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Raunzen ist passé
Spectrum

Es herrscht höchste Betriebsamkeit in den Wiener Architekturszenen. Ein neues Berufsbild ist in Planung, an einem neuen Selbstverständnis wird eifrig gearbeitet. Ein Überblick.

8. Juni 2002 - Elke Krasny
Ende der neunziger Jahre herrschte große Unzufriedenheit in Wiens junger Architekturszene: Die Rahmenbedingungen für innovatives oder gar experimentelles Bauen waren schlecht, Interesse für junge Architekturbüros mußte erst mühsam geweckt werden. Der Austausch mit Künstlern und anderen Kulturschaffenden kam nur spärlich in Gang, avanciertere theoretische Ansätze, etwa aus dem Bereich der Gender Studies, wurden wenig bis gar nicht wahrgenommen. Etablierte Institutionen der Architekturvermittlung zeigten an diesen neuen Ansätzen anfänglich nur wenig Interesse. Statt jedoch in Jammern oder gar Lethargie zu verfallen, wurde man initiativ, fand sich zu Plattformen, Netzwerken und anderen losen Vereinigungen zusammen und machte sich mit großem Engagement ans Verändern.

So startete Volker Dienst im Jahr 1997 die Plattform „architektur in progress“ und heftete sich die Vermittlung innovativer Architektur und junger Büros auf die Fahnen. Er schuf einen Rahmen zur Präsentation und, vielleicht noch wichtiger, zum Miteinandersprechen. Einen langfristigen Kooperationspartner für die Vortragsreihe fand Dienst in Bene Büromöbel. Ließen sich die Architekten anfangs noch eher zögerlich zum Vortrag bitten, ist nun schon mit Wartezeiten bis zu einem halben Jahr für einen Auftritt zu rechnen. Kooperiert wird seit neuestem auch mit der MAK-Nite, wo die Vortragenden die Gelegenheit haben, sich ergänzend zur Darstellung mit Worten und Lichtbildern auch räumlich unter Beweis zu stellen.

Ebenfalls 1997 fand sich die lose Gruppierung „bypass“, deren technoid-therapeutischen Namen man durchaus als Programm auffassen sollte. Es ging um nichts anderes als die Reform des Architektenberufs. Doch dann wurde es wieder still um „bypass“. Im Mai 2001 erwachte die Gruppierung zu neuem Leben und formierte sich unter dem Namen „ig-architektur“ als österreichweite Interessengemeinschaft Architekturschaffender. Man orientierte sich am Vorbild der IG Kultur oder der IG AutorInnen. Zur Standortbestimmung und Selbstdefinition nahm man sich Zeit. Knapp ein Jahr später, Ende April 2002, wurde nun dem gewünschten halböffentlichen Dasein ein Ende bereitet und im Semperdepot ein „going public“ mit Manifestverlesung in Szene gesetzt.

Der Verein mit rund 120 Mitgliedern tagt monatlich im Depot, im derzeitigen Ausweichquartier in der Breiten Gasse. Agiert wird streng basis-demokratisch, aus Arbeitsgruppen zu Themen wie Berufsberechtigung, Wettbewerbe oder Medien wird im Plenum referiert. Ihr großes Potential sieht die ig-architektur im gemeinsamen Handeln und im schnellen Informationsaustausch in der großen Gruppe. Primär geht es um die Verbesserung der beruflichen Rahmenbedingungen, langfristig aber auch um die Entwicklung eines neuen Verständnisses des Architektenberufs. „Man ist nicht mehr allein“, so die kulturpolitische Botschaft des Solidarnetzwerks, das sich der heterogenen Vorstellungen der einzelnen Mitglieder durchaus bewußt ist. Heißes Eisen ist die Berufszugangsberechtigung. Geht es nach dem Wunsch der ig-architektur, so soll man hinkünftig nach einem erfolgreichen Studienabschluß auch legal arbeiten können. Dies rüttelt entschieden an den Grundfesten der Berufsvertretung, der Kammer der Architekten- und Ingenieurkonsulenten, deren weitreichende Reform die ig-architektur durch „Druck von außen“ herbeiführen möchte.

Wie die Arbeitswelt von Architekten wirklich aussieht, bleibt den Augen der Öffentlichkeit zumeist verborgen. Ein neues Projekt von „architektur in progress“ soll hier Abhilfe schaffen und zugleich desolate Erdgeschoßzonen vor der „Garagisierung“ bewahren. Volker Dienst sieht leerstehende Geschäftslokale, mit Plakatwänden zugekleisterte Straßenfronten als Herausforderung zum Handeln, als ausgesprochenen Architektenarbeitsraum. „Keine Straße der Architekten, sondern die Architekten an die Straße bringen“, so lautet das Motto. Im Heumühlviertel im vierten und fünften Bezirk sowie im Grätzl rund um die Kaiserstraße im siebten Bezirk führt das Einkaufsmanagement Wien derzeit eine Erhebung des Leerstands durch. Architekten und andere kreative Köpfe sollen hinter den Schaufenstern einziehen und die Gegend mit Arbeitsleben erfüllen, aber auch durch konkrete Veränderungen aufwerten. Bis dato haben sich 45 interessierte Bürogemeinschaften gemeldet. Eine sogenannte „Start-up-Unit“ pro Gebiet soll beim Start ins Berufsleben helfen, mit der Kulturabteilung der Stadt Wien wird derzeit über eine Finanzierung der Miete für die ersten drei Jahre verhandelt. Bei einem Wettbewerb können neu gegründete Architekturbüros ihre Ideen und Konzepte zur langfristigen Revitalisierung des jeweiligen Viertels einbringen, der beste Vorschlag wird dann von einer Jury ausgewählt und mit der „Start-up-Unit“ ausgezeichnet.

Die „Revitalisierung der Architektur“, sieht „podroom“-Betreiberin Christine Bärnthaler vor allem von der Kunst kommen, die „gesellschaftliche Themen bearbeitet und verarbeitet“. Rund um das „podroom“ sammelt sich eine freie Architekturszene, die Zwischenräume auslotet, zu Grenzgängen aufbricht und mit den Vertretern anderer Sparten regen Austausch pflegt. Auftakt für die vielfältige Praxis dieses erweiterten Architekturbegriffs war im Oktober 1999 mit einer Ausstellung und einem Symposium in Ungarn. Unter dem Titel „architectural tactics“ hatten Themen wie Virtualität und Marketing ebenso Platz wie ein rund um Ferdinand Schmatz als literarischem Impulsgeber gruppiertes Architektentheater mit Heidulf Gerngross, Hermann Czech, Richard Manahl von Artec sowie Anna Popelka/Georg Poduschka. Zur Diskussion gestellt wurden von Schmatz Begriffe wie „Experte/Laie“, „Material/Mittel“ oder „Körper/Raum“ und somit allgemein die Frage nach den Möglichkeiten des Sprechens über Architektur aufgeworfen. Die kleine Initiative, die vom Engagement und der Improvisationsbereitschaft aller Beteiligten lebt, agiert international, mit einem Radius von St. Petersburg bis Buenos Aires.

Da Architektur in ihrer Entstehung so langsam ist, sieht Bärnthaler die Notwendigkeit, der Architektur bereits beim Entstehen zuschauen und zuhören zu können. Ideen sollen zirkulieren, Freiräume für Präsentationen geschaffen werden, lange bevor die Zeit für eine rückblickende Werkschau gekommen ist. Das leerstehende Kallco-Haus in der Breiten Gasse dient bis zum Herbst als Galerieraum und Büro. So befindet sich die Initiative nun direkt an der umstrittenen Zugangssituation auf der Hinterseite des Museumsquartiers, und sie wird diese Situation einem geladenen Wettbewerb zur Aufgabe stellen. Es sollen Gegenentwürfe zum bereits abgesegneten Entwurf von Carl Pruscha entstehen, die in einer wechselseitigen Jurierung durch die Teilnehmer öffentlich vorgestellt werden und dadurch auch die gängige Wettbewerbspraxis in Frage stellen.

Gebaute Räume und ihre vorherrschende Betrachtungsweise in Frage zu stellen war der Ausgangspunkt für eine Gruppe von Assistentinnen an der Technischen Universität Wien, die im Wintersemester 1999 eine Ringvorlesung zum Thema „Building Gender“ startete. Nie sind die gebauten Räume neutral, auch nicht in bezug auf das Geschlecht. Räumliche Organisationen spiegeln soziale Konstruktionen wie die von Geschlechterrollen wider. Die Architekturausbildung an der TU, im großen und ganzen der Theorie eher abhold, ist dennoch in der Zwischenzeit um die Gender Studies als Pflichtfach bereichert worden. Dörte Kuhlmann vom Institut für Baukunst, Bauaufnahmen und Architekturtheorie geht es um die „Entwicklung einer Kritik des gesamten Fachgebiets der Architektur“, um eine Theorie, die das Gebaute wie auch die Produktionsbedingungen von Architektinnen umfaßt.

Ausgehend von den Gender Studies wurde ein Lehrmodul zu „Architektur und Gesellschaft“ entwickelt, das in-stitutsübergreifend Architekturtheorie, Kunstgeschichte, Wohnbau, aber auch Stadtsoziologie und Plastische Gestaltung einbezieht. Das Hauptaugenmerk liegt künftig auf einer kritischen Auseinandersetzung mit der Architekturkritik: Wie kann man die Bilder der Hochglanzpublizistik lesen lernen, wie die Kriterien der Beurteilung nachvollziehen und bewerten?

Ob bei der Arbeit oder beim Wohnen, ob an historischen Plätzen oder bei High-Tech-Projekten: die Beiträge des Essaybands „Building Gender“ (edition selene) untersuchen das Aufeinandertreffen von Architektur und Geschlecht in seinen Konstruktionsweisen. So erfährt man von Daniela Hammer-Tugendhat, der Tochter der Auftraggeber des legendären Hauses Tugendhat in Brno, wie diese von Mies van der Rohe geschaffene Ikone moderner Architektur von „Mann, Frau und Kind“ tatsächlich bewohnt wurde. Klassische Frauenräume wie die Küche werden genauer unter die Lupe genommen und von Eva Blimlinger im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Färbung von Planung und Raumausstattung untersucht. Wie Räume in ihrer sozialen Wirkungsweise funktionieren, wie Geschlechterrollen in diese Räume eingelassen sind und zugleich Weiblichkeit und Männlichkeit immer aufs neue anders produziert werden, dies ist zentrales Anliegen der genderspezifischen Auseinandersetzung mit Architektur.

Ende April ging die Nullnummer von „Die schönen Architektinnen“, „Die schönen Architekten“ in Radio Orange 94.0 auf Sendung. Welcher der beiden Titel nun politisch „korrekter“ sei, ist noch unentschieden und wird sich von Sendung zu Sendung weisen. In der programmatischen Vielfalt von Wiens einzigem freiem Radio wird zwischen Vietnamesisch und Persisch, zwischen Feministisch und Wienerisch ab nun auch Architektur gesprochen. Jeden Dienstag zwischen 17.30 und 18 Uhr. Architektur soll hier als kulturelle Frage, als Problem in der Stadt, als öffentliches Anliegen verhandelt werden.

Auf publizistisches Neuland wagte sich „dérive“-Herausgeber Christoph Laimer und stieß mit seiner interdisziplinären „Zeitschrift für Stadtforschung“ innerhalb der Architekturszene auf unerwartet große Resonanz. Politischer Stadtjournalismus, der Themen wie Rassismus oder Migration ebenso wie öffentlichen Raum, Rechte der Stadtbewohnerinnen oder die Kapitalisierung der Städte im globalen Standortwettbewerb aufgreift, schloß eine publizistische Lücke. Nach welchen Spielregeln funktioniert die Stadt, und wie wird dieses Funktionieren lesbar? Angeregt von den Ideen der Situationisten und den Arbeiten von Mike Davis über Los Angeles liefert „dérive“ Einsichten ins Urbane, wie sie sonst kaum zu finden sind. Für die nächsten Nummern sind Auseinandersetzungen mit Wohnen und Marketing sowie Stadt, Raum und Geschlecht geplant.

Unterschiedliche Publikationsprojekte sind zur Zeit in Vorbereitung. Für Herbst verspricht das „redaktionsbuero“ rund um Manuela Hötzl mit der Internetplattform „Contur“ neues Leben in die Architektur- und Kulturkritik zu bringen. Auf Architektur als Innovation setzt Christine Bärnthaler. „Architecture is a verb“, so der Titel der geplanten Zeitschrift, die global erscheinen und idealiter überall auf der Welt zum gleichen Preis erhältlich sein soll. Für die Nullnummer haben 13 argentinische Architekturbüros Le Corbusiers „vers une architecture“, zwischen 1920 und 1922 als Artikelfolge in der Zeitschrift „Esprit Nouveau“ erschienen und zu den einflußreichsten Architekturtexten des 20. Jahrhunderts zu zählen, einer zeitgenössischen Relektüre und Neuinterpretation unterzogen. Die Wahl ist programmatisch: „Architecture is a verb“ soll weltweit Innovationen versammeln und verbreiten. Ein Verlag für das Projekt ist noch nicht gefunden.

Architekturszenen proben den Aufbruch, die Plattformen und Netzwerke, die losen Gruppierungen und wechselnden Kooperationen agieren dezentral. Es geht nicht um den Bau eines neuen Zentrums der Architektur, sondern um ein breites Spektrum an Aktivitäten und unterschiedliche Zugänge zu Architektur. Der Mythos vom einzelkämpferischen Architekturheros, der in die Jahre gekommen sein muß, um endlich zu Erfolg zu gelangen und in opulenten Retrospektiven gefeiert zu werden, ist passé. Jammern und Klagen ebenso. Angesagt sind der Mut zur Innovation und zur Zusammenarbeit, die Bereitschaft zur Auslotung von Zwischenräumen und nicht zuletzt die Herausforderung, Architektur wieder verstärkt als soziales Handeln zu begreifen, das sich eben nicht nur im Gebauten mitteilt. Architektinnen und Architekten setzen Zeichen und bauen an einer veränderten Zukunft ihres
Berufs.

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