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6. Juli 2020 deutsche bauzeitung

Reizvolle Ruheinsel

Centre Kàlida Sant Pau in Barcelona

Auf den ersten Blick erscheint er als eine ornamentale Übung auf dem Gelände des Hospital de Sant Pau, einem zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Jugendstil-Komplex. Doch der Pavillon des ersten Maggie’s Centre auf dem Kontinent besticht durch die liebliche Präzision, mit der er sich in seine diffizile Umgebung fügt, und mehr noch durch seine hoch differenzierten Innenräume auf bescheidener Fläche.

Irritierend zunächst der Name: Kàlida, mit befremdlichem K, der das katalanische Wort für warm (càlid) evoziert und entfernt auch die calidad (Qualität) anklingen lässt – letztlich aber wohl gewählt wurde, um eine fürsorgliche, vielleicht sogar mütterliche Wärme auszudrücken und gleichzeitig offen für vielerlei Assoziationen zu sein. Aber hier geht es ja nicht um Sprachkritik.

Sant Pau und Maggie’s

Der Krankenhaus-Komplex Sant Pau umfasst neun Häuserblöcke des Cerdà-Rasters unweit der Sagrada Família. Die Avenida Gaudí verbindet beide Weltkulturerbe-Stätten. Doch während Gaudís Tempel immer frenetischer zur monumentalen Groteske ausgebaut wird, sind die fantastisch durchstilisierten Jugendstilgebäude seines Zeitgenossen Domènech i Montaner sorgsam renoviert worden, und 1999-2010 entstand am Nordostrand des Areals das neue Krankenhaus, entworfen von Bonell Gil + Rius, Canosa y Barberà. Der Vergleich mit der Berliner Charité ist naheliegend – flächenmäßig zumindest und was die diversen Bauabschnitte betrifft. Sant Pau ist zwar nicht das wichtigste Hospital Barcelonas, aber seine Gliederung – der zentrierten Bettenburg fundamental entgegengesetzt – bleibt doch eine Referenz.

Zwischen dem fingerförmig ausgreifenden Neubau, den unterirdisch miteinander verbundenen Preziosen von Domènech i Montaner und einigen weniger ansehnlichen Behelfsbauten blieb ein »terrain vague«, das der Gestaltung harrte. Der Pavillon von EMBT mit seinem Garten ist ein erstes Element, das auf diesem schmalen Streifen auf abschüssigem Gelände für eine liebliche Ordnung sorgt.

Er wurde nach den Prinzipien von »Maggie’s« gebaut. Der Name steht für ein Konzept, das die schottische Schriftstellerin und Landschaftsgestalterin ­Maggie Keswick Jencks erdacht hat: Krebspatienten eine Umgebung nahe der oft feindlich erscheinenden Krankenhäuser zu bieten, in der sie sich wohlfühlen, entspannen und (mit Psychologen z. B.) unterhalten können, stets von einem Garten umgeben. 1996, kurz nach Maggies Tod, wurde der erste Pavillon in Edinburgh eröffnet. Seither sind über 20 davon hinzugekommen, und die Liste der Entwerfer ist ein You-name-it der Weltarchitektur. Barcelona ist nach Hongkong und Tokio der erste Ableger außerhalb Großbritanniens, obwohl die Baufinanzierung wie der Betrieb hier durch lokale Stiftungen übernommen wurde. Daher auch der Name Kàlida (und nicht Maggie’s). Die Generosität vieler der beitragenden Firmen – zuvorderst der Architekten und der Innengestalterin Patricia Urquiola – verleiht dem Projekt eine umso größere Liebenswürdigkeit.

Benedetta und Patricia

Der Pavillon liegt zweigeschossig vor dem am schroffsten wirkenden Teil des Neubaus: der onkologischen Abteilung, die ins Parkhaus überleitet. Er hat zwei Eingänge: nordseitig von der Krebsabteilung aus erschlossen, von dieser aber entschieden durch eine gerundete Mauer getrennt; der andere über eine sich in den Garten hinunter kurvende Rampe zugänglich. Die Hanglage ­wurde genutzt, um diesen versenkten Garten zu schaffen: Das OG liegt auf der Höhe der noch ungestalteten unmittelbaren Umgebung; das EG und der Garten, darin eingebettet, einige Meter tiefer. 

Dieser in mehrerlei Hinsicht verborgene, wiewohl frei zugängliche Garten ist eine Delizie. Jasminblütiger Nachtschatten und Bougainvilleas ranken sich an den Pfeilern der rostroten stählernen Pergola empor und werden sie dereinst weitgehend überdecken, um dem Außenraum Schatten und eine noch intimere Stimmung zu verleihen. Ein Gingko, eine Trauerweide, ein Spitzahorn u. a., alle außer einem verknorpelten Ölbaum jetzt noch jung, setzen die Hauptzeichen der Bepflanzung. Nur das Lüftungsgebrumm vom neuen Krankenhaus her stört dieses Idyll ein wenig.

So wie der Garten und darin die Pergola, im Grundriss organisch, blütenartig erscheinen, wurde auch der Pavillon selbst fächerartig entworfen. Die Aufsicht aus dem höherliegenden Krankenhausneubau zeigt ein Dach, das in drei Grün- und Gelbtönen seinerseits Natur evoziert.

Es mag an eins der späten Projekte von Enric Miralles (1955-2000) erinnern, den Mercat de Santa Caterina: Dort ist die bunte Dachlandschaft zwar nur für einige Anwohner in voller Pracht sichtbar – dennoch gehört sie zu den Ikonen der jüngeren Architektur Barcelonas.

Nun hat Miralles’ Witwe Benedetta Tagliabue – mit ihr zusammen firmierte das Studio als EMBT, und sie leitet es unter demselben Namen erfolgreich weiter – fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod diese Ideen in kleinerem Maßstab aufgenommen und variiert. (Erstaunlich bleibt, wie die beiden Lebens- und Arbeitspartnerinnen des kometenhaften Architekten, Carme Pinós und die in Mailand geborene Benedetta Tagliabue, in ihren Karrieren Miralles’ Werk weiterzuentwickeln vermochten.) Kommt hinzu die spanische Innen­architektin Patricia Urquiola, die ihrerseits in Mailand arbeitet. Die Möblierung des Pavillons spielt mit der Architektur auf bemerkenswerte Weise zusammen. Es ist konstruierte Behaglichkeit, freundlich ausgestattetes Wohlbefinden, gemäß dem Auftrag – laut Benedetta Tagliabue einem der schönsten ihres Lebens.

Gebaute Wonne

Als Reminiszenz an die Pavillons von Domènech i Montaner präsentiert sich der Bau von außen in sorgfältig durchgestaltetem, teilweise emailliertem Ziegelstein. Einige Jugendstil-Ornamentationen der historischen Bauten, die gotisierend von abstrahiert floral bis hin zu figürlich reichen, wurden nachempfunden; das in Dreiecke geteilte Hexagon ist ein klassisches Motiv des ­katalanischen Modernisme, ebenso die Emaillierung und die vorkragenden Ziegel. Zugleich filtern Durchbrechungen spielerisch Licht ins Innere. (Man könnte bei dieser Backstein-Feingliederung auch an die Amsterdam-Schule denken.)

Die Dreiecke werden in der Horizontalen der Pergola in edelhölzerner Gestalt aufgenommen. Die schrägen Sprossen der Fensterrahmen im EG und die Brisesoleils vor den großen Fenstern im OG sind gestalterische Elemente, die erst im Innern ihre ganze Zauberkraft entfalten. Wie die ganze Fassade überhaupt ihren Charme vorwiegend aus dem Innern bezieht. Von außen kann sie zunächst ein wenig überkandidelt, fast absurd wirken. So nimmt man die südseits vorkragende Außenmauer zwar als willkommene Schattenspenderin wahr; der ästhetische Sinn der Doppelfassade ist jedoch erst vom geräumigen Bürotriangel im OG aus zu erkennen, wo sie zwar keine Außenblicke erlaubt, aber ein wirklich bezauberndes Licht schafft.

Unten öffnet sich der Eingang von der Neubauseite auf den doppelstöckigen Zentralraum mit seinem großen Tisch; darüber hängen Leuchten, deren Form nun fatalerweise an das Coronavirus erinnert. Interessanter sind die Nebenräume – denn im Grunde besteht der Bau nur aus teils offenen, teils durch Schiebetüren abgrenzbaren Kompartimenten, in denen man es sich auf Sitzgruppen – ihrer acht oder zehn, jede anders – bequem machen kann.

Die Architektin beschreibt Kàlida im Gespräch als ein »aus Fragmenten fabriziertes Gebäude« und nennt es »ein wenig surrealistisch: wo Träume in Wirklichkeit verwandelt werden und vice versa«. Bodenbeläge variieren (das Parkett ist ein Meisterwerk für sich), die Wände sind neutral hellgrau (bis auf die ungestrichenen vertikalen Streifen, die Benedetta durchsetzte, obwohl Patricia mit dem neutralen Grau ihre überreiche Möblierung konterkarierte), die Decken wiederum verspielt aus Katalanischen Gewölben (flache Ziegelgewölbe) gebildet.

Es gibt einen winzigen Raum, vor dem ein ebenso winziges Innengärtchen liegt: Man könnte sich in Japan wähnen. Laut einer Kàlida-Mitarbeiterin wird er jedoch selten aufgesucht; die Patienten ziehen die offenen Räume vor. Der leuchtendste davon liegt auf der Westseite im OG, mit seinen von EMBT entworfenen Leuchten. Patricia Urquiola hat das Haus mit eigenen, aber auch vielen anderen Elementen mitgestaltet. Die Korridore beider Geschosse zieren indische Tapisserien, die ihre Firma herstellen lässt. Der Möbelreichtum konfiguriert sich hier, in Konsonanz mit dem räumlichen Reichtum, zu einem großartigen kleinen Ganzen.
Bleibt die Frage, wie klug die Zentralisierung der Krankenhäuser in riesigen Bettenburgen je war. Sant Pau ist das perfekte Gegenbeispiel – war es seit jeher, und der Kàlida-Pavillon liefert dazu einen frischen Beitrag.

18. Januar 2015 deutsche bauzeitung

Der vertikal verlängerte Platz

Katalanische Wirtschaftskammer in Barcelona (E)

Das neue Seminargebäude der katalanischen Wirtschaftskammer hat eine für viele Barcelonesen sentimental besetzte Ecke so unterkühlt wie hochherzig in Beschlag genommen. Die großflächig verglasten Foyers der übereinander gestapelten Seminarräume bilden »vertikale Plätze«, die den aufgeweiteten Stadtraum vor dem Haus gewissermaßen ins Gebäudeinnere fortführen. Dank dieses Klimapuffers und des kompakten Baukörpers gelingt es den Architekten zudem, den Energiebedarf des Gebäudes stark zu reduzieren.

Für die einen bedeutet »Bildung« das reine Ansammeln von Faktenwissen, für die anderen bezeichnet der Begriff eine glückhafte Verbindung von allseitiger Offenheit und der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und nutzbar zu machen. Für Letztere haben die Architekten Roldán + Berengué mit ihrem Neubau für die Wirtschaftskammer einen Ort geschaffen, der nicht einfach nur einen weiteren Stadtbaustein darstellt, sondern durchlässige Räume bildet, die das öffentliche Leben einsaugen, reflektieren und auch in dieses hinauswirken.

Anknüpfungspunkte und Verbindungen, v. a. historischer Art, gibt es einige: Der Platz, dessen nördliches Ende das Seminar- und Verwaltungsgebäude belegt, ist nach Galla Placidia, der letzten römischen Kaiserin benannt. In ihrem bewegten Leben bekam sie es zwischen ihrer Geburtsstadt Konstantinopel und Spanien mit Goten und Hunnen zu tun. Im Jahr 414 brachte sie, entführt und zwangsverheiratet, in Barcelona ein Kind des Westgotenkönigs Athaulf zur Welt. Daher die ehrenhafte Benennung des Platzes, den man im Grunde als eine, wenn auch beträchtliche, Aufweitung der Via Augusta ansehen kann, die ihrerseits wiederum auf das römische Straßennetz verweist.

Viele Barcelonesen hatten zu diesem Winkel in der oberen Stadtmitte, zwischen den Quartieren Gràcia und Sant Gervasi, eine sentimentale Beziehung: Hier befand sich innerhalb einer alten Industriestruktur ein kleiner Rummelplatz – sein Karussell unter dem Namen El Caspolino war stadtbekannt. Dem trägt der Neubau im Eingangsbereich mit Druckmotiven auf den Glasfassaden Rechnung, deren Vokabular zwar den Wirtschaftswissenschaften entliehen ist, aber zugleich auch die Pferdchen des alten Karussells diskret nachbildet. Ähnlich gestaltet sind die Sonnenschutzaufdrucke der Verglasungen in den OGs, wo Texte zu dekorativen Streifen zusammengebunden sind und – so heißt es – die Hälfte des einfallenden Sonnenlichts reflektieren.

Vom obersten Stockwerk mit prachtvoller Aussicht aus reicht der Blick auf der einen Seite zu Bofills umstrittenem Segel des Hotel W vor dem Meereshorizont, auf der anderen zu Fosters Kommunikationsturm hoch oben auf der Serra de Collserola. Zu Füßen breitet sich eine zum reinen Fußgängerbereich umgestaltete Fläche von 150 x 45 m aus.

Schmal, aber weit

Von dem schmalen, 380 m² messenden Grundstück nimmt sich das ebenso unterkühlt wie hochherzig auftretende Gebäude 32 m entlang der Platzkante und gerade einmal 10,5 m in der Tiefe. Von außen präsentiert es sich als von Vertikalen geprägter Abschluss des Platzes; seitlich – an der Via Augusta – gibt es sich bis auf einen verglasten Streifen hermetisch. Die Geschosseinteilung wird dabei verschleiert, indem eine übergeordnete Geometrie mit nach oben hin zunehmenden Höhen von etwa 4, dann 7 und schließlich 13 m mitunter zwei Geschosse zusammengefasst und somit eine scheinbare Dreistöckigkeit erzeugt. Dieses Spiel mit den Fassadenflächen thematisiert den Übergang vom durchschnittlich dreigeschossig bebauten Viertel Gràcia in das wesentlich höher aufragende Viertel Sant Gervasi, den der Platz markiert. Der schmale Bereich über dem EG ist vom Mehrzwecksaal belegt, im mittleren Bereich sind die Seminarräume versammelt und hinter den fast turmartig aufragenden Stufen ganz oben befinden sich kleinere Räume und die Verwaltung.

Das Innere ist v. a. von Holzoberflächen geprägt und wird dadurch zu einer Art städtischem Wohnzimmer. Durch die Mischung edlerer mit sehr günstigen Materialien und z. T. vorfabrizierten Elementen konnte man im Kostenrahmen bleiben. Erstaunlich ist, auf wie einfache Weise – übrigens durchweg mit marktgängigen Materialien und Objekten ausgestattet – ein solches Kleinod ein anderes, dem viele Barcelonesen nachtrauerten, würdig ersetzen kann.

Es finden sich subtile Details wie z. B. die seitlich zwischen den Gebäudestützen eingelassenen Sitznischen des Auditoriums im 1. UG, deren modisch abgeschrägte Holzvertäfelung den Blick aufs Podium erweitert.

Kaum prägnanter hätte die Trennung zwischen den Schulungsräumen und den vorgelagerten Vestibülen mit hölzernen, in den Pausen weit zu öffnenden Zwischenwänden ausfallen können. Der massive Wechsel von den hermetisch wirkenden, ganz in Weiß gehaltenen Seminarräumen zu den warmtonigen, sonnendurchfluteten Flurzonen muss jedem Seminaristen wie eine Offenbarung vorkommen.

Mit dieser längsseitigen Zweiteilung wurden auf allen sechs Geschossen sich wiederholende Räume geschaffen. Die kommunikativen Flure dienen dabei als klimatische und akustische Pufferzonen. Man darf sie getrost als Balkone ansehen. Sie liegen zwar hinter der doppelten, das Klima kontrollierenden und – zumindest rechnerisch – fast drei Viertel der eingestrahlten Energie abwehrenden Glasfassade, nehmen zum Platz aber dennoch eine symbiotische Beziehung auf, quasi als dessen vertikale Verlängerung. Ein Vergleich mit den Terrassen japanischer Tempel erscheint nicht abwegig. Japanische Einflüsse, etwa die in Tatami-Manier ausgelegten keramischen Bodenbeläge, werden weder verleugnet noch hochgespielt. Die stützenfreien Geschosse sind wie Räume eines japanischen Hauses frei konfigurierbar gedacht. Auch die Verwandtschaft der bedruckten Gläser mit Papierwänden darf man anerkennen, wenngleich sie eher einer Neuinterpreation altbekannter Brise-Soleils gleichkommen, wie sie traditionell zum Bild Barcelonas gehören. Die Architektin Mercè Berengué meint dazu: »Das Lattenfenster ist Buchstabe geworden.«

Trotz der beengten Verhältnisse nimmt das Gebäude von den rückseitig angrenzenden Bauten etwa einen Meter Abstand. Große Teile der Innenräume lassen sich somit beidseitig belüften und von Norden her belichten. Fenster zu den Nachbargebäuden und zu einem Innenhof hin erlauben ein Minimum an Licht in den unteren Stockwerken, ausreichend davon in den vom Platz abgewandt liegenden Räumen und in den obersten beiden Geschossen. Durch den kompakten Baukörper, die großen Glasflächen der Doppelfassade und den Sonnenschutz erhofft man sich eine Energieeinsparung von 45 % gegenüber dem spanischen Standard.

Tagsüber reflektiert das Glas der Fassaden den Himmel und das Treiben auf dem Platz, nachts wird es durchsichtig und das Gebäude nimmt den Charakter eines Setzkastens an. Mit seiner Offenheit und der Art, wie es je nach Beleuchtung von seinem Innenleben erzählt, bietet das Gebäude den Nutzern die Gelegenheit, nicht nur physikalisch ihren Blick in die Stadt hinein zu weiten, sondern auch ihre Gedanken aus der Innensicht in die Außenwelt zu übertragen.

Mit diesem Werk haben die Architekten bereits eine ganze Reihe regionaler und auch internationaler Preise eingeheimst – angesichts der Vielzahl guter Ideen und der hochästhetischen Gestaltung völlig zu Recht.

5. Oktober 2014 deutsche bauzeitung

Die Kunst der gescheiten Bescheidenheit

»Übermittlungsraum« für den Dolmen von Seró bei LLeida (E)

Die Artefakte eines beim katalanischen Dorf Seró entdeckten Steintischs werden in einem minimalistischen Gebäude präsentiert, das durch die gekonnte Kombination von denkbar primitiven Baumaterialien einen gleichermaßen unprätentiösen wie eleganten Charakter erhält und die annähernd 5 000 Jahre alten Fundstücke stimmungsvoll in Szene setzt.

Heute liegt die Gegend abseits der Hauptverkehrslinien, die Barcelona mit Madrid verbinden – man hat hier aber Hannibal vorbeiziehen sehen, wie auch die Blüte und die Zurückdrängung der arabischen Kultur, und Archäologen stießen in der Umgebung des Río Segre wiederholt auf zahlreiche stein- und bronzezeitliche Reste Jahrtausende alter Siedlungen, die in Verbindung mit weit entfernten Orten des Neolithikums standen.

Im Jahr 2007, beim Bau eines Bewässerungskanals, entdeckte man die Trümmer eines Dolmens (Steintisch), den die Archäologen der Universität Lleida sogleich als einzigartig erkannten; sind in die Steine doch geometrische Muster eingraviert, die sich als Umrisse menschlicher Figuren deuten lassen. Einer der Steine muss beinahe 9 m gemessen haben – höher als alle bisher bekannten Monumente jener Zeit. Man hat den anscheinend (wer weiß wann und warum) absichtlich zerteilten Megalithen nach vielen Diskussionen in seinen Teilstücken belassen und dergestalt in dem eigens dafür geschaffenen Besucherzentrum in Seró ausgestellt, kaum einen Kilometer von der Fundstätte entfernt.

Es war die (nur etwa 50-köpfige) örtliche Bevölkerung, die darauf drängte, die Steine nicht, wie im Normalfall, in ein Museum in Barcelona verfrachten zu lassen. Stattdessen wurde, um die sieben gravierten Felsstücke zu beherbergen und dem Dorf zugleich das bisher fehlende Gemeindezentrum zu bescheren, mit einem minimalen Gesamtbudget von 652 000 Euro (die Hälfte davon aus dem örtlichen Kulturetat) ein 500 m² umfassender Neubau geschaffen.

Ziegel-Erfindungen

Nähert man sich dem winzigen, wie in dieser Gegend üblich an einen Hügel geklammerten Dorf, so fragt man sich zunächst, welcher der rundherum verstreuten Ziegelsteinbauten, seien es Getreidescheunen oder Viehställe, nun der 2013 mit dem wichtigsten katalanischen Architekturpreis, dem FAD, ausgezeichnete Bau sein mag. Seine Unscheinbarkeit ist zweifellos das erste Qualitätsmerkmal des »Espai Transmissor« (Übermittlungsraum), wie er sich etwas geheimnistuerisch nennt. Aber die – zumindest scheinbare – Einfachheit der Konstruktion nimmt tatsächlich einige Charakteristika der umliegenden Scheunen auf, insbesondere deren Skelett, wenn auch die Ziegelausfachung dazwischen, wie auch die Raumverteilung, wesentlich kunstvoller ausfällt.

Das Gebäude verschwindet in der Senke unterhalb des Dorfplatzes; die Esplanade bildet einen Teil des Dachs, sichtbar bleiben allein die Lichtschächte und die Rampen, die zum Eingang hinunterführen – der freilich auch ebenerdig zugänglich ist, wo Ziegelmauern, um einen Hof gruppiert, dem Bau sein bescheidenes Gesicht verleihen.

Es ist ein aus denkbar gewöhnlichen Materialien erbautes Ganzes. Das Äußere zeigt dennoch großes Raffinement, das insbesondere auf die vielfältige Verwendung von Ziegeln zurückgeht. Neben roh belassenen Beton treten Armierungseisen, die an die Halme der umliegenden Weizenfelder erinnern und die das Gebäude von außen als Geländer, teils sogar als schwebende Rampe charakterisieren. Das Unfertige, das ihm daher anhaftet, macht einen Teil seines Charmes aus.

Noch raffinierter gestaltet sind die Innenräume. Der Eingangsbereich mag recht konventionell anmuten; es schließt jedoch ein Saal an, der dem Dorf Seró für alle möglichen Zwecke und Gelegenheiten dient – nicht zuletzt als eine Art Klassenzimmer. Unter dem Hauptstrang der Dachrampen öffnet er sich zu einer Fensterfront hin, vor der bei Bedarf eine Leinwand herabgelassen werden kann. Die ansteigende Dachschräge ergibt einen perspektivischen Effekt, der die hohe Glaswand weniger enorm erscheinen lässt, als sie wirklich ist. Die Wirkung ist stupend, sobald sich eine Person an die riesenhafte Hoftür stellt.

Zumal die Gegend auch als Weingebiet – Appellation Costers del Segre – an Ruf gewonnen hat, ließ man sich die Chance nicht entgehen, einen Raum eigens für die Präsentation lokaler Produkte zu schaffen, insbesondere der Weinkooperativen. Es ist eines der »Prunkstücke« der mit so bescheidenen Mitteln gebauten Anlage. Wird hier doch der Trickreichtum, mit dem die Architekten zu Werke gingen, besonders deutlich: Die Lochziegel sind mit (leeren) Weinflaschen gefüllt, die in dem im Sommer heißen, im Winter oft frostigen Klima für Wärmeausgleich sorgen – wobei sogar die (je nach Saison) Verkorkung der Flaschen eine Rolle spielt: im Sommer werden einige Flaschen entfernt, etliche entkorkt, im Winter wieder verpfropft. Es wird berichtet, im Winter dringe öfter einmal Nebel in die Innenräume ein, den der Autor im August freilich nicht erleben konnte und der hoffentlich nicht auf die gelegentliche Nutzung des Wein-Raums als Dorfpinte zurückgeht.

Die Nebenräume – Technik, Lager, Toiletten – sind clever um diese Eingangspartie herum gruppiert. Überraschend ist der Übergang in das eigentliche »Museum«. Hier wird an Wandtafeln und in Vitrinen die Geschichte des archäologischen Funds erklärt. Der fensterlose Raum wird von zahlreichen Lichtschächten – wandseits quadratisch, in der Mitte rund – erhellt: dieses Zenitallicht schafft ein nachgerade magisches Ambiente.

Im Labyrinth des Steingartens

Doch das ist erst der Auftakt zur eigentlichen Attraktion. Toni Gironès hat sie – in aller Bescheidenheit – auf eine Weise inszeniert, die die Aufmerksamkeit nicht nur der lokalen Architekturkritiker erregte. Fast unmerklich sich senkend, führt ein quadratischer Spiralgang in stetig enger werdenden Windungen in den 3 m tiefer liegenden Steingarten hinunter, umrahmt von zunächst einer, dann zwei, schließlich drei Mauerschichten aus Lochziegeln, auf einem sich zunehmend verfeinernden Ziegelboden, dessen Geknirsch zur Atmosphäre beiträgt, und der übrigens als Dachbelag auch seine thermische Funktion hat. Für die Verwendung derselben großen Lochziegel, für die Decken-, Wand- und Bodenbekleidungen teils zerschnitten, teils zerstampft, hat der Architekt zu Recht viel Bewunderung geerntet. Man muss ein wenig geometrisches Verständnis mitbringen, um die erstaunlich einfache Lösung zu begreifen, wie die rechteckige Doppelspirale sanft in den eigentlichen Hauptraum hinunter- und wieder aus diesem herausführt, dabei durch die in der Überlagerung zunehmend sich verdichtenden Lochziegelwände in eine Art Sanktuarium leitet, wo die seltenen Steine unter ihren Tageslichtschächten (die mit LED-Leuchten ausgestattet auch nächtliche Besuche gestatten) einen Steingarten bilden.

Wenn die Lichtschächte im vorangegangenen Saal ein fast fantastisches Licht verbreiten, so ist ihre Wirkung in diesem Raum höchst präzis: Sie sind auf die Felsen ausgerichtet, deren Ausmaßen entsprechend, und stehen ihnen an Perfektion natürlich nicht nach; erstaunlicher ist die geometrische Exaktheit sowohl des abgerundeten Zuschnitts der Steine als auch der hineingeritzten Muster, die vermutlich menschliche (oder göttliche) Figuren darstellen.

Seró selbst mag ein Leichtgewicht unter den neolithischen Fundstätten Europas sein, aber dies im besten Sinn des Wortes: Da sind bloß sieben erstaunlich gravierte Steintrümmer, um die herum einige unscheinbar raffinierte Mauern gebaut wurden.

Man wundert sich, woher Toni Gironès' »Händchen« für die gleichermaßen simplen und poetischen Konstruktionen stammt, für die er nicht erst seit dem Projekt in Seró bekannt ist. Wer das Büro der Architekten in Barcelona besucht, findet sich in einer (von einem kurzzeitigen Bürgermeister der Stadt 1935 eingerichteten) Prunkwohnung mit Aussicht bis zum Meer, in der selbst die Böden teilweise vergoldet sind, und in der eine kleine Privatbar für dessen Geliebte nur ein Detail unter vielen ist. Vielleicht schärft aber gerade eine solche Umgebung den Blick dafür, welche Kraft einzelnen Materialien, Details und Überlegungen jeweils innewohnt.

3. Juni 2013 deutsche bauzeitung

Landpartie mit einem Hauch von Zen

»Festzelt« Des Restaurants »Les Cols« in Olot (E)

Das überregional bekannte Restaurant in einem ausgebauten Gehöft im Vulkangebiet der Garrotxa wurde um einen überdachten Freibereich erweitert, für dessen Gestaltung das Bild eines Picknicks im Grünen Pate stand. Transluzente Kunststoff-Bahnen dienen als Wetterschutz, zonieren den Raum und bilden schmale Atrien, aus denen Bäume emporwachsen. Die nahezu ganz entmaterialisierte Architektur lässt die Frage nach Drinnen oder Draußen nebensächlich werden.

Nach dem Umbau eines alten Bauernhofs in ein Restaurant, dessen minimalistischer Prunk auch in New York Furore machen würde, und den fünf Pavillons, die als rundum gläserne Behälter zu den eigentümlichsten Hotelzimmern der Welt gehören (vgl. db 3/2007, S. 32), hat das katalanische Architekturbüro RCR den Komplex »Les Cols« im Städtchen Olot nun um ein Bankettzelt erweitert. Es destilliert das architektonische Denken dieser Baukünstler auf seine Essenz und offenbart es damit in seiner Wundersamkeit wie in seiner Trickhaftigkeit.

Die Grundidee basiert auf der Vorstellung einer Landpartie: Man spaziert in eine Aue hinab, lässt sich an einem lauschigen Ufer nieder und breitet sein Picknick aus. Wer will, darf an Manets »Déjeuner sur l’herbe« denken. Nun aber die Wirklichkeit: Der Fluss, der streckenweise tatsächlich lauschige Fluvià, durchquert hier ein vorstädtisch verunstaltetes Gebiet. Das Grundstück selbst grenzt nicht an das Gewässer; und so haben die Architekten das Gelände neben dem Restaurant und den Pavillons gefahrlos absenken können, um darin jene Stätte zu schaffen, die man kaum ein Gebäude, aber auch nicht Bierzelt nennen kann – eher eine Ruine aus der Zukunft?

Uneindeutigkeit

Die Architektengruppe Aranda Pigem Vilalta, nach den Initialen ihrer Vornamen RCR genannt, hat weltweit Kultstatus erlangt. Rafael, Carme und Ramón stammen alle aus dem Städtchen Olot, 150 km nordöstlich von Barcelona. In und um Olot haben sie ein Œuvre aus Einfamilienhäusern, öffentlichen Bauten und landschaftlichen Interventionen geschaffen, das unverkennbar ihre Handschrift trägt. Über den Wert dieser Handschrift wird auch dieser Artikel keine gültige Antwort anbieten können.

Hält RCR daran fest, nur lokal tätig zu sein und Shanghai Shanghai sein zu lassen? Jein, so könnte man die Antwort Rafael Arandas wohl übersetzen. Jüngste Projekte in Barcelona – eine Bibliothek, ein Bürohaus – und in Südfrankeich – etwa das Musée Soulages in Rodez – können zwar noch zum natürlichen »Einzugsbereich« der Architekten zählen; ein Hotel in Dubai hingegen schwerlich. Dennoch sind RCR ein mit 14 Mitarbeitern überschaubares Büro geblieben (s. Erfahrungsbericht einer Mitarbeiterin in db 4/2007, S. 20), dessen Arbeitsräume in einer einstigen Glockengießerei im Zentrum des Städtchens gewiss eines der schönsten Beispiele dafür sind, was Rafael Aranda als ihr vorderstes Anliegen nennt: den Außenraum nach innen zu holen.

Eben eine solche Zwielichtigkeit oder Durchdringung von Außen und Innen kennzeichnet das Projekt Les Cols. In struktureller Hinsicht könnte man von einem künstlichen Tal sprechen. Das beim Aushub geförderte vulkanische Gestein wurde in unterschiedlichen Körnungen sowohl für den Boden als auch für die Bekleidung der z. T. zu Halden geformten Stützmauern verwendet. Mit diesem basaltenen, rauen, tektonischen Grund kontrastiert das schwebende, luftige, transparente Dach, welches das Erscheinungsbild auf dem Zugangsweg in das »Tal« bestimmt. Im Hintergrund erhebt sich, perfekt gerundet, einer der zahlreichen die Stadt Olot überragenden Vulkankegel.

Ist der Talgrund erreicht, so tritt man unter die metallenen Gestänge, die durchhängend, als wären sie Bambus, das Dach tragen. Einige Schritte noch, und man trifft auf den ersten Außen und Innen voneinander trennenden Vorhang. Es sind dies 30 cm breite, von der Decke hängende, durch ihre Bodenverankerung verstellbare PVC-Lamellen, die den Raum kaum sichtbar strukturieren. Sie bilden eine Art Zickzackweg durch die für den Ablauf eines Festbanketts typischen Stationen – Aperitif, Diner, Tanzfläche.

Dabei kommt den dazwischen gefügten schmalen »Patios« die entscheidende Rolle zu. Als nicht überdachte Intervalle dienen sie der Entwässerung, v. a. aber nehmen sie die (vorläufig noch jungen) almeces auf, auf Deutsch Zürgelbaum genannt – ein autochthones Gewächs, dessen Kronen dereinst ihren Schatten über das große Festzelt werfen werden. Laut den Architekten filtert die ETFE-Doppelmembran (mit 100 mm Zwischenraum), die auch akustischen Problemen mit der Nachbarschaft abhilft, das Sonnenlicht bereits zu 50 %. Das ist eine zuversichtliche Rechnung: Die Winter in der Garrotxa sind kalt, der Sommer ist heiß, und schon an einem milden Frühlingstag wird deutlich, dass es sich hier um eine Art Treibhaus handelt. Klimatisierung ist denn auch, wie diskret auch immer angebracht, unvermeidlich. Die entsprechenden Anlagen bekommt natürlich nur das Personal zu sehen: Sie befinden sich dort, wo auch etwa die Anlieferung mittels hydraulischer Aufzüge stattfindet. Denn das durchsichtige Traumreich hat – obwohl RCR sich nach dem Grundsatz richtet, Komplexität »in einer Einheit, einem räumlichen Fluss« zu lösen, seine Schattenseiten.

Die carpa – so der spanische Ausdruck für ein Festzelt – ist, wie schon die Pavillons, eine höchst seltsame Abstraktion: von Natur oder eher von Architektur? Versuchen wir, uns der Anlage ein zweites Mal zu nähern: Sie ist offensichtlich von den grundlegenden Elementen des Lichts und des Materials her konstruiert. Wie jedes Bauwerk von RCR hat sie den Anspruch, ein sinnliches Lehrstück zu sein – mit minimalen Mitteln maximale Wirkung zu erzielen. RCR-typisch, bildet eine dem Terrain genau angepasste Kubatur eine Art Chassis, über dem die niedrige Dachlinie schwebt. Für diese Architekten müsste man den Begriff der »angewandten Land Art« erfinden. Man kann die Carpa introvertiert oder extrovertiert nennen – beides trifft zu.

Oder ein dritter, ganz sachlicher Anlauf: Der Partygast – es sind überwiegend Hochzeiten, die hier stattfinden – wird sich (und soll sich, so Rafael Aranda) zunächst fragen, »warum da eigentlich nichts ist«. Selbst Glas erschien den Architekten als zu »materiell« – daher die PVC-Lamellen, und daher auch die eigentlich aberwitzige Plexiglas-Möblierung für maximal knapp 300 Gäste: so gut wie unsichtbar – bis sich ein Dickwanst darauf setzt und den Stuhl vermutlich nicht besonders bequem findet.

Ein Picknick-Platz nach alter Väter Sitte sieht so gewiss nicht aus. Aber wir haben selber kein Fest dort erlebt; und können uns daher nur vorstellen, wie gut die in die Metallrohrdecke integrierten LED-Leuchtschienen funktionieren, wie wunderbar das mittlerweile zwei Michelin-Sterne verdienende Essen in Les Cols ist, und ob die sehr großzügigen, scheinbar im Freien liegenden und wie die gnadenlos sachlich geordnete Küche als Extra-Geviert an die Carpa anschließenden Toiletten ganz einfach benutzbar sind.

22. August 2008 Neue Zürcher Zeitung

Fata Morgana der Moderne

Bagdads moderne Architektur in einer Ausstellung in Barcelona

Wie, wenn nicht mit Bitternis, nimmt man heute zur Kenntnis, welch eine Stadt Bagdad einst aus sich machen wollte? Eine von Pedro Azara kuratierte Ausstellung des katalanischen Architektenverbandes veranschaulicht dies mit präzis gewählten Dokumenten und einem Dutzend eigens dafür gefertigten Modellen, ergänzt durch einen exzellenten Katalog. Dem Vergessen entrissen wird in erster Linie das Wirken des 1950 geschaffenen Development Board, der auf Initiative des irakischen Architekten Rifat Chadirji einige der renommiertesten Baukünstler der Zeit nach Bagdad einlud. Ein dezidiert auf die Symbolkraft der Architektur setzendes Vorhaben, sollten doch sieben Meister der Moderne ebenso vielen Kultur- und Lebensbereichen architektonische Form verleihen: Alvar Aalto der Kunst, Frank Lloyd Wright der Musik, Le Corbusier dem Sport, Walter Gropius dem Wissen, Willem Marinus Dudok der Justiz, Constantino Doxiadis dem Wohnen und Gio Ponti dem Ministerium für Planung und Entwicklung. Pontis aus zwei gegensätzlichen Volumen komponiertes Monument wurde 2003 im Irak-Krieg stark beschädigt.

Die Baugeschichte der sieben Projekte erweist sich als höchst unterschiedlich. Wie ein Fatum erscheint die Tatsache, dass für jeden der sieben Architekten der Bagdader Entwurf der letzte seiner Laufbahn war. Sollte die Moderne ihren Schwanengesang im Irak angestimmt haben? Als der 90-jährige Frank Lloyd Wright 1957 den Auftrag für das Musiktheater erhielt, lieferte er ungebeten – offenbar aus Faszination für eine Stadt, die er zunächst für Babylon hielt – eine ganze Reihe von Plänen für weitere Kulturbauten, Park- und Uferanlagen ab. Sie blieben genauso Papier wie das Opernhaus, das auf einer Insel im Tigris die ihm fast heilig gewordene Zikkuratform abwandelt – wie sein damals im Bau befindliches Guggenheim Museum.

Der Staatsstreich, bei dem 1958 der junge König Faisal II. gestürzt und getötet wurde, vereitelte nicht nur Wrights Projekte. In den Machtkämpfen der folgenden Jahre erlahmte der Erneuerungselan, Verwestlichungstendenzen wurden abgewürgt. Zu Aaltos Museum wurde nie auch nur der Grundstein gelegt. Gropius konnte zu Lebzeiten immerhin das zentrale Hochhaus seines Universitätsviertels vollenden, und in seinen Grundzügen trägt der mittlerweile grösste Campus des Nahen Ostens noch immer seine Handschrift. Hingegen ist unter den Zehntausenden von Wohnungen, die der griechische Urbanist Doxiadis im Irak plante, gerade sein Musterquartier für Bagdad kein Glücksfall: Sadr City wurde zum Inbegriff der Gewalttätigkeit. Und von Le Corbusiers ein 50 000-plätziges Stadion einschliessendem Sportkomplex haben selbst manche Kenner seines Werks noch nie gehört, obwohl Teile davon von seinem Partner George Marc Présenté realisiert wurden – ein Vierteljahrhundert nach Aufnahme der Planung.

Denn um 1980, nun unter dem Regime Saddam Husseins, wurde Bagdad von einer neuen, freilich bald wieder in Kriegswirren sich verlaufenden Welle urbanistischer Ambitionen erfasst, auch diesmal unter Beiziehung schillernder Namen wie Robert Venturi und Ricardo Bofill. Rivalen im Wettbewerb für die bis heute ungebaute grösste Moschee der Welt, führten sie die Postmoderne schliesslich in den irakischen Wohnungs- und Geschäftsbau ein.

Die Ausstellung versäumt es nicht, neben Bofills Projekten ein Werk eines andern einst in den Irak berufenen Sohns Barcelonas zu präsentieren. José Luis Serts 1959 vollendete amerikanische Botschaft ist heute wohl das tristeste architektonische Wahrzeichen Bagdads. Während die USA bereits ihre übernächste, durch keinerlei baukünstlerische Ansprüche sich auszeichnende Botschaftsfestung errichten, ist Serts zwischendurch von Saddam Hussein als Empfangspalais genutztes, später durch amerikanische Bomben beschädigtes Baujuwel eine verlassene Ruine.

Ein merkwürdiges, spiegelverkehrtes Pendant zu Bagdads verlorenen Idealen ist derzeit, nur einige Schritte vom COAC entfernt, im barcelonesischen Stadtgeschichtsmuseum zu entdecken. Denn aus der Erinnerung verdrängt wurden nicht nur die nahöstlichen Architekturvisionen, sondern ebenso das Elend der Einwanderer in Barcelonas Slums, in welchen in denselben fünfziger und sechziger Jahren bis zu 200 000 Menschen hausten. Unter dem Titel «Barraques. La ciutat informal» werden erstmals ihre Lebensbedingungen in den Bidonvilles dokumentiert, die sich den heute von den skulpturalen Körpern der Euro-Jugend überfüllten Stränden entlangzogen und in kaum mehr vorstellbarem Ausmass andere Stadtlücken, selbst den späteren Olympiaberg Montjuïc, überzogen. Ziemlich perplex lässt einen der Vergleich der seitherigen Geschicke und Entwicklungen der beiden Städte zurück.

[ Die Bagdad-Ausstellung ist bis zum 13. September im COAC Barcelona zu sehen, anschliessend in Madrid. Katalog: Bagdad. Ciudad del espejismo (spanisch, französisch, englisch). Hrsg. Pedro Azara, UPC Barcelona 2008. 368 S., € 30.–. Die Ausstellung «Barraques. La ciutat informal» im Museu d'Història de la Ciutat dauert bis zum 22. Februar 2009. ]

23. Juni 2008 Neue Zürcher Zeitung

Eine Ökostadt an den Ufern des Ebro

Die Expo 2008 in Saragossa setzt das Thema Wasser auch architektonisch um

Der verantwortungsvolle Umgang mit der Ressource Wasser ist von weltweiter Bedeutung. Ein klug gewähltes Thema mithin für die internationale Ausstellung, mit der sich die Ebro-Stadt Saragossa ins Gespräch bringen will. Ihr Erneuerungswille findet auf dem Expo-Gelände in einer Windung von Spaniens wasserreichstem Fluss auch architektonisch Ausdruck.

Wenig mehr als ein Feldlager, am Ebro-Ufer aus strategischen Gründen errichtet, war das römische Caesaraugusta, dessen Name sich zum kastilischen Zaragoza abgeschliffen hat. Und etwas von einer riesigen Kaserne haftet laut bösen Zungen der 660 000 Einwohner zählenden Stadt noch heute an. Oder sollte man in ihr das Gegenbild jener ausgestorbenen Dörfer Aragoniens sehen, deren einstige Bewohner sich hier nun mit Einwanderern aus aller Welt mischen? Reizlos als städtischer Körper, weder anmutig noch herb im Charakter, dumpf eher als beschwingt erscheint Saragossa, in dessen Gassen aufputschende Wirkstoffe schwach dosiert sind. Nicht dass die 1808 durch napoleonische Truppen schwer in Mitleidenschaft gezogene Stadt der architektonischen Pracht oder charmanter Winkel ganz entbehrte; doch eine gewisse Vierschrötigkeit kennzeichnet selbst die in jüngerer Zeit erfolgte Erneuerung so repräsentativer Stadträume wie der Plaza del Pilar und der Avenida de la Independencia.

Profane und pharaonische Pläne

So ist Saragossa unter Spaniens Grossstädten das Aschenbrödel nicht allein deshalb, weil ihm die andern zuvorgekommen sind beim Versuch, sich international zu profilieren. Ob die Expo 2008 daran etwas zu ändern vermag? Wirtschaftlich hat der Aufschwung schon vor längerer Zeit eingesetzt, die Region gehört zu den wohlhabendsten des Landes. Nur scheinbar ein blinder Fleck auf der iberischen Landkarte, nimmt die Stadt heute die einst von den Römern erkannten Vorteile ihrer Lage wahr. Halbwegs zwischen der katalanischen Küste und dem Zentrum der Halbinsel, zwischen der Levante und dem Golf von Biskaya im Fadenkreuz der vier dynamischsten Regionen Spaniens gelegen, ist sie dank neuen, schnellen Verkehrsverbindungen ein attraktiver Standort. Madrid und Barcelona sind per Bahn in anderthalb Stunden erreichbar, Valencia und Bilbao liegen im Umkreis von 300 Kilometern, und jenseits der Grenze sind Toulouse und Bordeaux nicht allzu fern.

Die erste diese Voraussetzungen nutzende Massnahme war der Bau des Logistikzentrums «Plaza», das dereinst mit zwölf Millionen Quadratmetern eine in Europa unübertroffene Grösse erreichen soll und von dem aus jetzt schon Zara, ein weltweit führender Kleiderhersteller, operiert. Ein zweiter, wesentlich publizitätsträchtigerer Schritt war die Ausrichtung der vor wenigen Tagen eröffneten Expo (NZZ 16. 6. 08). Noch während deren Aufbau kündigte die Regionalregierung ein drittes, wahrlich pharaonisches Projekt an. Es klang so märchenhaft, dass man geneigt war, es für einen Scherz zu halten. Und ein solcher ist das «europäische Las Vegas» wohl auch, das eine Investorengruppe namens International Leisure Development in den Monegros – einer der dürrsten, aber auch faszinierendsten Landschaften Spaniens – zu errichten gedenkt. In den auf www.ild-plc.com zu betrachtenden Computeranimationen hat sich die Steppe östlich von Saragossa in ein blühendes Eden mit Dutzenden von Kasinos und Hotels, mehreren Golfplätzen und Erlebniswelten namens «Pharaoland» und «Spyworld» sowie einer Stierkampfarena und einer Galopprennbahn verwandelt: allerhand für eine Gegend, welche die meisten bisher nur durch das Zug- oder Autofenster wie eine Halluzination wahrnahmen.

Vor den Augen geflimmert haben muss es auch Aragoniens Politikern, die sich freudig zur Finanzierung der nötigen Infrastrukturen bereit erklärten: der Erschliessung ebenso wie der Wasserversorgung für die 25 Millionen spielfreudigen Besucher, welche die Promoter bald schon jährlich in die Halbwüste zu locken verheissen. (Zum Vergleich: 2007 lag Saragossa unter Spaniens Flughäfen mit 500 000 Passagieren auf dem dreissigsten Rang.) Rund 17 Milliarden Euro ist das Konsortium mit Sitz in Jersey angeblich in die architektonische Kitschorgie namens «Gran Scala» zu investieren gewillt. Bisher hat es jedoch noch nicht einmal die Bürgschaft von 20 Millionen aufgebracht, und das Ganze dürfte sich über kurz oder lang als Schaumschlägerei erweisen. Peinlicher als ihre Blauäugigkeit den Finanzjongleuren gegenüber ist die Begeisterung, mit der die politisch Verantwortlichen ein Projekt aufnahmen, das allen Grundsätzen Hohn spricht, die sie gerade anlässlich der Expo 2008 zu predigen nicht müde werden. Deren Motto nämlich lautet: «Wasser und nachhaltige Entwicklung».

Neue Ufer – neue Achsen

Wie bei derlei Grossveranstaltungen üblich, verwischt auch bei der Expo in Saragossa der temporäre Tingeltangel die urbanistischen Strategien, auf welche die Planer nebst dem kurzfristigen Imagegewinn für die Stadt gesetzt haben. Es soll ja hier – anders als etwa nach der Weltausstellung 1992 in Sevilla – nicht lediglich ein abgeräumter Rummelplatz zurückbleiben. Vorbild war in dieser Hinsicht eher Barcelona, das die Olympischen Spiele 1992 unter anderem für seine Öffnung zum Meer nutzte und diese Jahre später in der einstigen Schmuddelecke der Stadt mit dem Parc del Fòrum zur Vollendung brachte. Der Anlass dazu – das «Weltkulturforum 2004» – war ein Flop, und die anfänglich skeptische Einwohnerschaft freundete sich mit den neuen, auch neuartigen Stadträumen erst mit der Zeit an.

In Saragossa hingegen dämpft lediglich das manchenorts auch während der Expo anhaltende Bauchaos die durch diese ausgelöste Hochstimmung. Als Schönheitsfehler empfunden wird insbesondere, dass die urbanistische Einbindung des Bahnhofs nicht rechtzeitig zum Abschluss gebracht werden konnte. Dabei wurde die Estación de Delicias schon 2003 eröffnet und bildet den Ausgangspunkt der architektonisch ambitioniertesten Achse, die sich Saragossa seit der klassizistischen, vor 1850 angelegten Avenida de la Independencia zugetraut hat. Der von Carlos Ferrater entworfene Bahnhof darf – Rafael Moneos Atocha-Umbau in Madrid und die nach den Plänen von Cruz & Ortiz in Sevilla realisierte Estación de Santa Justa in Ehren – als das eindrücklichste bisher für Spaniens Hochgeschwindigkeitsnetz AVE angelegte Gebäude bezeichnet werden. Von aussen ein flacher, weisser Quader, der am westlichen Stadtrand vor den Karsthorizont gestellt wurde, empfängt der neue Bahnhof die Reisenden unter einer aus Dreiecken komponierten Lichtgeometrie, die dank der puristischen Ausstattung der Halle fabelhaft zur Geltung kommt.

Chaotisch wirkt hingegen derzeit noch die unmittelbare Umgebung. Doch kann man sich nun über das Baugetümmel, über Autobahnen, Besucherparkplätze und den Ebro hinweg per Gondelbahn direkt zu einem der drei Expo-Eingänge unweit der 76 Meter hohen Torre del Agua befördern lassen. Dieser gläserne Turm bildet den Abschluss der auch zu Fuss leicht zu bewältigenden, zum und durch das Ausstellungsgelände führenden Achse, als deren emblematisches Mittelstück die Pavillonbrücke von Zaha Hadid fungiert: zwiespältiges Wahrzeichen der Expo und der erneuten Zuwendung Saragossas zu seinem Fluss.

Froschkönige im Ebro-Mäander

Der Meandro de Ranillas – zu Deutsch: der Mäander der Frösche – umfliesst eine gut zwei Kilometer westlich des Stadtzentrums gelegene Halbinsel, deren Wahl zum Expo-Gelände nicht unumstritten war. Als eigentliches Ausstellungsareal zur Überbauung freigegeben wurden lediglich 25 Hektaren des stadtnahen Naturraums. Auf rund vier Fünfteln der Fläche schaffen neue Park- und Uferanlagen, sequenzartig gestaltet von bestens ausgewiesenen Landschaftsarchitekten wie Iñaki Alday, Margarita Jover und Christine Dalnoky, dem Grünmanko der Stadt Abhilfe. Darüber hinaus verbinden sie die Stadt mit dem Fluss und klären die auf der Nordseite des Ebro besonders prekäre und verworrene Stadtentwicklung.

Der besseren Anbindung Saragossas an das privilegierte Südufer dienen zunächst drei neue Brücken. Zwischen den zuvor isolierten Stadtteilen La Almozara und El Actur überspannt nun eine Fussgängerpasserelle den Ebro, und weiter westlich erschliesst der Puente del Tercer Milenio – ein spätes Hauptwerk des grossen Brückenbauers Juan José Arenas – die Halbinsel für den Fahrverkehr. Zwischen diesen beiden Übergängen konnte Zaha Hadid ihr Brückenprojekt ausführen. Ihr Puente Pabellón ist zugleich Spaniens erste gedeckte Brücke. Wie blendend sie ihre Bestimmung zum baukünstlerischen Bravourstück der Expo erfüllt, darf diskutiert werden. Auf jeden Fall ist sie das Resultat eines konstruktiven Kraftakts, trägt doch ein einziger Betonpfeiler das 270 Meter lange, zwischen 8 und 30 Meter breite Gehäuse. Südseitig ist dessen «Landnahme» eleganter geglückt als am gegenüberliegenden Ufer, an dem die fliessenden Formen – Hadids obsessives Anliegen – ein etwas abruptes Ende finden. Unterwegs in drei «Kelche» sich verzweigend, evoziert die Struktur aufgrund ihrer schuppenartigen Metallverkleidung einen janusköpfigen Fisch, der seine Mäuler in parabolischen Dreiecken aufsperrt, um die Besuchermassen zu verschlingen. Im Innern der Brücke mutet Hadid den Besuchern zunächst ein ungewohntes Höhlenerlebnis zu, ehe sie ihnen nach dem Gang über die ins Obergeschoss führenden Rampen vereinzelte Ausblicke auf den Fluss gestattet. Introvertiert und die 7000 Tonnen nicht verhehlend, die es wiegt, konnte «Zahas verteufeltes Puzzle», wie es der Expo-Leiter Roque Gistau genannt hat, mit knapper Not termingerecht zu Ende gebracht werden. Als einer der drei Expo-Zugänge nimmt die Pavillonbrücke nun zunächst eine Ausstellung auf, deren Thematik – der verantwortungsvolle Umgang mit der beschränkten Ressource Wasser – den Besuchern in der Folge noch auf tausenderlei Weise nahegebracht wird.

Baulich findet die vom Delicias-Bahnhof über die Hadid-Passerelle führende Achse auf der Halbinsel ihre Fortsetzung im Kongresszentrum der Madrider Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano. Gleichfalls ein metallverkleideter Körper, spricht er formal doch eine ganz andere Sprache: Während sich bei Hadid das Dreieck als strukturelles Grundelement in sanfte Kurvaturen auflöst, wird hier das unregelmässig gezackte Profil des langgestreckten Volumens trotz seiner bescheidenen Höhe als Skyline lesbar, deren Schlussakkord die schon erwähnte Torre del Agua setzt. Noch harmonischer wirkt diese Architektur bei Nacht, wenn das kunstvolle Gitterwerk der Kongresshaus-Fassade schimmernd zum abschliessenden, rundum verglasten Leuchtturm von Enrique de Teresa überleitet.

Im Innern bildet sich die verspielte Silhouette des Centro de Congresos als bewusst karg ausgestaltete Raumsequenz ab – es sind die Besucher, die diese Bühne beleben sollen. Unter den Expo-Architekten sind Nieto-Sobejano mit dieser Attitüde eine Ausnahme. Sie gehören übrigens auch zu den wenigen, die sich ihr Projekt durch keinerlei vom Ausstellungsthema inspirierte Metaphern verwässern liessen.

Die Gestalt der benachbarten Torre del Agua, die sich aus ihrem tropfenförmigen Grundriss ergab, ist gewiss attraktiv; besonders praktisch aber ist sie leider nicht. Der aus der Ferne scharf konturierte Glasturm erscheint beim Näherkommen zusehends immaterieller; bis sich auch die zwanzig Geschosse, die seine Brisesoleil-Umkränzung vorgaukelt, im Innern als Illusion erweisen. In Wirklichkeit ist es vorläufig ein durch ein einziges Zwischengeschoss unterteilter Hohlraum, beherrscht von zwei entsprechend gigantischen, selbstverständlich aquatischen Motiven verpflichteten künstlerischen Beiträgen. Die umlaufende Rampe, über die man das Aussichtsdach erwandert, soll zwei Kilometer messen. Dennoch wird der Bau – eventuell auf 90 Meter aufgestockt, gewiss aber auch horizontal unterteilt – künftig der Gegenwartskunst Raum bieten, der Saragossa anders als manch kleinere spanische Provinzkapitale bisher die kalte Schulter zeigte.

Cool ist anders

Mit einem Schulterzucken hat die Kritik die Torre del Agua aufgenommen. Und während der Kongressbau von Nieto-Sobejano und Zaha Hadids Brücke von Spaniens Fachwelt eher kühl betrachtet wurden, erkor diese den spanischen Pavillon von Francisco Mangado zur eigentlichen Ikone der Expo. Das Renommee des aus Navarra stammenden Architekten beruhte bisher einzig auf der Vernünftigkeit seiner Bauten. Als unfreiwilliger Gegenspieler von Zaha Hadid triumphiert er nun auf deren ureigenem Feld. Hie eine liegende Gladiole, da ein aus dunklen Teichen aufragender Pappelhain: Jenseits aller Geschmacksfragen ist Mangados Entwurf, eben weil er ein ebenso einprägsames Bild schafft, mit Hadids Pavillonbrücke zu vergleichen. Auch wenn man Mangados hinter einem Wald schlanker, keramikumhüllter Säulen verborgenen Glaspavillon trotz seiner scharfkantigen Form als Kitsch betrachten kann, so führt er doch vor, wie Räume ohne energieverschwenderische Klimaanlagen um etliche Grade gekühlt werden können.

Selbstverständlich findet man an der Expo 2008 ein ganzes Sortiment an Lösungen für dasselbe Problem. So rühmen sich die fünf unter der Regie der Katalanen Batllé-Roig entworfenen «plazas temáticas» genauso ihrer nachhaltigen, auch Aussenräume kühlenden Systeme wie das einem Tonkrug nachempfundene, aber absurderweise «Leuchtturm» genannte Gebilde, in dem über 300 Nichtregierungsorganisationen ihre Anliegen verbreiten. Mit Wasser, das auf ein als Projektionsfläche dienendes Dachsegel plätschert, wird auch der Schweizer Pavillon «natürlich» temperiert. Mit Afghanistan hat die Schweiz übrigens einen interessanten Nachbarn erhalten, weil topografische Verwandtschaften unter den einheitlichen Dächern, unter denen über hundert Staaten und die dreizehn autonomen Regionen Spaniens ihren pfleglichen Umgang mit dem kostbaren Gut inszenieren, den Vorrang vor ihrer geografischen Nähe hatten.

Dass die USA und Grossbritannien auf eine Teilnahme verzichteten, glaubt die Expo dank der starken, als zukunftsträchtiger erachteten asiatischen Präsenz verschmerzen zu können. In technologischer Hinsicht setzt gleichwohl das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit seinen «digital water walls» das Highlight, während die Schweiz konsequent dem Understatement huldigt. Gewiss nicht die übelste Option in einem Umfeld, in dem sich die aragonesischen Gastgeber in Gestalt eines sechsgeschossigen schwebenden Flechtkörbchens präsentieren (Entwurf: Daniel Olano), auf dem aufblasbare Feigen und Pfirsiche aus Plastic für Stimmung sorgen, bevor auch dieses Bauwerk seinem Endzweck als Sitz einer Lokalbehörde zugeführt wird. Die architektonisch belanglose Hülle der Länderpavillons soll künftig als Business-Park vermarktet werden. An die ewige Wasserproblematik wird man sich dann wohl auch hier nur erinnern, wenn der Ebro – wie eben dieser Tage – über die Ufer zu treten droht oder aber die Stadt als beunruhigend spärliches Rinnsal durchfliesst. Denn Saragossa fühlt sich seit je als Verwalterin der Wasserreserven eines durch sein extremes hydrografisches Ungleichgewicht gekennzeichneten Landes, das gerade in dieser Hinsicht freilich auch ein verkleinertes Abbild der Erde ist.

[ Die Expo Zaragoza 2008 dauert bis 14. September. Informationen zu den rund 3000 programmierten «Spektakeln» und Kolloquien: www.expozaragoza2008.es. ]

15. April 2008 Neue Zürcher Zeitung

Lückenbüsser und Lückennutzer

Eine Ausstellung über städtische Provisorien in Barcelona

Jede Stadt besitzt Restgrundstücke und Freiräume, die auf unterschiedlichste Weise spontan genutzt werden. Wie formenreich diese Interventionen nicht nur in den Schwellen- und Drittweltländern sind, zeigt derzeit die Ausstellung «Post-it City» im CCCB in Barcelona.

Im Drehbuch, das sich Barcelona auf den Leib geschrieben hat, spielt der öffentliche Raum die Starrolle. Doch das flimmernde Bild einer freizügigen, gut gestylten Partystadt, in der permanent die Sonne scheint, hat sich für ihre Einwohner nicht erst durch die Aussicht getrübt, dass dank der Lieblichkeit des Klimas das Wasser demnächst per Schiff oder Bahn herbeigeschafft werden muss. Das «Modell Barcelona», touristisch erfolgreich ausgebeutet und lange ein urbanistischer Exportschlager, ist längst mit den ihm selbst innewohnenden Widersprüchen kollidiert und wird trotz der fortgesetzten Selbstbejubelung zunehmend in Frage gestellt.

In diese Kontroverse schreibt sich auch eine Ausstellung im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) ein, obwohl nur 12 der 78 hier präsentierten «Feldarbeiten» die Stadt selbst zum Schauplatz haben. Denn die spontane Nutzung städtischer Freiräume und Restgrundstücke zwecks kommerzieller, spielerischer oder sexueller Aktivitäten – so lässt sich das Thema umreissen – ist ein weltweites Phänomen.

Morphologie des Ephemeren

Der Begriff «Post-it City», vom Mailänder Architekten Giovanni La Varra geprägt, meint städtische Provisorien, in denen sich die dringlichsten Bedürfnisse einer Stadt fortlaufend neu manifestieren, um sich ebenso schnell wieder von deren Körper zu lösen, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen. Daher ist auch die «Post-it City» genannte Recherche, die Martí Peran 2005 in Barcelona mit einem Workshop initiierte, potenziell endlos, und die derzeitige, von Peran, La Varra, Filippo Poli und Federico Zanfi kuratierte Schau versteht sich lediglich als Zwischenbilanz.

Den Prolog bildet das heute fast vergessene Bravourstück des jungen Deutschen Mathias Rust, der 1987 mit einer Cessna auf dem Roten Platz in Moskau landete: paradigmatischer Extremfall einer kurzfristigen, von keiner Obrigkeit vorgesehenen Inbeschlagnahme des öffentlichen Raums. Unspektakulär, ja monoton wirkt hingegen auf den ersten Blick die Präsentation der mehrheitlich eigens für diese Ausstellung geschaffenen Arbeiten. Auf je zwei Tischen, wandseitig ergänzt durch Videos oder anderes Bildmaterial, dokumentieren sie so diverse Phänomene wie mobile Garküchen in Hanoi, bewohnte Friedhöfe in Kairo oder von orthodoxen Juden zur Erinnerung an den Exodus an ihre Häuser gezimmerte, jeweils während Sukkot acht Tage lang bewohnte Laubhütten in Brooklyn. Ebenso Wissens- und Staunenswertes erfährt man über die Organisationsmuster gigantischer Märkte wie der «Salada» in Buenos Aires oder des Warschauer «Jarmark», beide vom Untergang bedroht, obwohl sie Tausenden ein Auskommen sichern.

Notgeborene Stadtlust

Es sind fast durchweg lokale Künstler, Architekten und Anthropologen, die – oft im Kollektiv – zum Materialreichtum dieser Ausstellung ihr Scherflein beigetragen haben. Fremdblicke sind die Ausnahme; zugleich jedoch, in der strengen Ordnung schon durch ihr Grossformat distinguiert, auch künstlerische Highlights. Das Baustellen-Triptychon des holländischen Fotografen Bas Princen veranschaulicht fast beiläufig die elenden Lebensbedingungen chinesischer Wanderarbeiter.

So wie sich deren Barackensiedlungen in der Immensität eines offensichtlich dauerhafteren Zementmeers verlieren, so kondensiert sich in den von der Chilenin Francisca Benítez gefilmten, im Geäst von Pariser Bäumen deponierten Habseligkeiten afghanischer Immigranten oder in der von Teddy Cruz analysierten spontanen Architektur der Armenviertel im mexikanischen Tijuana das Provisorische aller Urbanität. Die komplexe Schönheit der Grossstadt aber reflektiert auf meisterliche Weise das «São Paulo City Tellers» betitelte Stadtporträt des Italieners Francesco Jodice.

[ Bis 25. Mai. Katalog: Post-it City. Occasional Urbanities / Ciutats ocasionals. Katalanisch, spanisch und englisch. Hrsg. CCCB, Barcelona 2008. 232 S., € 15.– (ISBN: 978-84-9803-275-8). ]

21. Februar 2008 Neue Zürcher Zeitung

Eiserner Schmetterling

Das neueröffnete «Caixa-Forum» von Herzog & de Meuron in Madrid

Als sich die katalanische Sparkasse La Caixa um 1985 als Kulturvermittlerin zu profilieren begann, genoss die Gegenwartskunst in Spanien noch wenig öffentlichen Rückhalt. Nun setzt die Bank mit dem Caixa-Forum von Herzog & de Meuron in Madrid ein Zeichen.

Spaniens grösste Sparkasse mischt nicht nur im spanischen Finanz-, Energie- und Industriesektor mit, sondern ist durch die Fundación La Caixa auch einer der Hauptakteure im Kulturleben des Landes. Mit einem Jahresetat von 500 Millionen Euro (2008) gilt diese als eine der fünf bestdotierten Stiftungen der Welt. Drei Fünftel des Budgets werden für soziale Belange aufgewendet, je etwa 80 Millionen fliessen in die Bereiche Forschung und Umwelt sowie Kultur. Und wie sich das einst von Joan Miró geschaffene Firmensignet der Sparkasse von ihrem Hauptsitz Barcelona aus über ganz Spanien verbreitet hat, so expandiert La Caixa auch als Kunstinstitution. In Madrid war sie bisher mit Ausstellungsräumen an der vornehmen Calle Serrano präsent. Dass sie nach Höherem strebt, macht nun – schräg gegenüber dem Prado, halbwegs zwischen der Sammlung Thyssen und dem Museum Reina Sofía – das jüngst eröffnete Caixa-Forum Madrid deutlich.

Transformation

Die Ortswahl mag smart erscheinen. Doch das Grundstück hatte einen kleinen Kunstfehler. Miterworben werden musste nämlich ein um 1900 errichtetes, denkmalgeschütztes Elektrizitätswerk. Vom Paseo del Prado zurückversetzt, verborgen hinter einer Tankstelle, stellte dieses Ziegelsteinüberbleibsel mit seinen seit je blinden Fenstern die Architekten vor eine in mehrfacher Hinsicht tückische Aufgabe. Die Nutzfläche auf 10 000 Quadratmeter zu verfünffachen, ohne die bestehenden Baulinien der engmaschigen Gassen hinter der Prachtavenue zu verletzen; den Altbau in seiner äusserlichen Unscheinbarkeit intakt zu belassen und ihn, unter Rücksichtnahme auf den urbanen Kontext, zugleich in eine architektonische Ikone zu verwandeln – so ungefähr lautete der Bauauftrag, der 2002 an die Basler Architekten Herzog & de Meuron erging.

Ihn zu erfüllen, bedingte eine Aufstockung des Altbaus von drei auf fünf Geschosse; zwei weitere wurden unterirdisch eingezogen. Das Sockelgeschoss hingegen wurde buchstäblich aufgelöst, um den Eingangsbereich als gedeckte Plaza zu gestalten – in Fortsetzung des auf den Paseo del Prado sich öffnenden, durch die Beseitigung der einstigen Tankstelle gewonnenen Freiraums. Seitlich flankiert diesen Platz eine Brandmauer, die vom Landschaftsarchitekten Patrick Blanc in einen vertikalen Garten verwandelt wurde. Dieser befremdlich-anmutige Pflanzenteppich ist auch als Pendant zum Botanischen Garten zu verstehen, dessen Haupteingang künftig gegenüber dem Caixa-Forum zu liegen kommen soll – gemäss Alvaro Sizas Entwurf für die Neugestaltung jener Mischung aus Autobahn und Stadtwäldchen, die der Paseo del Prado ist.

In der Schwebe

Bekämpft von einer durch Carmen Thyssen angeführten Schildbürgerbewegung, befindet sich das Siza-Projekt allerdings weiterhin in der Schwebe. Der Begriff des Schwebens trifft übrigens auch auf das Bauwerk der Schweizer Architekten zu. Scheinbar unvereinbare Anforderungen austarierend, hält es die Balance zwischen Diskretion und Dissonanz. So sind die willkürlich anmutenden Volumina des Aufbaus fast mimetisch den chaotischen Dachformen der unmittelbaren Umgebung nachempfunden; und ihr rostiges, im oberen Teil perforiertes Stahlkleid hebt sich so krass von den Ziegeln des Altbaus ab, wie es sich mit ihnen – nicht nur farblich – zu verbrüdern versucht.

Nachgerade zu levitieren aber scheint dieser Zwitter durch das Fehlen des Sockels. Vom Eindruck des Schwebens aus der Ferne bis zur Empfindung der Schwere, sobald man unter die Baumasse tritt, erinnert diese überdachte «Plaza» an den ersten Bau, den Herzog & de Meuron in Spanien verwirklichen konnten: das blaue, Edificio-Forum genannte Dreieck am Strand von Barcelona. Nicht zu verwechseln mit dem 2002 eröffneten Caixa-Forum Barcelona, das – von andern Architekten verantwortet – indessen gleichfalls den Vergleich mit dem Madrider Kraftwerk herausfordert. Denn auch hier war es ein ziegelsteinernes Industriefossil, dessen Umbau ingenieurtechnische Bravour erforderte. In Barcelona verrät der von Arato Isozaki gestaltete Erschliessungsgraben nichts mehr von der delikaten Aufgabe, vor die sich der Statiker Robert Brufau gestellt sah, als er die hauchfeinen Ziegelmauern der märchenhaften, 1911 von Puig i Cadafalch vollendeten Fabrikanlage von ihren Fundamenten zu lösen hatte. Für den Madrider Bau von Herzog & de Meuron hingegen ist eben dieses Wagestück auch nach der Vollendung kennzeichnend. Erst unter den Silberkeilen der «Plaza»-Decke wird man der drei Kerngehäuse gewahr, die das alte Gemäuer und seinen Überbau stützen.

Das in einem originalgetreu restaurierten, bloss mit einem neuen Untergrund versehenen Meisterwerk der Industriearchitektur untergebrachte Caixa-Forum Barcelona ist mit jährlich 1,6 Millionen Besuchern eines der meistbesuchten Museen der Stadt. Das Caixa-Forum Madrid – hervorgezaubert aus einem vergleichsweise simplen Fabrikbau – wird ihm darin nicht nachstehen. Nachträglich erst zur Preziose umgeformt, und zwar ironischerweise von katalanischen Bauherren, eignet ihm eben auch deshalb etwas Symptomatisches für die ewige, nun in vieler Hinsicht zugunsten der einst hinterwäldlerischen Hauptstadt kippende Rivalität der beiden Metropolen.

Zur Eröffnung werden auf den beiden Ausstellungsgeschossen 34 der mittlerweile über 700 Werke umfassenden Sammlung der Stiftung präsentiert. Als Querschnitt durch die Oberliga der Gegenwartskunst nicht besonders originell, ist diese, was das Niveau der einzelnen Werke betrifft, in Spanien wohl dennoch weiterhin unübertroffen. Bei einer Stiftung, die für Kultur jährlich 80 Millionen Euro auszugeben hat, kommt freilich nicht nur die Crème de la Crème zum Zug. Wie hochrangig aber auch immer: Die von La Caixa ausgerichteten Ausstellungen, Konzertreihen, Debatten und Events aller Art werden stets an den von ihr selbst gesetzten Standards gemessen werden, und diese zielten nicht durchwegs auf möglichst hohe Besucherzahlen ab. Doch schon jetzt strömen die Besucher in hellen Scharen in das Madrider Caixa-Gebäude, das – so der ausführende Architekt Harry Gugger – «nur ein Instrument ist, das noch gestimmt werden muss».

31. Oktober 2007 Neue Zürcher Zeitung

Der Würfel findet Gefallen

Das Museo del Prado in Madrid ist von Rafael Moneo altmeisterlich à jour gebracht worden

Vom 19. ins 21. und wieder zurück ins 19. Jahrhundert: Unter dem Titel «El siglo XIX en el Prado» eröffnet das Madrider Museum heute seine neuen Ausstellungssäle – Teil der überfälligen, von Rafael Moneo diskret verwirklichten Modernisierung der grossen spanischen Pinakothek.

Dem Purismus des klassizistischen Baus, der seit 1819 das Museo del Prado beherbergt, hatten diverse An- und Umbauten schon länger zugesetzt, vor allem auf seiner Rückseite. An der Frage, wie das Museum dort weiterwachsen könnte, biss sich 1995 denn auch die halbe Weltelite der Architektur die Zähne aus. Ein Fiasko, denn nach Ansicht der Jury setzte keines der annähernd 500 zum Wettbewerb eingereichten Projekte die an sich umstrittenen Prämissen überzeugend um. Aus der Barrage mit zehn Teilnehmern ging drei Jahre später Rafael Moneo, mittlerweile mit dem Pritzker-Preis geadelt, als Sieger hervor: von der Staatsräson selbst, so schien es, als Garant architektonischer Vernunft erkoren.

Das intensive Museum

Wie schwer sich Spanien mit seinem «kulturellen Flaggschiff» tut, erwies sich, als auch Moneos zurückhaltender, der Selbstauslöschung zuneigender und bis zum Verdacht der Willfährigkeit des Architekten modifizierter Entwurf zu scheitern drohte. Für einmal waren sich die Politiker einig geworden, und selbst die katholische Kirche hatte den Parkplatz, auf den sie als Einnahmequelle zunächst nicht verzichten zu können glaubte, zur Überbauung freigegeben: Da erwachte jäh die Liebe der Anwohner zu einer Ruine, der vorher wohl kaum jemand einen Blick gegönnt hatte.

Der seit Jahrzehnten zerfallende barocke Kreuzgang der Jerónimos-Kirche, etwas erhöht auf der Rückseite des «Edificio de Villanueva» gelegen (wie der Prado nun bildungsbürgerlich und trotz den teilweise stümperhaften Eingriffen in Villanuevas schmale Raumsequenz gern genannt wird), bot sich als einziges von diesem aus direkt erschliessbares Grundstück für einen Neubau an. Bizarrerweise ist nun gerade dieser Kreuzgang der exquisiteste (und zweifellos geheimnisvollste) Teil einer Erweiterung, deren Charme sonst hauptsächlich in ihrer Diskretion liegt. Die granitenen Arkaden, im obersten Geschoss des noch unlängst als «Cubo de Moneo» verschmähten Ziegelsteinwürfels rekonstruiert und von diesem ummantelt, scheinen, durch die Glasüberdachung in Zenitallicht getaucht, das durch einen quadratischen, seinerseits hinterleuchteten Schacht in die beiden darunterliegenden Ausstellungsgeschosse fällt, zugleich aus sich selbst zu leuchten.

Späte Modernisierung

An die karge Noblesse von Moneos Innenräumen reicht das Äussere des Baus nicht heran. Die Gliederung der Ziegelsteinfassaden, zweifellos endlos auf die Umgebung abgestimmt, wirkt eben deshalb eher zaghaft. Selbst der ungewöhnliche Portikus, der – nach oben versetzt – dem Altbau buchstäblich die Stirn bietet, gibt diesem Haus kein Gesicht. Darunter bleibt das von der Künstlerin Cristina Iglesias gestaltete Bronzeportal ein schöner, trotz seinen mächtigen Dimensionen anekdotischer Fremdkörper.

Offensichtlich hat sich hier der Architekt nicht selbst ein Denkmal zu setzen versucht, sondern sich ganz den Erfordernissen eines Museums untergeordnet, das seine Modernisierung spät – später als die meisten andern Pinakotheken von Weltbedeutung – in Angriff genommen hat. So spät – und durch teilweise absurde Querelen weiter verzögert –, dass der Prado schon wieder zum Vorreiter werden könnte. Dürfte doch die Zeit der architektonischen Sensationshascherei gerade im Museumsbau allmählich abgelaufen sein, um wieder unprätentiösere und der Sache, nämlich der Kunst, umso besser dienende Räume entstehen zu lassen.

Die zu 70 Prozent ausländischen Besucher mochten mitunter über die Rumpelkammer Prado murren. Antiquiert von der Kasse bis zu den Kartenständern, bot ihnen jedoch kein anderes Museum Meisterwerke der Kunst in so hoher Konzentration. Und so soll es bleiben. Die Nutzfläche ist um 50 Prozent gewachsen, die Sammlung im Altbau aber wird praktisch unverändert präsentiert. Die neuen Säle sind Sonderausstellungen vorbehalten; der Moneo-Würfel nimmt ausserdem ein Auditorium, Werkstätten und andere Technikräume auf. Das Zwischenglied erstreckt sich, verborgen unter einem Buchsbaumgarten, als Raumkontinuum vom Vestibül über den Museumsshop bis zur Cafeteria: ein spitzwinkliges Dreieck, durch einen separaten seitlichen Eingang zugänglich und wie versenkt zwischen dem höher liegenden Jerónimos und dem Altbau, an den es sich schmiegt und in dessen Zentrum die «Sala de las Musas» nun als eigentlicher Verteiler fungiert. Hier und nur hier hat Moneo in den Villanueva-Bau eingegriffen, um dem Prado seinen natürlichen Haupteingang, die «Puerta de Velázquez», zurückzugeben. Nun können die Besucher zwar nicht mehr gleich nach dem Security-Check achtlos an Mantegnas «Hinschied der Muttergottes» vorbeischlendern (oder auch nicht), sondern werden in dem pompejirot stuckierten Saal vom Halbkreis von acht marmornen römischen Musen empfangen. Das wirkt, als möchte der Prado eher nach innen expandieren, die Intensität möglicher Kunsterfahrung jedenfalls nicht ganz verloren geben, und dafür laut seinem Direktor Miguel Zugaza gern auf Filialen in Abu Dhabi oder Las Vegas verzichten.

Zugaza, alles andere als ein Schwarmgeist, hat den Prado auf Kurs gebracht. Bevor er 2001 seine Leitung übernahm, hatte sich das Direktorenkarussell fast im Jahresrhythmus gedreht. Nun, da die umfänglichste Erweiterung des Museums seit seiner Gründung vollbracht ist – 152 Millionen Euro die Kosten –, gibt sich die Eröffnungsausstellung betont introvertiert.

Ein Prado aus dem Prado

Die spanische Kunst des 19. Jahrhunderts, das so turbulent verlief und schliesslich den Niedergang des Landes besiegelte, war bisher nicht der Stolz der Sammlung. Die Mehrzahl der 3000 Werke aus den entsprechenden Beständen wurde an Provinzmuseen ausgeliehen. Einige wenige mochten beiläufige Blicke in der Nachbarschaft von Picassos «Guernica» erhaschen, als das berühmte, 1981 aus New York an das demokratische Spanien zurückgegebene Bild seltsamerweise zunächst im «Casón del Buen Retiro» präsentiert wurde, einer seit Jahren geschlossenen Dépendance des Museums. Sie soll demnächst als Studienzentrum des Museo del Prado neu eröffnet werden.

Nun haben die Prado-Kuratoren knapp hundert Gemälde aus jener Epoche gefiltert – alle perfekt, ohne die anderswo beliebten Grellheiten restauriert –, ergänzt durch einige Skulpturen, und das Ergebnis lautet: Spaniens 19. Jahrhundert war auch in bildnerischer Hinsicht eine fortlaufende Kalamität.

Gerade die lange verpönte, da ideologisch befrachtete Historienmalerei jedoch hat einige herzzerreissende Ikonen hinterlassen: Gisberts «Füsilierung von Torrijos», Morenos «Carlos de Viana», «Juana la Loca» hier gar in zwei grossartigen Versionen. Der ganze Wahnsinn der spanischen Geschichte wurde von Malern, deren Namen im Lande selbst kaum jemand kennt, in diese Gesichter, diese Gesten gestanzt. Es wird aber auch klar: Zwischen Goya und Sorolla (den chronologischen Polen der Ausstellung) brachte Spanien keinen wirklichen Ausnahmekünstler hervor.

Madrazo, dominierende Figur der Jahrhundertmitte, war ein begnadeter Porträtist. Zur Kunstgeschichte trug er eher nichts bei. Allen akademischen Ballast warf nur Mariano Fortuny ab, dessen halluzinogene Miniaturen hier ihre Umgebung – die von Rafael Moneo neu geschaffenen Räume – genauso vergessen lassen wie ein 6 mal 4 Meter messender Historienschinken. Das spricht für Moneos Räume.

20. Februar 2007 Neue Zürcher Zeitung

Aufbruchsstimmung am Guadalquivir

Ein Entwurf von Koolhaas und einige feiner abgestimmte Projekte

Lange Zeit schien Córdoba, verglichen mit andern spanischen Provinzstädten, in einen Dornröschenschlaf versunken. Nun aber setzt auch es, vor allem an den Ufern des Guadalquivir, auf Erneuerung.

Ginge es nach dem Oberhaupt von Spaniens Muslimen, so würden in der einstigen Moschee von Córdoba schon morgen Gebete in Richtung Mekka gesprochen. Doch der katholische Bischof der Stadt hat dieses Ansinnen zurückgewiesen mit der Begründung, schon vor dem um 780 aufgenommenen Bau des islamischen Heiligtums habe sich hier ein christliches Gotteshaus befunden. Nach der «Reconquista» 1236 zur Kathedrale umfunktioniert, ist die Mezquita - auch wenn dem schier endlosen Geflecht ihrer Doppelbögen später ein christliches Herz eingepflanzt wurde - neben der Alhambra das grossartigste Bauzeugnis aus der Zeit von Al-Andalus. Vor ihr liegt der Puente Romano, Zeugnis von der Bedeutung der Stadt zu römischen Zeiten. Den Reichtum ihrer Geschichte trug sie lange mit Gleichmut. Die «Marke» Córdoba schlummerte vor sich hin, auch als 1992 der Anschluss an Spaniens erste, Madrid mit Sevilla verbindende Hochgeschwindigkeitsbahn (AVE) die Stadt in die Gegenwart zu katapultieren schien.

Glasbalken am Guadalquivir

Über den Puente Romano ratterte bis vor kurzem der Autoverkehr. Zurzeit wird die Brücke renoviert; sie soll künftig den Fussgängern vorbehalten bleiben, wobei der vorgesehene rosa Granitbelag für Diskussionen sorgt: kein Wunder in einer Stadt, die ihre schwarzweiss gemusterten Strassenpflästerungen wie Kunstwerke hegt. Könnten wir am Brückenkopf vor der Moschee in die Zukunft blicken, so erblickten wir links am gegenüberliegenden Ufer ein schmales, etwa zehngeschossiges Glasrechteck: die Stirnseite des «Palacio del Sur», der allerdings aus diesem Blickwinkel seine wahren Dimensionen verbirgt. Den Wettbewerb für dieses Kongresszentrum konnte Rem Koolhaas 2002 gegen Rafael Moneo, Cruz & Ortiz, Toyo Ito und Zaha Hadid für sich entscheiden. Es war ein Sieg der Cleverness über die Klugheit (die etwa Moneos Beitrag kennzeichnete). Der Holländer hatte sich über die Wettbewerbsbedingungen hinweggesetzt - und die Jury durch diese forsche Attitüde überzeugt. Das vorgesehene Grundstück ignorierend, sieht sein Entwurf einen die Miraflores genannte Halbinsel in ihrer ganzen Breite überspannenden, auf Pilotis ruhenden Glasbalken vor, der eine 360 Meter lange Promenade unter sich freilässt. Erinnerungen an Le Corbusier kommen auf, aber auch an Berlins von Koolhaas vermutlich nicht sehr geschätzte Spreebogenplanung.

Wohl ist der Kontext hier ein anderer. Gerade aber diesen degradiert Koolhaas «in Kolonialherrenmanier zum pittoresken Kontrast» - so der Designer Jakob Timpe, dem denn auch nicht Berlin, sondern Nordkorea einfällt, um die hinter dem «Palast des Südens» steckende Gesinnung zu definieren. Gewiss, Koolhaas' Intelligenz fand hier eine urbanistische Strategie und eine einprägsame Form; deren Proportionen aber werden in Córdoba wohl immer als Fremdkörper wirken. Das Projekt liegt seit 2002 auf Eis. Doch soll nun die Finanzierung gesichert sein und das endgültige Programm noch diesen Frühling abgesegnet werden. Dann wird sich weisen, inwieweit Koolhaas die von William J. Curtis bemäkelte «plumpe Detaillierung» seines schwebenden Balkens zu verfeinern vermochte und ob der Balken wirklich schweben wird. In Córdoba jedenfalls glaubt kaum mehr jemand, das Erdgeschoss werde von kommerziellen Nutzungen frei bleiben.

Balkon über den Auen

Vor fünfzehn Jahren löste der AVE-Anschluss in Córdoba einen ersten urbanistischen Erneuerungsschub aus. Architektonisch interessanter als der Bahnhof ist das angrenzende Busterminal von César Portela. Die breite, von hier ausgehende Promenade - eine Gleisüberdachung - hat Zentrumsfunktion erlangt. Bemerkenswerte Bauten fehlen indessen, abgesehen von zwei Wohnhäusern von Rafael de la Hoz, dem Sohn des gleichnamigen Architekten, der Córdoba von 1951 bis in sein Todesjahr 2000 mit teilweise exquisiten Interpretationen der Moderne nachgerade übersäte. Erst in diesem Jahrhundert rückten die lange vernachlässigten Ufer des Guadalquivir ins Blickfeld der Planer. Als die Stadt ein Projekt von Santiago Calatrava für eine neue Brücke verwarf, den Puente de Miraflores, werteten dies manche als Symptom dafür, dass Córdoba sich architektonisch der Gegenwart verschliesst. Doch das stattdessen über den Fluss gespannte minimalistische Cortenstahlband von Herrero Suárez Casado ist zugleich zeitnaher und zeitloser, und zweifellos fügt es sich unaufdringlicher ins Stadtbild als eine skulpturale Konstruktion. Nur bedingt zu bedauern ist auch das Scheitern von Carlos Ferraters Entwurf eines 75 Meter hohen Hotelturms, der im Entwurfsstadium als Symbol für den Aufbruch der Stadt gefeiert worden war.

Ablesbar wird dieser Aufbruch mittlerweile eher an kleineren Interventionen, die an Delikatesse nichts zu wünschen übriglassen. So trifft man - vom Puente de Miraflores nur einige Schritte flussaufwärts - auf eine alte, für die Ufer des Guadalquivir typische Getreidemühle, die Juan Navarro Baldeweg mit einem stimmigen Aufbau zum «Museo Hidraúlico» umgestaltet hat. Dieses steht inmitten der Auen, die sich in der Flussbiegung erhalten haben und die in die gestaffelten Geometrien des «Balcón del Guadalquivir» übergehen: kanalartige Wasserbecken und Grünbänder, die sich bis zum Feria-Gelände ziehen und gleichfalls die Handschrift Navarro Baldewegs tragen. Ein weiterer neuer Park befindet sich am gegenüberliegenden Ufer. Sein Entwerfer, der ursprünglich als Maler bekannte Juan Cuenca, scheint trotz eher mittelprächtigen Ergebnissen in der besonderen Gunst der zuständigen Obrigkeit zu stehen, vertraute ihm diese doch auch die Erneuerung der imposanten Plaza Corredera und neuerdings die des Puente Romano an. An seinen Parque de Miraflores wird dereinst Koolhaas' «Palacio del Sur» grenzen.

Archäologie und Geometrie

Die Miraflores-Halbinsel, von spärlichen Zufallsbebauungen gekennzeichnet, lässt trotz ihrer privilegierten Lage gegenüber der Altstadt jegliche Urbanität vermissen. Dem war nicht immer so, wie die Ruinenfelder der arabischen Stadt zeigen, auf deren Überreste Archäologen auch fern vom Zentrum immer wieder stossen. Im Jahr 936 war der Hof des Kalifen acht Kilometer westlich der Stadt verlegt worden. Die Palaststadt Medina Azahara gilt als grösste einheitlich geplante Stadtanlage ihrer Zeit und nimmt im islamischen Städtebau durch ihre orthogonale Ordnung eine Sonderstellung ein. Doch schon im Jahr 1010 wurde die Anlage in einem Bürgerkrieg zerstört und danach als Steinbruch genutzt. Heute werden ihre erst zu etwa zehn Prozent freigelegten Ruinen und Gebäudereste durch mehrere illegal errichtete Wohnsiedlungen bedrängt.

Umso behutsamer gingen die Madrider Architekten Nieto und Sobejano bei der Planung des Besucherzentrums für die archäologische Stätte vor. Das Gebäude, das ihnen vorschwebte, sollte so aussehen, als wären sie im Boden selbst darauf gestossen. Tatsächlich basiert der Grundriss des introvertierten Gevierts, dessen weisse Betonmauern mehrere Patios umschliessen, auf den Mauerresten dreier Bauten der Stadt Abd al Rahmans III. Der puristische Bau, der ein Museum, Werkstätten und ein Auditorium aufnehmen wird, soll in etwa einem Jahr eröffnet werden.

Kurz vor Baubeginn steht ein anderes Projekt derselben Architekten. Gegen Kontrahenten wie Coop Himmelb(l)au und Zaha Hadid gewannen Nieto Sobejano auch den Wettbewerb für den «Espacio de creación artística contemporánea» (ECAC): ein Ausstellungszentrum mit Atelierräumen auf dem ursprünglich für das Kongresszentrum vorgesehenen, dank Koolhaas' Entwurf frei gebliebenen Ufergelände. Der Entwurf des Madrider Architektenpaars ist das Ergebnis einer langwierigen Suche nach einer isotropen, aus einem Hexagon entwickelten Raumordnung, deren Komplexität - wie die der Mezquita - auf einfachen, jedoch verborgenen geometrischen Gesetzen beruht. Ein verkrampfter, folkloristischer Pastiche demnach? Keineswegs. Die wabenartige Anlage verspricht einer der bemerkenswertesten Bauten der spanischen Gegenwartsarchitektur zu werden, wobei die von den Architekten als «Maske» bezeichnete, von LED-beleuchteten Öffnungen durchlöcherte Medienfassade eher nebensächlich ist. Der kleine feine Bau scheint das herrische Gehabe des kolossalen Containers von Koolhaas - und mit ihm die Fragwürdigkeit der zunehmend zum Machtspiel verkommenden Stararchitektur - zu konterkarieren.

29. Juli 2006 Neue Zürcher Zeitung

Der chamäleonartige Totempfahl

Jean Nouvels kinematographisch konzipierte Torre Agbar in Barcelona

Der erste Wolkenkratzer des französischen Architekten Jean Nouvel ist ein ebenso erstaunlicher wie kritikwürdiger Bau. Die spektakuläre äussere Erscheinung und die Perspektivwechsel im Innern zeugen vom kinematographischen Architekturverständnis des Franzosen.

Lange war der Flohmarkt «Les Encants» die einzige Attraktion der Plaça de les Glòries gewesen. Dabei bildet dieser Schnittpunkt dreier Hauptachsen auf Cerdás Stadterweiterungsplan von 1859 das eigentliche Zentrum Barcelonas. Mit dem Bau von Bofills Nationaltheater und Moneos Auditorium, wie auch durch die Verlängerung der Diagonale bis ans Meer, gewann der Platz in den letzten Jahren an Bedeutung. In Zukunft werden Bauten von Martorell Bohigas Mackay, Dominique Perrault, Zaha Hadid und Federico Soriano den Stadtteil weiter aufwerten. Auch sein zurzeit so einsam aufragendes Wahrzeichen wird dann - zum Guten oder Schlechten - Gesellschaft erhalten: die unlängst eröffnete Torre Agbar von Jean Nouvel, ein 144 Meter hohes Bürogebäude für den Wasserkonzern Aguas de Barcelona.

PHALLISCHE ARCHITEKTUR

Zur Ikone bestimmt ist es allein schon durch seine phallische Form. Nouvel schwebte nach eigenem Bekunden ein Geysir vor. Die Brüskheit, mit welcher der Turm aus einer vorläufig sehr disparaten Umgebung hervorschiesst, macht dies nur zu wahr. Zum eigentlichen Spektakel wird er aber durch das Fassadensystem. Die Aussenhaut besteht aus 60 000 abgewinkelten Glasscheiben, in denen sich die fünfundzwanzig verschiedenen Farbtöne der darunterliegenden Aluminiumverkleidung brechen. Je nach Lichtverhältnissen erscheint das Gebäude gleissend hell, fast immateriell, dann wieder stumpf und grau, oder es zeigt in verschiedenen Intensitätsgraden jene Polychromie, die nachts aus dem Bau einen Leuchtturm macht. Das Rot des unteren Teils geht unregelmässig in das oben dominierende Blau über - zufällig die Klubfarben des FC Barcelona. Doch noch eine andere Symbolik, die man im Innern wiederfindet, lässt sich daraus leicht herauslesen: Es sind die Flammen der Hölle, die da emporzüngeln! Mit der abschliessenden Kuppel scheint Nouvel, ähnlich wie bei seiner nicht realisierten «Tour sans fin» für Paris, die Auflösung des Gebäudes im Himmel anzustreben.

Nur noch erahnen lässt die schuppige, chamäleonartig schimmernde Haut die Struktur, die sich darunter verbirgt: den Betonzylinder mit seinen Fensteröffnungen, Quadraten von 92,5 Zentimetern Seitenlänge, 4400 an der Zahl. Sie sind nach dem Zufallsprinzip (allerdings nordseitig zahlreicher als gegen Süden) darüber verteilt, zuweilen einzeln, meist zu beliebigen Gruppen von drei bis sechs Quadraten formiert. Dieser fraktale Betonmantel bot während der Bauzeit einen womöglich noch phantastischeren Anblick als das Endergebnis. Da er zugleich das Tragwerk des Gebäudes bildet, machte seine extreme Durchlöcherung allerdings wiederum extreme konstruktive Kunstgriffe notwendig. Dafür gewährt diese Struktur allein durch ihre Betonmasse eine vorzügliche Wärmedämmung.

Das im Querschnitt kreisrund erscheinende Gebäude hat in Wirklichkeit einen leicht elliptischen Grundriss. Eine zweite, etwas dezentrierte Betonellipse in seinem Innern bildet den Technik- und Erschliessungskern. Die Aufzüge allerdings wurden mehrheitlich in die Aussenhaut verlegt, so dass die Liftfahrten einem Aufstieg in den Himmel über Barcelona gleichkommen. Der Effekt wird durch die von fuchsia über gelb zu blau reflektierenden Scheiben ins Psychedelische gesteigert: auf dem Trip ins Büro.

FILMISCHE EFFEKTE

Wie die äussere Erscheinung lässt auch das Innere mit seinen optischen Effekten, Reflexen und Perspektivwechseln keinen Zweifel an Nouvels kinematographischem Architekturverständnis. Es ist eine danteske Reise, die aus dem Soussol hinauf ins 34. Geschoss führt: aus dem geradezu an ein Inquisitionsgericht gemahnenden Auditorium in die rund und gleissend (fast wie der kahle Schädel des Architekten) den Bau abschliessende Kuppel. Dass sie dies als eigenständige Struktur tut, ist freilich ein Schwachpunkt des Baus, zumal wenn man Norman Fosters nur wenig früher entstandenen, als Gurke apostrophierten Swiss Re Tower in London zum Vergleich heranzieht. Dessen Eleganz resultiert eben aus der in sich geschlossenen Struktur, während hier der Übergang vom Betonmantel zu der ihm aufgesetzten Stahl- und Glaskuppel als Bruch erscheint: Nouvel vermochte das konstruktive System nicht durchzuziehen.

Einmal im Innern, ist es dann Geschmackssache, ob man Fosters unterkühlte Hall vorzieht oder doch eher Nouvels magmatischen, durch das Zufallsspiel der Fensterquadrate geprägten und im mediterranen Licht badenden Eingangsbereich. Eine massive Schiefertreppe führt von hier in die «Krypta», das finstere Auditorium, hinunter. Nouvel selbst nennt es den «Geigenkasten». Das Cafeteria-, Sitzungs- und Chefgeschoss überspringend, sei kurz ein Normalgeschoss geschildert. Zwischen den beiden elliptischen Betonzylindern von Aussenwand und Erschliessungskern nimmt es stützenfreie, 7 bis 14 Meter breite Grossraumbüros auf. Raffiniert sind die zweischichtigen Decken, die die Illusion einer grösseren Raumhöhe vermitteln. Die Möblierung ist angenehm unprätentiös. Dabei ist es Ansichtssache, ob man den kleinteiligen Raster der Vorhangfassade beim Blick durch die aleatorisch verteilten Fensterquadrate als störend empfindet. Er ist auch in Nouvels paradiesischem Aussichtsgeschoss nicht zu übersehen, unter der Kuppel, in deren Mitte eine weisse Eichel den Technikkern abschliesst. Kulisse für einen Kubrick-Film?

DER MEISTER VOR ORT

Die Torre Agbar ist ein Projekt von Jean Nouvel und von b720. Hinter diesem Namen verbirgt sich ein auf siebzig Mitarbeiter angewachsenes barcelonisches Büro, das von Fermín Vázquez geleitet wird. Dass bei Bauten der zum erlesenen Klub der weltweit tätigen Stars gehörenden Architekten ein lokaler Partner mitwirkt, dessen Name meist ungenannt bleibt, ist eher die Regel als die Ausnahme. Im Fall der Torre Agbar stand b720 sogar am Ursprung des Projekts: Vázquez war von der Stadt beauftragt worden, einen Nutzungsplan für das Gelände auszuarbeiten, und brachte, als ein Wettbewerb für den Turmbau ausgeschrieben wurde, den Namen Nouvel ins Spiel. So lässt sich festhalten, die Grobstruktur des Baus stamme von Nouvel, die Detailfragen seien indessen von b720 gelöst worden.

Fermín Vázquez hat auch seine eigenen Projekte; daneben arbeitet er zurzeit aber erneut mit zwei Global Players der Architektur zusammen. David Chipperfield und b720 errichten im Hafen von Valencia das Hauptgebäude für den America's Cup 2007 sowie die «Justizstadt» in Barcelona, eine Milliardeninvestition, um die bisher über die Stadt verstreuten Gerichtsbehörden zu zentralisieren. Unweit davon, gleichfalls an der bisher so schäbigen Stadteinfahrt vom Flughafen, plant Toyo Ito die Erweiterung der «Fira», mit der Barcelona seine Stellung als einer der weltweit führenden Messeplätze ausbauen will. Vázquez' Büro ist an der Projektierung der beiden je hundert Meter hohen Eingangstürme beteiligt.

19. Mai 2006 Neue Zürcher Zeitung

Die Bäume der Baronin

Kontroverse um die Neugestaltung des Paseo del Prado in Madrid

Der Madrider Prachtboulevard Paseo del Prado, ein heute vergammelter und täglich von 130 000 Fahrzeugen umbrauster Strassenzug, der die drei wichtigsten Museen der Stadt verbindet, zeugt nicht eben von urbanistischer Kultur. Ebenso wenig tut dies die Kontroverse, die sich um seine Neugestaltung nach den Plänen von Alvaro Siza entsponnen hat. Ausgelöst wurde sie von Baron Thyssen-Bornemiszas Witwe Tita Cervera, die sich als Schönheitskönigin und Kunstsammlerin, aber bisher nicht als Stadtplanerin hervorgetan hat. Nun droht sie, sich vor dem Museum Thyssen-Bornemisza an einen der Bäume fesseln zu lassen, die bei der Neugestaltung umgepflanzt werden sollen. Sie könnte damit ein Projekt zu Fall bringen, das bereits alle Bewilligungsverfahren durchlaufen hatte.

Gemäss der Baronin ist das Siza-Projekt ein ökologisches Attentat, dem 690 alte Bäume zum Opfer fallen werden. Baustellenmüde und dankbar für die Gelegenheit, ihr Umweltgewissen so bequem beweisen zu können, sind die Madrider scharenweise auf diese Behauptung hereingefallen, die laut den Planern irreführend ist. Gefällt werde nicht ein einziger Baum: Vorgesehen seien ausschliesslich Umpflanzungen (die indessen erfahrungsgemäss nicht alle Bäume überleben). Zudem beziehe sich die Zahl 690 auf das gesamte Planungsgebiet, schliesse die zahlreichen kranken Gewächse ein (deren 200 inzwischen bereits gefällt wurden) und entstamme ohnehin einem längst überholten Planungsstadium. Von den voraussichtlich 11 betroffenen Bäumen in der Umgebung des Thyssen-Museums sei im Übrigen kaum einer über zehn Jahre alt.

Alvaro Siza liess verlauten, der Wunsch der Baronin, ihr Museum durch einen Garten zu betreten, sei «höchst respektabel, aber leider nicht akzeptabel». Sein Entwurf sieht vor, den Verkehr fast ganz auf die West- bzw. Thyssen-Seite des Boulevards zu verlegen - freilich drastisch reduziert: Verglichen mit den bisher annähernd zwanzig Fahrspuren, wirken die fünf, die künftig vor dem Museum durchführen sollen, geradezu idyllisch. Besonnenere Kritiker erachten denn auch die Verkehrsführung und nicht die botanischen Aspekte für bedenklich an dem Projekt. Zumindest diskussionswürdig ist darüber hinaus, dass es die Symmetrie der auch als «Salón del Prado» bekannten Anlage bricht.

Für Diskussionen gesorgt aber hat allein der «Regenbogenurbanismus» der Baronin, von der übrigens keine der 600 im Bewilligungsverfahren behandelten Einsprachen stammt. Der Stiftungsrat des Thyssen-Museums hatte in mehreren Sitzungen mit den Planern Gelegenheit, seine Wünsche einzubringen, und die Verbreiterung des Trottoirs von drei auf fast acht Meter erscheint als klare Verbesserung der Museums-Umgebung. Dennoch konnte die Baumfreundin bereits einen Erfolg verbuchen: Madrids Bürgermeister hat inzwischen eine zweite öffentliche Präsentation des Projekts angeordnet.

3. März 2006 Neue Zürcher Zeitung

Bunte Wogen

Der neue Mercat de Santa Caterina in Barcelona

Bei seinem frühen Tod vor fünfeinhalb Jahren hinterliess Enric Miralles eine Reihe bedeutender Entwürfe. Inzwischen hat seine Partnerin Benedetta Tagliabue etliche dieser Projekte ausführen können. Ein Heimspiel sozusagen war der neue Mercat de Santa Caterina.

Im Sommer 2000 starb, erst fünfundvierzigjährig, Spaniens erfindungsreichster Baukünstler der jüngeren Zeit: Enric Miralles. Seine Partnerin Benedetta Tagliabue leitet das Büro in Barcelona seither unter dem Sigel EMBT weiter. Man kann darin den Willensakt einer couragierten Witwe sehen. In die Bewunderung mischt sich auch ein wenig Skepsis - eingedenk der Schwierigkeit des Unterfangens, eine so einzigartige formale Sprache wie die von Miralles fortzuschreiben. Ein Wagnis war es allemal, und Tagliabue hatte dabei nicht wenige Widerstände zu überwinden. Ohne den Rückhalt des ganzen Teams wäre es kaum möglich gewesen, die teilweise erst im Projektstadium befindlichen Entwürfe auszuführen: die Musikschule in Hamburg, das Rathaus in Utrecht, das Parlament in Edinburg, einen Campus im galicischen Vigo, zwei Pärke in Barcelona sowie den kurz vor der Vollendung stehenden Hauptsitz des Energiekonzerns Gas Natural, Miralles' prominentesten Bau in der katalanischen Metropole. Einzig die Architekturschule in Venedig scheint, wie so viele zeitgenössische Entwürfe für die Lagunenstadt, Projekt zu bleiben.

Es geht auch anders

Soeben fertig stellen konnte Benedetta Tagliabue eine Planung, die Miralles besonders am Herzen lag: Santa Caterina. Diese Markthalle - die zweitälteste Barcelonas - war sein eigenes Einkaufsrevier gewesen. Entstanden 1848 auf dem Gelände eines Klosters, war die Halle lange schon ein wenig verlottert, zu gross ausserdem für die inzwischen nur noch 70 Marktstände. Die Modernisierung der zum Teil sehr schönen gedeckten Viktualienmärkte der Stadt - über vierzig insgesamt - ist im Übrigen als Versuch zu werten, dem Siegeszug von Supermarktketten und Shopping- Malls die Stirn zu bieten.

Bereits um 1990 hatte die Erneuerung des angrenzenden Altstadtviertels eingesetzt. Eine unbedachte Abrisswelle hinterliess Lücken, deren eine noch heute als «el forat de la vergonya» bekannt ist: das Schandloch. Der lokale Widerstand gegen das spekulative Vorgehen wuchs, und beim UIA-Kongress 1996 wurde den Urbanisten bewusst, dass eine so grobschlächtige «Rehabilitation» ihr Ansehen auch international ramponierte. Da kam Miralles wie gerufen, lebte der bekannte Architekt doch selbst in diesem Stadtteil. Umgehend übertrug ihm Barcelona nicht nur die Renovation der Santa-Caterina-Halle, sondern auch den Masterplan für deren Umgebung. Nachdem der neue Markt vor einigen Monaten hat eröffnet werden können, zeigen nun auch die jüngsten, nach Miralles' volumetrischen Vorgaben errichteten Wohnbauten, wie eine einfühlsame Neugestaltung der Altstadt aussehen kann.

Daran, dass hier zuvor schon einige plumpe Wohnkuben hingeklotzt worden waren, war leider nichts mehr zu ändern. Doch nun nimmt die Porta Cambó genannte Verlängerung der gleichnamigen, vor dem Markt endenden Achse den Verlauf der alten Gassen fast spielerisch auf. Die weniger engmaschige, von Passagen und offenen Patios durchbrochene Bebauung überrascht durch die plastischen Staffelungen und Kurvungen der oft farbig gestalteten Fassaden. Einige ausgezeichnete, zum Teil jüngere Architekten kamen dabei zum Zug - genannt seien Fuses- Viader und Josep Llinás. Das Ergebnis ist sozialer Wohnungsbau, bei dem die Stadt vermutlich, um ihre ursprüngliche Tollpatschigkeit wettzumachen, einiges draufgezahlt hat.

Von der einstigen Santa-Caterina-Halle blieben, sieht man von einem anekdotisch integrierten Teil des Dachgebälks ab, lediglich die Aussenmauern stehen; und auch sie nur teilweise, da etwa ein Viertel des einstigen Marktgeländes nun durch die von EMBT entworfenen Alterswohnungen genutzt ist. Diese formieren sich, gerundet und aufgelöst, zusammen mit der Südflanke des Marktes um einen neuen Platz. Hier sind auch Teile der Grundmauern des einstigen Klosters einzusehen, deren archäologische Auswertung teilweise für die Verzögerungen verantwortlich war, die das Projekt erlitt - zum Schaden des während Jahren seines kommerziellen Zentrums beraubten Viertels. Die von Politikern gern herbeigeredete Belebung der Altstadt wird durch Barcelonas überbordende Ruinenbegeisterung jedenfalls eher gehemmt als gefördert.

Der Architekt Miralles erlebte seine neue Santa-Caterina-Markthalle nicht mehr, in welcher er im Übrigen auf das klassische Fischrondell im Zentrum der ehemals orthogonalen Anlage verzichtete. Diese hat Miralles zugunsten einer freieren Wegführung aufgelöst. Während sieben Jahren fand das Marktgeschehen im Provisorium einer Zelthalle beim Arc del Triumf statt. Dort war die Marktstimmung praktisch dieselbe wie in der alten Halle, und so viel anders ist sie auch in der neuen nicht, abgesehen davon, dass sie nun von architekturbegeisterten Touristen zusätzlich belebt wird. Für das Funktionieren des Marktes ist die Architektur im Grunde zweitrangig. Barcelonesische Märkte sind lediglich Hüllen, in deren Innerem jeder Händler - in der Santa-Caterina-Halle dieselben wie eh und je - sein kleines Reich nach eigenem Gutdünken bestellt. Ein bescheidener Supermarkt ist nun hinzugekommen und ein fabelhaft werktäglich gestyltes Restaurant - «Cuines de Santa Caterina» -, das neben den für jeden Markt üblichen Bars einen mondänen Touch einbringt.

Die Altstadt weiterbauen

Die neue Santa-Caterina-Halle, das ist in architektonischer Hinsicht in erster Linie ihre Decke. In Wellen das Geviert überspannend, ruht dieser Traghimmel auf lediglich zwei die ganze Markthalle durchziehenden Betonträgern. Auf der Südseite durchstossen sie wuchtig die von Holzpaneelen geschmückte Fassade; vor allem aber tragen sie die 108 unterschiedlich geformten, vertikal laminierten Holzbogen, aus denen sich die Wogengestalt des Daches ergibt. Diese handwerklich anspruchsvolle, von wenigen Stahlstreben gestützte Holzkonstruktion aus 55 000 Einzelteilen wurde mit einem Mosaik aus 300 000 farbigen Keramikplatten gedeckt, in den Farben der Früchte und Gemüse, die der Markt feilbietet. So entstand eine Dachlandschaft, die leider nur von den unmittelbaren Anwohnern in ihrer ganzen Pracht gesehen werden kann (über die Errichtung einer Aussichtsplattform wird noch diskutiert).

Für Tagliabue ist der Bau freilich so noch nicht abgeschlossen. Eine Pergola soll das auf die Avenida Cambó vorkragende Dach in Richtung der Kathedrale verlängern, mithin den Sog des Marktes in einen der Brennpunkte des Tourismus tragen. Die Stadtplaner wollen davon nichts wissen; sie ziehen eine Skulptur des Bildhauers Antoni Llena als neues Wahrzeichen vor. Wie der Zwist ausgeht, ist noch ungewiss. Jetzt schon aber hat Barcelona mit der Santa Caterina eine «klassische» Markthalle, neben der jede Shopping-Mall altväterisch aussieht. Und dank Miralles' Masterplan geht sie in Gassen über, die - so neu sie zum grossen Teil sind - ihren Altstadtcharakter nicht ganz verloren haben.

24. Oktober 2005 Neue Zürcher Zeitung

Valencia erwacht und reckt sich in seinem alten Flussbett

Santiago Calatravas Palau de les Arts als Wahrzeichen metropolitaner Ambitionen

Valencia hat einige Trümpfe auszuspielen, um sich - wirtschaftlich und kulturell - zwischen den ewigen Rivalinnen Madrid und Barcelona als Spaniens dritte Metropole zu profilieren. Symptomatisch für die hochtrabenden Ambitionen sind Bauten wie das jüngst eröffnete Zentrum szenischer Künste, der Palau de les Arts. In zwei Jahren hofft die Stadt überdies als Austragungsort des America's Cup zu brillieren.

Valencia träumt. Es träumt sich selbst in urbanen Wunschbildern. Höchst widersprüchlich in ihrem formalen Ausdruck, fehlt diesen indessen kaum je ein gewisser provinzieller Anflug von Megalomanie. Da gibt es etwa das Projekt «Sociópolis» des Architekten Vicente Guallart, für welches er Figuren wie Toyo Ito, Winy Maas von MVRDV und Alejandro Zaera von FOA gewinnen konnte, nebst weiteren namhaften Repräsentanten der spanischen und französischen Baukunst. An der Bienal de Valencia 2003 wurden die Modelle der Bauten, die an die dreitausend Sozialwohnungen aufnehmen sollen, präsentiert: berückende, teilweise einfach verrückte, scheinbar wirklichkeitsfremde Wohnutopien. Und doch wird dieser Tage der Grundstein zu dem Quartier gelegt. Gewiss, Guallart - von dem der Masterplan und das erste auszuführende Gebäude stammen - musste einige Abstriche machen. Ein ungewöhnlich hoher Anteil gemeinschaftlicher Bereiche, dies die Grundidee, wird aber auf jeden Fall die Privatsphäre der Wohnungen ergänzen. Exemplarisch soll auch die Implantation der Siedlung in der Huerta sein, der von Orangenhainen geprägten Grosslandschaft um Valencia, die für das Wesen der Stadt so bestimmend ist wie das Meer. Zugleich und zwangsläufig ist sie der Raum, in den jene hinauswuchert.

Sociópolis wird einen nordsüdlichen Grüngürtel abschliessen, dessen Kernstück der künftige, die Geleiseanlagen der Estación del Norte überdeckende Zentralpark sein wird. Sein westöstliches, ganz Valencia durchziehendes Pendant ist das ehemalige Flussbett des Turia. Pläne für dessen Trockenlegung hatten schon die Araber gehegt; ingenieurtechnisch (und politisch) machbar wurde die Umleitung des Flusses erst nach den Überschwemmungen von 1957. Seither sind weite Teile des über zehn Kilometer langen Flussbetts in einen linearen Park verwandelt worden. Etwa auf halbem Weg zwischen der Altstadt und dem Mündungsbereich entstand schliesslich ab 1991 die «Ciutat del les Arts i de les Ciències» nach den Entwürfen von Santiago Calatrava.

Calatravalandia

Was heute als Parade gigantischer zoomorpher Gebilde das Auge der Valencianer und - wichtiger noch - der Touristen verblüfft, war ursprünglich als seriöser Wissenschaftspark geplant gewesen. Forscher haben hier heute jedoch wenig verloren. Stattdessen offerierte die Stadt dem aus Valencia stammenden Calatrava eine Spielwiese, auf der er eine halbe Milliarde Euro in Einrichtungen verbauen konnte, deren Sinn, gemessen an den sozialen und kulturellen Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung, zumindest zweifelhaft erscheint. Umgeben von Wasserflächen, liegt das blendend weisse, vierteilige Ensemble trotz seinen Dimensionen fast spielzeughaft zwischen den Fronten mächtiger Wohnbauten und einer Shoppingmall. Zuerst vollendet wurde 1996 das «Hemisfèric» genannte Imax-Kino in Form eines Auges. Es folgten das gigantische Walskelett des Wissenschaftsmuseums und das «Umbracle», ein langgestrecktes Schattenhaus mit der Eigentümlichkeit, dass es keinerlei Schatten spendet.

Den krönenden Abschluss bildet der 250 Millionen Euro teure, Anfang Oktober von der königlichen Namensgeberin eingeweihte Palau de les Arts Reina Sofía. Auf diesem Grundstück sollte ursprünglich ein Fernsehturm entstehen, doch als die Stadt- und die Regionalregierung die Couleur wechselten, entschied der nunmehr herrschende konservative Partido Popular 1996, auf den bereits gelegten Fundamenten sei stattdessen das Opernhaus zu errichten, das der Stadt bisher fehlte. Calatrava - auch Autor des nicht gebauten Turms - nahm die Herausforderung an. In den extremen Auskragungen, tollkühnen Verankerungen und Betonverrenkungen findet die Planungsgeschichte um die allzu knapp bemessene Basis noch jetzt ihren Widerhall.

Calatrava generierte die Form geradezu aus diesem Handicap. Um den eigentlichen Baukörper herum, der drei Säle mit insgesamt fast 4000 Plätzen aufnimmt, hat er ein architektonisches Formenspiel geschaffen, das je nach Blickwinkel Assoziationen an einen Riesenkäfer, einen grossmäuligen Wal, einen Medici-Helm oder einen Ozeandampfer weckt. Symmetrisch ummantelt von zwei immensen Schalen, deren rhomboide Öffnungen den gigantesken Eindruck noch erhöhen, ziehen sich Treppenanlagen und Terrassen fast bis auf die Gesamthöhe von 75 Metern hinauf. Auf diese empor schwingt sich allein die 237 Meter lange, scheinbar schwebende, zumal nur an zwei Stellen verankerte Dachfeder. Dieses Biest von einem Bau, das auf die einen faszinierend, auf andere bloss grotesk wirken mag, ist zugleich ein Stück öffentlicher Raum. Denn das Kontinuum der Treppen und der teilweise palmenbestandenen Aussichtsplattformen soll den Valencianern rund um die Uhr offen stehen.

In diesem bizarren Stück Stadt fühlt man sich wie in einem betonierten Ufo, das einen mit seinen formalen Gebärden zu betören versucht. Schon die Verkleidung der Schalen und anderer Bauteile mit weiss glitzernden Keramikscherben ist eine lokalpatriotische Anbiederung: Trencadís genannt und von manchen Gaudí-Bauten bekannt, decken sie hier rekordverdächtige Flächen. Mit dem hellen Beton und den gestrichenen Bauteilen bilden sie eine ästhetisch allerdings dubiose Dreieinigkeit in Weiss.

Musikstadt Valencia?

Die fünf Ränge des Opernsaals, der zusammen mit dem Bühnenhaus das Zentrum des Baus einnimmt, sind gleichfalls mit Keramik verkleidet: kobaltblau in diesem Fall. Von dem dunkel gebeizten Buchenboden des Parketts und den blauen Sitzen abgesehen ist jedoch auch hier Weiss die vorherrschende Farbe. Die gleissenden Balkonbänder und das gleichfalls in Bändern angelegte Lichtgewölbe, das sich als Bühnenvorhang niedersenkt, verleihen diesem Saal den frostigen Charme einer elegant gestylten Tankstelle. Die Akustik wurde nach dem Eröffnungskonzert als messerscharf geschildert, sie dürfte sich noch verbessern lassen. Nichts mehr zu ändern ist indessen daran, dass Calatrava das spanische Opernhaus mit den meisten Sitzplätzen gebaut hat, die keine oder nur eine sehr beschränkte Sicht auf die Bühne haben: Laut der Lokalpresse betrifft das nicht weniger als 200 der 1700 Plätze. Der Palau de les Arts ist ein Opernhaus und zugleich ein begehbares Monument, das drei weitere Säle aufnimmt. Das «Anfiteatro», über den Hauptsaal gestapelt und mit 1500 Plätzen nur wenig kleiner als dieser, wirkt mit seinem Zenitallicht, seinen gelben Sesseln und der Lamellenverkleidung wesentlich behaglicher als der Opernsaal - schon fast wie ein reformierter Kirchgemeindesaal, in dem gleich ein Gitarrist zu schrammen beginnt. Die Bühnentechnik ermöglicht hier vielfältige Nutzungen, Ballett- ebenso wie Konzertabende oder Multimediaspektakel. Weiter hinzu kommen die «Aula Magistral», geeignet für Kammermusik, sowie unterirdisch und ausserhalb des eigentlichen Baus ein 400-plätziges Kammertheater, das auch als Sitz der Musikakademie dient.

An diesem Punkt stellt sich freilich die Frage, wie, von wem und für welches Publikum all diese Säle je bespielt werden sollen. Valencia hatte 1987, in Sichtweite von Calatravas Neubau, mit dem Palau de la Música ein Konzerthaus eröffnet, das die Nachfrage nach ernster Musik in dieser Stadt aufs Beste zu befriedigen schien. Nur die Oper fehlte noch. Mit Lorin Maazel als Chefdirigenten und mit Zubin Mehta, der das jährliche «Festival Mediterráneo» leiten wird, hat man zwei ehrwürdige Namen verpflichtet, die vielleicht auch das dringend benötigte auswärtige Publikum anzulocken vermögen. Intendantin ist Helga Schmidt, der für das Vorlaufjahr ein Budget von 12 Millionen Euro zur Verfügung steht.

Wie die voraussichtlich vier- bis fünfmal so teuren künftigen Spielzeiten finanziert werden sollen, steht noch in den Sternen. Schmidt hofft auf Subventionen des Kulturministeriums «im selben Umfang, wie sie das Liceu in Barcelona und das Teatro Real in Madrid erhalten». Der zentralstaatliche Zustupf deckt in Barcelona 37 Prozent, in der Hauptstadt 70 Prozent des Budgets.

Eine Stadt nimmt Kurs aufs Meer

Dem exuberanten Calatrava-Ensemble schliesst sich «flussabwärts» das Aquarium an, «Oceanográfic» genannt und angeblich das grösste Europas. Fünfzehn olympische Schwimmbecken vermöchten seine Salzwasserbassins zu füllen. Der Empfangspavillon ist das postume Werk eines Virtuosen der Schalenbauweise, des 1939 aus Spanien nach Mexiko emigrierten und vor acht Jahren verstorbenen Félix Candela. Doch neben Calatravas Exhibitionismus erscheinen Candelas elegante, wie eine Seerose sich entfaltende Deckengewölbe, zudem verborgen hinter Mauern und Hecken, wie die Werke eines Kleinmeisters. Der menschliche Massstab ist hier im Grunde nicht gefragt. Für das anschliessende Grundstück hat wiederum Calatrava eine Grossüberbauung projektiert: drei zwischen 220 und 308 Meter hohe Apartment-Türme, in ihrer Form den gotischen Pfeilern der Lonja von Valencia nachempfunden. Die Finanzierung dieses Projekts ist freilich noch nicht gesichert. - Wer vom Oceanográfic dem alten Flusslauf bis zum Hafen folgt, begreift, wo Valencias Zukunft liegt. Die Ciutat de les Arts i de les Ciències hatte aus dem Passanten einen Figuranten gemacht, einen Winzling, der offenen Mundes zwischen den weissen Kulissen umherirrte; von hier an verwandelte er sich in einen einsamen Wandersmann, zwischen Grasnarben und Leitplanken stolpernd, quer über jene Ödflächen, die auf spanisch den Namen descampados tragen und die geradezu nach ihrer Urbanisierung schreien.

Valencia, dessen Zentrum sechs Kilometer vom Meer entfernt liegt, hatte zu diesem stets ein zwiespältiges Verhältnis: der Hafen unwirtlich, die Strände nur saisonal verlockend, die dahinter liegenden maritimen Viertel - Natzaret, El Cabanyal - ein wenig anrüchig. Allmählich wuchs die Stadt aber doch mit ihren Uferzonen zusammen, mit der hundert Meter breiten Avenida Blasco Ibáñez als Rückgrat. Keine Prachtstrasse, eher ein von mächtigen Wohn- und Universitätsbauten beliebig eingefasster Strang, und doch die wichtigste Achse der Stadt. Hierher - in eine ebenso beliebige Bar - hatte mich der Soziologe José Miguel Iribas bestellt, um über Valencias künftige Stadtentwicklung zu sprechen.

Iribas ist eine Art Agitator, fern vom akademischen Betrieb, der sich lieber als Ideenlieferant in die Praxis der Planer und Promoter einschaltet. Zusammen mit dem Makler Ignacio de Laiglesia und Jean Nouvel als federführendem Architekten hat er das einzige Planungskonzept geliefert, das die ganze Küstenlinie von der Playa de la Malvarrosa im Norden bis zum Hinterland des Containerhafens im Süden umfasst. Mit dem Projekt «Valencia Litoral» wurden die Stadtplaner selbst überrumpelt. Diese hatten nach der Wahl Valencias zum Austragungsort des America's Cup 2007 wohl einige Wettbewerbe rund um das Hafenbecken ausgeschrieben; eine integrale Planung des ebenso enormen wie komplexen Gebietes schien ihnen jedoch nicht vordringlich.

Grossplanung als Privatsache

So zieren nun zwar - anschliessend an die Reihe schöner alter, ihrer kommerziellen Transformation noch harrender Speicher - einige kleinere Neubauten das Hafenhalbrund; allen voran die Alinghi-Basis. Entschieden ist auch, dass David Chipperfield und Fermín Vázquez den «Foredeck» genannten Besucherpavillon bauen werden, voraussichtlich das architektonische Wahrzeichen des America's Cup. Ausgesetzt wurde jedoch die Entscheidung des Wettbewerbs für den einstigen Mündungsbereich des Turia. Denn Jean Nouvels Gesamtkonzept hatte inzwischen das Interesse nicht nur der Medien, sondern auch verschiedener Investoren geweckt, so dass die Behörden den zunächst favorisierten Entwurf von Meinhard von Gerkan auf Eis legten. Nouvels Projekt bringt divergierende Interessen in ein scheinbar ideales Gleichgewicht: die der Anwohner und die der Stadtvermarkter, die der Linken und der Grünen wie die der Investoren. Entgegen dem schneller Rendite verschriebenen lokalen Usus ist es eine langwierige, auf mindestens fünfzehn Jahre angelegte Planung.

Für Valencias Strände sieht sie, wie könnte es anders sein, eine gezielt touristische Nutzung vor. Die angrenzenden, heute von Verwahrlosung bedrohten Viertel - El Cabanyal, La Malvarrosa - haben gemäss Iribas das Zeug, sich zu einer Art «europäischem Sausalito» zu entwickeln: als attraktive Wohngegend für Künstler, Kulturmenschen, Kreative - wobei diese gentryfication, allen schönen Worten zum Trotz, zweifellos auf Kosten der ansässigen Bevölkerung ginge. Für den Soziologen ist im Übrigen die Zeit für ein von der konservativen Regierung gehegtes Vorhaben abgelaufen, das zum urbanistischen Zankapfel Nummer eins geworden war: die Verlängerung der Avenida Blasco Ibáñez bis ans Meer, die die kleinteilige Struktur des Cabanyal zerstören würde. Einen sorgsamen Umgang mit gewachsenen Strukturen verspricht «Valencia Litoral» auch auf der andern Seite des Hafenbeckens, wo das verwunschene Viertel Natzaret sogar seinen auf Kosten des Hafens verlorenen Strand zurückgewinnen soll.

Der von Jean Nouvel vorgelegte und eloquent vertretene Plan (www.valencialitoral.com) lässt aber auch die Bauwirtschaft aufhorchen. Auf dem Muelle de Levante sollen künftig Wohnbauten entstehen, ein weiteres neues Viertel sich ins Niemandsland hinter dem Industriehafen erstrecken und schliesslich - die Mutter aller künftigen Entwicklungen - das verödete Flussdelta sorgsam saniert und in eine mit Wolkenkratzern bestückte Parklandschaft verwandelt werden. Nicht etwa Wohntürme, wie sie Calatrava etwas weiter landeinwärts vorsieht, sondern Bürobauten, der wirtschaftlichen Dynamik der Stadt entsprechend und einer Strategie, für die sie laut dem Soziologen Iribas beste Voraussetzungen bietet.

Dass Valencia prosperiert, sich plustert, in eine andere Liga aufsteigen möchte, fällt - ganz unabhängig von Calatravalandia - jedem aufmerksamen Besucher spätestens an der ersten Ausfallstrasse auf. Valencia träumt davon, Barcelona den Rang als westliche Mittelmeermetropole abzulaufen; und dafür hat es einige Gründe. Schon übertrifft sein Containerhafen den Barcelonas an Umsatz. Die Vernetzung mit dem spanischen Markt wird mit dem Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Madrid und dem der Autobahn nach Zaragoza vorangetrieben. Madrid wird demnächst Europas kapazitätsreichsten Flughafen eröffnen, und in Zaragoza ist das grösste Logistikzentrum des Kontinents im Entstehen. Das Dreieck Madrid - Valencia - Zaragoza wird Barcelona zumindest auf dem iberischen Markt ins Abseits drängen. Kommt hinzu, dass Valencia im Gegensatz zu der katalanischen Metropole keine nationalistischen Hemmschuhe trägt. So ungefähr argumentiert der Valencianer Iribas.

Signalisierten im Übrigen in den letzten Jahren nicht auch die Erfolge des Fussballklubs den Aufschwung der Stadt? Zugleich wirft der FC Valencia jedoch ein grelles Licht auf den Filz, in dem hier Stadtplanung - wenn überhaupt - möglich ist: den ungenierten Immobilienschacher, in dem Valencia nach Höherem ringt. Der lukrativste Deal gelang dieses Jahr dem Vereinspräsidenten Juan Soler, zugleich Mehrheitsaktionär des FC Valencia und zufällig - wie so viele Fussballklubpräsidenten - Bauunternehmer. Erst wurde mit dem Segen der Stadtregierung das an die Avenida Blasco Ibáñez angrenzende Stadion Mestalla zum Abriss freigegeben (mit skandalös hoher Ausnützung für die künftigen Wohnbauten), kurz darauf das gleichfalls in lukrativer Wohnlage befindliche Trainingsgelände des Klubs. Solche Umwidmungen - Real Madrid machte es vor - rechnen sich in Hunderten Millionen Euro.

1. Oktober 2005 Neue Zürcher Zeitung

Madrids blutroter Nouvel

Erweiterung des Reina-Sofía-Museums

Madrids Museum der Moderne (Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía), vor knapp zwei Jahrzehnten in eine sinister anmutende und volumetrisch verunstaltete Spitalkaserne von 1788 gepackt, ist durch einen Neubau erweitert worden. Den Wettbewerb hatte Jean Nouvel mit einem Entwurf gewonnen, der das zwischen den Altbau und die Ronda de Atocha eingezwängte Grundstück mit drei um einen Patio gruppierten Baukörpern bestückt. Deren szenographische Eleganz wird durch eine auskragende, teilsweise perforierte Dachfolie akzentuiert - ein enormer schwebender Baldachin, der Reminiszenzen an das Luzerner KKL weckt. Auch Anklänge an Nouvelsche Entwürfe für Paris, Tours oder Nantes mag man in dem Bau finden: das Spiel von Glanz und Dunkel, die Vorliebe für reflektierende Oberflächen. Funktional sind die drei Baukörper klar getrennt. Ein neuer Eingang öffnet sich zwischen dem die Bibliothek, Läden und eine Aussichtsterrasse aufnehmenden frontalen Volumen und dem Altbau, der wiederum mit den dahinter liegenden Sälen für temporäre Ausstellungen verbunden ist. Den gedeckten Platz dazwischen schliesst das Auditorium ab, mit Cafeteria und Restaurant im Erdgeschoss. Die Technik ist durchweg unsichtbar. Emotionen weckt Nouvel mit andern Mitteln - den Spiegel- und Lichteffekten und den glatten, blutroten Stahl- und Fiberglasflächen, die das ganze Ensemble kennzeichnen. Ein spanischer Kritiker brachte es auf die enigmatische Formel: «Weder schön noch hässlich, sondern ganz im Gegenteil.»

11. März 2005 Neue Zürcher Zeitung

Chamäleonartige Baukunst

Der Architekt Josep Lluís Sert in Barcelona

Die Präsentation des Werks von Josep Lluís Sert (1902-1983) in der Fundació Joan Miró in Barcelona darf man als einen Glücksfall bezeichnen, findet sie doch in einem späten Bau des Architekten selbst statt. Hier kann der Versuch einer Neubewertung des grossen Katalanen, die anlässlich des Zentenariums (NZZ 1. 7. 02) weitgehend versäumt wurde, auf eine aufwendige Inszenierung verzichten. In Schaukästen gruppiert um neun Hauptwerke, die anhand von Modellen präsentiert werden, gibt die Schau einen linearen Überblick über Serts Auseinandersetzung mit den Methoden und Zielen der Moderne, die ein halbes Jahrhundert und zwei Kontinente umspannte. Serts wichtigste Stationen - oder vielmehr wechselnde Hauptquartiere - waren Barcelona, New York und Cambridge.

Seine Architektenlaufbahn begann Sert 1928 bei Le Corbusier, ehe er seine Heimatstadt mit einigen radikal rationalistischen Wohnbauten wie der Casa Bloc und den Duplexwohnungen am Carrer Muntaner bereicherte. Der vielbeachtete Pavillon der Spanischen Republik auf der Pariser Weltausstellung 1937, Jahrzehnte später in Barcelona wiederaufgebaut, sollte sein vorläufig letztes europäisches Bauwerk sein. Der Neuanfang nach dem Spanischen Bürgerkrieg, den er 1939 in New York versuchte, stand zunächst im Zeichen des Misserfolgs: Die grossen städtebaulichen Projekte für verschiedene lateinamerikanische Städte blieben unausgeführt. Doch wiesen diese von Sert als «organische Strukturen» bezeichneten Anlagen bereits voraus auf jene städtischen Ensembles, die er - 1953 zum Dekan der School of Design der Harvard University ernannt - zusammen mit seinem Partner Huson Jackson in Cambridge, Massachusetts, errichten konnte: Es handelte sich dabei um komplexe, chamäleonartige Gebäudegruppen wie Holyoke Center und Peabody Terrace, mit denen er eine Harmonisierung visueller menschlicher Urbedürfnisse und moderner urbaner Realitäten anstrebte. Ein Ortsgefühl zu schaffen - Sert brachte es auf den Begriff der Township -, so wie es ihm in seiner Jugend in der weissen, fensterlosen, kubischen Architektur ibizenkischer Dörfer aufgegangen war, dafür war nun der amerikanische Massstab die Herausforderung. In Hinsicht des Bauvolumens, und allerdings nur in dieser, bleibt die Überbauung von Roosevelt Island in New York (1970) sein Hauptwerk.

Serts eigenes, 1956 in Cambridge gebautes Haus, dessen zahlreiche Planungsstufen in der Ausstellung minuziös dokumentiert werden, kann gleichfalls als Manifest gegen die Uferlosigkeit amerikanischer Siedlungsmodelle gelesen werden: introvertiert, ein ummauertes Geviert, in dessen Patios sich das Leben konzentriert. In dieselbe Zeit fällt der Bau der amerikanischen Botschaft in Bagdad: Der Irak war für die USA schon damals von strategischer Bedeutung. Die Subtilität, mit der hier der Architektur eine symbolische Vorbildrolle zugewiesen wurde, ohne in eine kolonialistische Attitüde zu verfallen, lässt einen die Gegenwart umso schmerzlicher empfinden. Das Botschaftsgebäude nahm zahlreiche lokale Elemente auf und repräsentierte doch zugleich das moderne, Bewunderung heischende Amerika und seine Ideale. Der nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen 1967 durch die irakische Regierung enteignete und zuletzt als Kaserne genützte Bau soll - so wird gesagt - von den Amerikanern selbst zur Ruine gebombt worden sein.

Als Neffe eines grossen spanischen Malers war sich Sert der Bedeutung von Licht und Volumen als den Grundelementen der Architektur stets bewusst. Gegen Ende seiner Laufbahn konnte er einige bedeutende Projekte verwirklichen, die zu seinen mediterranen Anfängen zurückführten: die Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence, die Häuser in Punta Martinet auf Ibiza sowie das Atelier seines Freundes Joan Miró bei Palma de Mallorca und die Fundació Joan Miró in Barcelona, in der er nun geehrt wird.

[ Bis 12. Juni. Katalog (spanisch oder englisch), 385 S., Euro 40.50. ]

4. März 2005 Neue Zürcher Zeitung

Provinzkleinode

Das junge katalanische Architektenteam Aranda Pigem Vilalta

Fern der Metropolen, in und um Olot, die kleine Pyrenäenstadt, sind drei junge Architekten im Begriff, ein ebenso exquisites wie naturbezogenes Werk zu schaffen. Mit Regionalismus hat das wenig zu tun - eher liegt über den neuerdings sogar in Japan beachteten Bauten der Büros Aranda Pigem Vilalta ein Hauch von Zen.

Das Haus für eine Coiffeuse und einen Schmied liegt etwas ausserhalb von Olot, einer Kleinstadt hundertzwanzig Kilometer nördlich von Barcelona. Die abgesenkte Eingangspartie wird von einer weissen Box überbrückt. Sie fasst einen beidseits auskragenden Stahlrahmen, aus dem die grossen Aussichtsfenster wie Augen in die Landschaft spähen. Das Haus wirkt abstrakt, doch zugleich animalisch - eine fremde Erscheinung in diesem banalen Vorort. Im unteren Geschoss betreibt die Coiffeuse ihren Salon: Er ist Teil einer intakten Provinzwelt - indessen auf einem architektonischen Niveau, das heute scharenweise Studenten aus Holland oder japanische Architekten in die Garrotxa lockt, wie die von Vulkankegeln geprägte Landschaft rund um Olot heisst. Hier, wo sie aufgewachsen sind, gründeten Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramon Vilalta 1988 ihr Büro, und die unmittelbare Umgebung ist bis heute das Zentrum ihres Schaffens. Tupfer um Tupfer haben sie dieses Land mit exquisiten, meist kleinen Bauwerken bereichert: sechs oder sieben Wohnhäusern, aber auch Pavillons und Anlagen, die als «angewandte Land Art» bezeichnet werden könnten.

Spannung aus Vereinfachung

Das Büro der Architekten liegt im Zentrum von Olot an einer Rambla, deren Neugestaltung sie gegenwärtig planen. Topographische, ja erdgeschichtliche Gegebenheiten sind das Substrat dieses Projekts. Die Promenade am Fuss eines Vulkankegels wird jene Lavaströme evozieren, die sich hier einst ergossen. Dunkel, ondulierend und mit einem Minimum an Möblierung, könnte sie dereinst zum Wahrzeichen der mit herausragenden Bauwerken sonst wenig gesegneten Stadt werden. Eine Art Osmose von Stadt und (gestalteter) Natur ist ein zentraler Strang im Werk von Aranda Pigem Vilalta. Während die künftige Rambla die Erinnerung an eine Urlandschaft in die Stadt hineinträgt, erfolgten andere Interventionen in weitläufigen Auen am Stadtrand, die zwar von Bebauungen umzingelt, selbst jedoch unberührt geblieben sind. Ein kleiner Badepavillon am Ufer des Fluvia erscheint selbst wie ein Naturereignis, ebenso monumental wie karg. Zu erkennen sind kaum mehr als die schmalen Streifen von Dach und Sockel. Der Raum dazwischen wird durch vier unscheinbare Baukörper gegliedert, das Ganze wie der Fluss eine leichte Biegung beschreibend. Mit dem geologischen Begriff der exfoliación oder Abblätterung erklären die Architekten ihren Umgang mit Materialien; was gerade im Fall des für Bauten «im Grünen» bevorzugten Cortenstahls recht sinnfällig ist.

Dasselbe Material findet Verwendung auch im nahen Stadion Tussols-Basil, wobei das Wort Stadion vielleicht Verwirrung stiftet. Es ist eine Leichtathletikanlage, in die Lichtung eines Eichenwalds komponiert. Drei geschwungene Reihen von Steinbänken bilden die Zuschauerränge. Dazu kommen einzelne Sitze, gleichsam Hochstände an ausgewählten Stellen im Gehölz. Enigmatisch wirkt die Anlage erst recht durch die Baumgruppen, die innerhalb der Aschenbahn stehen blieben. Die Verschränkung von Natur und Menschenwerk erreicht hier eine seltene Vollkommenheit, gerade auch in einem kleinen Pavillon, an dem sich der Einfluss eines Donald Judd oder Richard Serra erweist. Es ist eines der besten Beispiele dafür, wie skulpturale Spannung durch extreme Vereinfachung geschaffen werden kann.

Die jüngste Arbeit dieser Art - etwas weiter südlich an der einstigen Bahnlinie zur Costa Brava, die in einen fast hundert Kilometer langen Spazierweg verwandelt wurde - ist der Parc de la Pedra Tosca, zu deutsch: des rohen Steins. Es handelt sich um den Eingang zu einem Lehrpfad, der den vulkanischen Ursprung und die nachmalige landwirtschaftliche Nutzung dieser Gegend anschaulich macht. Aranda Pigem Vilalta haben eine künstliche Landschaft aus Gesteinstrümmern geschaffen, die von teils enger, teils breiter gefächerten Stahlpaneelen zurückgehalten werden und so Gassen frei lassen, die zum eigentlichen Pfad führen: instruktiv einerseits, vor allem aber wieder: geheimnisvoll.

Zu den weniger extravaganten Aufträgen für die Öffentlichkeit gehören die Rechtsfakultät der Universität Girona und ein Schulhaus in Sant Feliu de Guíxols. Der äusserlich hermetisch wirkende Fakultätsbau brilliert mit einer raffinierten Lichtführung bis in die Untergeschosse, wie sie auch viele Einfamilienhäuser dieser Architekten auszeichnet. Die Sekundarschule in dem Küstenort hingegen zelebriert, darin den Pavillonbauten verwandt, die Horizontale. Die Grundzüge der Kunst von Aranda Pigem Vilalta sind, so spezifisch dann die Detailarbeit ist, stets dieselben: Ein dem Terrain genau angepasster Perimeter bildet eine Art Chassis, über dem die meist niedrige, horizontale Dachlinie schwebt. Mehr als minimalistisch wirken die so entstehenden Räume - auch bei diesem Schulhaus - und scheinen nachgerade wie geschaffen für Zenmeditationen.

Klappen, Bänder, Riegel

Jedes der Einfamilienhäuser in den Aussenbezirken von Olot ist eine Welt für sich. Gewisse Motive kehren indessen in neuer Form oder Funktion verschiedenenorts wieder, so etwa die transluziden Fensterklappen und andere Arten von Filtern. Die gekrümmten, wie Stoffbänder wirkenden Stahllamellen, die die Wände im Restaurant Les Cols verkleiden, werden in der Casa Horizonte zu Sichtschutz- und Brise-soleil- Elementen abgewandelt. Dieses noch im Bau befindliche Einfamilienhaus, in elf Bändern angelegt, wächst in ebenso vielen vertikalen, frontal verglasten Stahlriegeln aus einer Böschung heraus, an die strenge Schönheit gewisser militärischer Anlagen erinnernd, und treibt die Zelebration der Aussicht auf einen neuen Höhepunkt.

Der Horizont kann aber auch der Himmel sein. Er ist es bei den noch unvollendeten Pavillons, fünf an der Zahl, die an das Restaurant Les Cols in Olot angrenzen. Hier bildet eine wiederum bandförmige Struktur aus transluziden Lamellen gläserne Gassen, die in durch Oberlichter gleichfalls mit dem Himmel kommunizierende Gästezimmer übergehen. Sicher eines der seltsamsten Hotels, die je gebaut worden sind, so wie auch die Casa Horizonte als architektonischer Husarenstreich gelten kann.

Im Gespräch mit Rafael Aranda im ebenfalls von Aranda Pigem Vilalta umgebauten Restaurant Les Cols meinte er auf die Frage nach Einflüssen durch andere Architekten: Er habe gerade Ferien in der Dordogne verbracht, «um die Höhlenmalereien dort zu studieren». Wir sassen in dem goldlackierten Bankettsaal: golden der zwanzig Meter lange Tisch, golden die Stühle und Wände. An beiden Saalenden filtert sich das Licht aus den Gärten: eine zeitlos phantastische Schatulle, in ein altes katalanisches Bauernhaus gefügt. Dieses Restaurant wäre in London oder New York zweifellos eine Sensation. Doch die Architekten scheuen sich, ihr Wirkungsgebiet auszuweiten. In Planung sind nun zwar auch einige Bauten in Barcelona und andern spanischen Städten; Einladungen zu Wettbewerben im Ausland werden aber nur nach sorgfältiger Abwägung angenommen. Wer die Kleinode von Aranda Pigem Vilalta sehen will, muss vorläufig den Weg in die Garrotxa auf sich nehmen.

Literatur: RCR Aranda Pigem Vilalta. Between Abstraction and Nature. Editorial Gustavo Gili, Barcelona 2004. 320 S., Fr. 128.-. Das Werk der Architekten wird auch in zwei Ausgaben von «El Croquis» (96/97 und 115/116) vorgestellt.

28. Februar 2005 Neue Zürcher Zeitung

Wie die Stellung einer Schachpartie

Aufsehenerregende Kulturbauten der Madrider Architekten Mansilla & Tuñón

Architektur ist für die Madrider Architekten Luis M. Mansilla und Emilio Tuñón nicht so sehr subjektives Ausdrucksmittel als vielmehr der Ausgleich sich überschneidender Ideen und Interessen sowie der entspannte Umgang mit gegebenen Restriktionen und selbst auferlegten Regeln. An drei Museumsbauten und einer Reihe weiterer Projekte wird ihre Methodik ablesbar, die zu immer freier wirkenden Entwürfen führt.

Die beiden heute rund fünfundvierzig Jahre alten Madrider Architekten Luis M. Mansilla und Emilio Tuñón gehören einer Generation an, welcher aufgrund des Informationsflusses, der Unmittelbarkeit des Ideenaustauschs und des Wechselbads formaler Moden jedweder Versuch, sich durch eine wiedererkennbare Architektursprache zu profilieren, unsinnig erscheint. Es sind gerade die Auslöschung der persönlichen Handschrift und - paradoxerweise - die Zurücknahme der Autorschaft, durch die sie zu einer der auffälligsten Architekturfirmen im heutigen Spanien geworden sind. Einige der Stichwörter, die an ihre Planungsarbeit heranführen, lauten: Distanz und Disziplin, Serie, Regel und Konsens. Womit bereits gesagt ist, dass aller expressive Überschwang aus diesen Bauten verbannt ist. Es handelt sich jedoch weder um minimalistische Kisten noch um enigmatische Behälter, auch wenn Le Corbusiers «boîte à miracles» ihre Auffassung des Metiers mitprägt. Aus der von Mansilla & Tuñón angewandten Systematik resultiert vielmehr eine höchst eigenwillige Architektur.
Nonchalance und Soft Skills

Grundlegend für Mansilla & Tuñón war zunächst die konservative, kontextbezogene Praxis von Rafael Moneo, in dessen Studio beide längere Zeit gearbeitet hatten, bevor sie sich in den frühen neunziger Jahren selbständig machten. In einem Moment mithin, in dem der Kontextualismus vor der Macht des singulären Architekturobjekts zu kapitulieren schien. Nun waren - im Sinne einer dialogischen Einordnung - Entwürfe gefragt, die ihrerseits neue Kraftfelder zu generieren vermochten; Entwürfe, die Zeichen setzten und nicht nur versuchten, das hoffnungslos Disparate zu vernähen. Daher der Begriff der «Spur in der Stadt», der auf all ihre Projekte mehr oder weniger zutrifft. Dass diese Spur zunehmend vertrackte Formen annahm, ist die Konsequenz eines Entwicklungsgangs, in dem die anfängliche Rigorosität keineswegs aufgegeben, sondern in immer komplexeren, offeneren und flexibleren Systemen durchgespielt wurde, was zu immer freier anmutenden Entwürfen führte. Diese Architektur erzählt als Zufall getarnte Spiele, die jedoch nach sehr präzisen Regeln ablaufen.

Das Wort Disziplin entfaltet hier seinen doppelten Sinn - den des Metiers, wie es ihr Vorbild Moneo versteht, und den der strikten Einhaltung einmal gesetzter Spielregeln, deren Eigendynamik andernfalls gehemmt und verfälscht würde. Fast wie ein Labortechniker hat der Architekt seine formalen Experimente durchzuführen, unbeeinflusst von persönlichen Vorlieben und Obsessionen, aber aufmerksam für Einfälle und Reize, die sein Forschungsfeld durchqueren. «Soft Skills» nennt Richard Sennett solche Aufnahmefähigkeit, die unterschiedlichstes Fremdmaterial in die Gegebenheiten und das Grundgewebe eines Projekts einfliessen lässt. «Für uns besteht die Entwurfsarbeit darin, das Knäuel zu entwirren und die Linien zur Kongruenz zu bringen. Interessanterweise ist das erst der Fall, wenn das Gebäude fertig gebaut ist», sagen die Architekten.

Durch diesen Prozess auf unvertrautes Gebiet entführt zu werden, gehört für Mansilla & Tuñón zum «Berufsrisiko». Architektur habe viel zu tun mit Figuration und Abstraktion. Aus Metaphern aber baue man keine Häuser. Es seien abstrakte Ideen, die von Projekt zu Projekt ein Spielfeld eröffneten und sich durchsetzten, sobald die Grundregel auf ihre Tauglichkeit überprüft, synthetisiert, womöglich vereinfacht worden sei. Von da an jedoch erscheine es eher, als sei man im Begriff, die Grundidee auszulöschen. Sie werde immer unschärfer, bis zum Gefühl, das Ergebnis sei unabhängig von seinen Autoren, ja sogar vom Ort und vom Ideenkeim. «Es stimuliert uns und gehört zum Genussvollen der Büroarbeit, unsere eigenen Ideen allmählich zu verwischen.»

Die Distanziertheit, auch Nonchalance, die sie ihren eigenen Projekten gegenüber an den Tag legen, trifft sich mit ihrer Definition der Architektur als Konsens verschiedener Interessen und als «Konversationsmethode». Deren Ergebnis - fern aller persönlichen Expressivität - kann zwar nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden, erscheint aber doch als Etappe eines Erfahrungsprozesses, nämlich desjenigen des Fortschritts der Architektur in der Tradition der Moderne. Wie der Kritiker David Cohn anmerkt, fehlt hier indessen die Komponente des sozialen Engagements, das die formalen Forschungen der modernen Bewegung einst leitete. Es besteht keine Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel, es sei denn auf die Verfeinerung der eigenen kreativen Methode, wie die chronologische Entwicklung des Werks zeigt. Ist es pure Rhetorik, wenn Mansilla & Tuñón die Strategie des Verschwindens von sich selbst auf ihre Bauten übertragen? «Es wäre unser Ideal, wenn das Gebaute gar nicht gesehen würde.» Nicht im Zentrum des Blicks, sondern um dieses herum bauen - ein solches Haus erschiene lediglich als eine Art Rahmen des Umliegenden. Eine Metapher für den kreativen Prozess von Mansilla & Tuñón ist das Schachspiel, das gerade durch seine strikten Regeln unendliche Möglichkeiten eröffnet. Die Partie zu gewinnen, ist am Anfang zweifellos das Ziel. Bisweilen aber mündet sie in eine so schöne Stellung, dass man diese nicht mehr verlassen möchte und stattdessen das Spiel aufgibt.

Potenzial der Beschränkung

So wie Georges Perecs Roman «La disparition» sein erzählerisches Potenzial durch den Verzicht auf die Verwendung des Buchstabens E entfaltet und vervielfacht, so entwickeln auch viele Projekte von Mansilla & Tuñón ihre Kraft aus gegebenen oder selbst auferlegten Beschränkungen. Das exemplifizieren schon frühe Bauten wie das Provinzmuseum in der kastilischen Stadt Zamora (1992-96), die Schwimmhalle in San Fernando de Henares bei Madrid (1994-98) und das Museu de Belles Arts in Castelló (1996-2000). Das Museum in Zamora fügt sich als monolithischer Block, dessen einzig sichtbare und gesichthafte Fassade die Decke ist, in den Hang unterhalb des erhöht gelegenen Stadtkerns. Die immer gleichen länglichen Oberlichter, felderweise um neunzig Grad abgewinkelt und in verschiedener Höhe zueinander geordnet, strukturieren die darunterliegenden Räume und bilden eine fünfte Fassade, die den ganzen Bau definiert und anschaulich macht. Ebenso hermetisch erscheint das Kunstmuseum in Castelló. Zwar gliedern wesentlich komplexere Oberlichtstufungen die um einen zypressenbestandenen Kreuzgang angelegte Baugruppe, doch die Beschränkung auf lediglich zwei Aluminiumelemente, aus denen sämtliche Fassaden komponiert sind, sorgt für einen einheitlichen Charakter. Ein doppelgeschossiger Raum, stets gleich dimensioniert, jedoch von Stockwerk zu Stockwerk horizontal versetzt, öffnet diagonale Durchblicke durch das ganze fünfstöckige Ausstellungshaus.

Kein Bau demonstriert so klar wie das Hallenbad in der Nähe des Madrider Flughafens die Tendenz der Architekten, durch radikale Limitierung der Elemente, mit denen gearbeitet wird, deren Wirkung zu erhöhen. Ein einziges vorgefertigtes Fassadenteil, ein weisser Betonbalken, wird durch Reihung und vertikale Versetzung zu einem durchbrochenen Gewebe komponiert und bestimmt so nicht nur das Äussere des Gebäudes, sondern verleiht durch das Spiel des einfallenden Tageslichts auch dem Innern seine Stimmung. Bei Nacht erscheint die Halle als horizontal gemusterter Leuchtkörper.

Ein anderes, diesmal vertikales und monumental dimensioniertes Muster aus Lichtschlitzen bildet beim Projekt für das Museum der Königlichen Sammlungen in Madrid (Projekt 1999; noch nicht ausgeführt) eine Art Jalousie vor der Stadt. Denn der Standort dieses Museums ist die Hangkante unmittelbar neben dem Königspalast und vor der unlängst vollendeten Kathedrale Almudena, einer eher peinlichen Baulichkeit. Mansilla & Tuñón gewannen den Wettbewerb vor allem wegen seiner intelligenten Integrierung in die Umgebung. Ebenso elegant wie die über dem Tal des Manzanares gelegene Schauseite ist nämlich die Art, wie sie den Bau stadtseitig zum Verschwinden bringen. Die Aussichtsesplanade zwischen den beiden bestehenden Kolossalbauten bleibt unangetastet, und die darunter erhaltenen archäologischen Schichten - Mauerreste der arabischen Stadt, spätere Befestigungen sowie habsburgische Stallungen - werden als Rückseiten der drei Ausstellungsgeschosse in das Projekt einbezogen, so wie der freie Blick über die Jardines del Moro und den Fluss die andere Seite kennzeichnet. Das Museum wird die derzeit nicht öffentlich zugänglichen Schätze der spanischen Monarchie - von Tapisserien bis zu Kutschen - aufnehmen.

Ist es Zufall oder Bestimmung, wenn ein Architekturbüro sich wiederholt vor topographisch ähnlich gelagerten Bauaufgaben findet? Jedenfalls legten Mansilla & Tuñón nach den Museen für Zamora und für die Königlichen Sammlungen zwei weitere Projekte vor, die an Hangkanten bzw. am Fuss historischer Altstädte angesiedelt sind. Den bisher nicht ausgeführten Entwürfen für die Provinzstädte Teruel und Logroño ist neben den topographischen Gegebenheiten eines gemein: die willkürliche, geometrische Zeichenhaftigkeit oberirdisch sichtbarer und gleichsam schwebender Bauteile. In Teruel ist es ein immenses Kreuz, dessen einer Arm den Fluss überspannt, während die unterirdischen Elemente der «Kulturzitadelle» in Logroño, wo gleichfalls ein Fluss überspannt wird, fast wurzelhaft ins ungewisse Erdinnere streben.

Verschwinden oder auftauchen, das ist die Frage. Beim Wettbewerb für die Erweiterung des Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid - das siegreiche Projekt von Jean Nouvel steht inzwischen kurz vor der Vollendung - setzten Mansilla & Tuñón ganz auf eine Medienfassade, ein System beweglicher Bildträger, bei dem der Architekt lediglich die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Institution sich selbst in Szene setzt. Zugleich nahm dieser Entwurf Bezug auf einige wenig bekannte, aber vorzügliche rationalistische Bauten an der Madrider Hauptachse Castellana-Recoletos-Paseo del Prado.

Ein Anhängsel zu dieser Achse bildet heute etwas weiter südlich das Centro Documental de la Comunidad de Madrid (1994-2002). Es umfasst einen ganzen, einst von der Brauerei El guila eingenommenen Häuserblock. Die um mehrere restaurierte Ziegelbauten und Getreidesilos herum komponierten, teils turm-, teils riegelförmigen, jalousieartig verglasten Neubauten haben Madrid ein Ensemble beschert, das im gegenwärtigen Baugetümmel der Kapitale noch kaum wahrgenommen wurde. Dabei wirkt es durch die Verdoppelung der horizontalen Fassadengliederung imposanter, als es ist. Was uns in Zusammenhang mit dem Potenzial, das Restriktionen innewohnt, hier jedoch interessiert, ist die Aussage der Architekten, die räumliche Anordnung der Archiv- und Bibliotheksräume verdanke sich direkt der Einhaltung der Brandschutzbestimmungen für solche Anlagen. Das Centro Documental sei von ihnen im Grunde entlang der Vorschriften der örtlichen Feuerwehr geplant worden.

Gesetzlosigkeit der Serie

Noch vergnügter wirkt die Fassade des Auditoriums in León (1994-2002). Die Konzerthalle etwas ausserhalb des Zentrums der altkastilischen Provinzhauptstadt, direkt gegenüber dem barocken Prachtbau des Hostal de San Miguel, war diesem zweifellos eine zeitgenössische Antwort schuldig. Eine vieläugige Fassade ist das Ergebnis des ausgeklügelten formalen Spiels, bei dem ein dreidimensionales modulares System mit der Notwendigkeit von Fensteröffnungen und einem gesteuerten Zufallsprinzip gemischt wurde. Dabei durften nie zwei gleiche Fenster nebeneinander liegen - und einmal tun sie es aber doch, um auch dieses Prinzip zu durchbrechen. Ronchamp lässt grüssen, ohne den Architekten ihren kubistischen Geniestreich zu neiden. Gleichfalls in León haben Mansilla & Tuñón unlängst den Bau vollendet, der ihre bisherige Entwicklung (und vielleicht auch deren Gefahren) am genauesten spiegelt. Das kurz MUSAC genannte Museo de Arte Contemporáneo de Castilla y León (2001-2004) treibt die serielle Reihung - von den Architekten nicht ohne leise Ironie «expressives System» genannt und Grundlage vieler ihrer Entwürfe - in ihre beiden möglichen Extreme. Einerseits ist der Grundrissraster hier komplexer denn je, gebildet aus Zellen sich abwechselnder Quadrate und Rhomben; andererseits lud das Grundstück durch seine Grösse dazu ein, diese nicht orthogonalen Zellen einfach einmal wuchern zu lassen. Man weiss in einem solchen isotropen System immer, was unmittelbar nebenan vorgeht - nicht aber, wo der Perimeter verläuft und wie das Ganze aussehen wird. Mansilla & Tuñón führen den Vergleich mit einem Mosaik an, von dem nur ein Fragment mit einem zufälligen Umriss erhalten ist.

So stur die Matrix bis ins konstruktive System hinein wiederholt wird - die annähernd fünfhundert Stahlbetonträger sind identisch, wie die Furchen eines Ackers, die ja auch bisweilen die Richtung ändern -, so beliebig ist der Kompositionsmechanismus. Keine bestimmten Volumen, kein Vorn oder Hinten liefern Anhaltspunkte für die Gestalt des Gebäudes. Diese aus der Zellstruktur selbst abzuleitende Gestalt nimmt erst Wirklichkeit an, wo ihrem Wuchern Einhalt geboten wird. Freilich gibt es dafür gerade in Spanien auch ältere Beispiele, etwa die Moschee von Córdoba oder die mittelalterliche Werft von Barcelona.

Man hat in Zusammenhang mit Mansilla & Tuñón von anagrammatischer Architektur gesprochen, man könnte beim MUSAC auch an eine der Grundfunktionen der Informatik denken (ausschneiden, kopieren, einfügen) oder, wenn man den Zweck des Gebäudes ins Auge fasst, an Aldo Rossis Satz: «Wenn das Geschehen gut ist, ist auch der Ort gut.» Denn das MUSAC ist entgegen seinem Namen gar kein Museum - es existiert keinerlei Sammlung -, sondern ein Behälter für ausschliesslich temporäre Manifestationen der Gegenwartskunst. Dass diese gerade in León, einer doch eher spiessigen Stadt, dieses enorme Spielfeld erhält, kann einen skeptisch stimmen. Doch braucht uns hier nicht zu kümmern, wie das Moiré aus Rhomben und Quadraten, dieses vielfach aufgefächerte, durchbrochene und doch in sich befangene Plissee, schliesslich bespielt werden wird. Festzuhalten ist, dass Mansilla & Tuñón entgegen den stereotypen Erwartungen an eine solche Institution einen extrem introvertierten Baukörper geschaffen haben. In städtebaulich chaotischer Randlage errichtet, verweigert er unter dem Zickzack seiner Glasverkleidung jeglichen Kontakt mit der Stadt. Sieben willkürlich gesetzte Türme doppelter Höhe, die eine Art San Gimignano evozieren, lassen das Ensemble nur umso enigmatischer erscheinen. Selbst der durch Aussparung mehrerer Rasterfelder geschaffene Zugang wendet sich vom Stadtzentrum ab. Im Gegensatz zu den sonst kühlen Verglasungen wurden für die Fassaden, welche diesen Vorplatz oder Ehrenhof umgreifen, leuchtende Farben gewählt. Ihre Skala, so ist zu erfahren, entspricht einem in Pixel aufgelösten Glasgemälde in der Kathedrale von León. So wird die repräsentative Funktion in einem für die Architekten typischen Einfall über den abstrakten Raster gestülpt.

Wohin der Weg nach diesem Wagestück geht, scheint am ehesten ihr jüngstes Museumsprojekt anzuzeigen, diesmal in der kantabrischen Stadt Santander. Hier wird ein noch vertrackterer, aus unregelmässigen Trapezen gebildeter Raster zur künstlichen Landschaft, zu einem gebauten Gebirge ausgeformt. In den Worten von Mansilla & Tuñón: eine «Gruppierung gleicher und verschiedener Elemente, die eine verborgene Geometrie der Natur nachzuvollziehen versuchen».

3. Februar 2005 Neue Zürcher Zeitung

Koloss komplett

Das Katalanische Kunstmuseum (MNAC) in Barcelona

Es ist nicht der Louvre und nicht der Prado - kein grosses Königshaus hat hier je einen Fundus an grosser Malerei gelegt -, doch zumindest flächenmässig gehört es in dieselbe Kategorie: das Museu Nacional d'Art de Catalunya (MNAC), das nach achtzehnjähriger Umbauzeit nun wiedereröffnet wurde. Nach wie vor beherbergt es die Weltgeltung geniessenden Sammlungen katalanischer Romanik und Gotik, neu zudem umfangreiche Bestände aus jener zweiten Blütezeit katalanischer Kunst, die vom 19. Jahrhundert bis zu Tàpies reicht. Dazu kommen die Legate Cambó und Espona, die die in Barcelona schmerzlich klaffende Lücke der Renaissance und des Barock mit einigen wenigen Perlen (Piombo, Zurbarán, Tiepolo) ausschmücken, sowie siebzig Werke aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza, die zuvor im barcelonesischen Kloster Pedralbes zu sehen waren. Verglichen mit dessen lapidarer Würde wirken die neuen Säle freilich nachgerade schäbig - womit erst ein Aspekt der Fragwürdigkeit des ganzen Unternehmens MNAC angesprochen ist.
Riese auf tönernen Füssen

Das Gebäude, welches das Museum beherbergt, ist ein ursprünglich für die Weltausstellung 1929 - und nur für diese - errichteter Palast, dessen Umbau nicht zuletzt seiner konstruktiven Mängel wegen 122 Millionen Euro verschlang: ein Riese auf tönernen Füssen. Stilistisch ist er als letzter Seufzer akademischer Protzsucht einzuordnen. Überdeutlich macht den Anachronismus, nur einige Schritte davon entfernt, eine Ikone der Moderne: Mies van der Rohes zur selben Zeit und für dieselbe Ausstellung geplanter deutscher Pavillon. Für den Umbau wurde mit Gae Aulenti eine Architektin gewählt, die um 1985 mit dem Musée d'Orsay in Paris zu vorübergehender Berühmtheit gelangt war. Ihre postmoderne Intervention wirkt heute, nach der ungemein langen Bauzeit, nicht frischer als damals, streckenweise fast so schmonzig wie der Koloss an sich.

Verantwortlich für die Verzögerung war freilich nicht die italienische Architektin, sondern jene fünf Legislaturen überdauernde nationalistische Regierung, die es an Eifer in patriotischen Belangen sonst nicht missen liess. Das kulturelle Vorzeigeprojekt des Landes zu vollenden (nach zwei Teileröffnungen in den neunziger Jahren), blieb indessen ihren sozialistischen Nachfolgern überlassen. Leider wurde das Vorhaben, tausend Jahre katalanischer Kunst unter einem Dach zu vereinen, dadurch nicht sinnvoller.

Pompöse Leere

Nicht nur die klösterliche Umgebung für die Bilder der Sammlung Thyssen vermisst man heute, sondern auch das Museu d'Art Modern, das mit seinen knarrenden Böden all den vorzüglichen katalanischen Impressionisten, Symbolisten und «Noucentistes» (Fortuny, Nonell, Mir, Casas, Rusiñol) einen perfekten, mehr noch: charmanten Hintergrund geboten hatte. Es wurde sang- und klanglos aufgelöst, um deren Werke einem vermeintlichen Gesamtbild nationalen Kunstschaffens einzuverleiben - bloss dass dann die barcelonesische Avantgarde des 20. Jahrhunderts hier ohne Picasso und ohne Miró auskommen muss (die in der Stadt ihre eigenen Museen haben).

So erzwungen das ganze Projekt erscheint, einzigartig ist das Museum gleichwohl. Gae Aulentis abstrakte Nachbildung der romanischen Apsiden, ja ganzer pyrenäischer Kapellen, aus denen die Bildwerke zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Plünderern, Brandschatzern und amerikanischen Sammlern gerettet wurden, ist eindrücklich, auch wenn es deren unaufgeregte vorherige Präsentation nicht vergessen lässt. Schon in die gotische Malerei kann man sich indessen unbehelligt von architektonischen Revenants versenken. Nach Durchwanderung des endlosen katalanischen Fin de siècle endet der Parcours in einer kleinen, aber feinen Fotografie-Abteilung. Sie nimmt eine winzige Empore der enormen, im Übrigen nicht für Ausstellungszwecke genutzten «Sala Oval» ein. In ihrer pompösen Leere erscheint diese Halle wie ein Gegenbild zu dem zersplitterten Universum der romanischen und gotischen Bilderkunst; zugleich aber, so scheint es, repräsentiert sie die Idee dieses Museums.

17. November 2003 Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Bildfindungen

Phantasiestädte in einer Ausstellung in Barcelona

Zweierlei haben die vom gelernten (und gelehrten) Architekten Pedro Azara ersonnenen Ausstellungen stets gemein. Sie befassen sich auf präzise Weise mit marginalen Parzellen - oder eher: selten verfolgten Strängen - der Kunstgeschichte. Und sie überraschen zusätzlich durch ihre raffinierte und elegante Ausstellungsarchitektur. Dem war so bei der Schau früher Architekturmodelle, als welche gewisse mesopotamische, griechische und römische Grabmäler gelten können («Casas del alma», 1997); ebenso bei den antiken Stadtgründungen, die Azara drei Jahre später zum Ausstellungsthema machte. Nun führt das Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) die Reihe fort mit «La ciutat que mai existí», der Stadt, die es niemals gab. Die Szenographie verstärkt den Eindruck des Irrealen, der Ortlosigkeit, der von den Bildern ausgeht. Sie taucht den Besucher in dunkle Längsräume, in denen einzig die auf einer Raumseite gleichmässig aufgereihten Exponate beleuchtet sind. Schon die ersten dieser Lichtinseln, kleine pompejische Fresken scheinbar frei im Raum schwebender Baugruppen entziehen einem in dieser Illuminierung buchstäblich den Boden unter den Füssen.

Zwei Schritte weiter kommt man auf den Boden zurück - allerdings ausgerechnet auf den einer der gespenstischen Esplanaden Giorgio de Chiricos, auf welchen die menschlichen Figuren neben ihrem eigenen Schattenwurf fast verschwinden. Die weitgehende Abwesenheit, vielmehr Nebensächlichkeit von Menschen ist ein Charakteristikum dieser Ausstellung, die das Motiv der Phantasiestadt bis in die Gegenwart verfolgt, wobei das Nebeneinander älterer Bildwerke und der Arbeiten von Patrick Shanahan, Olivo Barbieri, Cristina Iglesias und anderen Zeitgenossen oft spannungsvoll ist. Ein Video von Catherine Yass schält auf dem Kopf stehende Londoner Wolkenkratzer aus dem Nebel, und eine gleissend weisse Rauchkammer von Ann Veronica Janssens schliesst die Ausstellung etwas schal, aber hübsch kontrapunktisch ab.

Im Zentrum steht indessen das Capriccio architettonico, wie es im 16. und 17. Jahrhundert gepflegt wurde - als eher zweitrangiges Genre, ähnlich der Ruinenmalerei. Dass im Zeitalter der Entdeckungen, der Erweiterung unseres Weltbilds, auch imaginäre Territorien der Baukunst erobert wurden, hat seine Logik. Ebenso, dass einige der hier vertretenen Maler selbst Architekten waren: de Vries im 16. Jahrhundert, Schinkel im 19. Jahrhundert, Sironi im 20. Jahrhundert. Das Genre gipfelte um 1750 in der venezianischen Vedutenmalerei: Welche Freiheiten sich etwa Canaletto mit dem wirklichen Venedig herausnahm, wies unlängst ebenfalls das CCCB in einer minuziösen Ausstellung nach.

Im Gegensatz zu Canaletto gerieten die meisten dieser Architekturmaler in Vergessenheit, ihre Werke mussten teilweise in den Museumsdepots aufgetrieben werden. Wer - ausser den Kunsthistorikern - kennt schon Dirck van Delen, François de Nomé oder gar den spanischen Barockmaler Francisco Gutiérrez? Was sie schufen, könnte man als prunkhafte Dekorationsmalerei abtun. Man kann aber auch, wie es diese Ausstellung versucht, ihre Stadträume darauf untersuchen, welch seltsame Weltbilder sie uns vermitteln: den Niederschlag zum Teil grässlicher Legenden oder den Eishauch monumentaler Säulenordnungen, unter denen belanglose Menschlein, von Ateliergehilfen nachträglich hinzugepinselt, zu Architekturchargen degradiert werden. Es wäre indessen manchmal gar nicht so einfach, in Worte zu fassen, was das Irreale daran ausmacht. Bei de Vries wird die Perspektive nachgerade zum Wahngebilde. Schon bei ihm lassen sich Aussen- und Innenräume kaum mehr auseinanderhalten - eine weitere Konstante der Ausstellung. Mit lediglich achtzig Bildern setzt diese den Besucher einem Stadtideal aus, das sich indessen mit dem ersten Schritt auf die Strasse, allen Bemühungen der barcelonesischen Urbanisten zum Trotz, als Hirngespinst erweist.


[Bis 1. Februar 2004, anschliessend im Museo de Bellas Artes in Bilbao. Katalog Euro 15.-.]

17. November 2003 Neue Zürcher Zeitung

In der Ziegelzange

Schauplatz Madrid

Spaniens Hauptstadt als riesige Baugrube

Die Madrider Stadtentwicklung droht aus dem Ruder zu laufen. Ziegel sind zum Symbol einer Habgier geworden, die selbst demokratische Spielregeln ausser Kraft setzt. Eine Reise den Rändern der spanischen Hauptstadt entlang gibt Aufschluss über eine ungehemmte Bauwut, die in Europa kaum ihresgleichen kennt.

Ziegelrot ist eine Farbe, die diverse Empfindungen auslösen kann. Für die Bewohner des 133. Stadtkreises von Madrid, Palomeras Bajas, der aussieht wie von einem Ziegelfabrikanten geträumt, hat sie vielleicht den traulichen Ton angenommen, der im Wort Barrio mitschwingt. An der Ecke Tristana/Mogambo gibt es sogar eine Bar. Wäre man in Deutschland, so würde man weiter nichts daran finden, dass dann wieder ganze Blöcke weit Ödnis herrscht, höchstens eine Fahrschule und ein Institut für Kickboxing das Strassenbild beleben. Für spanische Verhältnisse allerdings ist Palomeras ein eher tristes Viertel - und doch zugleich ein Muster sozialistischer Planung, das sich eventuell bald vorteilhaft von andern, jetzt entstehenden Überbauungen abhebt.


Politische Verstrickungen

Während sich allmählich die Furcht zu verbreiten beginnt, dass die Spekulationsblase platzen könnte, hat das Immobiliengeschäft politische Dimensionen wie nie zuvor erlangt. Bei den Regionalwahlen im Mai 2003 schien die Linke nach acht Jahren wieder an die Macht zu gelangen, doch verhinderten zwei abtrünnige sozialistische Abgeordnete die Regierungsbildung. Bei den dadurch unumgänglichen Neuwahlen im Oktober setzte sich der konservative Partido Popular knapp durch. Obwohl der parlamentarische Untersuchungsausschuss - eine Farce, bei der die «Verräter» über ihren eigenen Fall mit abstimmen dürften - zu keinen Schlussfolgerungen kam, sind die Indizien doch zu zahlreich, als dass man hinter dem Absprung der beiden Abgeordneten nicht Machenschaften der Bauwirtschaft und handfeste Interessen des Immobilienhandels, die sich von der konservativen Regierung besser bedient fühlten, vermuten müsste.

So kam es, dass Backstein in Madrid zum Symbol für Korruption und Habgier wurde. Derweilen wird Madrid weitergebaut, sowohl an seinen Rändern als auch in der Kernstadt. Einige Interventionen waren überfällig: Der verwahrloste Aussenraum der Prachtachse von Atocha bis Colón etwa - Paseo del Prado, Paseo de Recoletos und umliegende Zonen - wird demnächst nach dem Masterplan von Alvaro Siza neu gestaltet. Fraglicher, was ihre Notwendigkeit betrifft, ist die Verwandlung der Metrostation Sol in einen Nahverkehrsbahnhof, zumal das Stadtzentrum schon über mehrere derartige Knotenpunkte verfügt. Damit wird die passantenreichste Zone der Stadt auf vier Jahre hinaus in eine Grossbaustelle verwandelt. Das Metro-Netz wurde in den letzten Jahren auf 227 Kilometer Länge fast verdoppelt. Doch auch zugunsten des Individualverkehrs sind Stadt- und Regionalregierung von einem Tunnelrausch erfasst - als Nächstes soll das dem Río Manzanares folgende Teilstück des ersten Autobahnrings, der M-30, in den Boden verlegt werden.

Das erklärt noch nicht die Symbolkraft des Ziegelsteins. Um sie zu begreifen, hat man sich die in Spanien bei Wohnbauten fast ausnahmslos angewandte Skelettbauweise vor Augen zu halten. Mit ihren Decken, teilweise aus Ortsbeton, gewöhnlich aber aus armierten und mit Beton ausgegossenen Deckenziegeln, sind es leichte und entsprechend hellhörige Konstruktionen. Das Betonskelett wird mit Mauerwerk ausgefacht, das meist unverputzt bleibt - nur bei gehobenem Standard werden die Ziegel noch irgendwie postmodern verbrämt. Die zurzeit geplanten oder bereits angelaufenen urbanistischen Operationen in der Madrider Peripherie addieren sich auf mindestens 300 000 Wohnungen: ein Indiz dafür, dass sich die eher strukturschwache spanische Ökonomie auf die Bauwirtschaft als wichtigste Wachstumsbranche stützt. Der Konflikt entzündet sich daran, wie hemmungslos mit dem Boden geschachert werden darf - etwa auf Kosten der Umwelt. Ausserdem daran, welche Umzonungen urbanistisch sinnvoll, wie hoch die Ausnutzungsziffer und der Anteil an Sozialwohnungen sind. Es ist offensichtlich, dass einige Grossbanken und Baukonsortien diesbezüglich in jüngerer Zeit in Madrid freie Hand hatten und dass der Anteil an Sozialwohnungen Richtung null tendiert.

Man kann den Tour d'horizon am Flughafen aufnehmen, wo die neuen Terminaldächer von Richard Rogers und dem Madrider Studio Lamela wellig in der Sonne glitzern - spielzeughaft im Vergleich zur Weite der Meseta, doch als Vier- Milliarden-Euro-Bau, der die Kapazität auf 65 Millionen Passagiere pro Jahr erhöhen wird, rekordverdächtig. Vom Flughafen, der am heftig zugeklotzten Ostkorridor liegt, kann man sich südwärts über die M-40 absetzen, von dort auf die M-45 oder auf die M-50 wechseln, die Madrid in einem Radius von knapp zwanzig Kilometern umschlingt. Diese Autobahnringe ersetzen teilweise das alte radiale Wegsystem, und zweifellos leisten sie der Dezentralisierung Vorschub. Jede der Ringstrassen hat eine neue Grenze geöffnet. Allmählich setzt sich das amerikanische Siedlungsmodell durch. Wenn die Lage eines Grundstücks heute beschrieben wird als «zwischen M-40 und M-45», so heisst das nicht: irgendwo in der Wüste zwischen Autobahntentakeln, sondern: ideale Verkehrsanbindung. Was sich auf den Restflächen zwischen den Asphaltschlingen abspielt, dafür gibt der Architekt Alfredo Villanueva sarkastisch die Stichworte: «Minimum an Planung, absolute Permissivität. Metabolismus des Ziegels: höchste Gefrässigkeit, wenig Gehirn. Hauptsache, die Kasse stimmt.»

Der 900-seitige «Atlas de Madrid» führt einem die urbanen Metastasen en détail vor Augen: ein fraktales Chaos herein- und herausbrechender Ränder. Es bietet auch in der Wirklichkeit keinen schönen Anblick. Allein die südliche Suburbia, das grosse Auffangbecken für unbemittelte Immigranten, zählt heute weit über eine Million Einwohner, die meist in Blockclustern, teilweise auch in Bidonvilles leben. Im Westen bieten die Richtung Guadarrama-Gebirge ausgerollten Reihen- und Einfamilienhausteppiche einen womöglich noch niederschmetternderen Anblick. Das urbanistische Kronjuwel ist der auch klimatisch privilegierte Norden der Stadt. Fest etabliert sind da die beiden scheinbar nur aus schützenden Hecken bestehenden Luxussiedlungen La Florida und La Moraleja - in letzterer scheint der Fussballstar David Beckham ein Heim gefunden zu haben.


Ein Volk von Spekulanten?

Beckhams neuer Arbeitgeber, Real-Madrid- Präsident Florentino Pérez, zählt zu den Drahtziehern im Madrider Immobilienhandel. Der Bauunternehmer Pérez hätte sein fussballerisches Musterknabenteam wohl kaum zu finanzieren vermocht, wäre ihm nicht die Umzonung des ehemaligen Trainingsgeländes des Klubs geglückt. Vier je 215 Meter hohe Türme unter anderem von Foster und Pei sind auf diesen Parzellen nördlich der Plaza Castilla vorgesehen, Ausdruck einer schon länger sich abzeichnenden Verlagerung des Zentrums nordwärts, die mit der Gleisüberbauung des Bahnhofs Chamartín fortgesetzt werden wird. Umso gieriger hat sich die Baulobby auf die daran anschliessenden Grundstücke gestürzt, eindrücklich zu sehen in Form der Kranlandschaften der künftigen Grosssiedlungen Las Tablas und Sanchinarro. Erstere soll unter anderem den Hauptsitz des mächtigsten Konzerns des Landes, Telefónica, aufnehmen; letztere ist als Wohnanlage so banal wie irgendeine Madrider Überbauung, doch ist hier mit einer 21-geschossigen Wohnmaschine von MVRDV auch eine der wenigen innovativen Architekturen geplant.

Braucht Madrid überhaupt so viele Wohnungen? Der Leerbestand liegt allein in der Stadt offiziell bei 107 000. Andererseits hat nun die Agglomeration die Zahl von fünf Millionen Einwohnern überschritten. Es sind indessen nicht die Zuwanderer aus der Dritten Welt, die sich eine Eigentumswohnung in Sanchinarro leisten können. Die filtern sich eher durch die noch nicht gentrifizierten Teile des alten Zentrums ein. Der typische Abnehmer für eine Wohnung in Sanchinarro ist eher ein Herr, der vielleicht sein Leben lang in Burgo de Osma gelebt hat, dessen Sohn in Madrid studiert und der sich das Objekt nicht aus Notwendigkeit, sondern als Kapitalanlage leistet. Die galoppierenden Immobilienpreise - jährlich fünfzehn Prozent Wertsteigerung sind die Regel - lassen ihm gar keine andere Wahl, wenn er nicht als Finanzbanause dastehen will. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu, nämlich der traditionell hohe Anteil an Eigentumswohnungen in Spanien: über achtzig Prozent. Wer zur Miete wohnt, gilt hier im Grunde als blöd. Deshalb sitzen ja dann auch die Kinder bei ihren Eltern, bis sie selber fast grau sind, und Spanien weist noch vor Italien die niedrigste Geburtsrate der Welt auf. Wenn ein rechtschaffener Mann einst eine Hypothek mit dreissigjähriger Laufzeit auf sich nahm, dann in einem psychologischen Umfeld, das für ein Menschenleben genau ein Haus, einen Ehepartner und eine Arbeitsstelle vorsah. Dem ist heute nicht mehr so, dafür hat die Kultur des Wohnungsbesitzes jeden Normalbürger in einen kleinen Immobilienspekulanten verwandelt. Sehr zur Freude der grossen Spekulanten.

4. Juli 2003 Neue Zürcher Zeitung

Esplanaden und Inseln

Die katalanischen Architektinnen Galí und Pinós

Architektinnen nehmen in Barcelona, einer Hochburg der zeitgenössischen Baukunst, eine immer wichtigere Stellung ein. Die 49-jährige Carme Pinós bereichert den Diskurs mit eigenwilligen Gebäuden. Darüber hinaus betätigt sie sich wie die 1950 geborene Beth Galí, von welcher der Entwurf für die Rambla in Terrassa stammt, als Urbanistin.

Die Ruine eines Aquädukts, ärmliche Ausläufer eines Dorfes in der Einöde irgendwo hinter Alicante, ein Wildwesthorizont. Über das ausgetrocknete Flussbett spannen sich, geduckt und doch gebieterisch, drei Stahlträger, die eine holzgedeckte Passerelle tragen, seitlich als Palisade aufstrebend und jenseits der Senke in eine sanft gestaffelte Esplanade sich weitend, in die karge Natur als Halbinsel sich ergiessend: ein Stück exquisiter Landschaftsgestaltung im spanischen Niemandsland, entworfen von Carme Pinós. «Die Luft mit einem Gemurmel erfüllen», so poetisch versuchte die 1954 geborene Architektin in einer 1998 erschienenen Monographie über ihre Projekte die Passerelle von Petrer auf den Begriff zu bringen. Fünf Jahre später, kurz bevor bei The Monacelli Press in New York ein neues Buch über sie erscheint, sind von dem Dutzend ehedem vorgestellter Projekte neben Petrer nur zwei gebaut worden. Dennoch ist Carme Pinós heute eine der wenigen Frauen, die zur Weltelite der Architektur zählen. Lastete nicht auch auf Zaha Hadid lange der Fluch der unverwirklichten Projekte?

Heute sind jedoch Architekturstudentinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen vielenorts in der Überzahl - längst auch in Spanien. Drei der international gefragtesten Architektinnen sind in Barcelona tätig, zwei von ihnen waren Partnerinnen des jung verstorbenen Enric Miralles: Carme Pinós, die seit 1991 in eigener Regie arbeitet, und Benedetta Tagliabue, der nun die Ausführung von Miralles' letzten grossen Projekten - unter anderem des schottischen Parlaments - obliegt. Und da ist schliesslich Beth Galí, auch sie privat mit einer Koryphäe, nämlich mit Oriol Bohigas, liiert, aber beruflich selbständig. Ist es reine Willkür, zwei der drei Frauen zu einem Doppelporträt zu vereinen? Was, ausser Wohnort und Geschlecht, verbindet die im Temperament und in ihrer architektonischen Sprache doch recht verschiedenen Architektinnen Pinós und Galí? Ihr Werk überblickend, stösst man auf diese merkwürdige Koinzidenz: Beide haben künstliche Inseln im Meer gebaut.


Barcelonesische Bonvivante

Galís Insel ist Teil eines Bäderprojekts auf dem Gelände des «Forums 2004», der zurzeit grössten Baustelle Barcelonas (NZZ 14. 9. 02). Das Bad ist einem neuen Park von Foreign Office Architects vorgelagert; es werden dabei Themen wie Süss- und Salzwasser, stilles und bewegtes, kaltes und warmes, klares und schlammiges Wasser variiert: «Eine deliziöse Bauaufgabe.» Die künstliche Insel aus weissen Betonquadern soll kein falsches Idyll vorspiegeln, sondern sie erscheint als streng horizontal geordnete Architektur im Meer, kontrastierend mit den buschigen Ufern, wo aber auch eine breite öffentliche Treppenanlage ins Wasser führt, und mit zwei langgestreckten Gebäuden, die Strandbars aufnehmen.

Die 1950 geborene Beth Galí, von Vitalität sprühend, ist für solch hedonistische Projekte zweifellos die geeignete Architektin. Im Umfeld von Barcelonas «Gauche divine» der späten Franco-Jahre gross geworden, wirkte sie ab 1980 bei der von Oriol Bohigas geleiteten Projektgruppe der Stadtplanung mit, die aus Barcelona alsbald «eine Stadt von vier Millionen Urbanisten» machte. «Die nationalistische Rechte schoss sich auf die von uns gestalteten Plätze ein, und diese Politisierung war der Diskussion förderlich. Linke und Rechte tauschten zeitweise über unsere Köpfe hinweg ihre Kugeln. Ausserdem waren es die ersten demokratischen Jahre nach der Franco- Diktatur, und da gab es eine ungeheure Bereitschaft, die neue Freiheit auszuleben: selbstbewusst, grossmütig, expansiv. So sehr, dass die Leute es heute für ganz normal halten, dass Barcelona immer an der Spitze mitmischt.

Zu ihren Entwürfen aus jener Zeit gehören der Parc de Joan Miró und der Fossar de la Pedrera, eine Gedenkstätte für Kriegsopfer in einem alten Steinbruch am Montjuïc, die sie zu einem der aussergewöhnlichsten, ja ergreifendsten Orte von Barcelona gestaltet hat: eine nachgerade filmisch anmutende Sequenz von Aussenräumen. Von Beth Galí stammt aber auch eine der meistkopierten Strassenlampen der jüngeren Zeit, die «Lamparaalta». Inzwischen hat ihre Arbeit als Urbanistin mit der Neugestaltung des Zentrums der holländischen Stadt s'Hertogenbosch und der Hauptgeschäftsstrasse von Cork in Irland ihre Fortsetzung gefunden. Demnächst wird sie auch in Hamburg ihren Entwurf für die Umgebung des Dammtorbahnhofs sowie eine neue Rambla in Terrassa bei Barcelona realisieren. Diese stellt den Versuch dar, ein 1999 durch rassistische Ausschreitungen in Verruf gekommenes Viertel mittels eines öffentlichen Raums besser in die Stadt zu integrieren.

In exponierter Lage - und stets als Ausdruck der Zeit - entstehen auch einige ihrer Hochbauten. So wird sie am Paralelo, mitten in Barcelonas altem Theaterdistrikt, nicht etwa ein neues Theater bauen, sondern - ein Altersheim. Und in Nachbarschaft zu Jean Nouvels Wolkenkratzer an der Diagonal ist als Galís zurzeit ambitioniertestes Projekt ein Medienpark geplant, der acht hoch verdichtete Cerdà-Blocks umfassen wird: «la Ciudad Audiovisual». Galís Büro liegt in einer einst düsteren, inzwischen durch urbanistische Massnahmen stark aufgewerteten Altstadtgasse. Das Erdgeschoss ist einem Galerieraum vorbehalten, in dem - unbeachtet vom grossen Publikum - die zweifellos seltsamsten Architekturausstellungen Barcelonas gezeigt werden.


Beauty and the Beam

Anders das Atelier von Carme Pinós: Die 500 Quadratmeter an der Ecke von Diagonal und Vía Augusta repräsentieren das grossbürgerliche Barcelona in Reinkultur. Nach ihrer Trennung von Enric Miralles war die Frage unausweichlich, inwieweit sie die Co-Autorschaft für wegweisende Entwürfe wie den Friedhof von Igualada - wo Miralles später begraben wurde - und die Schule in Morella beanspruchen kann. Eine Antwort gab sie selbst mit einem andern Schulbau in Mollerussa bei Lleida, dessen räumliche Qualitäten, vor allem die Erschliessungszone mit ihrem beziehungsreichen Ineinander von Rampen, Treppen und Galerien, dem Bau in Morella in nichts nachstehen.

Carme Pinós' Architektur ist nicht organisch; sie schmiegt sich jedoch oft so eng an das Gelände, als suchte sie ihren Ort zwischen dessen Faltungen. An Sandkastenspiele mag sie erinnern, etwas «Füchsisches» hat Pedro Azara darin ausgemacht. Keine dominanten Flanken, keine Stirnseiten, keine vor dem Betrachter sich aufspielenden Fassaden; eher eine Vielzahl flüchtiger Seitenansichten. Wie bei Beth Galí spielt auch im Werk von Carme Pinós die Gestaltung des öffentlichen Aussenraums eine zentrale Rolle. Ihre «Insel» ist eine Aufschüttung vor der von ihr gestalteten Marina von Torrevieja. Sie schirmt mit den neuen Molen die Strände und Promenaden ab, die vor der dicht bebauten Touristenstadt einen «maritimen Garten bilden, für den man sie in Torrevieja jetzt, gemäss ihrer eigenen Aussage, «auf Händen» trägt.

Inzwischen hat sich der Schauplatz ihrer wichtigsten Projekte nach Mexiko verlagert, genauer nach Guadalajara. Der Unternehmer Jorge Vergara, reich geworden mit der Vermarktung von Kraftnahrung, hat mit Hilfe des mexikanischen Elitearchitekten Enrique Norten eine ganze Schar berühmter Baukünstler zusammengetrommelt - Libeskind, Nouvel, Hadid, Toyo Ito -, um ein Gelände am Stadtrand in eine architektonische Wunderschau zu verwandeln, in der weder ein Stadion noch ein Museum, noch ein Hotel fehlen (NZZ 14. 9. 02). Carme Pinós wurde für die Messehallen und den angrenzenden Park ausersehen. Sie schlug drei langgestreckte Bauten vor, die als Brücken das Kongresszentrum von Enrique Norten und das Zuckerwatte-Shopping-Center von Coop Himmelb(l)au mit ihrem Park verbinden. «Was uns vorschwebt, sind Hallen, die auch als Park funktionieren, wenn gerade keine Messe stattfindet: Wir versuchen eine Poetik der leeren Räume zu schaffen.»

Das megalomanische Projekt des mexikanischen Magnaten ist inzwischen ins Stocken geraten; gegenwärtig wird der Masterplan überarbeitet. Weniger ungewiss scheint die Realisierung eines andern Projekts in Guadalajara: Ein örtliches Bauunternehmen, das damit zugleich zu renommieren und sein eigenes Können zu unterstreichen gedenkt, beauftragte Carme Pinós mit dem Entwurf seines neuen Hauptsitzes. Der 15-geschossige Turm hat es denn auch in sich: Er ist - das liebliche Klima von Guadalajara lädt dazu ein - nicht nur natürlich belüftet und belichtet, sondern auch konstruktiv ein Wagestück. Eine punktsymmetrische Anlage aus drei Erschliessungskernen trägt ebenso viele völlig stützenfreie Bürozonen, vertikal teilweise über mehrere Geschosse durchbrochen, was wiederum den Innenhof mit Licht und Luft versorgt. Das Ganze wird durch eine Lattenfassade vor der Glashaut abgekühlt: cool wie Carme Pinós.

2. Juli 2003 Neue Zürcher Zeitung

Die Kunst, Stadt zu sein

Valencia verstrickt sich in seine zweite Biennale

Kaum hat Bilbao mit Gehrys Guggenheim Museum erfolgreich um sein Quentchen internationale Aufmerksamkeit gebuhlt, versucht sich nun Valencia vehement als Spaniens drittes kulturelles Zentrum neben Madrid und Barcelona zu positionieren. Der valencianische Himmel ist die Vitrine, in der Santiago Calatravas «Stadt der Künste und der Wissenschaften» ausliegt wie die Exponate eines naturkundlichen Museums: Sepie, Menschenauge, Walgerippe, ins Gigantische gesteigert. Auch das IVAM, das nach einem bemerkenswerten Start etwas erlahmte Institut Valencià d'Art Modern, plant nun seine Erweiterung. Formal steht sie, wiewohl auch in makellosem Weiss, Calatravas Triade aus Oper, Imax und Museum konträr entgegen. Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa umhüllen das bestehende, 1989 eröffnete Gebäude mit einer perforierten Stahlhaut, die sich als enormer transparenter Quader am Rande der Altstadt erheben soll. Auf die Verwirklichung dieses den Purismus ins Irreale steigernden Schattenhauses, einer urbanen Fata Morgana, kann man gespannt sein.


Attraktives Leuchten

Weder das IVAM noch die Calatrava-Triade gehören indessen zu den Schauplätzen der zweiten Bienal de Valencia, die sich - wie schon die erste Ausgabe - dem Crossover der Kunstgattungen verschrieben hat, diesmal unter dem Titel «La Ciudad Ideal». Die Idealstadt? Jede Architektur ist ja zunächst Idee - und endet als Abrissobjekt, um der nächsten Platz zu machen. Auf äusserst plastische Weise zeigen das unweit des IVAM die unzähligen Baulücken im Barrio del Carmen. Diese Grundstücke, gewöhnlich begrenzt von Brandmauern, welche die Spuren des einstigen Lebens tragen, werden für die Biennale von annähernd vierzig Künstlern bespielt. Nun können einige das Mauerwerk zierende Fotos von Wim Wenders gewiss nicht als Auseinandersetzung mit der Dramatik des Ruinenumfelds gelten; auch nicht das «Gum City» betitelte Kondomkränzchen von Gilbert & George, selbst wenn es sich bei näherer Betrachtung als eine Art Kraterstadtplan herausstellt und nachts attraktiv leuchtet. Die meisten der vom ungarischen Kurator Lóránd Hegyi eingeladenen Künstler aber haben die Herausforderung angenommen. Ilya Kabakovs «Woman-Fountain» kann zwar nicht als ortsspezifisch bezeichnet werden, scheint aber auf bestrickende Weise nichts weniger als eine neue Werkphase zu eröffnen, und Ilona Némeths Kapselhotel ist - allerdings nur für die Siesta - benützbar. Dass sich nachts keiner hier einkapselt, darüber wacht ironischerweise, wiewohl mit einigem visuellem Getöse, gleich daneben Eugenio Canos «Vigilancia iluminada» im Kreis von zehn sich einander zuneigenden Peitschenlampen.

Da die Künstler in der Wahl ihres Grundstücks frei waren, gebührt den unaufdringlicheren Interventionen von Sooja Kim und Richard Nonas besondere Erwähnung. Nonas umspielt die phantasmagorischen Überreste eines hinter einer Einfriedung verborgenen Torbogens mit einem regelmässigen Balkenraster: zu Boden gestürzte Reminiszenz der einstigen Deckenkonstruktion. Der koreanischen Künstlerin genügt es, das einsam aufragende Gemäuer eines schmalen, seiner Nachbarn beraubten Wohnhauses - nacktes Sinnbild des Widerstands gegen die Bodenspekulation - nachts in wechselnden Farben anzustrahlen, um ein höchst poetisches Memorial zu schaffen. Überhaupt entfalten viele Interventionen - etwa Kabakovs Laserpointillismus auf Stahldraht und Polly Apfelbaums nach eigenem Bekunden «ziemlich hässlich, aber optimistisch» leuchtender Blumenteppich - ihre beste Wirkung erst nach Einbruch der Dunkelheit. Anders Clay Ketter, der seine Brandmauern so behutsam angekratzt und (mit Reflexen der gegenüberliegenden Fassade) neu bemalt hat, dass die Intervention bei Tag kaum als solche erkennbar ist. Genau diese Ambiguität im Umgang mit der an sich zweischneidigen Schönheit der Ruinen hätte man sich öfter gewünscht.

«Solares (o del optimismo)» nennt Lóránd Hegyi sein Projekt: Im spanischen Wort für Grundstücke scheint auch die Sonne, scheint das in die Stadtbrachen einbrechende Licht schon enthalten. Unter den acht die «Ciudad Ideal» konfigurierenden Ausstellungen löst sie am überzeugendsten den Anspruch der Biennale-Macher ein, keinen im Galeriencircuit zweitverwertbaren Aufwasch gerade angesagter Strömungen zu bieten, sondern Kunst mit der Stadt selbst zu verflechten. «Transversal» ist eines der Lieblingswörter des Leiters dieses Events, Luigi Settembrini, der selber aus der Werbe- und Modeszene kommt. Der nicht eben textlastige Katalog zeigt freilich auch, dass Theorie nicht Sache dieser Biennale ist. Dafür hat das Thema «La Ciudad Ideal» einige spanische Zeitschriften bewogen, sich seiner anzunehmen, und die betreffenden Nummern wurden wiederum Teil der Biennale, indem sie buchstäblich in die «Arquitecturas efímeras» integriert wurden: sechs am Flughafen, an Bahnhöfen und Metrostationen errichtete Kioske junger valencianischer Architekten.

Hätte es aber, grantelte ein Kolumnist in der Zeitung «Las Provincias», das Motto der Idealstadt nicht nahegelegt, auch einige der so mächtigen lokalen Bauunternehmer einzuladen? Zumindest als Sponsoren? Man hat's versucht, vergeblich. Ernstlich gefordert werden sie sein, falls das Projekt «Sociópolis» - und die valencianische Regierung scheint dazu entschlossen - verwirklicht wird: ein «solidarisches Wohnviertel», zu dem ein Dutzend renommierte in- und ausländische Avantgardisten (darunter MVRDV, Toyo Ito, FOA und Vicente Guallart, von dem die Initiative stammt) Entwürfe beigesteuert haben, die nun im Kloster San Miguel de los Reyes ausgestellt sind.


Trivial oder vorhersehbar

Will Alsop und Bruce McLean, die englischen Künstler-Architekten, haben ihrerseits im Convento del Carmen einen Pavillon geschaffen, den sie «Department of Proper Behaviour» nennen: eine eher kühl lassende Shopping-Travestie. Pathetischer gebärdet sich der Filmregisseur Mike Figgis, der ein halb zerfallenes (und gleichfalls schön kühles) Stadtpalais mit den multimedialen Versatzstücken dessen gefüllt hat, was er einen dekonstruierten Film nennt. Als junger Mensch hatte er vermutlich mal die Arbeiten von Edward Kienholz gesehen. Figgis, der es wissen muss: «Die Kunstwelt ist noch korrupter als Hollywood, das seine Geldgier wenigstens nicht noch zu verhehlen trachtet.»

Mit derlei Inszenierungen wird sich Valencia, mag es sich die Biennale auch fünf Millionen Euro kosten lassen, nun schwerlich in die erste Liga der Kunstmetropolen katapultieren. Zu trivial oder zu vorhersehbar wie die eigentliche Hauptausstellung in den Werfthallen. «Micro- Utopías» betitelt, wartet sie mit dem zum Thema «Kunst und Architektur» zu erwartenden Mix auf, von den «Klassikern» Gordon Matta-Clark, Acconci, Buren, Kawamata und Dan Graham bis zu einigen jüngern Künstlern und Architekten, darunter die Schweizer Fabrice Gygi und Décosterd & Rahm. Nach dem Publikumserfolg schielt die Ausstellung Sebastião Salgados, der die Valencianos porträtiert hat, und Irene Papas liefert als Programmgestalterin die szenischen Beigaben. Die valencianische Kulturbeauftragte Consuelo Ciscar fasst es treuherzig so zusammen: «Niedriges Risiko, hohe Ausbeute.» In einer Plakataktion der Anti-Bienal-Bewegung, die natürlich auch nicht fehlt, wird die Politikerin des nicht eben immigrantenfreundlich gesinnten Partido Popular mit folgendem Satz zitiert: «Eine Menge Leute suchen um eine Aufenthaltsgenehmigung in Valencia nach, um all die Kunst zu geniessen.»


[Bienal de Valencia. Bis 30. September. Katalog Euro 40.-.]

7. Juni 2003 Neue Zürcher Zeitung

Design und Trivialkultur

Barcelona feiert die angewandten Künste

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28. Mai 2003 Neue Zürcher Zeitung

Kastilischer Kasten mit Schweizer Kiste

Ein Pavillon von «2b architectes» in Madrid

Zu behaupten, der Schweizer Pavillon im Kulturzentrum Conde Duque und die dort zu sehende Ausstellung über junge Schweizer Architektur machten in Madrid Furore, wäre vermessen. Auch wenn sich die Besucher eher spärlich einfinden, kann sich der temporäre Bau der Lausanner Architekten Stéphanie Bender und Philippe Béboux («2b architectes») als ephemere Demonstration junger Schweizer Baukunst sehen lassen. Hervorgegangen aus einem von Pro Helvetia unterstützten Wettbewerb des spanischen Ministeriums für öffentliche Bauten, wurde er im Februar 2003 eröffnet: anlässlich der Madrider Kunstmesse ARCO, an der die Schweiz als Gastland auftrat. Die «caja suiza», wie sie gemeinhin genannt wird, bleibt noch bis November stehen.

Ort des architektonischen Geschehens ist einer der drei Innenhöfe des Conde Duque, einer 1717 bis 1730 erbauten Kaserne, die 1969 von Julio Cano Lasso für kulturelle Zwecke umgebaut wurde. Der kolossale, bis auf das barocke Portal rigoros ornamentfreie Kasten bildet den adäquaten Hintergrund für eine «Schweizer Kiste», die ihre Herkunft nachgerade hinausschreit in den Madrider Himmel. Die beiden Lausanner entwarfen nämlich einen kreuzförmigen Bau aus opalisierendem Acrylglas: ebenerdig der eine Balken, der an seinen beiden Enden je einen grabenartigen und mit einigen Liegestühlen bestückten Patio frei lässt. Darüber der zweite Balken: das Ausstellungsgeschoss mit seinem hohen umlaufenden Korridor, beidseitig zugleich als Vordach spektakulär auskragend. Das Ganze wird auf halber Höhe umrahmt von roten Stoffbahnen, die dem Hof Schatten spenden und das weisse Kreuz erst zu einem Schweizerkreuz machen. Soll dieser Baldachin auch als Reminiszenz an spanische Dorffestdekorationen verstanden werden, so bleibt dies neben der Zelebrierung helvetisch- heraldischer Perfektion doch Nebensache: «La Suisse existe» - als begehbarer Wimpel!

Mit ihrem Entwurf hatten sich «2b architectes» im Wettbewerb gegen vier ebenso junge Konkurrenten durchgesetzt: Baumann & Roserens, Buzzi & Buzzi, Conradin Clavuot und Sabarchitekten. Alle fünf Teams werden nun mit ihren Wettbewerbs- und weiteren Projekten im Ausstellungsgeschoss vorgestellt: auf nichts als einigen horizontal über den Boden verteilten Bildschirmen, welche die Kenntnisnahme ihres Werkes allerdings sehr mühsam machen. Das ist schade und - im Gegensatz zum Pavillon selbst - eine verpasste Chance, dem spanischen Publikum eine noch unverbrauchte Generation von Schweizer Architekten näherzubringen. Dies holt aber immerhin ein attraktiv gestalteter Katalog nach, der die fünf Büros und deren Bauten dokumentiert. Mit Blick auf die Madrider Ausstellung stellt zurzeit auch das Architekturmuseum Basel dieselben fünf Büros in einer anderen, wesentlich aufschlussreicheren Präsentation vor.


[Die Ausstellung in Madrid dauert bis zum 8. Juni, die Basler Ausstellung bis zum 31. August. Katalog: Concurso de arquitectura contemporánea suiza. Hrsg. Centro Cultural Conde Duque, Madrid 2003. 207 S., Fr. 10.- (ISBN 84-96102-00-9).]