Formgebung nicht notwendigerweise einengen muss, sondern im Gegenteil wichtige Impulse für das Geschehen im Raum geben kann.


Mode und Geschmack

Wenn das Reihenhaus für die Architektur ein eher profanes und sprödes Thema darstellt, so ist es schon überraschend, mit welcher Inbrunst es in den Niederlanden kultiviert wird. Hier hat die Individualisierung unter dem Stichwort der Erlebnisgesellschaft längst auch einen so sehr von Standardisierung und Serienfertigung bestimmten Bereich wie die Reihenhausproduktion erfasst. Sie begründet eine Suche nach spielerischen, eleganten und vor allem sinnlichen Lösungen, die gleichzeitig realistisch umsetzbar und unverkrampft «schön» sind. «Ich will, dass die Architektur modisch ist. Einige Architekten sind so naiv, zu behaupten, dass Architektur nichts mit Mode zu tun habe. Das ist Unsinn.» Erick van Egeraats offensives Bekenntnis zur Mode geht einher mit der Akzeptanz des Geschmacks des Konsumenten, so dass für ihn der Vergleich des Bauens mit anderen Dienstleistungen - etwa dem Kochen - nichts Unrühmliches ist. Es scheint, als stünde er damit nicht allein.

In Holland lässt man sich auf die reale Vielfalt, Ungewissheit und Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung bereitwilliger ein als andernorts. Als Reaktion auf die tiefe Krise der modernen Wohlfahrtsgesellschaft haben sich die Niederlande seit Ende der achtziger Jahre einer tiefgreifenden Liberalisierung und Modernisierung unterzogen: Zu verzeichnen ist der Umschwung vom staatsnahen Wohnungsbau zum freien Markt; vom moralisierenden Sozialdesign zur Freude am formalen Spiel, von einer sich als gebaute Moral verstehenden Architektur zu einer, die eher «die Corporate Identity einer aufgeklärten sozialen Demokratie» zur Verfügung stellen will. Der Markt, so die Vorstellung, die hinter der neuen Wohnungsbaupolitik steht, orientiert sich zwangsläufig an den Bedürfnissen und am Geschmack der Endverbraucher, in diesem Fall der Wohnungskäufer.

Dieser Geschmack ist gar nicht so schlecht. Offensichtlich wollen die Kunden, anders als es uns Zyniker weismachen, nicht in Walmdachidyllen mit Erkerexzessen wohnen, jedenfalls in den Niederlanden nicht. Das Reihenhaus nimmt in diesem Kontext eine zentrale Rolle ein: Es steht für stadtnahes Wohnen ohne Nachbarschaftszwang und ist alltagstauglich für eine Gesellschaft im Aufbruch. Relativ niedrige Baulandpreise - meist zwischen 80 und 130 Franken pro Quadratmeter - werden durch zentrale Steuerung sichergestellt. Rationelle Planung und Standardisierung, eine Bauorganisation und der Bauteam-Gedanke sind die Hintergründe für die verhältnismässig preiswerten Ergebnisse. Gleichwohl ist es frappant, wie sich Frische und Unverkrampftheit mit völliger Erinnerungslosigkeit mischen, die Widersprüchlichkeit von kommerziellem Produkt und heimatstiftender Aneignung im Konsum.

Lange durchlaufende Linien, weit auskragende horizontale Platten und Dachgesimse, kubisch betonte, regelmässig wiederholte Vor- und Rücksprünge, der Einsatz unterschiedlicher Fassadenebenen, die zusammen eine streng orthogonale, kubische Komposition formen - so etwa könnte eine formale Charakterisierung der Reihenhaussiedlungen der letzten Jahre lauten. Dabei werden die gewohnten Additionsregeln häufig in Frage gestellt - bis hin zu Überlegungen, wie man aus dem engem Korsett der trennenden Schotten ausbrechen könnte, ohne die Abgeschlossenheit der einzelnen Einheiten aufzugeben. - So einfach wie wirkungsvoll scheinen diesbezüglich etwa die Vorschläge von Neutelings & Riedijk für IJsselstein: Durch die Drehung der Häuser um 90 Grad - mithin bei extrem breiten, aber nicht sehr tiefen Grundrissen - werden die Innenräume ungleich heller und offener. Die grosse Breite wird durch die Back-to-Back-Anordnung kompensiert, wobei für die fehlende Rückfassade eine mehr als zehn Meter breite Vorderfront entschädigt. Ein weiteres Beispiel ist das Kasbah-artige Labyrinth von MVRDV in ihrem Siedlungsentwurf für den Hoornse Kwadrant: Die einzelnen Einheiten verschränken sich räumlich komplex in- und übereinander, ohne dass der Bezug zur Strasse oder die Abgeschlossenheit des einzelnen Hauses aufgehoben würde. Die innere Organisation aufs Äusserste flexibilisiert hat Teun Koolhaas bei seinen Reihenhäusern in Almere: Durch die Verlagerung der Treppe an die Fassade sowie eine kompakte innere Servicezone in jedem Geschoss können die gewohnten Nutzungen fast überall im Haus untergebracht werden; selbst eine Teilung in zwei Einheiten ist möglich.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass das Klein-in-Klein der achtziger Jahre als gebaute Intimität einer Ästhetik weicht, die durch äusserste Neutralität geprägt ist. Unklare Übergänge, halbprivate Bereiche werden häufig zugunsten neutraler, wenn nicht gar unpersönlicher Räume vermieden. Und mitunter wird der Bruch von abgeschirmter intimer Privatheit und kompromissloser Öffentlichkeit direkt in gebaute Form umgesetzt, etwa von de Architecten Cie. in Almere.


Architektur als Ereignis

Das Reihenhaus als Schnittpunkt von serieller Produktion und individueller Erscheinungsform ist gleichermassen professionell entwickeltes Produkt wie Heimat für einen Lebensabschnitt; seine Bewohner sind im heutigen Holland nicht mehr «Häuslebauer», die ein Leben lang an ihrem Traum arbeiten, sondern erlebnishungrige Konsumenten, die bei biographischen Veränderungen den Wechsel in eine neue Umgebung nicht scheuen. Dass durch eine missverstandene Individualität die geistlosesten Gebäudehaufen entstehen, ist in nahezu jedem Wohngebiet zu studieren. Identität wird dadurch kaum gestiftet. Anders bei den angeblich monoton wirkenden Wohnkomplexen in den Niederlanden. Jenseits moderner Utopien vom beglückenden Effekt einer «einzig richtigen» Architektur entstanden dort in den letzten zehn Jahren erfrischende Ensembles, in denen «Architektur als Ereignis» erlebbar ist.

Doch auch in der städtebaulichen Perspektive wird die innere Logik der niederländischen Entwicklung deutlich: das Denken in einfachen und prägnanten Bildern, ein In-Szene-Setzen von eindeutigen Stimmungen - allerdings ohne Berücksichtigung der ganzen Komplexität und Tiefe der Wirklichkeit. Das funktional Aufgegebene eines grösseren Ganzen, vordem in Begriffe wie Nachbarschaft, Siedlung oder Gemeinschaft gefasst, wird lediglich noch ästhetisch vermittelt. Die Architekten schöpfen Formen und Motive aus dem Reservoir der Moderne, ohne deren sozial-revolutionäre Hintergründe mit aufzuwirbeln. Gleichwohl, und seinen inhärenten städtebaulichen und siedlungsräumlichen Defiziten zum Trotz, hat der jüngste holländische Reihenhausbau beispielhafte urbane Qualitäten geschaffen.

7. Juli 2000 Neue Zürcher Zeitung

Urban Reality

Glanz und Elend in den Metropolen der Dritten Welt

Urbanisten und Architekten haben die Metropolen der Schwellen- und Entwicklungsländer entdeckt. Nachdem Rem Koolhaas das Lob der rasant wachsenden Megastädte auf der letzten Documenta gesungen hat, beschäftigt sich nun die Architekturbiennale von Venedig mit deren Glanz und Elend; und auch auf der vom 4. bis zum 6. Juli in Berlin durchgeführten Weltkonferenz «Urban 21» spielte dieses brisante Thema eine wichtige Rolle.

Die Riesenstädte der Dritten Welt - von internationalen Experten und einheimischen Eliten lange als «entwicklungshemmend» oder gar als «parasitär» abqualifiziert - scheinen allen Kassandrarufen zum Trotz zu überleben, denn: «in der Stadt hungert es sich besser». Ein gigantischer, weitgehend unkontrollierter Wachstumsprozess vollzieht sich seit Jahrzehnten in Bombay und Lagos, in Jakarta und Kairo, in Mexiko, Kalkutta oder Lima. Der Hintergrund scheint so banal wie unabänderlich: Einseitige Industrieförderung führt zur Vernachlässigung der Landwirtschaft. Die schlechten Erwerbschancen im Agrarsektor treiben die verarmte Bevölkerung in die Ballungszentren. Andererseits wirken die Metropolen wegen ihres grösseren öffentlichen Dienstleistungsangebots anziehend. Hier konzentrieren sich die Schulen und Universitäten, hier ist die medizinische Versorgung besser. Hinzu kommt die Hoffnung vieler Schulabgänger, einen «White collar»-Job zu finden, der ihrem Qualifikationsstand angemessen scheint.


Sogwirkungen

Metropolen werden heute weniger als Orte denn vielmehr als verdinglichte Erwartungshaltungen verstanden. Es sind wahre Massen, die in diese Riesenstädte strömen, um ihre Zukunft zu sichern: Arbeitssuchende, vom Land «vertriebene» Migranten, die sich im Zuge der - eher wirtschaftlichen denn gesellschaftlichen - Modernisierung in der Stadt eine neue, bessere Lebensgrundlage erhoffen. Zusammen mit hohen Geburtenraten kann dies zu einer explosiven Situation führen. Kein Platz, kein Job, kein Geld - was tun? Als Konsequenz versorgen sich die ärmsten Bevölkerungsgruppen zum Teil auf informelle, ja illegale Weise mit Obdach.

Wo immer sich ein kleines Fleckchen findet, schlagen die Zuwanderer ihr Quartier auf: zwischen den Sandhaufen vor einer Grossbaustelle, wo schon wieder ein neuer Wolkenkratzer entsteht, auf der Müllkippe am Stadtrand, in den wackeligen Treppenhäusern einer überbelegten Mietskaserne, an den Bahngleisen oder gleich auf dem Gehsteig.

Im grössten Elendsviertel Manilas, dem Tondo Foreshoreland, lebten schon vor 25 Jahren über 200 000 Menschen auf einer Fläche von 147 Hektaren unter unglaublichen Bedingungen. In Bombay sind die Quartiere aus Wellblech und Pappe zu riesigen Kolonien zusammengewachsen. Sechs, acht Menschen hausen in einem winzigen Raum, der meist von einem «Slumlord» zu Wuchermieten verpachtet wird, fast immer ohne Wasser und ohne Latrinen. Wenn es regnet, verwandeln sich die schmalen Gänge zwischen den Hütten in Morast, der den Menschen bis zu den Knien steht.


Zeichen für den Neubeginn

Gecekondu oder Favela, Barriada oder Bidonville werden solche Siedlungen genannt. Gross sind die Unterschiede zwischen ihnen nicht. Für den Zuwanderer sind sie einerseits Endpunkt der Landflucht, andererseits Symbol der Hoffnung auf ein besseres Einkommen, ein leichteres Leben und mehr Zukunft. Der Platz dieser ersten Bleibe, mit dem der Anspruch auf die Teilhabe am Reichtum der Stadt markiert wird, ist oft so provisorisch wie die Hütte selbst: Irgendein bisher ungenutztes Stück Land wird besetzt, das natürlich möglichst nah am städtischen Treiben liegen soll - und damit sowohl an Arbeitsgelegenheiten wie an der städtischen Infrastruktur von Wasser, Strom und Kanalisation. Den Arrivierten sind sie als Zeichen der noch nicht vollzogenen «Entwicklung» ein Dorn im Auge. Nur wenn Wahlen anstehen, verspricht man illegalen Siedlern schon mal einen Rechtstitel und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Kommt es hart auf hart, dann wird kurzerhand geräumt. Ein Teufelskreis!

Es dauerte geraume Zeit, bis die Vereinten Nationen sich dieses seit langem schwelenden Problems annahmen und 1976 in Vancouver zur ersten Weltsiedlungskonferenz «Habitat» einluden. Doch greifbare Verbesserungen waren kaum zu vermelden. Nur zu gern beschränkte man sich in den betroffenen Ländern darauf, mit den Slums gleich auch mögliche Unruheherde zu beseitigen, oder man bevorzugte eine sichtbare, d. h. repräsentative Modernisierung der Stadt. Immerhin bewirkte die Konferenz mittelbar einen Bewusstseinswandel: Bestand zuvor die gängige Einstellung darin, «Slum clearence» zu betreiben (was auf gewaltsame Beseitigung von Slums oder Squattersiedlungen und die rücksichtslose Vertreibung ihrer Bewohner hinauslief), so reichte das Spektrum der Entscheidungen nun vom Tolerieren illegaler Siedlungen bis hin zu Programmen, die sich an der realen Kaufkraft der Zielgruppe orientieren, etwa «Sites-and-Services-Projekten» oder «Upgrading-Projekten». Ohne grossen Erfolg allerdings - was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die Standards von Planern stammten, die bestimmte Vorstellungen von «menschenwürdigem» Wohnen mitbrachten.

Ohnehin ist den Bewohnern durch Wohnbaumassnahmen allein nicht geholfen. Damit werden nur Symptome, nicht die Ursachen des Problems angegangen. Die Hoffnung, dass ein Mehr an Wohnungen das Elend überwinden hilft, ist trügerisch. Notwendig sind gleichzeitig beschäftigungswirksame Massnahmen. Spätestens hier hapert es. Einzig die «Schattenwirtschaft» - Ausbeutungsmaschinerie und Hoffnungsschimmer in einem - wirkt als transitorische Grauzone zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit und ist weiterhin (allen Vorbehalten zum Trotz) die Überlebensnische schlechthin. - Es hat sich seit «Habitat» wenig, zu wenig geändert. Zu vielfältig und ineinander verstrickt sind Ursachen, Wirkungen und Abhängigkeiten. Zu hoffen aber ist, dass die nach «mehr Ethik» verlangende Architekturbiennale von Venedig und die Weltkonferenz «Urban 21», die vom 4. bis zum 6. Juli in Berlin stattgefunden hat, sich nicht in wohlfeilen Plädoyers erschöpfen werden, sondern die Teilnehmer zum Agieren zwingen. In kleinen Schritten, aber auf allen Ebenen. Denn Wohnen ist ein Grundbedürfnis des Menschen und verlangt nach seinem Recht. Nicht nur im Villenquartier.

14. Juni 2000 Neue Zürcher Zeitung

Die Weltidee des Ungebauten

Cees Nooteboom und die Architektur

Ein beispielhaftes Unterfangen: Man nehme einen Schriftsteller mit Affinität zur Baukunst und bitte ihn, aus einem Konvolut nicht realisierter Entwürfe eine Art architektonischer Weltidee zu formen. So geschehen nun durch Cees Nooteboom, der die niederländische Architekturgeschichte der letzten 150 Jahre auf eigenwillig- suggestive Weise Revue passieren lässt. Nootebooms «Nie gebaute Niederlande» will zeigen, dass diese Region ganz anders hätte aussehen können. So banal diese Botschaft klingen mag, so faszinierend ist sie bei näherem Hinsehen. Denn das Buch manifestiert zugleich auch, wie dieses Land einst ausgesehen hat. Selten sei, wie Nooteboom zur Begründung dieses Paradoxes anführt, «Wünschen, Sehnsüchten, Ideen und Träumen so klar und übergenau Ausdruck verliehen worden wie in der nicht gebauten Architektur».

Offeriert wird von Nooteboom eine Art apokrypher Historie: So blieb beispielsweise das Neue Museum in Amsterdam von L. H. Eberson deshalb ungebaut, weil es nicht einem «niederländischen» Stil, sondern der Formensprache von Louis XVI verpflichtet war. Nootebooms Beispiele reichen von W. C. Bauers Wettbewerbsentwürfen, in denen byzantinische und islamische Architekturelemente aufscheinen, über das Allgemeine Bibliotheksgebäude von K. P. C. de Bazel (1895) bis hin zu Berlages Projekt eines Beethovenhauses in Bloemendaal (1908). Dass auch unrealisierte Bauten den Beschauer manipulieren können, offenbaren zu Beginn der zwanziger Jahre die expressiven Wolkenkratzergebilde eines J. C. van Epen sowie die an die Revolutionsarchitektur eines Ledoux und Boullée angenäherte Vision einer Lichtstadt von H. P. J. London.

Spätestens hier erreicht der Spannungsbogen den Nährboden der klassischen Moderne: J. J. P. van Oud konzipierte 1919 in Purmerend eine Fabrik mit Büros und Magazinen, die das, was Mondrian im Zweidimensionalen realisiert hat, in den Raum zu übersetzen trachtete. Rietvelds «Kernwohnungen» (1940) gehorchten der Not und Van den Broeks und Bakemas Pampusplan für Amsterdam (1964/65) dem Geist der Zeit. Die Parlamentserweiterung von OMA (Rem Koolhaas mit Zaha Hadid, 1977) und das Einkaufszentrum Z-Mall in Leidschenveen (1997) von MVRDV mit der einer Ziehharmonika ähnelnden Baustruktur runden die subjektive Palette an Papier gebliebener Architektur ab. Eine beredte und bildmächtige Geschichte im Konjunktiv - wenn all dies nicht ungebaut geblieben wäre, dann, so Nooteboom, würde es auf uns einwirken wie alles andere um uns herum. Umso verführerischer, all dies durch die Brille des Literaten zu erblicken. Denn «im nicht Gebauten sehen wir uns, wie wir nicht geworden sind».


[ Cees Nooteboom: Nie gebaute Niederlande. Deutsche Verlags-Anstalt, München 1999. 120 S., Fr. 46.-. ]

1. Oktober 1999 Neue Zürcher Zeitung

Punktuelle Ästhetik im allgemeinen Chaos

Riken Yamamoto und die Architekturstrategien in Japan

Zwei Welten scheinen in Japan nebeneinander zu bestehen: eine technologiebesessene auf der einen und eine traditionsbewusste auf der anderen Seite. Gerade für die Architektur ist von Bedeutung, dass selbst die radikalsten Künstler nicht ohne Wurzeln im kulturellen Humus auskommen. Das gilt auch für Riken Yamamoto, einen der Stars der Szene.

Im Tohuwabohu von Tokio scheinen zwölf Millionen Menschen um jeden Quadratzentimeter zu kämpfen. Nirgends sonst ist die Wirklichkeit so weit entfernt von den Visionen ambitionierter Städtebauer wie in dieser wüsten Collage aus Hütten und Wolkenkratzern, Hochstrassen und Freileitungen, in diesem Durcheinander von Farben und Formen, Lichtern und Reklamen, erschüttert von Verkehrsstössen und durchdrungen von dauerndem Lärm. Trotz - oder gerade wegen - einem solchen Befund stellt das Bauen in Nippon einen Kosmos dar, der den Besucher interessiert und provoziert, womöglich überwältigt.


Umkehrung des Städtebaus

Nikolaus Pevsner hat einmal gesagt, die japanische Architektur hätte ihre entscheidenden Anstösse Ende der fünfziger Jahre durch Le Corbusier erhalten. Diese Zeiten sind längst vorbei. Westliche Idole haben heute zumeist keinen grossen Stellenwert mehr. Umgekehrt feiert die internationale Fachwelt die Vertreter der japanischen Avantgarde als vehemente Reformer. Ihr Bahnbrecher, der zum vielbeschäftigten Star des internationalen Jetsets avancierte Arata Isozaki, wird als «Guerilla-Architekt» geführt. Er selbst bezeichnet seine Bauten gern als «perfekte Verbrechen» - wenngleich die US-Amerikaner sein Museum of Contemporary Art in Los Angeles als das genaue Gegenteil loben, als ein ideales, geradezu superbes Gehäuse für die Kunst.

In der - für unsere Augen - amorphen und inkonsistenten Struktur der japanischen Metropole haben die Architekten seit Ende der siebziger Jahre zunehmend erkannt, dass eine vermittelnde Beziehung zwischen Gebäude und Stadt schlichtweg nicht mehr existiert. Die Stadt habe kein plausibles Gefüge mehr, sei statt dessen Flickwerk geworden oder, um einen Ausdruck von Hajime Yatsuka zu gebrauchen, «organloser Körper». Eine introvertierte, defensive Baukultur ist die naheliegende Konsequenz. So zeugen die meisten Entwürfe von einer merkwürdigen Umkehrung des Städtebaus: Innerhalb selbständiger Gebäude werden paradoxe Stadtmodelle geschaffen. Der eine baut «bedeutungslose Maschinen, die dann neue Bedeutung in der Architektur annehmen» (Kazuo Shinohara), den zweiten verleitet «ideologische Unsicherheit» zu einer Formensprache, die kein Zentrum anerkennt (Kisho Kurokawa), der dritte beschwört den verfänglichen Symbolismus von Fragmenten, um «wie ein Gegenschock oder Sabotageakt in der Stadt zu wirken» (Shin Takamatsu), andere schliesslich bevorzugen die grossartige und theatralische Geste, teils von «bühnenhafter Leichtigkeit» (Fumihiko Maki, einst Gründungsmitglied der Metabolisten), teils als «Architektur ohne Ironie» (Isozaki). Und all das sind lediglich Facetten dessen, was zeitgenössische japanische Architekten erschaffen.

Obgleich noch nicht in der allerersten Reihe stehend, stellt Riken Yamamoto (über den im Birkhäuser-Verlag soeben eine Monographie erschienen ist) eine aussergewöhnliche Erscheinung dar. Mit seinem Werk, vor allem Wohn-, Schul- und Universitätsbauten, hat er sich eine eigenständige, fast zeitlose Position erarbeitet in der Heterogenität der japanischen Architektur. Das Bauen ist ihm künstlerisches Mittel, den gesellschaftlichen Veränderungen - wie der Auflösung der Basiseinheit Familie oder neuen Bildungsprogrammen - Rechnung zu tragen. Yamamoto glaubt erklärtermassen, dass die Schöpfung von Architektur gleichbedeutend sei mit dem Aufstellen von Hypothesen. Aber zugleich mahnt er Skepsis an, «wenn eine Hypothese sich anschickt, wie das Ziel auszusehen». Was auf den ersten Blick wirkt wie eine unscheinbare, betongraue Architektur, die scheinbar wahllos einer Gegend implantiert wird, die jedem Gedanken von der konsistenten Stadt spottet, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine so unprätentiöse wie sinnfällige Intervention. So reagieren seine Wohnhäuser Gazebo und Rotunda jeweils auf einen Strassenraum, welcher eine «vier Meter breite Intimität» abgeben musste an die verkehrliche Effizienz einer 25 Meter breiten Schnellstrasse, indem im 3. und 4. Obergeschoss eine Lebensform angeboten wird, die sowohl Rückzug in die Privatheit erlaubt als auch eine visuelle Nachbarschaftsbeziehung befördert.

Die Hotakubo-Siedlung versteht Yamamoto als Vorschlag für eine erweiterte Form des Zusammenlebens. Hier blitzt ein kollektivistisches Ideal auf, das die traditionelle Vorstellung von der Familie als (einzigem) Kern der Gesellschaft zu überwinden sucht. Ähnliches thematisiert auch die Universität des Bezirkes Saitama mit der introvertierten, hofhausartigen Patchwork-Struktur. Yamamotos Bauten sind, insgesamt, von einer seltsamen Ambiguität geprägt: Auf der einen Seite passen sie sich der Stadt an, auf der anderen stellen sie sich ihr entgegen. Dementsprechend verwischen sich auch die Grenzlinien zwischen rein kreativen und kritischen Prozessen. Wollten Baumeister wie Yamamoto zuvor die Regeln des architektonischen Schachspiels neu formulieren, so versuchen sie nun, sie zu brechen und das ganze Spiel in Frage zu stellen. Sie streben zumeist nicht nach einer Kontextbestimmung. Immer aber ist, zumindest implizit, die urbane Landschaft ein Thema. Jedoch nicht in dem Sinne wie bei den Nachfolgern der Metabolisten, die ihre Aufgabe in der Flucht vor dem städtebaulichen Chaos suchten, sondern im Aufspüren von Zwischenräumen, sprich: Nischen. Die Wiederentdeckung und Neuinterpretation der engen Beziehungen zwischen Umwelt und Architektur ist eine dieser Lücken, durch die die Architekten den heutigen urbanen und kulturellen Zwängen zu entkommen trachten.


Nischen und punktuelle Interventionen

Während die konventionelle Stadtplanung von einem wie auch immer gearteten Gesamtkonzept ausgeht, das die Rahmenbedingungen für die jeweilige Architektur definiert, basiert Yamamotos Projekt «Inter-Junction-City» auf einer gegenteiligen Annahme: Die individuellen Gebäude werden erstellt, bevor die Stadt entsteht. Insofern muss jedes Gebäude in sich die Essenz der Stadt beinhalten. Dies wiederum ist eine einzige einfache Regel: die Integration einer Fussgängerverbindung. Was hier bausteinartig entsteht, ist ein intellektuelles Vexierspiel, das auf lebensweltlichem Pragmatismus basiert: eine Art «Stadt», die durch einen labyrinthischen, Stück um Stück erweiterten Durchgang strukturiert wird, wobei niemand weiss, wie die ultimative Gestalt dieser Stadt später einmal aussehen wird.

Bei aller Eigenständigkeit reiht sich Yamamoto doch ein in das, was man als gemeinsame Grundlinie der Avantgarde bezeichnen könnte: Ihre Protagonisten protestieren, mit und anhand ihrer Bauten, gegen alles, was laut und hektisch ist im neuen Japan, was zu schäbig ist, zu oberflächlich und konsumorientiert, also gemein und menschenunwürdig aus ihrer Sicht. Gegen das Chaos, die Anarchie des Bodenmarktes, das zerstörerische Durcheinander in Japans Grossstädten setzen sie Zeichen der Besinnung, schaffen Räume von klösterlicher Abgeschiedenheit. Gegen die Aggressionen einer rücksichtslosen Umwelt kapseln sie sich mit den Häusern von ausgeprägt selbstbezogenem Charakter ab. Dabei beherrscht kein Dogma das Werk der jungen Avantgarde, nicht die rigide internationale Moderne, aber auch kein entleerter Traditionalismus. Vielmehr gilt ein unausgesprochener Pluralismus, und jeder folgt seiner eigenen Philosophie. Kein Stil, kein Kodex, nicht einmal ein Konsens - es sei denn derjenige, dass die Welt ziellos und die Stadt amorph und unerträglich geworden sei, worauf es qua Architektur zu reagieren gälte. Der Aufruf lautet implizit: Man möge nicht nach ewigen Antworten, nach einem (oder dem) Stil suchen, sondern die - von Fall zu Fall - richtige Lösung für eine spezifische Aufgabe. Auch die jüngsten Projekte Yamamotos, wie die Universität der Zukunft in Hakodate oder die Hiroshima-Nishi-Feuerwache, legen davon Zeugnis ab. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass von ihm noch einiges zu erwarten ist.


[ Literatur zum Thema: Wilhelm Klauser: Riken Yamamoto. Birkhäuser-Verlag, Basel 1999. 128 S., Fr. 68.-. ]

14. August 1999 Neue Zürcher Zeitung

Architektur als «einfache Idee»

Eine Monographie zu Louis I. Kahn

Die Reputation von Louis I. Kahn begründet sich darin, dass er eine Art architekturpraktischer Vorreiter war, indem er einen entleerten Funktionalismus überwand und «Form» wieder ins Bewusstsein rückte - nicht als Formalismus, sondern als Resultat des Wesens einer Bauaufgabe. Dem Amerikaner ist nun eine so knappe wie konzise Werkschau gewidmet. Klaus-Peter Gast konzipierte sie als eine Chronologie in drei Zeitabschnitten: dem Frühwerk (von der Ahavath Israel Synagoge, 1935, bis zur Adath Jeshurun Synagoge, 1954); dem Hauptwerk (vom Trenton Bathhouse, 1955, bis zum Kloster St. Andrew, 1966); und dem Spätwerk (von der Phillips Exeter Bibliothek, 1966, bis zum Yale Center for British Arts). Trotz - oder gerade wegen - einer zurückgenommenen Kommentierung und eher sparsamen Illustrierung gelingt es, einen Spannungsbogen an Bauten und Projekten aufzubauen und zugleich suggestiv in das Schaffen eines faszinierenden Architekten einzuführen. Der Begriff des «Monumentalen» ist bei Kahn positiv besetzt, im Sinne von Würde und Erhabenheit. Bauwerke wie der Parlamentskomplex in Dhaka (1962-83) oder das Kimbell Art Museum (Fort Worth, Texas, 1966-72) legen davon Zeugnis ab. Auf der Bühne seiner Figuration spielt das Ideal des Geschlossenen, das Besinnen auf das Wesentliche (einer Urform) eine Hauptrolle. Ein Beispiel hierfür stellt das Salk Institute (San Diego, 1959-67) dar. Wie Kahn in seinem Metier, so gelingt auch dem Autor hier die Interpretation eines kleinen Universums.

14. August 1999 Neue Zürcher Zeitung

Leerstelle Stadt?

Was hat man nicht alles versucht und sich ausgedacht, um die Entwicklung der Stadt massgerecht steuern zu können. Der Erfolg war mässig. Aber die Probleme haben, zumindest bei uns, noch nicht überhandgenommen. Unverdrossen scheint man daran festzuhalten, mit Architektur und Städtebau das «Sinnversprechen der Ganzheit» bildmächtig zu erneuern. Doch im Ergebnis wird mitunter das städtische Leben nur stillgestellt zum Marionettentanz der Konsumenten. Auf solche und andere Zusammenhänge hat der Publizist Christian Marquart sein Augenmerk gelegt und in einem schmalen Büchlein so inspirierend wie bissig zusammengefasst. Die Leitfiguren, die in den letzten Jahrzehnten die Stadtentwicklung (nicht nur) hierzulande geprägt haben, nimmt er sich in einem kurzweiligen Rundumschlag vor: Von der Partizipation zum Urban Entertainment, von den Zwängen der «Platte» zu den Wonnen der Ökologie, von den neuen Medien zur neuen Bahn mit ihrer Shopping-Kultur. Und die Botschaft? Dass Urbanität weder kunstvolle Geometrien noch «gewachsene» Stadtstrukturen benötige, das unprätentiöse Raster hingegen eine ausreichende Basis dafür biete, wird man mit dem Verweis auf New York gerne glauben. Dass Vorschläge und hybride Theorien von Architekten wie den Brüdern Krier, Archigram, Rem Koolhaas, Robert Venturi oder Aldo Rossi sich zumeist grösserer Popularität - und manchmal auch Durchschlagskraft - erfreuen als die skrupulös und komplex argumentierende urbanistische Fachdisziplin: das hat, man wenn nicht gewusst, so doch geahnt. Deren Reiz liegt «eben auch in der Methode der schrecklich schönen Vereinfachung, in der Konzentration auf Bilder und Graphiken, die schnell Symbolkraft erhalten können». Und Hand aufs Herz: Wer vermag es schon, sich dem zu entziehen?

[ Christian Marquart: Stadt-Konzepte. Planungstheorien zwischen Utopie und Sachzwang. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1999. 80 S., Fr. 27.50. ]