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5. Juni 2023 deutsche bauzeitung

Raumblöcke für das Eiswerk

Eisfabrik in Berlin

In der Abfolge von drei unterschiedlichen Bausteinen definieren GRAFT ein gemischtes Quartier, das durch seinen Städtebau sowie seine Gebäudefigur und Architektursprache abwechslungsreiche Raumwirkungen erzielt und unterschiedliche Zeitschichten verbindet.

Kurz vor 9 Uhr morgens herrscht Hochbetrieb an der Köpenicker Straße 40. Menschen strömen zu Fuß oder auf dem Rad zum Eiswerk. Unter der abgetreppten Durchfahrt im Vorderhaus hindurch führt ihr Weg in die Tiefe des Grundstücks, das sich fast bis zum Ufer der Spree erstreckt. Ein Stück Berliner Blockkultur des 19. Jahrhunderts. Ob jemand von ihnen etwas mit dem Namen Carl Bolle anfangen könnte? Dem legendären Berliner Unternehmer und Meiereibesitzer des 19. Jahrhunderts?

Auf Bolle, der wegen des werbenden Läutens seiner Milchwagen in Berlin »Bimmel-Bolle« genannt wurde, geht die Entstehung der Eisfabrik 1896 zurück. Damals hatte sich das Spreeufer zwischen Mitte und Rummelsburger Bucht als wichtiger, innenstadtnaher Industriestandort etabliert. Nach der Wiedervereinigung 1990 war die Gegend direkt am ehemaligen Mauerstreifen Club- und Partyareal. Bis ihre städtebaulichen Potenziale wachgeküsst wurden, dauerte es erstaunlich lange. Das gleich neben der Eisfabrik liegende Deutsche Architektur Zentrum (DAZ) war viele Jahre einsamer Vorreiter. Doch inzwischen reihen sich auf dem Streifen zwischen Köpenicker Straße und Spree die unterschiedlichsten Nutzungen aneinander, wird dort gewohnt und gearbeitet.

Eiskalt transformiert

In der Eisfabrik war 1995 nach fast einem Jahrhundert Schluss mit der Produktion von Stangeneis zur Kühlung. Seitdem wurde intensiv um die künftige Nutzung des Industrieareals gerungen. Bedauerliche bauliche Verluste inklusive. So wurden die bedeutenden Hochkühlhäuser von der Treuhand Liegenschaftsgesellschaft kurzerhand entsorgt. 2017 erhielten schließlich die Berliner GRAFT Architekten den Auftrag, auf dem Gelände für den Investor Trockland ein neues Quartier zu entwickeln. Stellt sich die Frage: Was braucht eigentlich ein gelungenes Quartier? Natürlich, die richtige Mischung macht’s. Daran hat sich seit Carl Bolles Zeiten wenig geändert. Wie damals fügt sich das Quartier aus unterschiedlichen Bausteinen zusammen. Zur Straße hin wird gewohnt, zur Spree hin wird gearbeitet.

Baustein eins ist die straßenbegleitende Wohnbebauung, die sich um einen klassischen Berliner Hof legt. Das historische Wohngebäude wurde von GRAFT saniert und um eine Lückenschließung zur Köpenicker Straße hin ergänzt. Die Fassade mit ihren stehenden Fensterformaten samt Glasbrüstungen ist mit dunklen Aluminiumblechen verkleidet. Gegliedert wird sie durch unterschiedlich große Balkone sowie ein System aus gegeneinander verschobenen Rahmen, die mal nur ein, mal zwei Geschosse zusammenbinden. Ergänzt wird diese Fassadenbewegung durch das charmante Farbspiel der Rahmen. Je nach Lichtstimmung schimmern sie stärker golden oder eher grünlich. Zum Hof hin, der nach historischem Vorbild denkmalgerecht wiederhergestellt wurde, zeigen sich Alt- und Neubau unaufgeregt mit hellem Verputz.

Baustein zwei des Eiswerk-Quartiers ist sein Querriegel. Ursprünglich Eislager, nimmt er nun Büros auf. Er schließt sich auf der Rückseite des Wohnhofs an und bildet die Schnittstelle zur gewerblichen Nutzung des Grundstücks. Spreeseitig zeigt das ehemalige Eislager eine typische Industriefassade des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die durch Ziegellisenen und Putzfelder strukturiert wird. In die einst geschlossenen Wände haben GRAFT für die neue Nutzung Fensteröffnungen eingebracht, die dem industriellen Charakter des Denkmals entsprechen.

Der dritte Baustein ist der spektakulärste des Eiswerks, das Bürogebäude für den Onlinebroker Trade Republic. Der annähernd u-förmige Baukörper ist von sieben Geschossen im Inneren des Quartiers zur Spree hin auf vier Geschosse abgetreppt. Die U-Form des Baukörpers wird durch die mal auskragenden, mal zurückspringenden Geschossebenen markant aufgelockert. Unterstützt wird diese Wirkung durch die Alu-Elemente der Fassade: Je nach Ausrichtung wirken sie geschlossen oder offen. Ihre Farbe greift dabei auf den an der Köpenicker Straße eingeführten, chamäleonhaft changierenden gold-grünen Ton zurück und bindet die Bauteile bei unterschiedlicher Gestaltung und Nutzung optisch zusammen. Zugleich übersetzen die horizontalen Elemente der Bürohausfassade Struktur und Ornamentik des gegenüberliegenden ehemaligen Maschinen- und Kesselhauses, das derzeit von Robertneun als Veranstaltungsort ergänzt und hergerichtet wird. So entsteht ein reizvoller Dialog zwischen Alt und Neu in Formfindung und Materialverwendung.

Quartiersbildung als Raumbildung

Neben der Mischung der Funktionen ist deren angemessene Differenzierung in öffentliche, halböffentliche und privatere Bereiche konstituierend für das Quartier. Doch GRAFT führen am Beispiel des Eiswerks auch vor, welche Rolle Architektur und Städtebau bei der Raumbildung für die Qualität eines Quartiers zukommt. Anstatt einfach eine »klassische« Berliner Blockbildung durchzudeklinieren, definieren sie mit Gebäudeform und Architektursprache unterschiedliche Räume und schaffen unterschiedliche Qualitäten. Auf der überschaubaren Grundfläche des Quartiers entsteht so im Wortsinn auf Augenhöhe eine interessante Abfolge von Raumcharakteren, die subtil modelliert sind.

Dieses Spiel der sich mal weitenden, mal verengenden Räume wird durch die Ausrichtung der Fassaden und den Wechsel von offenen und geschlossenen Bereichen begleitet. Die Blicke werden gelenkt und kleinteilige räumliche Geschichten erzählt. Dabei kommt GRAFT zugute, dass ihr Grundstück nicht durch einen Zaun von dem des ehemaligen Maschinenhauses abgetrennt ist, sondern trotz unterschiedlicher Eigentümer eine räumliche Einheit bildet. Geradezu verblüffend ist, dass dieses abwechslungsreiche Raumerlebnis durch die Fotografien nur begrenzt transportiert werden kann. Man sollte es vor Ort erleben.

Einer der entscheidenden Unterschiede zu Carl Bolles Zeiten ist nämlich, dass die Raumwelt des Eiswerks öffentlich zugänglich ist. Hier zeigen sich Verantwortung und Potenziale einer klugen Stadtentwicklungspolitik. Eine ursprünglich städtebaulich ebenfalls angedachte Durchwegung der Grundstücke zwischen Spree und Köpenicker Straße im Bereich des Hofes voranzutreiben, konnte leider nicht umgesetzt werden. Das führt dazu, dass es keinen zusätzlichen Eingang zum benachbarten Deutschen Architektur Zentrum DAZ gibt, das mittlerweile eng umbaut in seiner Hofinnenlage sanft dahindämmert.

Offen ist, wann es den geplanten öffentlichen Uferweg entlang der Spree geben wird. Vielleicht würde dann ja auch eine mögliche Gastronomie im EG des Trade-Republic-Gebäudes einziehen. Bis dahin säumen weiter wilde Tippis das Spreeufer. Det is Berlin. Einen ordentlichen Espresso gibt es allemal in dem Mikro-Café des Quartiers, gleich neben dem Durchgang von der Köpenicker Straße. Dort lässt es sich gut darüber philosophieren, dass eine spannungsvolle Raumbildung zentrale Bedeutung für eine gelungene Quartiersbildung besitzen kann.

10. Juni 2021 Neue Zürcher Zeitung

Gottfried Böhm, Meister der gebauten Skulpturen, ist 101-jährig gestorben

Der deutsche Architekt hinterlässt ein umfangreiches Werk, eigensinnig und expressiv.

Zum vollständigen Artikel im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv ↗

6. April 2020 deutsche bauzeitung

Die Gunst der Fuge

»Wohnregal« in Berlin-Moabit

Das Wohngebäude mit Büroflächen im EG verbindet systemisches Bauen mit hohem Freiheitsgrad bei der Grundrisseinteilung. Mit Betonfertigteilelementen aus dem Gewerbebau ließ sich der Rohbau in sechs Wochen fertigstellen. Die Grundrisse der Mietwohnungen und Wohnateliers mit Flächen zwischen 30 und 110 m² sind in allen Geschossen verschieden. Dem veredelten Rohbau im Innern steht die wertige Außenansicht der Glashülle gegenüber.

Standardisiert, vorfabriziert und höchst modular: Der Traum einer industrialisierten Architekturproduktion begleitet die Moderne seit ihren Anfängen quer durch alle Materialien. Von Eisen, Stahl und Glas bis hin zum Beton geht damit der Wunsch einher, Bauprozesse zu beschleunigen und kostengünstiger zu gestalten – gelegentliche Fertigbau-Alpträume in den 60er und 70er Jahren eingeschlossen. Ein Vorläufer derartigen Prefab-Bauens ist die 1891 eröffnete Arminiusmarkthalle in Moabit von Hermann Blankenstein mit ihren gusseisernen Säulen und ornamentalen Ziegelfeldern. Nur ein paar Schritte entfernt steht das neue Wohnregal von FAR Frohn & Rojas Architekten in der Waldenser-, Ecke Emdener Straße. Dort unternimmt die deutsch-chile­nischen Architektengemeinschaft von Marc Frohn und Mario Rojas, die sogar über einen Büroableger in Los Angeles verfügt, den Versuch, das alte Lied des vorfabrizierten, industrialisierten Bauens mit einer neuen Melodie zu ver­sehen. Umgeben von einem bunten Wechselspiel aus Wohnhäusern der Gründer- und Nachkriegszeit ist der Neubau auf einem Eckgrundstück entstanden, das seit dem Zweiten Weltkrieg brachlag. Ohne Keller und auf Pfeilern gegründet, wächst das Wohn- und Atelierhaus auf dem Trümmerschutt der Vergangenheit sechs Geschosse empor und schließt traufbündig an seinen Nachbarn an. Darin erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten mit der Nachbarschaft aber auch schon. Ansonsten interpretiert das Gebäude mit seinen weiten Glasflächen und dem dahinter durchscheinenden Betonraster die Bauaufgabe Wohnhaus durchaus anders. Ziel von FAR war es, einen Wohnungsbau aus Fertigteilen zu verwirklichen, die ansonsten im Industriebau verwendet werden.

Das bedeutete für die Architekten einen Lernprozess. Schließlich ist bei der Produktion von Fertigteilen grundsätzlich vieles möglich. Aber jede Abwandlung, die vom Standardverfahren abweicht, kostet zusätzliches Geld. Daher mussten sich die Architekten zunächst in die Produktion der Fertigteile hineindenken, um mit möglichst sinnfälligen wie kostengünstigen Modifi­kationen die Fertigteile ihrem Entwurf anzupassen – und umgekehrt. Bilden doch die Ansätze kostengünstig und industriell zu bauen eine gedankliche Symbiose, die es in gebaute Architektur zu übertragen galt, ästhetischer Anspruch inklusive. Beispielsweise hätte es etwa 40 000 Euro gekostet, den Achsenabstand der Unterzüge der π-Decken anzupassen, damit sie mit der Grundstückslänge korrespondieren. »Stattdessen haben wir die Breite der π-Decken mit einer simplen Schaltafel gekürzt«, erläutert Marc Frohn beim Rundgang. »Dadurch ergeben sich im Gebäude zwei verschiedene Abstände der Unterzüge: derjenige innerhalb einer π-Decke und derjenige zwischen zwei π-Decken. Diese Varianz prägt das Erscheinungsbild.« Letztlich sind FAR ohne die Kosten für das Grundstück sowie das Honorar der für sich selbst bauenden Architekten bei rund 1 500 Euro pro m² BGF gelandet, die gesamten Baukosten betrugen 2,25 Mio. Euro.

Industrielles Wohnambiente

Das Raster mit den sieben Achsen der Pendelstützen aus Beton ist von innen wie von außen deutlich ablesbar. Davor hängt eine silbrige Aluminiumfassade aus großmaßstäblichen Hebe-Schiebe-Standardelementen (2,20 x 3 m), die für eine maximale Belichtung der Wohneinheiten sorgt. Markant sind auch die augenscheinlich grünen, wenngleich laut Hersteller vorgeblich farblosen, Brüstungselemente aus faserverstärktem Kunststoff mit ihrem hüfthohen quadratischen Rasterrausch. Dazu fügen sich im Innern die rundrilligen Industrieheizköper und schaffen neben der Funktion ein reizvolles Detail. Die Ecken des Hauses sind an Vorder- und Rückseite als offene Loggien ausge­bildet. Dazwischen liegt das nach Norden orientierte, offene Treppenhaus, das eine Art vertikalen Laubengang ausbildet, der durch ein Edelstahlnetz gegen allfällige Abstürze gesichert wird.

Der industriell ruppige Charme des Gebäudes kulminiert in dem architektonischen Leib- und Magenthema des Fügens, das bei den Fertigteilen in epischer Betonbreite zelebriert wird. Auf den Pendelstützen liegen die Stürze sowie die π-Decken auf. Aufgrund der Toleranz der Elemente von bis zu 20 mm schieben sich zwischen diese dunkle Fugen mit standardmäßigen Polstern aus Hartkunststoff. Sie verkehren das Motiv des Lastens optisch in ein irritierendes vermeintliches Schweben.

Durch die stützenfreie Spannweite der π-Decken von rund 13,5 m ergibt sich eine flexible Gestaltung der Geschosse, der lediglich durch die Schächte der Haustechnik gewisse Grenzen gesetzt sind. Der weitere Ausbau der Wohnungen erfolgte im Trockenbau. Die Wohnungsgrößen variieren dabei zwischen 35 und 110 m². In lieblichster Architektenprosa ergibt sich so laut FAR »eine maximale Vielfalt unterschiedlicher Wohn- und Arbeitsateliers, die die wachsende Vielfältigkeit an urbanen Wohnvorstellungen abbildet«.

Neben der Freiheit in der Entwicklung der Wohnungsgrößen und der Grundrisse ermöglicht die Verwendung der Fertigteile einen zügigen Bauprozess. In lediglich sechs Wochen sei der Rohbau errichtet gewesen, erläutert Marc Frohn. Das entspricht also einem Geschoss pro Woche. Entscheidend sei die funktionierende Lieferlogistik der Elemente, da sich die Nutzung eines Mobilkrans schnell als erheblicher Kostenfaktor niederschlägt. Abgerundet wird das minimalistisch industrielle Wohnambiente durch den mineralischen Fußboden sowie die Einbaumöbel mit weißen Fronten. Die Schiebeelemente der Fassade lassen sich bei entsprechender Witterung weit öffnen und verleihen den Wohnungen einen luftigen Loggiencharakter. Beherrscht wird der Raumeindruck jedoch von den gefügten Betonelementen. Daran können sich die Geister scheiden. Entweder mag man diese dominant brutalistische Rauheit – oder eben nicht. Das gilt ebenso für den Rhythmus der Decken, der durch die Rippen der π-Träger bestimmt wird. Dabei entstehen zwischen Einbaumöbeln und Rippen seltsam indifferente Zwischenräume. Die gleiche Herausforderung stellt sich bei den Stürzen, auf denen die π-Decken aufliegen. Daraus ergibt sich zwischen Sturz und Fensterelement ein nur mühsam zu verdunkelnder Fensterstreifen. Das wäre durch eine integrierte Verdunklung/Sichtschutz im Fensterelement freilich leicht zu beheben gewesen.

Insgesamt stellt sich die Frage, inwieweit das Konzept der Verwendung von industriellen Betonfertigteilen jenseits der sympathischen architektonischen Fingerübung der Moabiter Eckbebauung auch im großen Maßstab trägt. Kann sie einen relevanten Beitrag bei der Lösung der Herausforderungen des bezahlbaren Wohnraums darstellen? Das ist mehr als ein Rechenexempel, denn neben der Frage nach den Baukosten, ist es eine Frage der Ästhetik sowie deren Akzeptanz durch die Nutzer und nicht zuletzt nach der Nachhaltigkeit bei der Materialverwendung Beton. Die Berliner Architektengemeinschaft jedenfalls steht hinter dem eigenen Konzept. In der Gewerbeeinheit, die sich einmal quer durch das EG erstreckt, haben sie ihr eigenes Atelier bezogen.

12. November 2019 deutsche bauzeitung

Korkanzug

»Korkenzieherhaus« in Berlin-Staaken

Alle Anstrengungen, ein Einfamilienhaus recycelbar und aus möglichst naturnahen Materialien zu bauen, müssen zwangsläufig wie Greenwashing wirken. Doch wer, wenn nicht ein privater Bauherr, kann auf den Pioniergeist junger Architekten vertrauen, den Boden für Experimente bereiten und so die Anwendung außergewöhnlicher Techniken wie z. B. Korkplatten als Fassadenbekleidung voranbringen?

Im Umfeld einer in die Jahre gekommenen, von gestalterischer Selbstbestimmung geprägten »Wildschweinsiedlung« am Rand der großen Stadt steht das Korkhaus als freundlicher Alien unter lauter anderen Einfamilienhäusern. Mit seinen regenerativen Baumaterialien Kork und Holz, einem ambitionierten Energiekonzept und der kubisch-reduzierten Gestaltung samt Schrägdach hält es seinen mal besäulten, mal etwas angeschmuddelten Nachbarn den Spiegel vor. Charmant zeigt es ihnen dabei auf, was architektonisch bei der Bauaufgabe so alles denkbar wäre, ohne sich zugleich exaltiert über die Nachbarn zu erheben. Das Korkenzieherhaus macht damit genau das, was gute Architektur immer tun sollte: Mit ihm loten die beiden jungen Architekten Andreas Reeg und Marc Dufour-Feronce mit ihrem Büro rundzwei in Grundriss, Form und Material die Möglichkeiten von Bauaufgabe und Budget aus. Ihren selbstgestellten Grundsatz der unbedingten Nachhaltigkeit beim Bauen im Sinne des Cradle-to-Cradle-Ansatzes, behalten sie dabei konsequent im Blick.

Das Maximum herausgeholt

Den Anstoß zu dem planungsintensiven Einfamilienhaus in Berlin gab der Zufall. Auf einer Bahnfahrt kam Marc Dufour-Feronce mit seiner künftigen Bauherrin ins Gespräch. Man traf sich wieder und das in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliche Vorhaben konnte seinen Lauf nehmen. Ungewöhnlich ist nicht nur das Fassadenmaterial. Ungewöhnlich waren auch die Knackpunkte der Bauaufgabe, nämlich die Forderung der Bauherrin, das Haus bei Bedarf in zwei unabhängig voneinander erschließbare Einheiten unterteilen zu können. Ein Wunsch, der noch relativ einfach in die Grundrissentwicklung zu integrieren war. Die über dem Gebäudesockel liegenden kleineren Räume sind teilweise untereinander verbunden und können auch als Studio-Apartments genutzt werden, ein separater Eingang ist mit eingeplant.

Eine weitaus größere Herausforderung war es für die Architekten, auf UG, EG und DG eine Wohnfläche von über 300 m² unterzubringen. Und das, ohne dass man sich dabei im UG wie im Keller fühlt. Möglich wurde das nur, indem die Zitrone des Baurechts von den Architekten hinsichtlich Kelleranhebung und Dachausformung soweit ausgequetscht wurde, bis sie keinen weiteren Saft mehr geben konnte. So lugt der »Keller« nun über den Boden hinaus und wurde zum Wohngeschoss. Hinzu kam die innere Raumorganisation des Hauses anhand von Split-Levels, die sich um den zentralen Erschließungskern des Treppenhauses nach oben schrauben. Das sieht reizvoll aus und erinnert an eine Art zeitgenössische Mischung aus Loos’schem Raumplan und Scharoun’schem organischem Bauen. Im Fertigstellungsjahr 2019 passt das eigentlich hübsch als zeitgenössisches Korrektiv zur Quadratur des Bauhausjubiläums.

Der Außenpool ist eingetieft und dadurch vor den Blicken der Nachbarn geschützt. Wie das gesamte UG wird er durch Wände aus grobem Stampfbeton eingefasst, die ihre schichtweise Entstehung zur Schau tragen – eine Reminiszenz an die Berliner Tradition des Kellergeschossbaus, erläutert Dufour-Feronce.

Um das ambitionierte Raumprogramm zu verwirklichen, reicht das Haus nun also tief in die Erde hinab. Darüber aber schwebt es, ganz Kind ­einer leichten Moderne, mit einem gläsernen Sockelgeschoss empor. Darüber schließt sich das mit hochrechteckigen Korkplatten bekleidete OG an. Es mündet in eine scharfkantige, kronenartige Dachlandschaft mit vier Giebelfeldern. Dort, wo sich die Satteldachflächen in der Mitte des Hauses verschneiden, haben die Architekten ein zentrales Oberlicht platziert. Es versorgt das innen liegende Treppenhaus mit Tageslicht.

Betreten dürfen wir das Korkenzieherhaus leider nicht. Zu unerfreulich waren die Erfahrungen, die die Bauherrin mit allzu schaulustigen Architekturliebhabern bereits gemacht hat. So muss sich das Erlebnis der spiralartig – korkenzieherartig – hochwindenden Raumstruktur der Holzkonstruktion des Hauses auf die Erläuterungen von Marc Dufour-Feronce im Büro von rundzwei Architekten in Charlottenburg beschränken. Gleich um die Ecke steht die Alma Mater der beiden Architekten, die TU-Berlin. Während Reeg nach ­seinem Diplom bei ACME in London und bei Herzog & de Meuron internationale Erfahrungen sammelte, arbeitete Dufour-Feronce ebenfalls zunächst bei ACME und anschließend bei LAB Architecture Studio.

Weitgehend rückbaubar

Der Grundsatz der Nachhaltigkeit, dem sich die Architekten programmatisch verschrieben haben, beißt sich gemäß der reinen Lehre freilich kräftig mit der Bauaufgabe eines Einfamilienhauses. Bei einer Wohnfläche von rund 300 m² für drei Personen sowie Außenpool bekommt das Konzept zusätzliche Schlagseite.

Nun ist die reine Lehre das eine, die normative Kraft der faktischen Forderungen der Bauherrschaft das andere. Daher lohnt trotz dieser Einschränkung der Blick auf die nachhaltigen Bemühungen der Architekten, mit einem weitgehend vorfabrizierten Holzbau und dem Energiekonzept mit Erdspeicherheizung, Bauteilaktivierung, Photovoltaik sowie Solarthermieanlage auf dem Carport.

Das Gebäudeinnere ist bestimmt vom Dreiklang aus Ortbetonböden im EG (mit Estrichspachtel behandelt und mit grauem Silikatanstrich versehen), Holzflächen aus mit Natur-Öl behandelter Fichte (Bekleidungen der Holzbalkendecken, Fensterrahmen, Leimholzstufen und Pflasterparkett in den OGs) und offenporigen, mit einer natürlichen weißen Silikatfarbe beschichteten Gipsfaserplatten als Wandbekleidungen, die fast ebenso viel Feuchtigkeit aufnehmen können wie Lehmputzplatten. Wo irgend möglich haben die Architekten auf mechanische Befestigungstechniken zurückgegriffen, um auf Bauschäume und Kleber verzichten zu können – auf dem lösungsmittelfreien ­Parkettkleber auf Acrylbasis prangt immerhin ein Öko-Siegel.

Hinzu kommt schließlich das nicht nur in Berlin bisher ungewöhnliche Fassadenmaterial aus 14 cm dicken Korkfassadenplatten. Sie sind direkt auf die darunter liegenden Holzfaserplatten montiert, die dem Holzrahmen mit Zelluloseeinblas- und Holzfaserstopfdämmung aufliegen.

Die Idee für die Fassade aus Kork hat eine Mitarbeiterin aus Portugal mitgebracht, erzählt Dufour-Feronce. Das nachwachsende Naturmaterial, mit seinen markanten mal helleren, mal dunkleren Farbnuancen und der leicht reliefartigen Oberflächentextur, wird dort alle paar Jahre von den Stämmen der Korkeichen geschält. Längst dient es nicht mehr nur zum Verschließen von Weinflaschen oder als Fußbodenbelag. Es findet seinen Einsatz u. a. in der Industrie, denn es dämmt Geräusche und Vibrationen, kommt ohne chemische Zusatzstoffe oder Kleber aus und gilt darüber hinaus als wasserabweisend, feuerbeständig und strapazierfähig. Also der ideale Ersatz für die wenig geliebten und wenig nachhaltigen Wärmedämmverbundsysteme, mit denen Land auf Land ab immer noch zahllose Häuser eingepackt werden? Die Hersteller aus Portugal scheinen davon fest überzeugt zu sein, berichten die Architekten, die sich von der Faszination für das Material haben anstecken lassen. Immerhin gibt der Hersteller 20 Jahre Garantie auf die Haltbarkeit des Materials, das im Lauf der Zeit eine helle Patina entwickelt. Im Übrigen gibt es keinerlei Mangel an Kork – dahingehende Behauptungen gehören in den Bereich der Gerüchte.

Die maximale Größe der Platten von 100 x 50 cm ergibt sich aus der Größe der Presse, in der die zunächst zu Granulat verarbeiteten Stücke der Baumrinde – mitunter Abfall aus der Flaschenkorkenproduktion – unter Druck und Wärme ihre Form erhalten.

Dabei treten enthaltene Harze aus, die die Korkkörner untereinander verbinden und dafür sorgen, dass die Platten ohne weitere chemische Zusätze verbaubar sind und sogar schimmelresistent bleiben.

An der Fassade sind die Platten dann in einem Falz-System befestigt. An den Dachkanten wurden sie auf Gehrung geschnitten, um einen möglichst scharfkantigen Dachabschluss zu erzeugen. Der wird auch nicht durch Regenrinnen gestört, da innenliegende Fallrohre das Regenwasser abführen. Generell ist bei der Verwendung von Korkdämmung mit einem Kostenplus von rund 15 % gegenüber WDVS zu rechnen. Beim Staakener Haus kam man sogar auf 50 % – der speziellen Detailausbildung und der scharfen Kanten wegen.

Von einem internationalen Kork-Hype sollte man vielleicht noch nicht sprechen. Gleichwohl findet sich das vollständig recycelbare Naturmaterial nicht nur am Berliner Korkenzieherhaus. Gleich eine ganze Reihe ambitionierter Projekte experimentieren derzeit damit. Dazu zählt auch das Cork-House im englischen Berkshire von Matthew Barnett Howland mit Dido Milne und Oliver Wilton. In Zusammenarbeit u. a. mit der Bartlett School of Architectur entwickelt, wird das Material dort massiv verwendet. Und Jaspar Morrison hat just eine eigene Kork-Möbel-Linie entwickelt. Wenngleich feuerfest wird sich in den nächsten Jahren zeigen, inwieweit der Funke der Faszination für das Naturmaterial auch auf weitere Bauprojekte überspringt. Ebenso bleibt abzuwarten, wie sich Dauerhaftigkeit und Patina darstellen werden. Das Korkenzieherhaus bietet dafür jedenfalls eine anschauliche Referenz.

14. Oktober 2019 deutsche bauzeitung

Mitte als Konstrukt

Die James-Simon-Galerie und ihr Umfeld

Wo haben wir uns eigentlich verabredet, als es die James-Simon-Galerie noch nicht gab? So naheliegend ist als Treffpunkt in Berlins Mitte jetzt die große Freitreppe der Galerie, dass man sich kaum noch einen anderen Ort vorstellen kann. Die James-Simon-Galerie ist wahrhaftig wie ein gelungenes Geschenk, auf das lange gewartet wurde und an dem die Stadt und ihre Besucher nun täglich ihre Freude haben.

In liebevoller Belagerung haben sich einige Besucher auf der Treppe der neuen James-Simon-Galerie von David Chipperfield Architects niedergelassen. Entspannt schwatzen sie und schauen unter dem blauen Sommerhimmel auf die Museumsinsel. Im Zusammenspiel mit der feinen Betonarchitektur, die hell leuchtend in die Umgebung lächelt, wirken sie wie pointilistisch ver­streute Farbklekse. Gleich daneben beginnt schon auf der Treppe die lange Wartschlange, die sich durch das gesamte OG des Galerieneubaus zieht. Geduldig warten dort die Besucher auf ihren Einlass in den derzeit noch zu besuchenden Teil des Pergamonmuseums. Nur wenige Wochen nach ihrer Eröffnung ist die James-Simon-Galerie vom Publikum so angenommen, als hätte es sie schon immer an diesem Ort gegeben. Es ist eine Freude, in diesen feinen Tempel zurückzukehren, den ich schon einmal kurz schwärmend für die db beschreiben durfte (s. db 3/2019).

Im Kern entpuppt sich die Galerie als ein dienendes Multifunktionsgebäude für die umgebenden Schatzhäuser der Museumsinsel. Hier kann gegessen und gewartet werden, können Bücher gekauft, Vorträge gehört und Sonderausstellungen gesehen werden. Und Tickets für die Museumsinsel gibt es ebenfalls. Der Name des Galerieneubaus, das kann nicht oft genug dankbar erklärt werden, ist eine Referenz an den Sammler und Mäzen James Simon (1851-1932), dem die Staatlichen Museen u. a. die Büste Nofretetes verdanken.

In der belebten Galerie bestätigt sich einmal mehr, dass sich jedes Haus unter der Benutzung noch einmal ganz anders präsentiert. Dann verliert sich eine mögliche Monumentalität durch die vielen hohen Stützen ganz schnell im bunten Gewusel der Besucher. Und es zeigt sich, dass der Lärm ihres dröhnenden Geschnatters kaum absorbiert wird. Bestens besucht ist auch die Aussichtsterrasse des kleinen Cafés. Von dort blickt man nicht nur auf den Kupfergraben, sondern auch auf das Haus Bastian. Ebenfalls von Chipperfield entworfen, dient es den Staatlichen Museen nach dem Umbau durch Raumlabor künftig als Zentrum für kulturelle Bildung. Eine Ebene unter dem Café kann in den Regalen des großzügigen Buchladens gestöbert werden, während darunter im rund 650 m² großen Sonderausstellungsraum bis März kommenden Jahres Arbeiten der Gipsformerei der Staatlichen Museen zu sehen sind. Einzig das Auditorium mit seinen Sichtbetonwänden und den elegant geschwungenen hölzernen Deckensegeln bleibt mir heute verschlossen. Wer durch das noble, sichtbetonklare Haus streift, zu dem sich die ausdrucksstark gemaserten Paneele aus Nussbaumholz stimmig fügen, über breite Treppen und den Bodenbelag aus Crailsheimer Kalkstein wandert, der fühlt sich trotz der unterschiedlichen Raumebenen nie verloren. Dafür sorgen die zahlreichen Blickbezüge in den Außenraum, die viel Naturlicht ins Haus lassen. So wird es für die Besucher möglich, sich stets räumlich zu verorten. Das gilt selbst für den am tiefsten gelegenen Punkt des Galerieneubaus. Dort liegt der Übergang zum Neuen Museum und weiter zur »archäologischen Promenade«, die die einzelnen Häuser der Museumsinsel einmal unterirdisch verknüpfen soll. Von oben flutet üppiges Tageslicht in den Raum und stets schauen ein paar neugierige Blicke von Besuchern hinab, durch die großen Scheiben am Innenhof zwischen James-Simon-Galerie und Neuem Museum. Neben einigen Erläuterungen zur Museumsinsel wird der Verbindungsbau durch einen der hölzernen Gründungspfeiler von Schinkels altem Packhof dominiert, der hier einst am Ufer des Kupfergrabens stand. Für den Galerieneubau mussten rund 1 200 neue Betonpfähle bis zu 50 m tief in den schwierigen Baugrund der Spreeinsel getrieben werden.

So gelungen das neue Vielzweckgebäude im Innern ist, so bezaubernd sind seine Außenräume. Chipperfield führt dort die historischen Kolonnaden der Museumsinsel fort und übersetzt sie in filigrane, eckige Sichtbetonstützen. Sein Marburger Architekturtempel lässt grüßen. Doch geschenkt, denn mit den Betonstützen verleiht er der Galerie eine wunderbare Luftigkeit. Zusammen mit der gelungenen Gliederung der Baumasse lässt er das kräftige aus dem Spreewasser emporwachsende Haus zarter wirken. Die Pergolen artige Architektur umschließt einen neuen Hof, der sich zwischen James-Simon-Galerie und Neuem Museum erstreckt. Es ist ein öffentlicher und offener Ort, der eine wunderbare Ruhe verströmt. Er lädt dazu ein, sich auf der steinernen Bank unter dem Pfeilergang niederzulassen, um von dort dem Spiel von Wolken und Sonne auf den Fassaden zu folgen. Hier lässt es sich gut innehalten und ungestört darüber nachdenken, an welchem Ort man sich befindet und die Jahrhundertaufgabe zu würdigen, als die sich Sanierung und Umbau der Museumsinsel entpuppen. So selbstverständlich Chipperfields neues Erschließungsbauwerk heute erscheint, durch das nach wenigen Wochen bereits über 100 000 Besucher hindurchgewandert sind, so weit war der Weg dorthin. Er begann mit dem Wettbewerb für den Wiederaufbau des Neuen Museums 1993/94 (sic!). Erinnert sich noch jemand an den rationalistisch strengen Beitrag des Siegers Giorgio Grassi? Oder an das energische Votum der Staatlichen Museen für den exaltierten Beitrag Frank O. Gehrys und die spätere Entscheidung für den damals ja noch keineswegs so weltbekannten David Chipperfield? Begleitet wurde die Suche nach dem richtigen Entwurf von einer gelegentlich atemlos anmutenden Diskussion über den denkmalgerechten Umgang mit Friedrich August Stülers einzigartigem Neuen Museum, die in Chipperfields wegweisender Sanierung des Hauses und dem Masterplan (1999) mit dem Konzept der erwähnten Archäologischen Promenade mündete. Mittlerweile sind für die Museumsinsel einschließlich des Humboldtforums im neuen Berliner Schloss bereits mehrere Milliarden Euro (vom Bund) verbaut worden. Ein Ende ist nicht in Sicht. Gerade erst läuft der Architektenwettbewerb für den zweiten Bauabschnitt des Pergamonmuseums an.

Vielleicht führt das ja dazu, noch einmal über die Sinnhaftigkeit nachzudenken, Oswald Matthias Ungers siegreichen Entwurf aus dem Jahr 2000 weiterzuführen, der bereits damals quadratisch aus der Zeit gefallen schien. Die Grundsanierung von Schinkels Altem Museum steht noch aus. Wann sie beginnt ist ungewiss. Bis dahin wird die hässliche Glasfront zwischen den Säulen der großartigen Treppenhalle des Alten Museums die Blicke weiter verspiegeln und damit beweisen, welche Permanenz einem Provisorium zuwachsen kann. In der Planungs- und Baugeschichte der Museumsinsel nach 1990 drücken sich die wechselnden architektonischen-, museologischen und denkmalpflegerischen Paradigmen einer Generation aus. Zugleich präsentiert sich in der Museumsinsel ein Stück deutsches Selbstverständnis. Die Mitte der deutschen Hauptstadt wird durch einen Hort der Kultur gebildet. Welche europäische Hauptstadt kann das bieten? Hier, auf der Schlossinsel befand sich einst das herrschaftliche Zentrum der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin-Cölln. Mit seinem Alten Museum startete Karl-Friedrich Schinkel 1830 die lange Transformation der Berlin-Mitte vom königlichen Regierungszentrum zum bürgerlichen Kulturzentrum. Mittlerweile ist die Museumsinsel zu einem Archipel der Kultur gewachsen und wuchert weiter. Daran knüpfen sich etliche Fragen, die auch die anderen Standorte der Staatlichen Museen berühren. Fragen nach der Qualität der umstrittenen Kunstscheune M20 von Herzog und de Meuron am Kulturforum und der ungeliebten Museumsmelange aus Gemäldegalerie und Kunstgewerbemuseum, die sich dahinter anschließt. Aber auch nach dem inzwischen komplett abgehängten Museumsstandort in Dahlem. Wie wird langfristig das ehemalige Kasernengelände gegenüber über dem Bodemuseum genutzt? Es gilt als eine potenzielle Erweiterungsfläche der Museen und wird derzeit mit einem 360° Pergamon-Panorama bespielt. Zieht die Gemäldegalerie irgendwann doch dorthin, in die Nachbarschaft des Bodemuseums, in die sie aus kunsthistorischer Sammlungslogik auch gehört? Und welche Konsequenzen hätte das für das Kulturforum? Fragen über Fragen. Wäre es da nicht an der Zeit, einen Masterplan 2.0 für die Staatlichen Museen aufzulegen?

Unter solchen Gedanken wandert mein Blick vorbei an Chipperfields feinen Pfeilern zur Kuppel des neuen alten Schlosses, die noch eingerüstet ist. Sandsteinlicht lockt die übrige Fassade dieses neuen Humboldtforums bereits. Doch es wird noch ein Jahr dauern, ehe dieses seltsam aus jeder Zeit gefallene Post-Postmoderne Haus mit spätrationalistischen Einsprengseln seine Pforten öffnet. Dann endlich dürfen die Besucher hinauf, hinauf zum Restaurant stürmen, dessen Baukörper wie ein Menetekel über Balustrade und Dachschräge des Schlosses lugt. Was für eine architektonische Peinlichkeit.

Chipperfields James-Simon-Galerie überzeugt nicht nur durch ihre edle Harmonie und stille Größe, angesichts derer sich bei den Besuchern allfällige museale Schwellenangst schnell verflüchtigt. Das Haus veranschaulicht zugleich, was in Berlins Mitte an gebauter Qualität und an großartigen städtischen Räumen möglich gewesen wäre. Stattdessen hat man sich für ein rückwärtsgewandtes Geschichtskonstrukt entschieden und zugleich mit den Relikten der DDR-Architektur auch der gebauten Moderne die rote Karte gezeigt. Der großartigen Geste, die Mitte der Republik als Bildungs- und Kulturlandschaft zu definieren, steht die enttäuschende Mutlosigkeit gegenüber, der zeitgenössischen Architektur so wenig Raum zu gewähren. Welches Geschenk der Mut zur Gegenwart bedeutet, das haben David Chipperfield Architects mit ihren Bauten hier bewiesen. Mehr Gegenwart auf diesem Niveau hätte Berlins Mitte gutgetan. Die Museums- und Berlinbesucher jedenfalls hätte sie gewiss mit der gleichen liebevollen Neugier erobert, wie sie sich die James-Simon-Galerie ganz selbstverständlich zu eigen machen.

14. Oktober 2019 deutsche bauzeitung

Konstruktive Konzepte

Quartier am ehemaligen Blumengroßmarkt

Rund um die ehemalige Blumengroßmarkthalle in Kreuzberg, die von Daniel Libeskind 2012 fürs gegenüberliegende Jüdische Museum zur Akademie umgebaut wurde, sind mit drei Wohn-, Gewerbe- und Atelierhäusern die Resultate von Berlins erstem planerischen Konzeptverfahren zu begutachten. Sinnfällig ergänzt wird das Quartier durch das neue Verlagshaus der taz. Weitere Bausteine sind im Entstehen. Mit Fug und Recht lässt sich hier, in Nachbarschaft zu einigen herausragenden Bauten der IBA 1987, von »anderes Bauen« sprechen.

Der feine Schleier des Nieselregens verleiht dem matten Schwarz der Fassade aus karbonisiertem Lärchenholz des Gebäudes Frizz23 eine besondere Intensität. Passt gut, denke ich und suche vor dem Wetter trotzdem lieber Unterschlupf im kleinen Café »Nullpunkt«, im EG dieses Multifunktionsgebäudes für kulturelles Gewerbe. Das Frizz23, entworfen von Deadline Architekten aus Berlin, ist einer von vier Bausteinen des Areals rund um die ehemaligen Blumengroßmarkthalle in Kreuzberg. Die stammt von Bruno Grimmek, dem heute zu Unrecht fast vergessenen Leiter der Entwurfsabteilung des Berliner Hochbauamts. Daniel Libeskind hat die Halle aus den 60er Jahren zur Akademie des Jüdischen Museums umgebaut, dessen Hauptgebäude gleich gegenüber an der Lindenstraße liegt. Die Akademie beherbergt die Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin mit öffentlich zugänglichem Lesesaal, das Archiv sowie das für Veranstaltungen genutzte Klaus Mangold Auditorium und ­Seminar- und Workshop-Räume. Im Januar 2016 wurde die Akademie nach dem Gründungsdirektor des Museums in W. Michael Blumenthal Akademie umbenannt. Neben dem Frizz23 umfasst das Areal das neue Verlagsgebäude der taz von e2a aus Zürich, das IBeB – kurz für »Integratives Bauprojekt am ­ehemaligen Blumengroßmarkt« – der ARGE ifau und Heide & von Beckerath (beide Berlin) sowie das Metropolenhaus von bfstudio-architekten (ebenfalls Berlin).

Im Nullpunkt, das präzise eingemessen auf dem Standort von Berlins erster Sternwarte liegt, bestelle ich mir einen Kaffee. Dazu gibt es statt laktosefreier Milch lieber vegane Hafermilch. Die Bestellung gerne auf Englisch. Dit is Berlin 2019. Seit meinem ersten Besuch im Frizz23 (db 02/2019) hat sich zwar einiges auf dem Areal getan. Ganz fertig ist es aber immer noch nicht. Die ­Ladengeschäfte in den Erdgeschossen beleben sich erst nach und nach. Auf den Freiflächen zwischen den Häusern wird weiter gewerkelt. Der angrenzende Besselpark ist noch mit Baugittern abgesperrt. Gleich dahinter erhebt sich der feine Turm von John Hejduk, der an Westberliner IBA-Zeiten erinnert. Dauert halt alles seine Zeit, denke ich mir. Gleichwohl sorgt das Quartier bereits international für Aufsehen und gilt als eines der interessanteren Architekturorte der Stadt. Das liegt ebenso an den qualitätvollen Gebäuden wie am inhaltlichen Konzept. Möglich wurde die kleinteilige gemischte Nutzung durch die Grundsatzentscheidung, nicht auf den Höchstpreis für das Gelände zu schielen, sondern seine Vergabe über einen Konzeptwettbewerb zu regeln. Dabei ist der festgeschriebene Inhalt für die Neubauten wichtiger als der gebotene Preis. Eine sinnvolle Möglichkeit, um städtische Entwicklungen mitzusteuern.

Wer vom Jüdischen Museum kommt, dem öffnet sich die trapezförmig angeordnete Trias aus IBeB, der Akademie des Jüdischen Museums und dem Metropolenhaus. Dazwischen erstreckt sich der weite, gepflasterte Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz, dem man einige Bäume und auch sonst mehr Grün wünschen würde. Dafür hat man nun freien Blick auf die Keramikfassade des langgestreckten Riegels des IBeB (db 8/2018), mit seinen Wohnungen und Ateliers sowie dem luftigen Metropolenhaus gegenüber. Dort werden die Eigentumswohnungen durch das querfinanzierte »aktive Erdgeschoss« , zu dem u. a. die Projekträume der nicht kommerziellen Kulturplattform »feldfünf« gehören. Das Metropolenhaus bündelt Wohnen und Arbeiten und verknüpft beides mit Kultur, Gastronomie und kleinen Läden. Mit seinem Nutzungskonzept schafft es Raum für ein Zusammentreffen der Kulturen und sichert mittels des Konzepts der Querfinanzierung zugleich die ökonomische Basis der Projekträume.

Ein kleinteiliges, intensiv von lokalen Akteuren und Nachbarschaftsinitiativen in Zusammenarbeit mit Bezirk und Senat erarbeitetes Nutzungskonzept liegt auch dem Frizz23 zugrunde. Dort beschreiten das FORUM Berufsbildung e. V., FrizzZwanzig sowie das kleine Hotel Miniloft Kreuzberg einen neuen Weg und schaffen Berlins erste gemeinsame Gewerbebaugruppe. Die Trias der Bauherrschaft lässt sich in groben Zügen an der Gliederung des Gebäudes ablesen. Das bereits im Bezirk etablierte Forum Berufsbildung benötigte dringend zusätzliche Seminarräume. Die hat es nun in dem an den taz-Neubau anschließenden, fünfgeschossigen Bauteil des Frizz23 gefunden. Das EG ist je nach Veranstaltungsformat in unterschiedliche Einheiten gliederbar. Darüber schließen sich funktional gestaltete Gruppenräume an. Bekrönt wird das Ganze von einer Dachterrasse. Am anderen Ende des Bauköpers sind in einem kleinen, siebengeschossigen Turm unterschiedlich große Minilofts untergebracht, die von den entwerfenden Architekten Deadline zugleich betrieben werden. Schick möbliert und ordentlich ausgestattet, lässt sich von dort aus die Berliner Mitte bestens erkunden. Im EG befindet sich auch das kleine Café, von dem aus ich auf das Areal schaue. Zwischen diesen beiden Bauteilen findet die Berliner Kreativwirtschaft Werkstätten und Büros. Das reicht von eingeschossigen Miniateliers und größeren Open Offices bis zu dreigeschossigen Wohn- und Arbeitsräumen. Mittenmang die neuen Räume für die Arch+, für deren Ausgestaltung Arno Löbbecke und Anh-Linh Ngo, Mitherausgeber der Zeitschrift, selbst verantwortlich zeichnen.

Das fügte sich zu dem Ansatz von Matthew Griffin und Britta Jürgens von Deadline, den unterschiedlichen Nutzungen einen möglichst flexibel bespielbaren Rahmen zu eröffnen. Die Betonkonstruktion des Hauses mit einer Fassade aus nachtblauem Aluminium und schwarzem Holz setzt durch die ungewohnte Farb- und Materialkombination nach Außen ungewöhnliche eigene Akzente. Mit dem sanften Holz-Zick-Zack zwischen EG und erstem OG wird zudem die Erinnerung an die kriegszerstörte ­»Markthalle 2« aufgegriffen, die hier einst Schinkels Sternwarte nachfolgte. Ein Berliner Architekturpalimpsest.

Zu dem Quartier zählt auch der neue Sitz der Tageszeitung taz mit der reizvollen rückwärtigen Skulptur der Fluchttreppen, die die U-förmige Grundfigur des Gebäudes schließt. Schade allerdings, dass die taz die Stahldreiecke der Fassade zur Friedrichstraße als Pinnwand für ihre Transparente missbraucht. Doch das ließe sich ja ebenso leicht revidieren, wie die Wochenendschließung der taz-Kantine im EG. Oder braucht das kreative Berlin ab und an mal eine Pause von sich selbst? Zusammen mit dem ungleich größeren Springer-Campus, der ganz in der Nähe gerade nach Entwurf von Rem Koolhaas/OMA entsteht, deutet das taz-Haus jedenfalls ein zartes Revival des alten Kreuzberger Zeitungsviertels an. In der Umgebung lassen sich die städtebaulichen Paradigmenwechsel Berlins wie unter dem Brennglas ablesen. Während der spätbarocke Stadtgrundriss und das zarte kleine Kammergericht als Entree zum Jüdischen Museum an die Entstehung dieser Berliner Stadterweiterung erinnern, sind die übrigen Layer vertrauter: Die Mietskasernen der Gründerzeit, der großmaßstäbliche Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne, der den Mehringplatz umschließt, die kleinteiligen Stadtreparaturen der IBA der 80er Jahre und schließlich Libeskinds silberner Museumsblitz. Was im ersten Moment wie eine Baugeschichtsvorlesung anmutet, wirkt in den sozialen Mikroklimata der Gegenwart fort. Ehemalige Blumengroßmarkthalle und Mehringplatz sind zwar nur wenige Schritte voneinander entfernt. Sozial liegen dazwischen jedoch Welten. Eine der Herausforderungen wird es sein, diese gegensätzlichen urbanen Milieus einander behutsam anzunähern.

Der Nieselregen hat sich verzogen, der Café ist ausgetrunken und die Berliner Sommersonne leuchtet freundlich über dem neuen Quartier. Bleibt die Frage nach dessen Vorbildwirkung. In Maßstab und Mischung erinnert es an die Wunschvorstellungen einer Jane Jacobs aus den 60er Jahren. Darin liegt seine Qualität. Allerdings ist auch klar, dass die gewaltigen Berliner Wohnungsbauprobleme mit solchen überschaubaren Interventionen ebenso wenig gelöst werden, wie mit dem Einsatz einzelner »konventioneller« Baugruppen und schon gar nicht mit dem fragwürdigen Rückkauf von Mietshäusern, durch den die Berliner Politik momentan lokale Klientelbedürfnisse auf Kosten der Allgemeinheit befriedigt. Doch auch wenn das Kreativquartier nur bedingt als urbane Blaupause dienen kann, stellt es gleichwohl eine wichtige Beimischung für einen klugen und vielschichtigen städtebaulichen Mix dar, der sich allerdings künftig endlich wieder an den großen Maßstab trauen müsste. Das sucht man in Berlin derzeit vergebens. Wichtig wäre eine Mischung, die wirtschaftlich tragfähig ist, das Stadtganze im Blick behält und sich zugleich verantwortungsvoll für die Integration aller lokalen Akteursinteressen einsetzt, ohne sich im Klienteldschungel zu verlaufen.

29. Mai 2019 Neue Zürcher Zeitung

Das Bauhaus hätte mehr Phantasie verdient

Ihre Architektur galt damals als topmodern, doch wie baut man heute im Geist der Bauhaus-Schule? Drei neue Bauhaus-Museen bieten eine einzigartige Gelegenheit, Antworten auf diese Frage zu formulieren. Dank einer umtriebigen Kulturpolitik wurden zum Jubiläum an allen einstigen Standorten in Weimar, Dessau...

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20. September 2018 Neue Zürcher Zeitung

Hans Scharoun war ein Visionär und ist bis heute Vorbild vieler Architekten

Über das Erbe des grossen Architekten – Hans Scharoun zum 125. Geburtstag.

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12. Juni 2018 Neue Zürcher Zeitung

Ist der Brutalismus noch zu retten?

Museen feiern die Grossbauten der Nachkriegsmoderne, doch längst nicht alle können vor dem Abriss bewahrt werden.

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27. Juli 2017 Neue Zürcher Zeitung

Die Muse macht Schlussverkauf

Das moderne Museum verbindet mehr mit Shoppingmalls, als manchem Kunstfreund recht sein kann. Als städtebauliche Vorbilder haben sie jedoch ausgedient. Es droht ein böses Erwachen.

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4. Juli 2017 deutsche bauzeitung

Keine Angst vor Louis Kahn

Haus in Hamburg

Mit einiger Entschlossenheit lässt sich von jungen ­Büros sogar auf der Ebene von Wettbewerben etwas ­reißen. Das in Berlin ansässige Duo Kim Nalleweg hat seine Haltung an verschiedenen Studien- und Arbeits­orten gestärkt und darf jetzt mehrere Siegerentwürfe zu gebauter Realität werden lassen. Die nötige Erfahrung mit den Härten des realen Bauens sammelten die beiden bei der Umsetzung ihrer architektonischen Vorstellungen für das elterliche Wohnhaus.

Der Erstling von Kyung-Ae Kim und Max Nalleweg ist zwar noch nicht ganz fertig. Trotzdem verabreden wir uns in Hamburg-Harburg, um einen Blick auf das Haus zu werfen. Etwas versteckt liegt es in zweiter Einfamilienhaus­reihe. Die Außenanlagen sind tatsächlich noch nicht gemacht und auch innen stehen noch einige Arbeiten aus, aber bewohnt sind die drei aneinandergefügten Quader aus dämmenden Leichtbetonsteinen bereits. Der erste Eindruck zeigt, da hat jemand Mut zu großer Form am kleinen Haus, mit Liebe zum Material und zum Zitat. Respekt! Hier atmet die Moderne vernehmlich. ­Unter der lichten Schlämme scheint die Textur der Steine durch. Die Fenster schneiden ein T-förmiges Muster in die Fassade, lassen die Architektur kraftvoll, vielleicht sogar ein wenig monumental wirken, und senden freundliche Grüße an Louis Kahn. Es gäbe schlechtere Vorbilder, an denen man sich orientieren kann. Zudem sind die Fenster ja nicht nur Zitat, sondern auch funktional sinnvoll. Sie sorgen für Sichtschutz gegenüber den Nachbarn bei gleichzeitig ungestörtem Blick in den Himmel. Im Innern zeigt sich das Haus für Max Nallewegs Mutter dann als wohnliche Holzkonstruktion. Dem jungen Architektenpaar gelingt es, aus dem kompakten Grundstück eine Menge räumlicher Qualitäten herauszuholen, die sich z. T. aus der Verschiebung der einzelnen Bauteile gegeneinander ergeben und sich in ganz unaufgeregten Dingen äußern. In den ersten beiden Quadern verbergen sich die ineinandergreifenden Räume von Entree, Küche, Galeriegeschoss und Wohnraum mit weißen Wänden und Holzdecken. Der dritte Quader entpuppt sich als Gartenmauer, die die (künftige) Terrasse an drei Seiten hofhausartig umschließt. Vom Kostendruck bis zur Zeitverzögerung aufgrund der Witterung hält der Erstling manches bereit, was zum Bauen dazugehört. Bis hin zu den Detail­fragen, wo die Regenrinne nun entlangläuft und ob sie eher schlank (nein) oder markant (ja) sein soll. Ohnehin, die Bauausführung: Beim vier Jahre währenden Wettbewerbe-Zeichnen für Max Dudler spielte die Materialität in ihrer konkreten, konstruktiven Umsetzung eine eher untergeordnete Rolle. Das ist jetzt natürlich ganz anders. Und doch: »Die gedankliche Freiheit beim Entwerfen ist wichtig, um nicht zu schnell die Funktionalitätsschere im Kopf anzustellen.«

Hamburg, Schweiz, Berlin sind die wichtigsten Stationen, an denen die beiden Architekten bisher studiert und gearbeitet haben. Beide Mitte dreißig, haben sie vor anderthalb Jahren Räume in der Berliner Oranienstraße bezogen, fast um die Ecke von Max Dudlers Büro.

Inzwischen arbeiten sie hier zusammen mit dem Spanier César Trujillo Moya, mit dem sie in einer Arbeitsgemeinschaft den Wettbewerb für die Rosa-Luxemburg-Stiftung gewonnen haben, sowie acht Mitarbeitern. Immer mehr Schreibtische werden nötig, und während wir uns in der Fabriketage so offen wie klug und freundlich über Architektur unterhalten, schleppen die Mitarbeiter Materialproben herein, Ziegel, Riemchen. »Nur mit Bildern zu arbeiten reicht uns nicht, wir brauchen Modelle und die Materialien«, erzählt Kyung-Ae Kim. Da ist sie von ihrer kurzen Zeit bei Miller Maranta in Basel geprägt, von der intensiven Schweizer Art mit Materialien umzugehen, am Modell zu überlegen: Was hilft weiter, was kann beibehalten werden.

Die Beteiligung an Wettbewerben hat bei Kim Nalleweg früh eingesetzt. Als sie gerade zu Adolf Krischanitz an die Universität der Künste nach Berlin gewechselt waren, haben sie einen Wettbewerb gewonnen, der für Architekten bis 35 Jahre offenen war. Thema: die Neubebauung des City-Hof Areals in Hamburg. Die Idee von Krischanitz, mit einem Entwurf mehr anzubieten, die Umgebung des eigentlichen Perimeters mitzudenken, haben sie dabei beherzigt. Andererseits wurde ihnen erst später klar, was mit dem Wettbewerb auch beabsichtig war – inzwischen steht der City Hof vor dem Abriss. Hamburg eben (s. Kommentar in db 4/2015).

Für ihren nächsten Schritt, eine Ministeriumserweiterung, die das BBR aus­geschrieben hatte, gab es 2012 immerhin einen Ankauf. Zwar guckt bei dem klassisch ruhigen Entwurf nicht Louis Kahn um die Ecke, aber allemal die klassische Moderne mit ihren lang gestreckten Fensterbändern. Mit der Zu­erkennung eines Preises im Ideenwettbewerb für das Lübecker Gründungsviertel (vgl. db 2/2015, S. 14) nahm der Erfolg von Kim Nalleweg endgültig Fahrt auf. Anstatt dafür ein Haus in drei Variationen zu zeichnen, haben die Architekten Lübeck genau angeschaut und mit der Aufgabe gespielt. So haben sie drei sehr eigenständige Häuser entwickelt: Das eine breit, mit barock ­geschweiftem Giebel, das andere schlank von expressionistischen Lisenen ­inspiriert. In die Mitte nehmen sie den dritten Baustein, der an Lübecker Speicher aus Ziegel erinnert und nun wirklich gebaut werden soll. Gleich nebenan liegt die Lübecker Einhäuschen Querstraße, für die sie im Frühjahr 2017 ­einen weiteren Wettbewerb gewonnen haben. Klar strukturiert aber mit spielerischen Elementen, wie den versetzten Ziegelfarben und der gläsernen Ecke blinzeln dem Betrachter neben sanft ironischer Brechung auch Schweizer ­Anregungen aus den Renderings entgegen. Mit dem zweiten Preis bei der Erweiterung des Wien-Museums 2015 – wiederum international ausgeschrieben – und dem ersten Preis für die Rosa-Luxemburg-Stiftung 2016 in Berlin, gemeinsam mit César Trujillo Moya, zeigt sich vielleicht nicht unbedingt eine eigene Handschrift, sehr wohl aber eine Haltung. Sie kennt keine Angst vor der großen Form und zeichnet sich durch Klarheit und Zeichenhaftigkeit aus. Auch in Wien und Berlin haben sich die Architekten herausgenommen, ein Mehr zu formulieren, »Themen ­anzubieten, die nicht gefordert waren«. In Wien war es der offene Durchgang unter dem geplanten neuen Museumsriegel, durch den ein überdachter Versammlungsplatz entsteht. In Berlin ist es ein Raum mit markanten tragenden X-Stützen, der in der weiteren Bearbeitung jetzt wohl zur Bibliothek werden wird. Dass sie beim M20, dem Museum des 20. Jahrhunderts am Berliner Kultur­forum – wiederum in Arbeitsgemeinschaft mit César Trujillo Moya – in der ersten Wettbewerbsrunde »nur« auf Platz 14 kamen und daher nicht zu den Teil­nehmern für die zweite Runde zählten, ärgert die Architekten. Schade, das ­Weiterdenken ihres Riegels entlang der Potsdamer Straße hätte bestimmt Spaß gemacht. »Die Idee, drei Platzräume zu schaffen, hätten wir klarer ­herausarbeiten müssen«, räumt Kyung-Ae Kim selbstkritisch ein. »Wichtig ist es, ein klares Projekt zu machen, für sich selbst aber auch für den Bauherrn.« Bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat das offenbar gut funktioniert.

Mit Mut und Überlegung

Zieht man eine erste Bilanz, zeigt sich, dass es die offenen Wettbewerbe ­waren, mit denen Kim Nalleweg einen Fuß in die Tür zum Bauen bekommen haben. Doch die Chance, die man dadurch erhält, gilt es auch zu nutzen. »Man muss bei allem aufpassen, wie man es macht«, unterstreicht Kyung-Ae Kim-Nalleweg den Lerneffekt. Jedes aus Zeitnot vor der Abgabe verrutschte Bild wird sofort zum K.o.-Kriterium. Wenn Präsentation und künstlerische Qualität des Entwurfs überzeugen, erscheint der weitere Weg jedoch geebnet.

Derzeit diskutieren die Architekten in Berlin mit ihren Bauherren. Da hilft es ihnen, dass der Entwurf für die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine so starke Struktur besitzt, dass man nicht einfach hier oder dort etwas wegnehmen kann, um die Baukosten zu senken, weil das Haus dann nicht mehr funktionieren würde. Das klingt schon fast nach alten Hasen.

Mit Ratschlägen halten sich Kim, Nalleweg und Moya zurück. »Wir sind ja selbst noch mittendrin und wissen nicht, wo es langgeht.« Und wagen sich doch behutsam aus der Deckung: die Uni zu wechseln sei wichtig, um anderes kennenzulernen, ebenso in andere Länder zu gehen. So wird einerseits ein Rahmen aus Erfahrungen gesteckt. Andererseits arbeitet man sich auf der Suche nach dem Eigenen am Vorbild der Lehrer ab – im Positiven wie im Negativen. Was es aber heißt, selbstständig zu sein, verhandeln zu lernen oder Akquise zu betreiben, das erfährt man weder an der Uni noch als Angestellter in einem Büro. Warum wundert es mich nicht, dass Kim und Nalleweg zum Abschluss unseres langen Gesprächs an einem heißen Berliner Frühsommertag dann doch den ziemlich klugen Ratschlag für jüngere Kollegen parat haben, langfristig zu denken? Auch wenn es erst nach 10 oder 15 Jahren dazu kam, waren sie sich schon im Studium gewiss, später ein eigenes Büro zu gründen: »Man muss es wollen, auch wenn man noch nicht weiß, was es bedeutet.«

22. Juni 2017 Neue Zürcher Zeitung

Vermöbelte Städte

Schilderwälder, Heerscharen von Pollern und anderes Mobiliar: Der Stadtraum wird verschandelt – warum?

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1. Juni 2017 Neue Zürcher Zeitung

Die sichtbaren Städte

Bekannt wurde der Architekt und Städtebautheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani durch seinen Einsatz für eine urbane Baukunst. Seit 1994 lehrte er in Zürich, wo er heute die Abschiedsvorlesung hält.

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3. Mai 2017 Neue Zürcher Zeitung

Späte Harmonien

Mit der Wiedereröffnung des umgebauten Kulturpalastes aus DDR-Zeiten erhält die Dresdner Philharmonie ihre neue Spielstätte. Realisiert wurde der Konzertsaal vom Büro von Gerkan, Marg und Partner.

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26. April 2017 Neue Zürcher Zeitung

Ein Chinese in New York

Mit der Glaspyramide des Louvre in Paris und dem Bank of China Tower in Hongkong verwirklichte Ieoh Ming Pei Ikonen der spätmodernen Architektur. Heute kann er seinen 100. Geburtstag feiern.

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18. April 2017 Neue Zürcher Zeitung

Steine der Weisen

Mit ihren Museen in Köln und London haben Schweizer Architekten einen europäischen Ziegelhype ausgelöst. Dieser zeitigt vor allem in London beachtliche Ergebnisse zwischen Innovation und Tradition.

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5. April 2017 Neue Zürcher Zeitung

Stadtkultur als Diskussionskultur

Die aus Zürich stammende Berliner Senatsbaudirektorin Regula Lüscher hat eine Zwischenbilanz der Arbeit des Baukollegiums vorgelegt, das sie in der deutschen Hauptstadt erfolgreich etabliert hat.

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24. März 2017 Neue Zürcher Zeitung

In Schinkels langem Schatten

In Berlin wird über Rekonstruktion und Inhalte der Bauakademie, dem zu DDR-Zeiten zerstörten Meisterwerk Karl Friedrich Schinkels, gestritten. Das Geld stammt vom Haushaltsausschuss des Bundetages.

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20. März 2017 Neue Zürcher Zeitung

Märchenstunde am Main

Der Neubau der «Altstadt» in Frankfurt am Main geht in den Schlussspurt. Doch ob dieses retrospektive Vorhaben einen wirklichen Beitrag für die Zukunft der Stadt leistet, ist fraglich.

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15. März 2017 Neue Zürcher Zeitung

Sprudelnde Moderne

Denkmalwürdige Bauten der klassischen Moderne behutsam instand zu setzen, gehört heute zum Alltagsgeschäft von Architekten. Gleichzeitig lassen sie sich gerne von der Moderne inspirieren.

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16. Januar 2017 Neue Zürcher Zeitung

Unter wispernden Ästen

Die wenigen noch erhaltenen historischen Wohnviertel Pekings, Hutongs genannt, sind eine Touristenattraktion. Ihnen versucht Zhang Ke mit architektonischen Interventionen neues Leben einzuhauchen.

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16. November 2016 Neue Zürcher Zeitung

Im Kielwasser der Mächte

Genauso geschmeidig wie zwischen den Politsystemen wechselte Cäsar Pinnau auch zwischen den Stilen. Mit seinem schillernden Werk bediente der Hamburger Architekt dabei stets die Nachfrage der Eliten.

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4. November 2016 Neue Zürcher Zeitung

Wenn Architekten träumen

Bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, gehört zu den Herausforderungen vieler Städte Europas. Auf einer Industriebrache in Berlin möchte der Deutsche Werkbund nun ein Stadtquartier verwirklichen.

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29. Oktober 2016 Neue Zürcher Zeitung

Politisch bin ich sowieso

Volkwin Marg gehört zu den erfolgreichsten Architekten Deutschlands. Zu seinem achtzigsten Geburtstag feiert ihn eine Ausstellung in Berlin, die von mehreren Buchveröffentlichungen begleitet wird.

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29. September 2016 Neue Zürcher Zeitung

Dichte ohne Dogma

Städtische Verdichtung wird überall gefordert. Doch sie garantiert noch keine qualitätvolle Entwicklung. Gefragt sind ganzheitliche Konzepte, die neben guter Architektur auch schöne Freiräume bieten.

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Publikationen

2021

Münchner Volkstheater
Lederer Ragnarsdóttir Oei

Wie baut man eigentlich ein Volkstheater? So einfach wie nötig, um beim Publikum keine Schwellenangst aufkommen zu lassen, und so schick wie möglich, weil Theater nicht nur auf der Bühne Inszenierung bedeutet. So lautet die Antwort des Architekturbüros Lederer, Ragnarsdóttir, Oei (Stuttgart) und des
Hrsg: Hans-Jörg Reisch, Andreas Reisch
Autor: Jürgen Tietz
Verlag: avedition GmbH

2021

Essenz
Winking · Froh Architekten

Seit 20 Jahren bearbeiten Bernhard Winking und Martin Froh in Europa und China das gesamte Spektrum architektonischer und städtebaulicher Aufgaben. Mit ihrer preisgekrönten Sanierung der Spiegel-Insel sowie der Ergänzung der Esplanade in Hamburg zeigen Winking · Froh Architekten vorbildlich, wie es gelingt,
Hrsg: Jürgen Tietz
Verlag: Birkhäuser Verlag

2020

TXL. Berlin Tegel Airport

Berlin-Tegel TXL ist der Flughafen der kurzen Wege, eine Ikone der modernen Architektur. Mit seiner markanten sechseckigen Form und dem Prinzip des Gate-Check-in hat Tegel Luftfahrtgeschichte geschrieben. Tegel, das war das heiss geliebte Fenster der ummauerten Inselstadt Berlin (West) in die weite Welt.
Hrsg: Jürgen Tietz, Detlef Jessen-Klingenberg
Verlag: Park Books

2015

Meinhard von Gerkan – Biografie in Bauten 1965–2015
Die autorisierte Biografie

Über 200 Projekte hat Meinhard von Gerkan als Mitgründer des Architekturbüros gmp – von Gerkan, Marg und Partner realisiert, angefangen vom berühmten Drive-to-your-gate-Flughafen Berlin-Tegel über den Berliner Hauptbahnhof bis hin zum Chinesischen Nationalmuseum in Peking. Weniger bekannt, doch nicht
Autor: Jürgen Tietz
Verlag: JOVIS

2015

Meinhard von Gerkan - Vielfalt in der Einheit
Die autorisierte Biografie

Die Biografie Meinhard von Gerkans beschreibt eine beeindruckende deutsche Nachkriegskarriere, die vom Flüchtlingswaisen bis zum internationalen Stararchitekten geführt hat. Zusammen mit seinem Partner Volkwin Marg, mit dem er 1965 in Hamburg das Architekturbüro gmp gründete, zählt Meinhard von Gerkan
Autor: Jürgen Tietz
Verlag: JOVIS

2004

Botschaften in Berlin

Die zweite, aktualisierte Auflage präsentiert auch die jüngst fertiggestellten Gebäude des Oman und der Vereinigten Arabischen Emirate sowie die Botschaft der Niederlande von Rem Kohlhaas. Mit dem Umzug von Bundesregierung und Parlament nach Berlin verlegten die meisten ausländischen Vertretungen ihre
Hrsg: Jürgen Tietz, Kerstin Englert
Verlag: Gebr. Mann Verlag