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Akzeptabler Entscheid
Zwei Architekturbüros in der Endrunde für das neue WTC in New York
Nun haben sie in Sachen Neubau des World Trade Center einmal mehr entschieden, die Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) und die Port Authority von New York und New Jersey - und zwar geradezu salomonisch. Laviert ihr Urteilsspruch doch zwischen dem exzentrischen Design von United Architects und der Banalität von Peterson Littenberg. Gekürt wurden aus den neun im Dezember vorgelegten Entwürfen die Projekte von Daniel Libeskind und der Architektengruppe Think um den Wahl-New-Yorker Rafael Viñoly und den Japaner Shigeru Ban. Bei beiden handelt es sich um ebenso akzeptable wie durchdachte Arbeiten. Doch könnten sie gegensätzlicher nicht sein, der dekonstruktivistisch um ein 530 Meter hoch in den Himmel stechendes Mahnmal wirbelnde Gebäudekomplex von Libeskind, der nicht ganz frei ist von Sentimentalitäten, und die kühle Doppelhelix der als rund 500 Meter hohes Raumgitter ausgebildeten Zwillingstürme von Think.
Erfreulich ist vor allem, dass die Bauherrschaft nicht - wie ursprünglich befürchtet - auf einen verwässerten Mix aus mehreren Vorschlägen setzte, sondern zwei valable Projekte zur Weiterbearbeitung empfiehlt. Ende Februar soll nun einer der beiden Entwürfe samt zugehörigem Masterplan gekürt werden, teilte die LMDC mit, deren Präsident Louis R. Tomson stolz festhielt, es sei im Rückblick auf die im letzten Jahr durchdiskutierten Vorschläge bemerkenswert, «how much progress we've made». Der siegreiche Entwurf soll dem Publikum vorgelegt und anschliessend weiter verfeinert werden. Zu hoffen ist, dass daraus ein würdiger Nachfolgebau für Minoru Yamasakis Zwillingstürme resultiert, der zum Wahrzeichen und zur neuen Identifikationsfigur für Lower Manhattan werden kann.
Die Poesie des Ortes
Die Bündner Architekten Jüngling & Hagmann
Erstmals Aufsehen in der Architektenszene erregten sie mit dem Neubau der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Chur, für den ihnen 1994 der eidgenössische Kunstpreis verliehen wurde. Seither sind die beiden in Chur tätigen Architekten Dieter Jüngling und Andreas Hagmann zusammen mit Peter Zumthor sowie mit Bearth & Deplazes zu Hauptexponenten der vielgerühmten Bündner Baukunst geworden. Für ihre dem Berghang angeschmiegte treppenförmige Schule in Mastrils erhielten sie vor drei Jahren eine Auszeichnung für «Neues Bauen in den Alpen»; und heute können sie bereits mit einem beachtlichen, formal und thematisch breit gefächerten Œuvre aufwarten. Diesem widmet der Luzerner Quart-Verlag in seiner schön gestalteten «De Aedibus»-Reihe eine schmale Monographie mit Texten von Walter Zschokke. Es sind aber vor allem die Abbildungen, welche die Architektur von Jüngling & Hagmann zum Sprechen bringen: Bald zeugt ein Atelieranbau an ein altes Holzhaus in Lüen, bald eine streng städtisch anmutende Betonfassade am Churer Ottoplatz von der Fähigkeit dieser Baukünstler, ausgehend von «analogen» Strategien die Poesie eines Ortes in Architektur umzusetzen. So kommt es, dass selbst die Gebäude für den Waffenplatz St. Luzisteig angenehme Heiterkeit verströmen. Ihre neomoderne Transparenz spricht aber auch aus einer unlängst vollendeten Villa in Maienfeld, während ihr jüngstes Werk, ein Verwaltungsgebäude in Chur, mit seiner abgetreppten Fassade sich wie vor zehn Jahren bei der HTW wieder ganz kreativ mit der Anonymität der Vorstadt auseinandersetzt. Kurz: Die beiden gut fünfundvierzigjährigen Architekten dürften auch in Zukunft noch für manche bauliche Überraschungen gut sein.
[ Bauwerke - Dieter Jüngling und Andreas Hagmann. Text Walter Zschokke. De Aedibus 5. Quart-Verlag, Luzern 2003. 69 S., Fr. 48.-. ]
verknüpfte Publikationen
- Dieter Jüngling und Andreas Hagmann – Bauwerke
New Yorker Phantasien
Die neusten Projekte für Ground Zero
Kaum hatte sich vor gut einem Jahr die Staubwolke über Ground Zero gelegt, da geisterten auch schon die ersten Ideen für den Wiederaufbau des World Trade Center umher. Ihnen folgten eingeladene Ideenwettbewerbe verschiedener direkt oder auch nur indirekt beteiligter Auftraggeber, die im vergangenen Herbst auf der Architekturbiennale in Venedig gezeigt und kontrovers diskutiert wurden. Am Mittwoch konnten nun in New York die mit Spannung erwarteten Resultate eines weiteren, von der Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) unter sieben international tätigen Bürogemeinschaften ausgeschriebenen Wettbewerbs präsentiert werden (NZZ 18. 12. 02). Doch die erhoffte Klärung brachte auch diese Ausschreibung nicht - im Gegenteil. Denn was die Architekten nun ausheckten, war noch viel phantastischer und wunderbarer als alles zuvor Gesehene. Zwar hat sich die baukünstlerische Qualität der Entwürfe deutlich verbessert. Als Antwort auf den von Schrecken, Verlust und Tod geprägten Ort aber wirken die exzentrischen Vorschläge doch etwas gar euphorisch. Da legte das Team Eisenman, Gwathmey, Holl und Meier ein gigantisches Raumraster, Daniel Libeskind ein gezacktes, auf die Freiheitsstatue anspielendes Hoffnungszeichen und Norman Foster sowie das Think Team von Rafael Viñoly kristalline Zwillingstürme vor, während sich die United Architects (Greg Lynn, Ben van Berkel usw.) gleich fünf miteinander tanzende Himmelsstürmer aus Glas erdachten. Dieses zweifellos faszinierendste Projekt würde New Yorks Skyline das Aussehen einer Star-Wars-Metropole verleihen, doch solche Science-Fiction-Architektur passt eher an den Pazifik nach Los Angeles, Tokio oder Schanghai. Ground Zero ist wohl kaum der richtige Ort, um eine neue Runde des architektonischen Höhenrausches einzuläuten, auch wenn der Wunsch der Stadt, sich baulich zu erneuern, verständlich ist. Sogar die «New York Times», die ja vor einigen Monaten selbst Architekten um Projekte für Ground Zero gebeten hatte, hält die Entwürfe für unrealisierbar. Jetzt bleibt abzuwarten, was die LMDC mit dieser geballten Ladung an architektonischer Kreativität machen wird. Bis Ende Januar will sie aus den eingereichten Arbeiten einen eigenen Masterplan destillieren. Man darf gespannt sein.
Transformation des Stadtraums
Ein kleines Meisterwerk von Miller & Maranta in Aarau
Mit einem präzisen architektonischen und städtebaulichen Eingriff ist es den Basler Architekten Miller & Maranta gelungen, dem Färberplatz in Aarau eine neue Identität zu geben. Obwohl der skulpturale Neubau ein eher kleines Volumen einnimmt, darf er als ein Hauptwerk der neusten Schweizer Architektur bezeichnet werden.
Am Jahresende ist es üblich, Bilanz zu ziehen. In der Schweizer Architekturszene gehört dazu seit einiger Zeit die Kür der besten Bauten. Doch welchem 2002 vollendeten Gebäude gebührt die Palme? Der spektakulären Wolke von Diller & Scofidio in Yverdon, dem rationalen, von Aurelio Galfetti zusammen mit Tessiner Jungarchitekten realisierten Universitätscampus in Lugano oder gar dem diskreten Riffraff-Gebäude von Meili Peter im Zürcher Industriequartier? Sie alle sind würdige Anwärter, je nach den Aspekten, die man ins Zentrum setzt. Aus städtebaulicher Warte jedoch gibt es ein Gebäude, das alle andern überschattet: die Markthalle von Miller & Maranta in Aarau. Diese kleine, aber exakte architektonische Intervention lenkt den immer noch von Themen wie Einfachheit, Material und Detail geprägten Schweizer Architekturdiskurs in eine urbanistische Richtung. Wichtiger als die exakt herausgearbeitete Form ist hier nämlich der respektvolle Umgang mit einem charakteristischen, jedoch unspektakulären Stadtraum. War doch der Färberplatz trotz seiner Weite nie mehr als ein grosser Hinterhof in Aaraus pittoresker Altstadt, dessen räumliches Gefüge seit dem Abbruch der alten Gewerbebauten vor 20 Jahren gestört war.
Irritierende Holzarchitektur
Diese unbefriedigende Situation wollte die Stadt mit einer partiellen Überdachung des Platzes in den Griff bekommen. Den beiden heute gut vierzigjährigen Basler Architekten Quintus Miller und Paola Maranta war aber sogleich klar, dass nur ein ganz präzis gesetztes Gebäude die städtebaulichen Bezüge klären konnte. Sie schlugen daher in ihrem preisgekrönten Wettbewerbsprojekt eine flachgedeckte Hallenkonstruktion aus Douglasienholz in Form eines gestauchten Sechsecks vor, die von nahezu 300 lamellenartigen Stützen und einem zentralen Pfeiler getragen und so zu einem Haus geschlossen wird. Dabei ist es auch Jürg Conzetts ausgeklügelter Ingenieurtechnik zu verdanken, dass in diesem experimentellen Holzbau auf bestechend einfache Weise Tradition und Fortschritt zusammenfinden. Die sich zum seriellen Muster vereinenden Lamellen lassen das im oberen Teil offene, im unteren aber geschlossene Gebäude von jedem Standpunkt aus anders aussehen. Kommt man von der Rathausgasse her, so wirkt der Hallenbau durchscheinend - als sei über einen grossen Tisch ein fadenscheiniges Tuch geworfen worden. Massiv hingegen gibt er sich zu den beiden neu entstandenen Gassen zwischen den Längswänden und den seitlichen Häuserfluchten hin. Gleichwohl verschleiern die geknickten Fassaden die wirklichen Dimensionen des fast 20 mal 30 Meter grossen Gebäudes, bis man schliesslich in die weite Halle tritt.
Obwohl der Neubau mit leiser Melancholie die Poesie des Ortes widerspiegelt, vermag er mit seiner hölzernen Sperrigkeit bei einer flüchtigen Begegnung durchaus zu irritieren. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Architekten nicht nur den urbanen Raum analysierten, sondern - von der analogen Tradition herkommend - auch den Erinnerungen, Bildern und Stimmungen des einst von alten Schuppen dominierten Ortes nachspürten. Daraus destillierten sie eine architektonische Form, die ebenso diskret wie treffend den Genius Loci beschwört, sich aber auch genau in den Stadtkörper einpasst. Nichts jedenfalls erinnert mehr an die schwierige Genese dieser Halle, die - aufgrund vielfältiger Widerstände - mehrere Stadien zu durchlaufen hatte, bevor sie nach Jahren nun doch in ihrer ursprünglichen Form realisiert werden konnte. Inzwischen waren Miller & Maranta aber nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Volta-Schulhaus in Basel zu neuen Einsichten gelangt, die sie in Form einer baukünstlerischen Verfremdung auch in das Aarauer Projekt einfliessen liessen. Dazu gehört die stadträumliche Verschleierung ebenso wie die leicht subversive Umdeutung der Holzkonstruktion in eine wie gegossen wirkende Kunstform mittels einer Kupferpigmente enthaltenden Öllasur.
Der daraus resultierende Bronzeton verleiht der Halle etwas Skulpturales: Nicht nur lassen sich Bezüge zum Minimalismus ausmachen; das Gebäude spielt auch mit der Wahrnehmung, ist bald Haus, bald Möbel, bald Kunstwerk - oder, wie Quintus Miller meint, «umhüllte Luft». Gleichzeitig verwandelt es den Ort nachhaltig: Vor der Halle entsteht ein Platz, auf dem nun vier Gassen zusammentreffen, hinter ihr hingegen ein intimer Hof mit einer Kastanienterrasse. Solch subtilen Transformationen, welche die Situation klären und die bereits vorhandene Stimmung verdichten, begegnet man im Schaffen von Miller & Maranta immer wieder. So gelang ihnen vor zwei Jahren mit dem Volta-Schulhaus in einer urbanistisch schwierigen Gegend ein Bau, der sich derart selbstverständlich gibt, dass man ihn kaum als neuen Eingriff wahrnimmt. Ähnliches liesse sich vom Umbau des Hotels Waldhaus in Sils Maria sagen, wo der Geist der Belle Epoque sorgsam aufgefrischt wurde; und das Gästehaus von Gottfried Sempers Villa Garbald in Castasegna rückten sie derart geschickt in den äussersten Winkel des ummauerten Gartens, dass es nach seiner Fertigstellung in einem Jahr als fester Bestandteil des Dorfes in Erscheinung treten dürfte, und dies obwohl es formal ganz entschieden die Sprache unserer Zeit spricht.
Der Geist des Ortes
Die Fähigkeit von Miller & Maranta, mit einem einzigen Bau eine urbanistische Fragestellung auf den Punkt zu bringen und zu lösen, haben die Juroren des Wettbewerbs für ein neues Besucherzentrum des Nationalparks in Zernez - anders als ihre Kollegen in Aarau oder Castasegna - offensichtlich nicht erkannt. Aber vielleicht entwickelt man stattdessen nun in Aarau, ausgehend von der den Stadtraum respektvoll uminterpretierenden Markthalle, ein Gespür für die Schliessung der vielen unbefriedigenden Leerstellen rund um die wertvollen historischen Gebäude am Rand der Altstadt. Dass man mit Protzbauten wie dem La- Suisse-Haus, die das Gleichgewicht massiv stören, keine Stadtreparatur betreiben kann, ist offensichtlich. Allerdings scheint Aarau in den letzten Jahren den Wert guter Architektur erkannt zu haben. Davon zeugt neben der Markthalle und einigen anderen Gebäuden nicht zuletzt die im Bau befindliche Kunsthauserweiterung von Herzog und de Meuron.
Auch wenn sich Miller & Maranta in den vergangenen Jahren dank ihrer konsequenten architektonischen Recherche Einlass in den Olymp der Schweizer Architektur verschaffen konnten, wurden sie bisher mit Aufträgen nicht eben überhäuft. Weder ein Einfamilienhaus noch eine Villa steht bisher auf ihrer Werkliste. Dabei lassen ihre Umbauten ahnen, dass ein solches Haus durchaus zu einem formalen und räumlichen Kleinod werden könnte. Vorerst erproben sie nun beim Gästehaus der Villa Garbald, wie man trotz beschränktem Budget zu gültigen Resultaten gelangen kann. Anstelle teurer Materialien werden sie hier deshalb erneut die Farbe materiell einsetzen und den gegipsten Wänden das Aussehen von zartrosa glänzendem Perlmutt verleihen.
Die gleiche Begeisterung, mit der sie in Castasegna oder in Aarau Flächen, Licht und Raum in Architektur verwandeln, sprüht auch aus ihren urbanistischen Arbeiten, etwa den Masterplänen für das Gebiet rund um den Basler SBB-Bahnhof. Es wäre der Stadt am Rheinknie zu gönnen, wenn sich eines dieser Grossprojekte realisieren liesse, denn Miller & Maranta sind hierzulande Meister in der Kunst, die Stadt räumlich zu interpretieren. Erst durch die Reibung am Vorhandenen fänden sie zu gültigen Lösungen, meint Paola Maranta. Deshalb wohl gälte ihr Interesse den städtischen Interventionen und nicht den sonst bei Architekten so beliebten Objekten auf der grünen Wiese. Selbst das demnächst in Bau gehende achtgeschossige Wohnhaus an der Südspitze des Basler Schwarzparks gibt sich mit seinem unregelmässigen Grundriss, der sich den Bäumen entlang knickt, nicht als eitler Solitär. Vielmehr versteht er sich als Scharnier zwischen Blocksiedlung, Villenquartier und Grünanlage.
Dialog mit dem historisch Gewachsenen
Ein Bankgebäude von Michele Arnaboldi in Intragna
Spätestens die diesjährige Architekturbiennale von Venedig hat gezeigt, dass organisch-topologische Spielereien der baukünstlerische Modehit des beginnenden 21. Jahrhunderts sind. Wer unter solchen Umständen weiterhin auf formal wenig spektakuläre Betonarchitektur setzt, dürfte von den Trendgurus schnell als langweilig abqualifiziert werden. Gleichwohl ist der jüngste Neubau des 1953 geborenen Locarneser Architekten Michele Arnaboldi wichtig: Mit seiner Miniatur der Raiffeisenbank von Intragna knüpft Arnaboldi - ähnlich wie Raffaele Cavadini oder Roberto Briccola - nicht nur bei der ehrlichen Architektur von Luigi Snozzi an (NZZ 29. 7. 02), sondern veranschaulicht auch, wie man ein historisch gewachsenes Ensemble weiterdenkt.
Intragna, das kleinstädtisch anmutende Dorf am Eingang zu den Centovalli, setzte schon vor Jahrzehnten mit der heiter-eleganten Erweiterung des Ospedale San Donato hoch über der Isorno- Schlucht einen gut sichtbaren zeitgenössischen Akzent. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Arnaboldis Bankgebäude, das aus einem 1995 durchgeführten Wettbewerb hervorgegangen ist, um eine weit härtere und stillere Architektur. Denn der subtil auf den Grundriss und die Topographie des Nucleo von Intragna abgestimmte dreigeschossige Betonbau mit dem Schalterraum auf Strassenniveau und einer Wohnung im obersten Stockwerk fügt sich präzise in den gezahnten Südabschluss des Dorfes ein und ist durch Treppen, Gneis- und Betonmauern sowie durch eine kleine Oliventerrasse fest ins Dorfbild eingebunden. Arnaboldi ist es dabei gelungen, das karge Vokabular der lokalen Baukunst in die heutige Architektursprache zu übertragen und gleichzeitig zu beweisen, dass Bescheidenheit selbst einer Bank gut steht.
Ingenieur und Baukünstler
Ausstellungen in Lausanne und Genf
Die Ingenieurkunst der Schweiz geniesst international nicht zuletzt dank Brückenbauern wie Maillart, Ammann oder Menn einen hervorragenden Ruf. Doch selbst hierzulande ist es nur wenigen bekannt, dass mit Alexandre Sarrasin (1895-1976) ein Romand nicht nur elegante Brücken und das Marécottes-Stauwehr im Wallis, sondern auch bedeutende bautechnische Innovationen in Brüssel, wo er zwischen 1927 und 1940 lebte, Paris und Spanien ausführte. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz war der nun an der ETH Lausanne lehrende Sarrasin unter anderem an der Planung der Genfersee-Autobahn beteiligt, für die er den Viadukt von Aubonne entwarf. Diesem Meister des Betons widmen nun die Archives de la construction moderne der ETH Lausanne-Ecublens noch bis zum 16. November eine Ausstellung, die von der ersten Monographie zu seinem Schaffen begleitet wird. Gleichzeitig findet noch bis zum 10. November im kleinen SIP-Saal des Mamco in Genf eine Dominique Perrault gewidmete Schau statt. Vorgestellt werden 10 Projekte des 49 Jahre alten Pariser Architekten, der 1995 mit der Bibliothèque nationale de France international bekannt wurde, in Form einer Installation aus Leuchtkästen und Videomonitoren, darunter das 1998 vollendete Sportzentrum mit Hallenbad und Velodrom in Berlin, die Mediathek von Vénissieux und der Entwurf für die Fondation Pinault auf der Ile Seguin in Paris.
[ Alexandre Sarrasin. Structures en béton armé. Hrsg. Archives de la construction moderne. Les presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 2002. 192 S., Fr. 49.50. ]
Poetischer Pragmatismus
Die Architekten Adam Caruso und Peter St John in Luzern
Die New Art Gallery im mittelenglischen Walsall gilt als Geniestreich, der Adam Caruso und Peter St John über Nacht zu Fixsternen am Himmel der Architektur machte. Gleichwohl fielen den beiden vierzigjährigen Londonern, die sich - unbeeindruckt von der Hochglanzarchitektur des britischen Hightech und dem Hyperästhetizismus von Chipperfield oder Pawson - einem poetischen Pragmatismus verschrieben haben, die Aufträge nicht einfach in den Schoss. Zu sperrig ist ihre Kunst, mit der sie dem «wahren Wesen» der Architektur nachzuspüren und zu artikulieren suchen, «was bereits am Ort vorhanden ist». Nach Abschluss ihrer Lehrtätigkeit an der Architekturakademie von Mendrisio sind sie nun in der kleinen, für ihre frühe Zusammenarbeit mit wichtigen Architekten über die Landesgrenzen hinaus bekannten Architekturgalerie Luzern zu Gast.
In der - wie in Luzern üblich - von den Architekten selbst inszenierten und von einem schönen Katalog begleiteten Ausstellung versuchen sich Caruso St John vom Schatten ihres Grosserfolgs in Walsall zu befreien und zeigen deshalb nur neueste Projekte. Im Zentrum der spröden, zur Wahrnehmungsübung verdichteten Schau steht der Galerieraum, der in seiner Leere an ihre mit fast archäologischer Akribie durchgeführten frühen Umbauten erinnert, bei denen sie die Schönheit des Unvollkommenen kultivierten. Friesartig befestigten sie grosse Fotos und Pläne von vier Arbeiten auf den nackten Wänden, verzichteten aber zugunsten der geistigen Konzentration auf Modelle - gleichsam als Absage an deren Kult auf der gegenwärtigen Architekturbiennale in Venedig. Am deutlichsten vernimmt man die für Caruso St John charakteristische Sprache im Entwurf für ein Einfamilienhaus auf einem unregelmässigen Restgrundstück im dicht bebauten Paddington. Mit seinen Rampen, Gewölben, Winkeln und Höfen erscheint es auf den Modellfotos eher wie ein Um- denn wie ein Neubau. Hier ist nicht die formale Perfektion wichtig, sondern das Raumerleben, zu dessen Gunsten auch die äussere Erscheinung vernachlässigt wird.
Die Fassade, mit leuchtenden Luftkissen verkleidet, bildet hingegen den Blickfang des unrealisiert gebliebenen «Sporttheaters» von Arosa. Nicht weniger auffällig sind die farbigen Akustikpaneele im betonbrutalistischen Konzertsaal des Barbican Centre in London. Und dennoch gingen Caruso St John hier ähnlich subtil vor wie bei der Neugestaltung des barocken Marktplatzes im südschwedischen Kalmar, in dessen Mitte sich die Kathedrale von Nicodemus Tessin d. Ä. erhebt. Wie schon in Walsall erlaubte auch in Kalmar die sorgsame Analyse des Kontextes eine Lösung, bei der das Bestehende durch eine zeitgemässe Architektursprache akzentuiert wird. Ausgerechnet aber bei dem in Luzern nicht ausgestellten Erweiterungsvorschlag für das Schweizerische Landesmuseum in Zürich führte diese Vorgehensweise nicht zum Erfolg. Umso mehr möchte man hoffen, dass die beiden Architekten mit ihrem Wettbewerbsprojekt für ein Zürcher Schulhaus, an dem sie zurzeit arbeiten, überzeugen werden. Denn ihre gegen das reine Fassadendenken und einen dem L'art pour l'art verpflichteten Perfektionismus gerichtete Architektur könnte hierzulande durchaus als Vorbild dienen.
[Die Ausstellung in der Architekturgalerie Luzern an der Denkmalstrasse 15 ist bis zum 17. November jeweils donnerstags und freitags 17-19 Uhr sowie samstags und sonntags 11-16 Uhr oder nach Vereinbarung (Tel. 041 240 66 44) geöffnet. Katalog: Caruso St John Architects. Hrsg. Architekturgalerie Luzern. Birkhäuser-Verlag, Basel 2002. 96 S., Fr. 58.-.]
Moderner Klassizismus
Richard Meiers Burda-Kunstmuseum für Baden-Baden
Der leicht morbide Charme von Baden-Baden ist verführerisch. Doch will der welke Pomp der Gründerzeit nicht recht zur biederen Beschaulichkeit passen, die heute das Strassenbild dominiert. Ihr Echo findet sie in baulichen Interventionen, welche die Stadt mehr und mehr verschandeln. So wurde vor zwei Jahren das Palais Hamilton des grossen Friedrich Weinbrenner durch eine skandalöse Erweiterung stark lädiert. Nur die im frühen 19. Jahrhundert jenseits der Oos als Gegenstück zur Altstadt inszenierten Kuranlagen verströmen noch immer stille Grösse. Beherrscht von Klenzes antikisierender Stourdza-Kapelle, reihen sich in einer Parklandschaft vom Säulenportikus des Badischen Hofs über die Arkaden von Heinrich Hübschs Trinkhalle bis hin zu Weinbrenners Kurhaus klassizistische Juwelen, deren Tonhöhe wieder aufgenommen wird von der 1909 vollendeten Kunsthalle von Hermann Billing am Eingang zur Lichtentaler Allee.
Der neuklassische Musentempel, der sich vor allem in den achtziger Jahren mit bedeutenden Ausstellungen einen Namen machte, erhält nun einen Nachbarbau. In diesem wird vom Herbst 2004 an die Sammlung Frieder Burda, die ursprünglich im südfranzösischen Mougins ein von Ricardo Legorreta geplantes Domizil erhalten sollte, permanent zusehen sein. Als Ende September mit den Bauarbeiten begonnen wurde, erinnerten nur noch die unter einem Baum hingelegten Blumen und die Inschrift «Wir trauern um die Allee» daran, dass viele Baden-Badener die Vorgeschichte dieses Neubaus noch nicht wirklich überwunden haben. Frieder Burda, der erst 1996 durch die erfolgreiche Präsentation seiner zeitgenössischen Meister in der Kunsthalle auf die Idee gekommen war, die expressionistisch ausgerichtete Sammlung in Baden-Baden anzusiedeln, hatte zunächst das Basler Büro Steib & Steib mit der Planung beauftragt. Doch scheiterte der Entwurf, der auf Grund seiner Dimensionen einen massiven Eingriff in den kostbaren Baumbestand entlang der Lichtentaler Allee verlangt hätte, am vehementen Widerstand der Bevölkerung.
Heiter und leicht
Burda liess sich aber nicht entmutigen und versuchte sein Glück mit einem neuen Architekten. Doch statt einen Traditionalisten wie Hans Kollhoff zu beauftragen, von dem man ein neuklassisches, dem Geist des Ortes angepasstes Projekt hätte erwarten können, entschied er sich für Richard Meier und damit für eine ganz andere Klassizität, die Le Corbusier und der Moderne nahesteht. Meier, der mit Museumsbauten in Atlanta, Barcelona und Frankfurt sein Können längst bewiesen und darüber hinaus mit dem Getty Center in Los Angeles eine spektakuläre Akropolis geschaffen hat, entschied sich einmal mehr für ein weisses Gebäude, das wie die Verkleinerung des MACBA in Barcelona wirkt. Obwohl das Burda-Museum volumenmässig bedeutend grösser wird als die benachbarte, aber leicht erhöht stehende Kunsthalle, ordnet es sich ihr mit seiner tiefer liegenden Traufhöhe diskret unter. Viel Glas und frei gestellte Wandflächen dürften dem neuen Haus, das durch eine gläserne Brücke an den gravitätischen Billing-Bau angekoppelt werden soll, etwas Heiteres und Leichtes geben.
Eine Ausstellung in der Kunsthalle vermittelt zurzeit anhand von Plänen und Modellen sowie Fotos anderer Meier-Werke einen Eindruck vom künftigen Museumsbau. Ein nach Osten zur Lichtentaler Allee hin gerichtetes Vordach wird künftig die Besucher in das dreigeschossige Atrium führen, von wo eine Rampe hinabweist zum Wechselausstellungssaal im Untergeschoss. Hier befinden sich zudem die Büros und die Depots. Von Süden her erlaubt eine durch zwei Wasserflächen und eine Kaskade begrenzte Absenkung des Parks natürlichen Lichteinfall. Im Parterre öffnet sich ein gut 15 × 30 Meter weiter und 13 Meter hoher Ausstellungssaal, der seitlich sowie durch ein Oberlicht erhellt wird. Dieses ist allerdings zum Teil verdeckt durch eine zweite, unter dem Glasdach eingehängte Galerie, die man durch den Luftraum des Foyers über vier Rampen und eine kleine, ebenfalls als Ausstellungsfläche genutzte Plattform im Zwischengeschoss erreicht.
Synergieeffekt
Der Besucher wird auf seiner Promenade architecturale dank grossen Fensterflächen und verglasten Ecken weder den Kontakt zur Aussenwelt noch die Orientierung verlieren. Hingegen dürfte er sich in diesen Sälen, in denen die Wandflächen entweder riesig und von einem Lichtsog nach oben bestimmt oder aber seitlich durch Raumschlitze geöffnet sein werden, wohl nur schlecht auf die Exponate konzentrieren können. Meiers Ausstellungsräume sind nämlich exakt die Antithese zu den vorbildlichen, nach innen orientierten Galerien der Kunsthalle. Als museologisches Experiment dürfte dieses Gegensatzpaar dereinst viel Interesse wecken. Doch wird man wohl bald merken, dass die Gemälde von Kirchner, Macke oder Beckmann, die Werkgruppen Rothkos und des späten Picasso sowie die Arbeiten von Pollock oder Clyfford Still in intimeren Räumen besser zur Geltung kämen; und selbst die grossformatigen Bilder von Baselitz, Polke und Richter könnten im turnhallenartigen Parterresaal dereinst verloren wirken.
Gleichwohl darf man im Neubau - dem ersten architektonisch ernst zu nehmenden zeitgenössischen Gebäude der Stadt - schon jetzt einen Gewinn für Baden-Baden sehen. Das neue Museum wird sich nicht nur gut in den Park einfügen, sondern mit der Burda-Sammlung auch die Stellung der Kunsthalle stärken. Dank der geplanten Zusammenarbeit der beiden Institutionen wird es möglich sein, mindestens einmal im Jahr eine wirklich umfangreiche, beide Häuser einbeziehende Ausstellung zu zeigen. So hofft man ähnlich wie mit dem 1997 von Wilhelm Holzbauer etwas bombastisch umgebauten Festspielhaus im Alten Bahnhof ein grosses Publikum anlocken zu können. Baden-Baden setzt also auf den Synergieeffekt - anders als etwa Bern, wo man mit der Auslagerung von Klee in ein «Museum Center» an der Autobahn das Gewicht des Kunstmuseums vermindern wird.
[Bis 10. November. Katalog: Der Neubau von Richard Meier. Hrsg. Sammlung Frieder Burda. Kunsthalle Baden-Baden, Baden-Baden 2002. 68 S., Euro 10.-.]
Ein Wolkenkratzer für New York
Das Schlussbukett des Gaudí-Jahres in Barcelona
Obwohl «L'universo Gaudí», die zentrale Schau des Gaudí-Jahres, und mit ihr mehrere Begleitausstellungen soeben in Barcelona ihre Pforten schlossen, surft Katalonien weiterhin auf den Wellen der Gaudimanía: Nicht nur hatte Ende September Albert Guinovarts Musical «Gaudí» im Teatro Musical Premiere; auch die Touristen stehen weiterhin geduldig Schlange, um Einlass zu finden in die Häuser Batlló, Calvet und Vicens, das Colegio de las Teresianas oder die Torre de Bellesguard, die anlässlich des 150. Geburtstags des populären Architekten dem Publikum vorübergehend zugänglich sind. Einzig im Küstenstädtchen Garraf herrscht Ruhe, denn hier lässt sich die prächtige Miniatur der Bodegas Güell nur nach Voranmeldung besuchen. Das eigentliche Hauptwerk, das Gaudí für seinen grossen Mäzen Eusebi Güell errichtete, die Kirche in der Colònia Güell, lockt hingegen die Jünger zu Tausenden, obwohl es bekanntlich nicht über die Krypta hinausgediehen ist. Eine Zeichnung des Meisters gibt jedoch einen Eindruck davon, wie dieser Sakralbau hätte aussehen sollen. Anders als die gotisch- filigrane Sagrada Família wäre sie mit ihren eng zusammengerückten Paraboloid-Türmen wie ein «Jerusalén celestial» in Erscheinung treten.
«Gaudí en Manhattan»
Die Vision gebliebene «Skyline» dieses «himmlischen Jerusalem» strahlte bis nach New York aus, denn just als Gaudí an der Colònia arbeitete, erreichte ihn aus den USA das Ersuchen, einen Hotel-Wolkenkratzer für Lower Manhattan zu kreieren. Er entwarf daraufhin wohl zwischen 1908 und 1911 einen 310 Meter hohen «Rascacielos», der sich über mandalaförmigem Grundriss als zentraler Turm mit untergeordneten Halbtürmen hätte erheben sollen. Während diese für die Suiten des Hotels «Attraction» bestimmt waren, hätte der Hauptturm über einer riesigen Lobby fünf nach den Kontinenten benannte Restaurants, Ausstellungsräume, ein Museum, einen Konzertsaal sowie - in der Spitze des Paraboloids - einen Amerika-Saal von 114 Metern Höhe aufnehmen sollen.
Dieses hochmütige Werk, das bis heute zum Geheimnisvollsten im Schaffen des Katalanen zählt, wird gerne als Beweis dafür zitiert, dass Gaudí nicht nur der religiös überspannte Erbauer «sublimer Abnormitäten» war, als den ihn der Mythos so gerne sieht, sondern dass dieser Meister der Geometrie durchaus auch eine weltläufige Seite hatte. Diese Behauptung wurde aber jüngst in Frage gestellt durch eine geistreiche Kurzgeschichte des jungen Katalanen Carlos Ruiz Zafón, in der dieser der Frage nachgeht, warum Gaudí, der für die Sagrada Família nur «den Allerhöchsten als Auftraggeber» anerkennt, von einer unbekannten Person den Auftrag zum Bau eines Hochhauses in New York entgegennimmt. Obwohl dem frommen Baukünstler die Tatsache bewusst ist, dass ein Wolkenkratzer nichts anderes als eine Kathedrale für Leute ist, die nur ans Geld glauben («para gente que en vez de creer en Dios cree en el dinero»), zeigt er sich bereit, diese «Torre babilónica» zu errichten. Hofft er doch, dass der Auftraggeber im Gegenzug die Kosten für die Vollendung seines Lebenswerks, der Sagrada Família, übernehmen werde. Deswegen bricht er im März 1908 mit dem jungen Studenten Miranda als Dolmetscher nach New York auf, um dort seine Entwürfe zu präsentieren. Doch das Projekt scheitert, weil Gaudí im geheimnisvollen Auftraggeber, der dem jungen Miranda als eine sich katzenartig bewegende Frau mit reptilhaftem Lächeln erscheint, schliesslich den Leibhaftigen erkennt. Bestürzt über seinen frevelhaften Leichtsinn, tritt er sofort die Heimreise an, während deren er - zum Entsetzen Mirandas - alle Skizzen über Bord wirft und beschliesst, fortan über seine Amerikareise Stillschweigen zu wahren.
Auch wenn Gaudí in Wirklichkeit diese Reise nie unternommen hat und die Dokumente zum New Yorker Wolkenkratzer vermutlich während des Bürgerkriegs zerstört worden sind, trifft Ruiz Zafón den Kern der Sache: Gaudí muss - aus welchen Gründen auch immer - die Hybris seines Tuns erkannt und deswegen den Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet haben. Es war dann nicht Miranda, wohl aber der Gaudí-Schüler Joan Matamala, der 1956 das Geheimnis lüftete und mit fünf Hochhausentwürfen Gaudís und dreizehn eigenen Zeichnungen an die verblüffte Öffentlichkeit trat. Seither bestätigten verschiedene Gaudí-Spezialisten auf Grund von Studien und zeichnerischen Rekonstruktionsversuchen die Echtheit der Skizzen. Diese wirken noch nach in Jean Nouvels Torre Agbar, die im Herbst 2003 an der Plaça de les Glòries Catalanes in Barcelona eröffnet werden soll. Darüber hinaus will der Illustrator Marc Mascort Gaudís Wolkenkratzer möglichst originalgetreu zum Leben erwecken. Dazu hat er Ende Mai unter dem Titel «Gaudí's Project» eine Doppel-CD herausgegeben mit Ambient Music von verschiedenen Gruppen und virtuellen Darstellungen des Turmes, darunter eine Nachtansicht, auf welcher dieser die Stelle des ehemaligen World Trade Center einnimmt. Inzwischen bestehen bereits Kontakte zur Lower Manhattan Development Corporation, die sich durchaus vorstellen kann, dass Gaudís Projekt einfliessen könnte in die Neubebauung von Ground Zero, mit der sich gegenwärtig sechs vor wenigen Tagen gekürte Teams beschäftigen.
Ausstellung in der Finca Güell
Nun wurde das neuste wissenschaftliche Material zusammengetragen für eine von der Architekturfakultät Barcelona und der Reial Càtedra Gaudí organisierte Schau, die bis Ende Oktober unter dem Titel «La catedral laica» in der Finca Güell um ein 3 Meter hohes Modell des Hochhausprojekts inszeniert ist. Diese interessante Veranstaltung, zu der Ende Jahr eine Publikation erscheinen soll, darf als Schlussbukett des barcelonesischen Gaudí-Jahrs bezeichnet werden. Sie wird flankiert von drei weiteren, noch bis Ende Jahr geöffneten Ausstellungen zu den Themen «Gaudí und Güell» (im Palau Güell), «Gaudí und seine Werkstatt» (in der Sagrada Família) sowie «Architektur und Natur» (im Parque Güell). Ausserdem werden demnächst die beiden Ausstellungen «L'universo Gaudí» in Madrid und «Die Suche nach der Form» in León wiedereröffnet; und im Centro Cultural de Caixa in Girona zelebriert der Photograph und Gaudí-Interpret Marc Llimargas in grossartigen Detailaufnahmen Gaudís künstlerisches Genie.
Ein Blick in die Zukunft
Eröffnung der 8. Architekturbiennale von Venedig
Heute öffnet in Venedig die achte Architekturbiennale ihre Tore. Die weltgrösste Architekturausstellung zeigt unter dem Titel «Next» in den Corderie und im italienischen Pavillon wegweisende Bauten, die in nächster Zukunft vollendet werden sollen. Ausserdem warten in den Giardini die Länderpavillons mit weiteren Präsentationen auf.
Sie nennt sich klangvoll «Mostra Internazionale di Architettura», die Architekturbiennale von Venedig, die heute Nachmittag etwas im Schatten des Filmfestivals zur Vernissage lädt. Seit ihrem Start vor 22 Jahren ist diese in den Giardini und im Arsenal zum weltweit grössten Schaufenster für zeitgenössische Baukunst angewachsen. Doch während sie in ihrer ersten Ausgabe 1980 unter Paolo Portoghesi mit der aufsehenerregenden, als riesige Kulisse in den Corderie inszenierten und auf Genuas legendäre Palastmeile anspielenden Strada Novissima den Zeitgeist der architektonischen Postmoderne einfing und so der Architektur ein breites Publikum sichern konnte, ist ihr programmatischer und intellektueller Anspruch mit wachsender Grösse eher geschrumpft. Vor zwei Jahren klafften der hochgemute Titel und die inkohärente Präsentation besonders stark auseinander, forderte doch der damalige Direktor Massimiliano Fuksas «Less Aesthetics - More Ethics» und bot doch nicht mehr als ein mediales Spektakel. Als Antwort darauf versuchte nun der diesjährige Direktor, der fünfzigjährige Londoner Architekturvermittler Deyan Sudjic, das Steuer herumzureissen und statt flüchtiger Visionen künftige architektonische Realitäten zu zeigen, und zwar mit den herkömmlichen Darstellungsmitteln von Plan, Foto und stattlichen Modellen, die anders als die verwirrlichen Bilderorgien der Computersimulationen und Videoinstallationen auch einem Laienpublikum zugänglich sind.
Wenn nun Sudjic in den Corderie des Arsenals und im italienischen Pavillon mit der inszenatorischen Hilfe seines Landsmanns, des Architekten und Designers John Pawson, der jüngst in Valencia sein räumliches Können bewiesen hat (NZZ 16. 7. 02), in zehn prächtig eingerichteten Abteilungen eine nicht durchwegs überzeugende architektonische Bestandesaufnahme zeigt, so erweist er sich dennoch als geschickter Vereinfacher. Dadurch hilft er zwar dem globalen Architekturdiskurs nicht auf die Sprünge, macht aber sein Anliegen leicht verständlich. Denn der einst als avantgardistischer Mitbegründer der Zeitschrift «Blueprint» bekannt gewordene Sudjic setzt heute auf sichere Werte: Diese lassen sich mit der etwas abgedroschenen Formel «Stararchitekt» umschreiben. Auch wenn Sudjic behauptet, er habe die von ihm präsentierten Projekte nach ihrem Inhalt und nicht nach den Namen ihrer Schöpfer ausgesucht, so liest sich die Liste der im offiziellen Teil der Architekturbiennale vertretenen Baukünstler wie ein Who is who der zeitgenössischen Architektur von Ando bis Zumthor. Neuentdeckungen sind dabei kaum zu machen. Der Ausstellungsspaziergang durch die schier endlos langen Corderie führt vorbei an weit über hundert bedeutenden Entwürfen für Museen, Wohnhäuser und Freizeit- oder Bildungsbauten. Erwähnenswert ist aber vor allem die den Hochhäusern gewidmete Abteilung mit Pianos «New York Times»-Projekt und Fosters Londoner Swiss-Re-Entwurf. Ergänzt wird diese Sektion durch eine von Alessi finanzierte «City of Towers» mit acht stupenden Phantasien von Zaha Hadid über Toyo Ito bis Future Systems und mit den von der «New York Times» in Auftrag gegebenen World-Trade-Center-Studien von SOM.
Der Parcours wird im italienischen Pavillon weitergeführt, wo Sudjic zum Thema «Next Italy» Projekte von der Erweiterung der Galleria d'Arte Moderna durch Diener & Diener bis hin zu Fuksas' Umbau des EUR-Kongresspalastes vorstellt. Auch einige der rund dreissig Länderpavillons, die wie immer von eigenen Ausstellungsmachern eingerichtet wurden, stehen im Zeichen von «Next»: Kanada philosophiert über «Next Memory City», Finnland zeigt Architekten «Before Next», und Ägypten erzählt «The Next Story». Besinnt sich Deutschland mit der Präsentation von 12 Architekturschulen auf das «Next-liegende», so befragen die USA angesichts eines skulptural anmutenden Twin-Towers-Fragments die Zukunft des World Trade Center. Im Zeichen einer unsicher gewordenen Welt zieht sich Spanien auf «Paisajes internos» zurück, während Jugoslawien die Zeit von «Destruction & Construction» erforscht, Israel sein «Borderline Disorder» befragt, und Österreich überall «Madness with a method» sieht. Nur Venezuela glaubt: «Otro mundo es posible.» Und die Schweiz? Ihren Pavillon haben die Lausanner Jungarchitekten Décosterd & Rahm in ein «Hormonorium» verwandelt, einen überhellen Raum mit reduziertem Sauerstoffanteil, der eine Art Hochgebirgserlebnis vermitteln will. Damit schert die Schweiz auf sympathische Weise aus dem Mainstream der Länderpavillons aus und verzichtet einmal mehr auf die sonst so beliebten Leistungsschauen. Ob sie dafür den Goldenen Löwen für die beste Länderdarbietung erhält, ist gleichwohl fraglich. Denn den Engländern ist mit der virtuellen Vergegenwärtigung des bereits real existierenden Yokohama-Ferry-Port-Terminal von Foreign Office Architects eine ebenso irritierende wie überwältigende Schau gelungen. Als sicher gilt hingegen, dass der Leone d'oro für das Lebenswerk dem 61-jährigen Japaner Toyo Ito verliehen werden soll. Ein weiterer Goldlöwe ist für das beste Projekt der Ausstellung «Next» reserviert.
[ Die Architekturbiennale im Arsenal und in den Giardini dauert bis zum 3. November. Katalog Euro 60.-. ]
Burg oder Schloss?
Problematische Erweiterung des Landesmuseums Zürich
Die junge Schweizer Architektur spürt Aufwind. Nachdem sich unlängst das Zürcher Team Baumann, Buffoni und Roserens in St. Gallen mit seinem Erweiterungsvorschlag für das Kunst- und Naturmuseum gegen eine Vielzahl von Bewerbern hatte durchsetzen können, vermochten nun die beiden in Zürich und Basel tätigen, nur wenig mehr als 30-jährigen Nachwuchsarchitekten Emanuel Christ und Christoph Gantenbein mit ihrem Anbauprojekt für das Landesmuseum selbst namhafte internationale Konkurrenten auf die Plätze zu verweisen. Diese Erfolge sind für die architektonische Kultur unseres Landes wichtig. Dennoch gibt das Landesmuseumsprojekt zu denken. Nicht wegen seiner ästhetischen Erscheinung, sondern wegen städtebaulicher und denkmalpflegerischer Aspekte. Während nämlich in St. Gallen der Perimeter aus Ehrfurcht vor Johann Christoph Kunklers spätklassizistischem Musentempel klar von diesem abgerückt wurde, war beim Landesmuseum ein ähnlicher Respekt gegenüber dem architektonischen Patrimonium des Gull-Schlosses nicht auszumachen. Das verleitete die jungen Architekten dazu, diesen spektakulären Jahrhundertwendebau, der sich gleichermassen romantisch, malerisch und repräsentativ gibt, noch übertrumpfen zu wollen. Das Resultat sieht auf den ersten Blick bestechend aus, und man begreift die Euphorie von Preisgericht und Presse.
Hauptwerk des Historismus
Doch was sich zunächst verspielt und heiter gibt, erweist sich bei genauerem Hinschauen als massiver Eingriff in das nicht nur vom Heimatschutz, sondern auch von breiten Bevölkerungskreisen geschätzte Meisterwerk von Gustav Gull und den stadt- und gartengeschichtlich bedeutenden Platzspitzpark. Die Gull'sche Architektur und die Grünanlage bedingen einander: Mit seinem Ehrenhof dient das schlossartige Landesmuseum nämlich als Resonanzkörper des Platzspitzes, und im Park erst klingt die Architektur aus. Diese darf als ein Hauptwerk des westeuropäischen Späthistorismus bezeichnet und in Zürich ihrer Bedeutung nach durchaus neben Meisterwerken wie dem Hauptbahnhof oder den Hauptgebäuden von ETH und Universität genannt werden. In jeder anderen Stadt verstünde es sich von selbst, dass ein solches Gebäude von einem Neubau nicht oder nur ganz vorsichtig tangiert werden dürfte. Doch in Zürich, wo man sogar die Schaufront des Opernhauses mit einem Glasriegel verstellen will, liess man es fast ohne Widerspruch zu, dass Stimmen aus dem Bundesamt für Kultur und aus baugeschichtlich wenig interessierten Architektenkreisen lauthals einen Abriss des Landesmuseums fordern durften. Dabei war dieser Bau für die 1890er Jahre, was das KKL für unsere Zeit ist: ein architektonisches Symbol - und dies allen funktionalen und konstruktiven Mängeln zum Trotz.
Nun kann es hier nicht darum gehen, die Notwendigkeit einer Erweiterung des Landesmuseums in Frage zu stellen, aber doch darum, der architektonischen und denkmalpflegerischen Vernunft eine Lanze zu brechen. Denn es muss darauf hingewiesen werden, dass der zur Diskussion stehende Erweiterungsvorschlag trotz seiner gestalterischen Attraktivität in der vorgeschlagenen Form einer weitgehenden Zerstörung des Gull- Baus gleichkommt. Nicht nur, weil der Verwaltungsflügel abgebrochen und so die stadtseitige Fassade stark beeinträchtigt werden soll, sondern mehr noch, weil die wie eine barocke Halskrause oder wie ein Keuschheitsgürtel um die Gartenseite gelegte Erweiterung aus einer falschen Überlegung heraus entstanden ist. Denn die Auslober, die Jury und die Architekten haben offensichtlich bei der ikonographischen und städtebaulichen Lektüre der Gull'schen Architektur nur die Hälfte erkennen wollen: nämlich die Burg, die nun malerisch mit mehrfach gebrochenen, zeitgenössisch interpretierten Palasbauten und Schildmauern um weitere Höfe wachsen soll. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass das Landesmuseum zum Park hin nicht als Burg, sondern mit seinem Ehrenhof als neugotisches Stadtschloss auftritt. Wo sonst in unserem Land gibt es eine vergleichbare architektonische Geste, die Bau und Park zu einer ebenso grossartigen Einheit verschmilzt? - Wir leben nicht mehr im frühen 20. Jahrhundert, als Architekten auf Grund neuer Zukunftsentwürfe von einer Tabula rasa träumten. Dazu fehlt uns einerseits die nötige Überzeugung; anderseits kommt in einer sich rasant ändernden Zeit dem gebauten Erbe eine immer wichtigere Rolle als Teil der kollektiven Erinnerung zu. Ein Weiterbauen im historischen Kontext muss deshalb mehr denn je auf einer korrekten Analyse des Bestandes basieren. Das heisst hier aber: nicht nur die Burg, sondern auch das Schloss und den Park respektieren.
Ein Wahrzeichen im Fluss?
Zwischen dem ersten und dem zweiten Projekt des zweistufigen Wettbewerbs veränderten Christ und Gantenbein mit einer für die junge Architektengeneration typischen Unbefangenheit die formale Erscheinung des ursprünglich als Kiste, jetzt aber als Kette geometrisch freier, der neusten Mode entsprechender Körper geplanten Erweiterungsbaus und dessen Placierung. Deswegen sollte es sie an sich keine grosse Überwindung kosten, bei der nötigen Überarbeitung des Siegerprojektes die Halskrause aufzusprengen, so dass zwei das Schloss östlich und westlich des Ehrenhofs rahmende und zum Park und zu den Wasserflächen sich öffnende Flügel entstünden. Oder aber sie entschieden sich für einen noch zu bewilligenden neuen Bauplatz: Könnte sich doch der Annex (der einstigen Tradition der in der Limmat stehenden Gewerbebauten folgend) östlich des Landesmuseums als neues Wahrzeichen aus dem Fluss erheben - mit dem Altbau verbunden durch eine den Parkeingang rahmende Passerelle. In beiden Fällen müssten zwar museumstechnische Erschwernisse in Kauf genommen werden. Man erhielte im Gegenzug jedoch ein für breitere Kreise akzeptables Projekt, das die Würde des Gull-Schlosses und der Parkanlage wahren und gleichwohl mit einer neuen Formensprache auf sich aufmerksam machen könnte. Zu überdenken wäre aber einmal mehr auch ein bereits von verschiedenen Seiten vorgeschlagener Neubau jenseits der Sihl auf dem ehemaligen AJZ-Gelände, einem Ort, der sich anders als das Gull-Schloss schon lange nach einem starken architektonischen Zeichen sehnt.
Bauen mit Verstand
Zum 70. Geburtstag des Tessiner Architekten Luigi Snozzi
Spätestens seit dem Erfolg von Frank O. Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao wünscht sich wohl jede Stadt eine derartige Attraktion. Mit solch gebauten Primadonnen wächst zwar die Popularität der Architektur, die wesentlichen Fragen aber, was deren Aufgabe und Bedeutung in sozialer und urbanistischer Hinsicht seien, können und wollen diese Werke nicht beantworten. Gleichwohl lassen sich die meisten Architekten nur allzu gerne von der Aussicht blenden, die Welt mit auffälligen Duftmarken zu parfümieren, und sehen sich kaum mehr in der Rolle des Intellektuellen mit Verantwortung gegenüber Stadt, Natur und Mensch. Der Fehler liegt indes nicht nur bei der bauenden Zunft, sondern auch in der Tatsache, dass viele meinen, auf das Meer banaler Spekulationsbauten sei nur mit spektakulärer Architektur zu reagieren. Für Verfechter einer ethischen Baukunst wie Alvaro Siza und Luigi Snozzi scheint da kaum noch Platz zu sein. Doch während der Portugiese in seiner Heimat respektiert und mit gewichtigen Aufträgen bedacht wird, kommt Snozzi hierzulande allzu selten zum Zuge, auch wenn man ihn gerne als «soziales Gewissen der Schweizer Architektur» bezeichnet.
Obwohl Snozzi bald im Rahmen städtebaulicher Wettbewerbe, bald aus eigener Initiative viele wegweisende Projekte entwarf, konnte dieser einsame Rufer in der Wüste seine Ideen nur in Monte Carasso, einem Vorort Bellinzonas, realisieren. Dieses von gezielten ordnenden Interventionen geprägte urbanistische Projekt, das 1996 auf der 6. Architekturbiennale von Venedig im Schweizer Pavillon geehrt wurde, findet noch immer als kontextbezogene Alternative zur modischen Verherrlichung des Vorstadtchaos Beachtung. Als Vorsitzender des Gestaltungsbeirats war Snozzi zudem in den achtziger Jahren mitverantwortlich für das damalige «Salzburger Architekturwunder». In Maastricht wiederum flossen Snozzis Einsichten über Jo Coenen, den heutigen «Rijksbouwmeester» der Niederlande, ein in die Planung des Céramique-Viertels. Hier steuerte Snozzi eine 300 Meter lange Wohnmaschine bei, welche gegenwärtig den letzten Schliff erhält. Schliesslich hatte dieser kompromisslos radikale Architekt dank Ursula Koch auch Einfluss auf die Zürcher Gestaltungspläne, welche die einstigen Industriegebiete von Zürich Nord und Zürich West neu ordneten und in kulturell und gesellschaftlich attraktive Quartiere verwandelten.
Als Denker, dem das Bauen in erster Linie eine soziale Kunst ist, liebt es Snozzi, im Stillen zu wirken. Die laute, aufgeregte Geste ist seine Sache nicht. Eher sieht er sich als Diener der Architektur, der unermüdlich versucht, im Widerstand gegen Baugesetze, Institutionen und Kommissionen einer menschengerechten Stadt zum Durchbruch zu verhelfen. Ausgehend von den Theorien Aldo Rossis und Vittorio Gregottis, reagiert er mit seinen städtebaulichen Entwürfen und seinen Bauten immer auf den Ort, dessen Geschichte und Topographie die architektonische Form letztlich mitbestimmen. Dies ist mit ein Grund dafür, dass seine Häuser stets anders aussehen - einmal abgesehen vom Beton, dem Material, das sich in Snozzis Augen am besten zum Bauen im Tessiner Kontext eignet. Das beweisen nun auch seine einstigen Mitarbeiter: Raffaele Cavadini in Gerra Piano und Michele Arnaboldi in Intragna, wo der in Form und Proportion präzis dem kleinstädtischen Dorfkern angefügte Betonkubus der Raiffeisenbank zu einer Hommage an den Meister werden dürfte.
Der Weg des am 29. Juli 1932 in Mendrisio geborenen Luigi Snozzi hin zu einer asketischen, dem Genius Loci verpflichteten Architektur war lang. Nach dem Studium an der ETH Zürich liess er sich zunächst von Peppo Brivio für Frank Lloyd Wright begeistern, fand dann aber in der Zusammenarbeit mit Livio Vacchini schnell zur abstrakteren Moderne eines Mies van der Rohe, dem sie 1965 mit der lateinischen Rationalität des Fabrizia-Bürohauses in Bellinzona antworteten. Nachdem Snozzi zusammen mit Botta, Carloni, Galfetti und Flora Ruchat 1970 mit dem städtebaulichen Wettbewerb für die Erweiterung der ETH Lausanne ein nicht realisiertes Schlüsselwerk der «Tessiner Schule» entworfen hatte, legte er ein typologisch an die Klosterarchitektur angelehntes urbanistisches Alternativprojekt für das später verunstaltete Flussdelta von Brissago vor. Mit der Casa Kalman entstand dann 1975 in Minusio der erste «klassische» Snozzi: ein Betonbau mit gezielt auf die Landschaft ausgerichteten Öffnungen, mit Wegen und Terrassen, die den Höhenkurven folgen, sowie mit der zum Haus in einen Dialog gestellten Pergola.
Diese städtebaulich-architektonischen Themen entwickelte er bis heute weiter in den Häusern von Verscio, Agarone, Ronco, Carona und Cureglia. Vor allem gelang es ihm aber, in Monte Carasso seine Ideen durchzusetzen - von der meisterhaften Miniatur des Turmhauses für den Sindaco über die enigmatische Doppelsphinx der Turnhalle und die Friedhoferweiterung bis hin zum Umbau des ehemaligen Klosters in ein Gemeindezentrum und zum grossen, das Dorf gegen die Autobahn abschirmenden Wohnblock. Verglichen mit seinen fast gleichaltrigen Tessiner Kollegen Galfetti und Vacchini oder dem elf Jahre jüngeren Botta ist Snozzis gebautes Œuvre klein. Doch wohnen jedem urbanistischen Entwurf, jedem Haus architektonische Aussagen inne, die bis heute nichts an Gültigkeit eingebüsst haben. Erinnert sei nur an den 1978 von ihm und Botta urbanistisch exakt formulierten Wettbewerbsentwurf für einen Zürcher Reiterbahnhof (den ein anderer Architekt dann zur amorphen Megastruktur des HB-Südwest verwässerte). Wenn heute Snozzis karge Bauten, die allem Detail- und Materialkult, allem selbstverliebten Minimalismus und aller formalen Übersteigerung abhold sind, auf junge Architekten wieder erfrischend neu wirken, so mag ihn dies darüber hinwegtrösten, dass er viele seiner schönsten Träume bisher nicht verwirklichen konnte. Zu wünschen wäre ihm und seinem Wohnort Locarno, dass seine vor Jahren konzipierte und jetzt wieder diskutierte Neugestaltung der Piazza Grande, auf der demnächst das Filmfestival eröffnet wird, doch noch verwirklicht werden kann.
Luxuriöse Einfachheit
Der Architekt und Designer John Pawson in Valencia
Bekannt geworden durch die Calvin Klein Stores in New York und Paris, gilt der 1949 geborene Londoner Architekt und Designer John Pawson heute als Hauptexponent des englischen Minimalismus. Ihm widmet nun das Institut Valencià d'Art Modern, das sich gerne als Pulsmesser zeitgenössischer Kultur sieht, eine grosse Retrospektive.
Valencia, die Metropole der spanischen Levante, sorgte als träge Schönheit bis vor wenigen Jahren kaum für Aufsehen. Doch dann entdeckten die damals regierenden Sozialisten die Architektur als Muntermacherin und betrauten Ricard Bofill mit der Gestaltung der Gärten im ehemaligen Flussbett des Turia und Santiago Calatrava mit dem Bau der monumentalen Ciutat de les Arts i les Ciències. Weitere Akzente setzten Norman Fosters Kongresspalast, das vor einem Jahr eröffnete Aufklärungs-Museum von Guillermo Vázquez Consuegra und Alvaro Gómez-Ferrer Bayos Erweiterung des Kunstmuseums.
Am Anfang dieser architektonischen und kulturellen Belebung aber stand der von Carles Salvadores und Emilio Giménez entworfene Kubus des 1989 eröffneten Institut Valencià d'Art Modern (IVAM), das nun einen Erweiterungsbau der Japanerin Kazuyo Sejima und damit endlich auch internationale baukünstlerische Weihen erhalten soll. Denn das IVAM zählt nicht zu jenen Häusern, die vor allem der Architektur wegen Besucher locken. Im Gegenteil: das Gebäude selbst ist guter Durchschnitt, doch was darin seit Jahren geboten wird, ist frisch und spannend aufbereitete moderne und zeitgenössische Kunst.
Englischer Minimalismus
Schon kurz nach seiner Gründung avancierte das IVAM zum spanischen Flaggschiff für Kunst des 20. Jahrhunderts. Zwar wurde es nach dem Regierungsantritt des konservativen Partido Popular etwas stiller um das Institut, dessen Heiligtum die weltweit grösste Julio-González-Sammlung ist, das aber auch mit einer moderat spanisch gefärbten Kollektion von Nachkriegskunst aufwarten kann. Unter dem neuen Direktor Kosme de Barañano soll nun das Haus mit gewichtigen Ausstellungen wieder seine einstige Bedeutung zurückerlangen. So war bis vor einer Woche eine Retrospektive des vor 20 Jahren verstorbenen Ben Nicholson zu sehen. Doch dauert der englische Sommer im IVAM weiter an mit dem Überblick über das Schaffen des Architekten und Designers John Pawson, den man durchaus als einen Geistesverwandten von Nicholson bezeichnen darf. Gleichwohl wird man diese Ausstellungen kaum als Konzession an den Geschmack jener Briten werten, welche die südlich von Valencia sich weitende Costa Blanca seit Jahren fest in ihrer Hand haben. Denn Pawson ist ein Anhänger einer minimalistischen Perfektion, die weniger den Nerv des Durchschnittsengländers treffen als vielmehr den Formensinn der traditionell eher barocken Valencianer fordern dürfte. Einheimische Besucher jedenfalls zeigen sich durchaus angetan von dieser ersten grossen, von einem aufschlussreichen spanischen Katalog begleiteten Werkschau Pawsons.
Der 1949 im englischen Halifax geborene Pawson arbeitete zunächst im familieneigenen Textilbetrieb und fand erst nach einem längeren Japanaufenthalt dank der Begegnung mit Shiro Kuramata zur Architektur. Einem grösseren Kreis bekannt geworden ist er durch jenen coolen Flagship Store, den er 1995 für Calvin Klein an der Madison Avenue in New York errichtete. Seither sind weitere Läden entstanden, die in den Pariser Calvin-Klein-Geschäften ihre bisher wohl gediegenste Ausformung fanden. Auch wenn sich Pawson nach der Eröffnung seines Londoner Büros im Jahre 1981 auf den Umbau von Wohnungen und Ladenlokalen spezialisierte, sieht er sich weniger als Innenarchitekt und Designer denn vielmehr als bauender Philosoph. Als solcher versucht er den Ursprüngen des Schöpferischen auf die Spur zu kommen, indem er sich durch die Lehre von Zen, aber auch durch die Erkenntnisse von Wittgenstein und Heidegger leiten lässt.
Philosophischer Überbau
Pawsons architekturphilosophischer Anspruch manifestiert sich nicht zuletzt im Aufbau der von ihm im IVAM eingerichteten Schau. Er inszenierte sie als einen japanisch angehauchten Lehrpfad, der die Besucher durch eine immateriell weisse Raumsequenz führt. Hier werden Themen wie Mass, Licht, Struktur, Ritual, Landschaft, Ordnung, Inhalt, Wiederholung, Volumen, Wesen, Ausdruck und Material anhand von Photographien seiner wichtigsten realisierten oder aber auch nur konzipierten Werke abgehandelt. Diesem Initiationsweg antworten - gleichsam auf einem didaktisch und architektonisch konventioneller gestalteten Nebenpfad - Bauten und Projekte, die mit Plänen, grossen Modellen, Computerbildern und Photographien veranschaulicht werden. Auftakt machen dabei die klösterlich kargen und doch raffinierten Räume seiner eigenen Wohnung in einem umgebauten Londoner Reihenhaus. Stärker dem Geist Mies van der Rohes verpflichtet ist eine Villa in Deutschland mit auskragendem, gläsernem Schlafgemach und seriell gereihten Gästezimmern. Etwa zur gleichen Zeit vertiefte Pawson seine Beschäftigung mit dem Wesen des Klosters im Projekt für den Umbau der Abtei von Novi Dvur in Tschechien, während er sich im Market Museum von Redcliffe und im Entwurf für einen Hallenbau der Firma Vacheron Constantin bei Genf wieder vermehrt auf seine innenarchitektonischen und gestalterischen Fähigkeiten konzentrierte. Diesen ist in der Schau ein eigener Bereich reserviert, in dem neben Geschäftsumbauten auch formal reduzierte, an Donald Judd erinnernde Möbelkuben sowie geometrische Vasen und Schalen zu sehen sind. Pawsons Luxus-Minimalismus überzeugt durch formale und materielle Perfektion, durch Sensibilität und Klarheit sowie durch die Harmonie von Proportion, Licht und Raum, er irritiert aber auch als Gratwanderung zwischen künstlerischer Strenge und geschmäcklerischer Leichtigkeit. Obwohl die neusten architektonischen Trends gerade auch in der Innenraumgestaltung eher wieder wegführen von überästhetisierten orthogonalen Raumgefügen, liegt diese Ausstellung durchaus im Trend. Das bestätigt letztlich auch die Tatsache, dass Pawson nach Abschluss seiner Retrospektive in Valencia auch in der offiziellen Hauptausstellung der Architekturbiennale von Venedig vertreten sein wird, die am 8. September ihre Tore öffnet.
[ Bis 1. September. Katalog: John Pawson. Temas y proyectos. Hrsg. IVAM. Phaidon Press, London 2002. 127 S., Euro 29.-. ]
Erfinder einer neuen Italianità
Der Architekt Gio Ponti im Londoner Design Museum
Dem Mailänder Architekten, Gestalter und Publizisten Gio Ponti (1891-1979) widmet das Londoner Design Museum eine grosse Retrospektive. Ponti wurde mit seinen Entwürfen und der Zeitschrift «Domus» zum Begründer des neuen italienischen Designs. Ausserdem gilt sein Pirelli-Turm in Mailand als Meisterwerk der Hochhausarchitektur.
Seine klassizistisch dekorierten Vasen, seine ultraleichten Stühle, seine bunten Stoffe und seine Bauten sind längst zu Kultobjekten der «Wallpaper»-Generation geworden. Der 1891 geborene Mailänder Architekt, Designer, Künstler und Publizist Gio Ponti war aber weniger an Luxusprodukten interessiert als vielmehr an industriell gefertigten Gegenständen für jedermann. In seinem überaus reichen Œuvre vereinigen sich denn auch früh schon der Geist der klassisch-metaphysischen Novecentisten mit jenem der Futuristen und der Rationalisten zu Metaphern einer neuen, heiter-eleganten Italianità.
Ponti war ein Klassizist im klassischen Sinne: ein Allrounder, der - ähnlich wie einst Robert Adam in London - Villen, Bürohäuser und Kathedralen mit Hilfe von Künstlern, Handwerkern, Technikern und Ingenieuren in Gesamtkunstwerke verwandelte und der von der Gabel bis zum Wolkenkratzer die Welt ganzheitlich durchgestalten wollte: ganz einfach um das Leben zu verschönern. Dabei unterschied er sich von den nördlich der Alpen tätigen Avantgardisten dadurch, dass er von einer bunten, mediterranen Moderne träumte und dass ihm jeder Dogmatismus und jedes Denken in einengenden Stilkategorien zuwider waren. Im Mittelpunkt seines künstlerischen Credos standen die Begriffe Toleranz und Pluralismus. Diese verkündete er in der Anfang 1928 von ihm ins Leben gerufenen Architektur- und Designzeitschrift «Domus», die er mit einem Unterbruch in den vierziger Jahren bis zu seinem Tod am 16. September 1979 leitete und die massgeblich für den kometenhaften Aufstieg des italienischen Designs nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich war. Wie sehr sich Ponti als Vermittler und Förderer verstand, zeigen ausserdem die «Ponti-Triennale» von 1933, mit der er den jungen Rationalisten den Weg ebnete, und der Compasso d'Oro, den er 1954 als vornehmste italienische Design-Auszeichnung initiierte.
Nun widmet das Londoner Design Museum diesem bedeutenden, aber lange unterschätzten Gestalter die erste grosse Retrospektive seit Jahren: eine berauschende Ausstellung - nicht nur weil sie atmosphärisch verdichtet wird durch die heiter-melancholischen Klänge von Glucks «Orphée» und Strawinskys «Pulcinella», für deren Aufführungen an der Scala Ponti nach dem Zweiten Weltkrieg Bühnenbilder und Kostüme entworfen hatte. Die von Marco Romanelli betreute, von einem nützlichen Katalog begleitete Schau basiert stark auf der von Lisa Ponti herausgegebenen Prachtsmonographie von 1990, die Pontis Œuvre in sechs den Geist der jeweiligen Dekade reflektierende Kapitel gliedert. Dieses Konzept wird in der Schau überzeugend umgesetzt mit inselartigen Präsentationen, die vielfältige Durchblicke und Bezüge erlauben. Auftakt machen die phantastischen, ab 1923 für Richard-Ginori kreierten Majoliken mit ihren antikisch-architektonischen Dekors, in welchen Pontis Welt bereits im Keime aufscheint. Ist sein erster Bau, ein 1926 an der Via Randaccio in Mailand errichtetes Wohnhaus, noch dem novecentesken Manierismus verpflichtet, so kündigt sich in den Mailänder Typenhäusern schon der Rationalismus an. Dieser wird 1936 im Montecatini-Bürohaus mit seiner flachen Fassadenhaut und dem leicht geschwungen in den Himmel schiessenden Mittelteil futuristisch aufgeladen, ohne dass dabei aber jene kubischen Formen preisgegeben werden, die den Schweizer Minimalismus eines Roger Diener vorwegzunehmen scheinen. In diesen Jahren entstehen ausserdem der Rasini-Wohnturm, der sich wie ein gebautes Bild von Carlo Carrà an der Porta Venezia erhebt, das surrealistisch-moderne Gebäude der Mathematischen Fakultät in Rom, der von Ponti mit magischen Fresken ausgemalte Palazzo Bo der Universität Padua und die enigmatischen Villen in Bordighera.
«La cornuta», die chromglänzende, für «La Pavoni» entwickelte Kaffeemaschine wird 1948 Pontis erster Beitrag an die neu erwachende Kultur des Dolce Vita im kriegsversehrten Mailand. Mit ihr beginnt auch Pontis Liebe zur Industrie: In enger Zusammenarbeit mit experimentierfreudigen Unternehmern entstehen Design-Ikonen wie der nur 1,7 Kilogramm schwere «Superleggera»-Stuhl für Cassina oder das Conca-Besteck für Krupp Italia, aber auch Lavabos, Fliesen, Stoffe oder die für Altamira in New York geschaffenen Wandmöbel. Pontis Arbeiterwohnblocks im Mailänder Harrar-Dessié-Quartier, die formal aus unserer Zeit stammen könnten, kündigten bereits 1950 den frivol-verspielten Modernismus der Wirtschaftswunderjahre an. Die von einem schwebenden Dach bekrönte Villa Planchart in Caracas erweist sich als ein bis hin zur letzten Konsole durchdachtes Kunstwerk, während das 1961 eingeweihte Pirelli-Hochhaus ein neues Italien symbolisiert und darüber hinaus zum gebauten Manifest der von Ponti in den vierziger Jahren entwickelten Theorie einer kristallinen Architektur wird. Diese verfeinerte er in den Kirchen von Mailand, im Kunstmuseum von Denver und mehr noch in der ganz aus dem Hexagon heraus gedachten Kathedrale von Taranto (1964-70), seinem letzten Meisterwerk, das wie kein anderer Bau Pontis Streben nach optischer und materieller Leichtigkeit vergegenwärtigt.
Auch wenn die Londoner Schau mit einem kristallinen Hochhausmodell schliesst, kommt die Architektur - obwohl sie immer der Kondensationskern in Pontis Schaffen war - visuell etwas zu kurz. Gleichwohl spürt man stets, dass Ponti vom Schmetterlingsstuhl bis zum Kraftwerk alles unter dem vielleicht etwas naiven, aber gerade deswegen für ihn so charakteristischen Motto «Amate l'architettura» gestaltete. Weil ihm Dekoration, Form und Design wichtiger waren als der Raum und weil er sich nie zu einer streng modernistischen Haltung durchringen wollte, blieb sein widerspruchsvolles, zwischen Klassizismus und Moderne, zwischen Kunst und Architektur, zwischen Handwerk und Industrie changierendes Schaffen in Fachkreisen bis heute umstritten - ausgenommen die zusammen mit Pier Luigi Nervi errichtete Torre Pirelli. Nicht nur die Londoner Schau belehrt nun die Kritiker eines Besseren. Auch die Ausstrahlung von Pontis Werk in die heutige Zeit bestätigt dessen ungebrochene Aktualität. Ponti war gleichermassen ein Wegbereiter von Memphis und Postmoderne wie des architektonischen Pluralismus unserer Zeit. Die kristalline Hülle des neuen Basler Fussballstadions, die «tätowierte» Haut der Bibliothek von Eberswalde oder die mit der Villa Planchart verwandte Kramlich-Residenz beweisen, wie stark sich Pontis Sprache selbst auf Vordenker wie Herzog & de Meuron auswirkt.
[Bis 6. Oktober im Design Museum London. Katalog: Gio Ponti. A World. Hrsg. Marco Romanelli und Design Museum London. Abitare Segesta, Mailand 2002. 156 S., £ 15.95.]
Mediterrane Moderne
Zum 100. Geburtstag des Architekten Josep Lluís Sert
Ins Rampenlicht der Architektur trat Josep Lluís Sert (1902-83) erstmals mit dem legendären Pavillon, den er zusammen mit Luis Lacasa mitten im Bürgerkrieg für die spanische Republik auf der Weltausstellung von 1937 in Paris schuf. Dieser transparente Bau verkörperte in seiner auf raffinierte Weise den Aussen- mit dem Innenraum verschmelzenden architektonischen Erscheinung, aber auch mit den darin ausgestellten Kunstwerken - darunter Ikonen wie Picassos «Guernica» und González' «Montserrat» - den Moderneanspruch des neuen Spaniens.
Obwohl der jung verstorbene José María Aizpurúa 1929 mit dem Segelklub in San Sebastián das erste iberische Meisterwerk des neuen Bauens verwirklichte, war es Sert vergönnt, zum bedeutendsten internationalen Repräsentanten der modernen Architektur seines Landes aufzusteigen. Als Sohn eines geadelten Textilindustriellen am 1. Juli 1902 in Barcelona geboren (so will es die Inschrift auf seinem Grab in Ibiza, auch wenn ihn einige Forscher gerne ein Jahr älter sehen möchten), arbeitete Sert nach dem Architekturstudium 1929 bei Le Corbusier in Paris, um sich nach seiner Rückkehr in die Heimat für ein architektonisch fortschrittliches Katalonien stark zu machen. Der weltgewandte Kommunistenfreund engagierte sich für die urbanistischen Projekte der Republik und beteiligte sich zusammen mit Architekten der von ihm mitbegründeten Gatcpac- Gruppe am streng funktionalistischen Plan Macià für Barcelona und am Bau eines grossen, mäanderförmigen Arbeiterwohnblocks, der Casa Bloc. Sein barcelonesisches Meisterwerk aber wurde die 1931 errichtete Casa Muntaner, in der sich die Erkenntnisse Le Corbusiers mit den Ideen der italienischen Rationalisten verbanden.
Nach dem Sieg Francos emigrierte Sert in die USA, wo er als CIAM-Mitglied schnell zu einem wichtigen Vordenker auf dem Gebiet des Städtebaus wurde. Unter dem Titel «Can our Cities Survive?» publizierte er 1943 seine urbanistischen Analysen und entwickelte gleichzeitig die theoretischen Grundlagen einer neuen Architektur für die lateinische Welt. Zusammen mit seinem aus Deutschland emigrierten Partner Paul Lester Wiener entwarf er Neustädte wie die Cidade dos Motores in Brasilien und Chimbote in Peru sowie Quartierpläne für Bogotá und Havanna, in denen er unter Einbezug der lokalen Baukultur die funktionalistischen Aspekte stark modifizierte. 1953 wurde er als Nachfolger von Walter Gropius Dekan der Graduate School of Design der Harvard University in Cambridge (Massachusetts), die er bis 1969 leitete. Hier entstanden auch seine wichtigsten amerikanischen Bauten, darunter das eigene Patiohaus, das Peabody-Studentenhochhaus, das Holyoke und das Science Center.
Der an grosse Planungen gewöhnte Urbanist hatte aber auch eine poetische Seite, die er in dem 1957 vollendeten Atelierhaus seines Freundes Joan Miró in Cala Major bei Palma de Mallorca, einer der heitersten Miniaturen der Nachkriegsmoderne, ausleben konnte. In diesem Manifest einer humanen Baukunst vermählte sich der Geist der Moderne mit dem mediterranen Erbe. Diese Rückbesinnung auf die Wurzeln der Mittelmeerkultur, mit der er und Josep Torres Clavé sich bereits 1935 in den weissen, auf Bruchsteinsockeln ruhenden Ferienhäuschen in Garraf beschäftigt hatten, führte ihn städtebaulich zur malerisch inszenierten Touristensiedlung Punta Martinet auf Ibiza und architektonisch zum Museum der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence (1959-64), das zusammen mit dem Miró-Atelier zum Vorbild vieler privater Musentempel vom Kimbell Art Museum in Fort Worth bis hin zur Fondation Beyeler in Riehen wurde. Einen krönenden Abschluss fand sein Anliegen, Kunst und Architektur wieder zu vereinen, im Gebäudekomplex der Fundació Miró in Barcelona, auch wenn hier, dem grossstädtischen Kontext entsprechend, die Poesie einer gewissen Härte des Ausdrucks weichen musste. Bis heute vermögen Serts Bauten für die Kunst ebenso zu faszinieren wie seine späten, stark von Ibizas Architektur beeinflussten urbanistischen Lösungen.
Ein weisser Gaudí
Calatravas schillerndes Meisterwerk in Valencia
Der 1951 in Valencia geborene Santiago Calatrava begeistert seit langem sein Publikum mit bildhaft-organischen Bauwerken, die nun in Valencia einen ganzen Kulturbezirk bilden. Erklären lässt sich diese Ingenieurbaukunst nicht zuletzt aus der Denkweise seines Landsmanns Antoni Gaudí, der heute seinen 150. Geburtstag feiern könnte.
Drei gigantische Mammutbäume bilden den effektvollen Hintergrund von Santiago Calatravas Haus - einer neobarocken Villa beim Zürichsee. In deren Garten findet man unter anderem eine Skulptur des Künstlerarchitekten, die an das ondulierende Dach von Antoni Gaudís Schule neben der Sagrada Familia erinnert. Doch nicht in diesem suggestiven Park, sondern im Säulenwald der Krypta von Gaudís barcelonesischem Gotteshaus erklärte Calatrava unlängst in einem Film der BBC sein Schaffen. Damit bekannte er sich ebenso zu Gaudí, der heute vor 150 Jahren in Reus bei Tarragona geboren wurde, wie zur architektonischen Transformation natürlicher Vorbilder. Krypta und Garten, Barcelona und Zürich offenbaren aber auch die Quellen von Calatravas Denken und Entwerfen, das zwischen dem überbordenden Formenreichtum der katalanischen Welt und der nüchtern-rationalen Baukunst seiner Wahlheimat schwankt. Die Natur als grosse Lehrmeisterin führte ihn zu einer organischen Sprache und zu ähnlich gewagten konstruktiven Lösungen, wie sie einst Gaudí ganz empirisch am Schnurmodell erforscht hatte. Zugleich steht Calatrava in der Tradition seiner Landsleute Félix Candela, Eduardo Torroja, Josep Antoni Coderch und Enric Miralles, von denen jeder auf seine Weise Gaudís Erbe analysierte und weiterdachte.
Nach dem Besuch von Kunstakademie und Architekturfakultät in Valencia absolvierte der intellektuelle Asket mit Sinn für das Überreizte in Zürich das Studium des Bauingenieurs, um in der Vereinigung von Maillart und Gaudí seine künstlerischen Visionen architektonisch umzusetzen. Schon bei Calatravas ersten Raumgestaltungen handelte es sich um zuvor nie Gesehenes: Erinnerten doch die Miniatur des Taburettli-Theaters in Basel oder die geistreichen Dachkonstruktionen der Kantonsschule Wohlen an Knochengerüste und urweltliche Wesen. Ihnen folgte die Vorhalle des neuen Luzerner Bahnhofs, die erstmals jene Gaudí'sche Dualität von Kathedrale und Höhle beschwor, die sich dann im Bahnhof Zürich Stadelhofen zur unerhörten Symbiose von Ingenieurskunst und Architecture parlante steigerte. Verweist das von Glyzinienkaskaden umspielte Stützsystem der Hohen Promenade noch auf Gaudís phantastische Substruktionen im Park Güell, so sind die federförmigen Perrondächer, die zungenartigen Brücken oder die phallischen «Wandreliefs» ebenso genuine Erfindungen wie die Schlünde, die hinunterführen in die dunklen Betongewölbe der unterirdischen Halle, in der man sich wie im Keller des Palau Güell oder mehr noch wie Jonas im Bauch des Wals fühlt.
Der Ingenieur als Künstlerarchitekt
Was seither folgte, vermochte zwar in seiner Eloquenz zu faszinieren, erreichte aber - abgesehen von den Hochseilakten der Brückenbauten - in Geschlossenheit und Bildkraft das Zürcher Meisterwerk kaum mehr. Zwar gefällt sich das wie ein Roche ausgreifende Dach des Flughafengebäudes von Bilbao noch als artistisch verstiegene Nachgeburt des Saurierrückens von Gaudís Casa Batlló, doch schon der neue Oriente-Bahnhof in Lissabon veranschaulicht Calatravas Schritt vom phantastischen hin zum rationalistischen Gaudí, der seinen Ausdruck findet in weissen Parabolkonstruktionen, wie sie Gaudí früh schon im Kolleg der Theresianerinnen erprobt hatte.
Spätestens seit Calatrava 1991 mit makabrem Witz die New Yorker Kathedrale St. John the Devine als ausgebleichtes Skelett erweitern wollte und damit wohl die verblüffendste Antwort auf Gaudís unvollendeten Tempel in Barcelona gab, stossen seine Bauten auf heftigen Widerspruch. Doch müssen selbst die schärfsten Kritiker zugeben, dass sich in Valencia die weissen Knochengebilde von New York und die klaren Parabolbögen von Lissabon zu einem neuen Höhepunkt verschmelzen: der Ciutat de les Arts i les Ciències, in der sich pralle Reife und süssliche Exzentrik zur Quintessenz von Calatravas Baukunst zusammenfinden. Von den vier Grossbauten, die sich östlich des Stadtzentrums aus dem 1957 trockengelegten Flussbett des Túria erheben, beherrscht das Wissenschaftsmuseum allein schon durch seine schiere Grösse die Anlage. Dieses expressive Zwitterwesen - halb Kristallpalast und halb Sagrada Familia - scheint in einem See zu schwimmen, der mit Trencadís genannten Keramikmosaiken ausgekleidet ist.
Das Museu de les Ciències besteht aus einer biomorphen Struktur, in der sich Gaudís noch gotisch inspirierte Konstruktionsweise zu einem homogenen, wie aus einem Guss geformten weissen Betonskelett verdichtet. Dem Rhythmus dieses Hallenbaus antwortet ein parabelförmig konzipiertes Palmenhaus. Von dessen Esplanade blickt man hinunter auf das surreal angehauchte Auge des sich ebenfalls in einem Pool spiegelnden Planetariums und hinüber zum noch nicht vollendeten Palau de les Arts, dessen an einen Velohelm erinnernde, weit auskragende Aussenform nur dank der Kombination von Beton und Stahl möglich wurde. Hier lässt sich - anders als bei der offenen Palmenhalle - die Baustruktur nicht mehr logisch nachvollziehen, und die ingenieurtechnische Rhetorik droht sich in einer exaltierten Geste zu verlieren.
Valencia und Zürich
Kehrte Calatrava bereits mit der Alameda-Brücke und der weissen Unterwelt der gleichnamigen U-Bahn-Station in seine Heimatstadt zurück, um nun mit der Kunst- und Wissenschaftsstadt seinen bisher grössten Triumph zu feiern, so blieb es hierzulande lange still um ihn. Ausser einer Reihenhaussiedlung in Würenlingen, die durch ihren anthroposophischen Kubismus überrascht, konnte der weltweit tätige Künstlerarchitekt zunächst nur noch in St. Gallen bauen, das dem ETH-Puritanismus weniger ausgesetzt ist: nämlich die elegante Wartehalle am Bohl sowie die von einem kinetischen Dach überwölbte Polizeiwache im Klosterbezirk. Eine zurzeit im Bau befindliche Hofüberdachung des Sitzes der juristischen Fakultät beweist nun aber, dass auch Zürich, wo Calatrava zudem der Auftrag zur Erweiterung des Opernhauses nur knapp entging, wieder zaghaftes Interesse an Calatrava bekundet. Hier beweist er einmal mehr, wie sehr sich in seinem Schaffen Künstler, Designer, Architekt und Ingenieur gegenseitig bedingen. Auch darin ist er Gaudí verwandt. Dennoch will sich Calatrava nicht als Testamentsvollstrecker von dessen Erbe sehen. Zu Recht, denn das formale und strukturelle Weiterdenken von Gaudís Baukunst ist - wie Valencia beweist - neben der technischen Beredsamkeit und der künstlerischen Gratwanderung nur ein, wenn auch ein gewichtiger Aspekt von Calatravas schillerndem Œuvre.
Sublime Einfachheit
John Soane und die Schweizer Holzbrücken in Mendrisio
Nicht erst Le Corbusier und andere Meister des 20. Jahrhunderts liessen sich vom Ingenieurbau inspirieren. Schon die Architekten der Frühmoderne interessierten sich für klare Formen und neue Konstruktionsweisen, und diese fanden sie vor allem bei technischen Bauten. In diesem Kontext erkannte John Soane früh schon die Bedeutung des Brückenbaus. Auf seiner Grand Tour nach Italien studierte er deshalb Jean-Rodolphe Perronets Pont de Neuilly in Paris sowie die Holzbrücken von Palladio und die von diesem in den «Quattro Libri» behandelte Brücke, die Cäsar für seine Legionen über den Rhein schlagen liess. In Rom wurde Soane dann wohl von Frederick Hervey, dem Bischof von Derry, auf die einem strengen Rationalismus verpflichteten Schweizer Holzbrücken aufmerksam gemacht, die er Ende Mai 1780 auf der Rückreise nach London vor Ort studierte. Soanes Aufmerksamkeit galt vor allem den drei kühnen Brücken, die die Brüder Johannes und Hans Ulrich Grubenmann aus Teufen zwischen 1756 und 1766 in Reichenau, Wettingen und Schaffhausen realisiert hatten. Sie waren für ihn der Ausdruck einer «sublimen Einfachheit» und nahmen später in seinen Vorlesungen an der Royal Academy eine zentrale Stelle ein, da sie «vom konstruktiven Gesichtspunkt her wirklich einzigartig sind». Obwohl die in verschiedenen Stichwerken über die Schweiz verewigten Grubenmann-Brücken den kriegerischen Ereignissen von 1799 zum Opfer fielen, blieb ihr Einfluss über Lehre und Fachliteratur in England und Frankreich so gross, dass sie entscheidende Auswirkungen auf den Eisenbrückenbau im 19. Jahrhundert hatten und eine Schweizer Brückenbautradition begründeten, die von Maillart über Ammann, Menn und Calatrava bis hin zu Jürg Conzett führt.
Der Initiative Letizia Tedeschis vom Tessiner Archivio del Moderno und Margaret Richardsons vom John Soane's Museum in London ist es zu verdanken, dass in einer kleinen, aber vorzüglichen Ausstellung in Mendrisio, die von Mario Botta eingerichtet wurde, Zeugnisse der Beschäftigung von Soane und seinen Zeitgenossen mit den Grubenmann-Brücken in kostbaren Originalen aus Bern, London, Padua, Vicenza und Zürich zu sehen sind - darunter Soanes in der Schweiz gefertigte Skizzen (die einzigen, die von seiner Grand Tour erhalten geblieben sind), die prachtvollen aquarellierten Schautafeln zur Rheinbrücke Cäsars und zu verschiedenen Schweizer Holzkonstruktionen aus Soanes Vorlesungen, aber auch eindrückliche Modelle der Grubenmann-Brücken. Wissenschaftlich untermauert wird die Schau durch den von Angelo Maggi und Nicola Navone herausgegebenen Katalog, der einen gültigen Einblick gibt in ein sonst eher wenig beachtetes architekturgeschichtliches Kapitel des Klassizismus und in die technologische Kultur des späten 18. Jahrhunderts.
[Bis zum 30. Juni im Archivio del Moderno in Mendrisio, anschliessend in Vicenza, London und Basel. Katalog: John Soane e i ponti di legno svizzeri. Architettura e cultura tecnica da Palladio ai Grubenmann. Hrsg. Angelo Maggi und Nicola Navone. Archivio del Moderno, Mendrisio 2002. 223 S., Fr. 50.-.]
Die Stadt als gebaute Landschaft
Sauerbruch & Hutton im Lausanner Forum d'architectures
Anders als seine kleinen Nachbarn - Holland, Österreich und die Schweiz - und anders auch als Frankreich kann Deutschland nur selten mit bedeutender zeitgenössischer Architektur aufwarten. Selbst im bauwütigen Berlin, wo man in Ermangelung heimischer Stars auf Hilfe aus dem Ausland setzte, erstarrte das Gebaute, sieht man von Libeskinds Jüdischem Museum ab, im allzu engen Korsett von Steinfassaden und Traufhöhe. Wären nur die internationalen Meister an der Spree gescheitert, so könnte man leicht darüber hinwegsehen. Schwerer wiegt indes, dass sie zusammen mit einigen in Berlin ansässigen Vielbauern dem Nachwuchs Licht und Luft zum Atmen nahmen. So sind heute jüngere Talente nur mit Mühe auszumachen, da ihnen kaum mehr als bauliche Miniaturen zugestanden werden. Doch gibt es einen Bau, der mit seiner rot glühenden Glasfassade hoch in den Himmel über Kreuzberg ragt und demonstriert, dass es hier trotz allem noch Architekten gibt. Es handelt sich dabei um das GSW-Hochhaus an der Kochstrasse von Sauerbruch & Hutton, dem wohl begabtesten Team der mittleren Generation in Deutschland.
Mit seinen farbigen Fassaden beherrscht der zeichenhafte Bau nicht nur die Berliner Stadtlandschaft. Er zog auch in der ersten Werkschau von Sauerbruch & Hutton, die vor zwei Jahren in der Londoner Architectural Association stattfand, die Aufmerksamkeit auf sich. Inzwischen sind neue Projekte dazugekommen und einige Entwürfe vollendet worden, die damals erst im Bau waren: etwa die rosafarbene Welle der «Experimentellen Fabrik» auf dem Campus der Universität Magdeburg, die zwischen klassischer Strenge und beschwingter Heiterkeit oszillierenden Räume des British Council in Berlin oder das Hauptquartier von BBC Scotland in Glasgow. Deshalb entschlossen sich die Architekten, die etwas kryptisch «WYSIWYG +» (what you see is what you get) genannte und elf Projekte umfassende Londoner Schau anlässlich der Ausstellung im Forum d'architectures in Lausanne um die mit einem Pluszeichen im Titel angedeuteten «travaux en cours» zu erweitern.
Unter einer als neokonkretes Riesenbild aus grünen Farbtafeln gestalteten Decke - ein Verweis auf die «Pillbox» des GSW-Hochhauses - sind die Wände der beiden Ausstellungsräume mit Plänen, Zeichnungen und Fotos im Format A4 tapeziert. Sie vermitteln ebenso wie die unpraktischen, tischartigen Installationen zur Betrachtung stereometrischer Ansichten, welche wohl die eher konventionelle und gerade deswegen so erfrischende Präsentation aufpeppen sollen, einen Eindruck vom Schaffen des 1955 in Konstanz geborenen Matthias Sauerbruch und seiner drei Jahre jüngeren Partnerin Louisa Hutton. Nach dem Studium an der AA sowie Lehrjahren bei Peter und Alison Smithson und bei OMA, wo sie sich mit den Theorien des grossstädtischen Chaos und der urbanen Landschaft, dem kontextuellen Bauen und der architektonischen Verdichtung vertraut machten, eröffneten sie 1989 in London ihr gemeinsames Büro. Dort entstanden die ersten Hausumbauten, bei denen die Wechselwirkung von Raum, Licht und Farbe oder das Erzeugen von Stimmungen erkundet wurden. Nach der Übersiedlung nach Berlin, das mehr Aufträge zu versprechen schien, gelang ihnen der Durchbruch mit dem 1998 vollendeten Photonikzentrum in Adlershof. Das amöbenförmige Doppelhaus mit seinen farbigen, entfernt an Le Corbusiers Zürcher Pavillon erinnernden Fassaden schafft angenehm dynamische Aussenräume und stellt sich in den Dienst ökologischer Nachhaltigkeit. Diese zukunftsweisenden Aspekte werden im GSW-Hochhaus wieder aufgenommen. Nicht weniger wichtig ist hier aber auch der Dialog mit der Stadt, der Bezug zur optimistischen Berliner Bautradition der fünfziger Jahre und die Auseinandersetzung mit dem Genius loci.
Die Stadt als architektonische Landschaft spielt auch in den neusten Projekten, die dank einer Videoinstallation in der Schau zugegen sind, eine wichtige Rolle. Während in dem vor zwei Jahren preisgekrönten Wettbewerbsprojekt «TV World» für einen Vergnügungspark mit Fernsehstudios, Sportanlagen und Hotel in Hamburg Themen wie das Organische und die «Urban Landscape» weiter perfektioniert wurden, kommt in dem vor wenigen Monaten gekürten Entwurf für ein neues Museum of Contemporary Art in Sydney eine einfachere, fast schon rationalistische Form zum Tragen. Das kubische, nachts wie eine Lichtskulptur leuchtende Äussere, dem ein fliessender Innenraum antworten wird, ist letztlich wohl die Antithese zur Vielfalt baulicher Erscheinungen am Sydney Harbour und zum ikonenhaften Opernhaus. Noch ist nicht sicher, ob die beiden ehrgeizigen Visionen auch realisiert werden. Gewiss ist aber, dass in den kommenden beiden Jahren die Erweiterung einer Polizei- und Feuerwehrstation in Berlin und das schlaufenförmige, von einer gläsernen Faltwerk-Dachlandschaft überformte Umweltbundesamt in Dessau vollendet sein werden. Die Lausanner Ausstellung bietet nun einen Überblick über das Gesamtwerk dieses bedeutenden Architekturbüros, in dem sich - klischeehaft ausgedrückt - alemannisches Qualitätsbewusstsein mit englischer Empirie zu innovativen Werken verdichtet.
[ Bis 7. Juli. Begleitpublikation: WYSIWYG. Sauerbruch Hutton Architects. Hrsg. Mohsen Mostafavi. Architectural Association, London 1999. 175 S., Fr. 62.-. ]
Zwischen Poesie und Rationalismus
Ausstellung Rafael Moneo in Palma de Mallorca
Mit Meisterwerken wie dem Museum für altrömische Kunst in Mérida und dem «Centro Kursaal» in San Sebastián hat sich der 1937 im spanischen Tudela geborene Rafael Moneo unter die grossen Architekten unserer Zeit eingereiht. Nun beleuchtet eine Doppelausstellung in Palma de Mallorca Moneos Schaffen der letzten zehn Jahre.
Zeitgenössische Bauwerke, die einen in Begeisterung versetzen, sind selten. Doch Spanien besitzt gleich mehrere davon. Neben Sizas Museum in Santiago de Compostela und Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao sind das Museum für altrömische Kunst in Mérida, das neue Rathaus von Murcia oder das «Centro Kursaal» in San Sebastián zu nennen: drei grundverschiedene Gebäude, die nichts verbindet - ausser der Name des Architekten. Sie beweisen, dass der in Tudela (Navarra) geborene Rafael Moneo, der in diesen Tagen seinen 65. Geburtstag feiern kann, wenig von Markenzeichen hält. Statt sich formalen Obsessionen hinzugeben, geht er in seinem Schaffen aus von Ort, Programm und der damit verbundenen materiellen Umsetzung der Bauaufgabe. So entstehen Werke, die immer wieder neu und anders wirken und deren Magie aus einem komplexen Dualismus von monumentalen und intimen, von mediterranen und nordischen, von rationalen und poetischen Aspekten resultiert.
Moneo, der 1996 mit dem Pritzker-Preis und vor einem Jahr für den Kursaal mit dem Mies- van-der-Rohe-Preis der EU geehrt wurde, zählt zu den überragenden Architekten unserer Zeit. Gleichwohl ist sein heterogenes Œuvre vielen kaum bekannt. Das hängt einerseits damit zusammen, dass er hauptsächlich in seiner Heimat Spanien tätig ist. Ausnahmen bilden Museen in den USA und in Stockholm, ein eher gesichtsloses Hotel am Potsdamer Platz in Berlin, Baustellen in Den Haag, Leuwen und Beirut sowie einige Spitzenplätze bei internationalen Wettbewerben wie jenem für das KKL in Luzern. Anderseits hat Moneo sich auch nie um die publizistische Vermarktung seiner Architektur bemüht. Während andere Baukünstler mit mehrbändigen Werkkatalogen auftrumpfen, gab er sich bis anhin mit einigen monographischen Schriften und dem Katalog der 1993 von der Kunstakademie Wien organisierten und danach in Basel gezeigten Moneo- Retrospektive zufrieden.
Das Miró-Museum als Schlüsselwerk
Nun findet nach fast zehn Jahren wieder eine grosse, von einem schönen Katalog begleitete Moneo-Schau statt. Gleichsam als Fortsetzung der Wiener Übersicht, die das Gesamtwerk vom Bankinter-Gebäude (1976) bis zum Thyssen- Museum (1993) präsentierte, widmet sich die von der Fundació Miró und dem Collegi Oficial d'Arquitectes de les Illes Balears (COAIB) in Palma de Mallorca organisierte Doppelausstellung den neusten Arbeiten des Meisters. Die im Strandviertel Cala Major gelegene Fundació Miró macht den Auftakt und stellt mit dem sternförmigen Sanktuarium für Mirós Bilderwelt das vielleicht irritierendste Werk von Moneo im Original zur Diskussion. Wenn die Ausstellungssäle dieses Museums auch schwierig zu bespielen sind, so faszinieren sie doch durch das Licht, den Raumfluss und den Wechsel von Wand und Öffnung. Diese durch schimmernde Alabasterwände ins Sakrale überhöhte Welt klingt weiter in Moneos jüngstem Werk, der neuen Kathedrale von Los Angeles, die am 21. September eingeweiht werden soll. Es ist daher nur konsequent, dass die beiden Arbeiten im Miró-Museum selbst mittels Zeichnungen, Plänen, Modellen und grossformatigen Photographien einander gegenübergestellt werden. In dieser Museumsarchitektur sind aber auch andere Werke von Moneo bereits im Keim vorhanden. So erscheinen die pultförmigen Oberlichter auf der «Dachlagune» des Hauses wie Miniaturen des dekonstruktivistisch angehauchten, aus zwei eisblauen Glaskuben bestehenden Kursaals am Golf von Biskaya.
Vom Kursaal zur Kathedrale
Der Kursaal, das ebenso unterkühlte wie zukunftsweisende Gegenstück zum antikisch inspirierten Museum in Mérida, steht denn auch im Zentrum der zweiten Hälfte der Ausstellung. Sie wurde in den musealen Sälen des unweit der Kathedrale über der meerseitigen Befestigung von Palma gelegenen Palastes des COAIB eingerichtet und stellt acht weitere Schlüsselwerke des Meisters (vom Auditorium in Barcelona über die Bauten in Murcia und Stockholm bis hin zum Chivite-Weingut in Navarra) vor. Als «Edificio talismán», als zeichenhafte, dem Opernhaus in Sydney von Moneos Lehrmeister Jørn Utzon verwandte Architektur gehört der Kursaal zusammen mit dem sich wie ein Felsenriff aus der Stadtlandschaft von Barcelona erhebenden Diagonal-Gebäude zu jenen Bauten, deren Form aus dem geologischen Erscheinungsbild der Landschaft abgeleitet ist. Beim neuen Rathaus von Murcia, das sich an der barocken Plaza del Cardenal Belluga erhebt, war es hingegen (ähnlich wie beim Moderna Museet in Stockholm) die Zwiesprache mit dem gebauten Kontext, die zu einer sich harmonisch integrierenden und dennoch völlig zeitgenössischen Lösung führte. Eine solche Vollendung erreicht das schneeweisse Kulturzentrum von Don Benito in der Extremadura, das sich im Herzen der Stadt wie ein Fremdkörper ausnimmt, bei weitem nicht. Doch das Scheitern auf hohem Niveau und der grosse Wurf liegen im Werk von Moneo seit der «Flughafen-Moschee» von Sevilla nahe beieinander. In welche Richtung das Pendel ausschlagen wird, ist daher auch bei seinem zurzeit wichtigsten Projekt, der Erweiterung des Prado in Madrid, noch völlig offen. Die schwierige Genese dieses umstrittenen Bauvorhabens, das Moneo immer wieder «quebraderos de cabeza», Kopfzerbrechen, verursacht hat, wird im letzten Ausstellungsraum ausführlich dargelegt.
Anders als der neue Prado, dem der Kreuzgang des Jerónimos-Klosters einverleibt werden soll, steht die Kathedrale von Los Angeles auf einem leer gefegten Geviert. Hier, zwischen den Wolkenkratzern und dem Music Center von L. A. musste Moneo den Ort ähnlich neu erfinden wie in der Einsamkeit des Chivite-Weinguts. Entstanden ist ein Gotteshaus, das nicht nur die steinerne Antithese zu Philip Johnsons Crystal Cathedral im nahen Garden Grove darstellt, sondern mit seinem an Ronchamp gemahnenden Campanile, dem kubisch verschachtelten Baukörper und der geschuppten Steinfassade ein städtebauliches Zeichen am 10-spurigen Hollywood Freeway setzt. Als Hofrandbebauung mit Nebengebäuden, zentraler Plaza (und in den Untergrund verbannten Parkplätzen) inszeniert, atmet dieser Sakralbau aber auch den Geist des Spanish Mission Style und erinnert so an den lateinischen Ursprung der kalifornischen Metropole.
[ Die Ausstellung im COAIB (Carrer Portella 14) dauert bis 31. Mai, jene in der Fundació Miró in Cala Major bis 16. Juni. Katalog: Rafael Moneo. De la Fundació a la Catedral de L. A. (spanisch/englisch). Fundació Miró, Palma de Mallorca 2002 (ISBN 84-95267-86-1). 142 S., Euro 18.-. ]
Bauen ohne Nostalgie
Widersprüchliche Entwicklungen am Lago Maggiore
Einst zählte Brissago zu den schönsten Orten am Lago Maggiore. Doch urbanistische und architektonische Eingriffe, die in den fünfziger Jahren ihren Ausgang nahmen, beeinträchtigten das Bild des Städtchens stark. Wegweisende Neubauten von Cavadini, Snozzi und Vacchini brachten höchstens eine partielle Verbesserung der Situation.
Die Zeiten, da das Tessin in Architektenkreisen für Aufregung sorgte, sind vorbei. Nur mehr selten finden Bauten aus der Südschweiz den Weg in deutschsprachige Fachzeitschriften - wie jüngst Bottas umstrittener neuer Busbahnhof in Lugano. Sonst aber scheint sich höchstens noch die lateinische Welt - und dort vorab das architektonisch ausgezehrte Italien - für die Tessiner Baukunst zu interessieren. Während es um Altmeister Luigi Snozzi, der im Sommer seinen 70. Geburtstag feiern kann, eher still geworden ist, sorgt nun der nur ein Jahr jüngere Livio Vacchini für Aufsehen und weiss (etwa mit seinem Postgebäude in Locarno) mehr zu provozieren als die Jungen, die im Tessin gegenwärtig einen schweren Stand haben. Bedeutende Wettbewerbe für öffentliche Bauten sind nämlich selten geworden, sieht man von der Università della Svizzera Italiana (USI) in Lugano ab, wo vielversprechende Nachwuchsarchitekten ihre Gebäude vor kurzem übergeben konnten: Giraudi & Wettstein das Laborgebäude, die Brüder Tognola die Bibliothek, Lorenzo Martini den Hörsaaltrakt und Michele Christen die Theologische Fakultät. Dennoch hat sich im Dunstkreis von Architektur und Städtebau in den vergangenen Jahren einiges bewegt. Raffaele Cavadini gelang es - angeregt durch Snozzis legendäre urbanistische Umgestaltung von Monte Carasso -, den Dorfkern von Iragna mit gezielten Interventionen zu klären; und in Lugano wurde nicht nur mit dem erwähnten, städtebaulich von Aurelio Galfetti konzipierten, Alt und Neu vereinenden USI-Campus eine höchst urbane Anlage geschaffen. Es wurden auch Wettbewerbe für eine Neugestaltung der Aussenräume rund um das Rathaus und für die Renovation und Erweiterung des «Palace» durchgeführt, der nun ein weiterer für den Campo Marzio folgen könnte.
Vom «buon gusto» zur «ignoranza»
Kein Ort aber veranschaulicht die wechselhafte Tessiner Bauentwicklung so deutlich wie Brissago, wo bedeutende historische Bauten daran erinnern, dass der alte Borgo einst einer der prächtigsten am Lago Maggiore war. Umgeben von bezaubernder Natur, präsentiere er «l'aspetto di una cittadina assai civile», hielt Francesco Chiesa noch 1936 im Sopraceneri-Band der «Casa Borghese nella Svizzera» fest und fuhr fort, dass zahlreiche Bauten aus den vergangenen Jahrhunderten vom «buon gusto», dem guten Geschmack der Bevölkerung, zeugten. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Städtchen auf Grund des Immobilienbooms Opfer seiner pittoresken Schönheit. Jahrzehnte des baulichen Wildwuchses verunstalteten sein Weichbild, in welchem sich heute die baulichen Widersprüche spiegeln: Zerstörungen und kontroverse Restaurierungen, Zersiedelung und urbanistische Reorganisation, Bausünden und architektonische Meisterwerke begegnen sich hier auf engstem Raum.
Die Fehlentscheide nahmen in den fünfziger Jahren im Borgo ihren Ausgang mit der Verbreiterung der vom oleandergesäumten Muro degli Ottevi dominierten Dorfstrasse. Auf deren Südseite entstanden - gleichsam als Antithese zu den Palazzi auf dem Muro - anstelle kleiner Häuser nüchterne fünfstöckige Bauten, die nicht nur das Zentrum seines Charmes beraubten, sondern auch das städtebauliche Gleichgewicht ins Wanken brachten. Die Inschrift «L'ignoranza è la fonte di ogni male» - die Unwissenheit ist der Quell allen Übels - an einem der alten Häuser auf dem Muro degli Ottevi bringt das Problem von Brissago auf den Punkt: Ignoranz und Bauernschläue hatten aber nicht nur zur Folge, dass entlang der durch das Dorf gebrochenen Via Leoncavallo ein bauliches Chaos entstand. Sie führten auch dazu, dass man den 1970 von der Gemeinde erworbenen barocken Palazzo Branca ebenso zerfallen liess wie das einst von Europas Adel und Neureichen frequentierte Grand-Hotel, das neben der Tabakfabrik wichtigste Symbol einer frühen wirtschaftlichen Prosperität. Während aber der Barockpalast schliesslich doch noch gerettet werden konnte, opferte man das kulturgeschichtlich bedeutende Hotel der Spitzhacke.
Damit teilte das Luxushotel das Schicksal jener Gründerzeitvilla, in welcher der neapolitanische Opernkomponist Ruggero Leoncavallo sein Refugium gefunden hatte. Dass sie schon vor geraumer Zeit einem banalen Wohnblock weichen musste, hängt mit dem Immobiliendruck zusammen, der auf den Sonnenhängen zwischen den hoch gelegenen Weilern und dem Städtchen am See bis heute lastet und der zu jener «verheerenden Zersiedelung» führte, die Bernhard Anderes bereits 1975 im Kunstführer des Kantons Tessin beklagt hatte. Längst präsentieren sich die einst landwirtschaftlich genutzten Hänge als eine Halde von Villen, Terrassenhäusern und Wohnblocks, deren Anblick einzig durch das üppige Grün der Gärten gemildert wird. Aber man findet auch Neubauten von hoher Qualität: etwa ein minimalistisches, auf Stelzen ins abschüssige Gelände gestelltes Haus von Cavadini, eine Villa von Galfetti und seit gut einem Jahr ein bauliches Juwel von Michele Arnaboldi: eine Doppelvilla an der Costa di Mezzo in Incella, die sich modernistisch gibt, aber dennoch mit ihren Granitmauern, Innenhöfen und Erschliessungswegen die zentralen Elemente der alten Dorfstrukturen übernimmt und somit darauf verzichtet, im Geiste der «Tendenza» den Ort zu bauen, was ja die Verhäuselung letztlich nur forcierte.
Die markanteste Intervention an den Hängen über Brissago aber war zweifellos die von Cavadini 1998 anstelle eines alten Oratoriums realisierte kleine Kirche von Porta: ein an Sol LeWitt erinnernder Kubus aus Beton und Granit (NZZ 3. 4. 98). Das aus einer ebenso unsentimentalen wie radikalen Haltung heraus entstandene Gotteshaus fügt sich erstaunlich gut in die Gassen von Porta und öffnet sich zugleich mit seinem Aussichtsbalkon auf die grandiose Weite des Lago Maggiore. Ermöglicht wurde dieses wichtige Gebäude nicht zuletzt durch Don Annibale Berla, den langjährigen Pfarrer von Brissago, der schon vor Jahrzehnten mit der puristischen Renovation der beiden kunsthistorisch bedeutenden Sakralbauten von Giovanni und Pietro Beretta für Kontroversen sorgte. Es handelt sich dabei um die von Peppo Brivio zwischen 1953 und 1958 auf ihr hypothetisches Aussehen von 1528 zurückgeführte Madonna di Ponte, ein Hauptwerk der lombardischen Renaissance, und die Pfarrkirche, die von Luigi Snozzi 1963 restauriert wurde. Wenn Anderes 1975 vor allem die Madonna di Ponte als «in übelster Weise purifiziert» empfand, so bezeichnete die italienische Architekturzeitschrift «Abitare» ein Dutzend Jahre später die Eingriffe als «due operazioni di restauro d'avanguardia».
Es waren aber nicht diese Renovationen, sondern die unkontrollierten baulichen Veränderungen, die zur Erkenntnis führten, dass in Brissago etwas schiefgelaufen war. Bereits 1982 hatte Piero Bianconi in «Ticino ieri ed oggi» die städtebauliche Anarchie und Unordnung von Brissago beklagt, wobei ihm ein rigider Bau von Brivio an der Via Leoncavallo besonders missfiel. In einem Gebäude von Snozzi erkannte dann aber der urbanistisch und denkmalpflegerisch engagierte Architekt Tita Carloni einen «appello all'ordine». Zugleich erschien ihm dieses 1987 an der Via Leoncavallo anstelle ländlich kleiner Steinhäuser errichtete Haus, das sich zur Strasse hin als harter, schmuckloser, von zwei schlanken Pfeilern getragener Betonkubus gibt, als mögliches Vorbild für das Bauen im gewachsenen Kontext.
Akzente von Vacchini und Galfetti
Don Annibale, der Auftraggeber, wollte damals nicht nur die Kleinbauten, sondern auch die der Kirchgemeinde gehörende Casa Bianchini, ein barockes Turmhaus an der schmalen Via ai Cipressi, abreissen lassen, doch Snozzi schonte sie aus urbanistischen Gründen. Er umfasste sie auf zwei Seiten mit dem Neubau, setzte ihr ein Oktogon auf das Dach und bescherte ihr eine orangerote Fassade. Zwar blieb so der räumliche Abschluss der kleinen Gasse erhalten, doch das Denkmalobjekt erscheint seither völlig verfremdet. Wie die Casa Bianchini sensibler hätte revitalisiert werden können, zeigt der unprätentiöse Umbau der gegenüberliegenden, ein Portal von 1663 rahmenden Ökonomiebauten zu Wohnhäusern. Zwischen ihnen und dem vorbildlich renovierten und mit einem modernen Blechdach akzentuierten Palazzo Porzio-Giovanola blieb der kleine formale Garten erhalten - im Gegensatz etwa zu den historischen Orangenterrassen der im Übrigen sorgfältig restaurierten Villa Gina am See, an die nur noch einige Zitrusbäume an den Aussenmauern des in den Garten eingelassenen Hallenbades erinnern. Noch schlimmer erging es den meisten anderen Gärten des Borgo. Sie wurden zu Parkplätzen, die das enge Gassengewirr empfindlich stören, oder aber zu öden Rasenflächen wie vor dem Palazzo Branca. Dieser lange vernachlässigte Bau aus der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde jüngst von Vacchini und Silvia Gmür restauriert und beherbergt nun seit wenigen Tagen das Museo Leoncavallo. Die durch den Abbruch der zugehörigen Wirtschaftsgebäude entstandenen Resträume versuchten die Architekten durch einen fast wie ein Freilufttheater abgetreppten Aussenraum in den Griff zu bekommen. Doch nur eine gezielte bauliche Verdichtung könnte den wertvollen Bau wirklich wieder im urbanistischen Gewebe verankern.
Besser gelungen ist Vacchini die Neuordnung des städtischen Erscheinungsbildes hingegen mit dem 1999 vollendeten Wohn- und Geschäftshaus der Banca dello Stato, das als Eckbau den Südwesteingang zum Borgo neu betont. Allerdings musste ihm eine Gründerzeitvilla geopfert werden. Verbreitete diese einen Hauch von Nostalgie, so bringt der leicht überdimensionierte Neubau als moderner Verwandter des Palazzo Branca die lange gewünschte städtebauliche Klärung und verleiht mit seinem fast monumentalen Volumen den formal und stilistisch höchst heterogenen Bauten rund um die Kirche Halt. Die seeseitige Fassade löst sich auf in einem an die alten Loggien erinnernden Balkonraster, während die südwestliche Stirnseite aus Glasbändern mit balkonartigen Brises-Soleil und riesigen Schiebetüren besteht, die das Innere zur Veranda machen. Strassenseitig führt das Gebäude die anschliessenden Arkaden weiter, über denen kräftige Lisenen der Wand einen vertikalen Rhythmus geben.
Den zweiten städtebaulich wichtigen Akzent schuf Aurelio Galfetti mit dem soeben vollendeten, Villa Bianca genannten zehngeschossigen Apartmenthaus, dem am anderen Ende des Dorfes die Erweiterung des Istituto Miralago von Giovanzana Montorfani aus Lugano antwortet. Galfettis weisser Palazzo nimmt zwischen Borgo und Tabakfabrik jene Stelle ein, wo früher das Grand-Hotel stand. Das schmale, hohe, in seinen Proportionen etwas manieriert wirkende Gebäude, das 34 Luxuswohnungen enthält, öffnet sich zum See hin mit grossen Balkonen. Die durch Laubengänge erschlossene Rückseite an der stark befahrenen Strasse wird durch eine doppelte Palmenallee und eine riesige Glaswand, die entfernt an Jean Nouvels Cartier-Haus in Paris erinnert, vor Lärm geschützt. Galfetti hat mit dieser Wohnmaschine für Begüterte den ersten interessanten Beitrag zum Thema Mehrfamilienhaus seit Mario Campis Wohnpalast an der Via Beltramina in Lugano geschaffen. Er darf denn auch zusammen mit den Neubauten von Arnaboldi, Cavadini, Snozzi und Vacchini sowie einigen Restaurierungen zu Brissagos architektonischen Vorzeigeobjekten zählen. Diese können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass nun die urbanistische Verdichtung des Borgo, die Redimensionierung der Via Leoncavallo und die Gestaltung der zersiedelten Hänge die dringlichsten und für die Zukunft des Touristenortes wesentlichsten Bauaufgaben sind.
Schweizer Architektur
Eine Publikation von Pro Helvetia
Gebaut wird in der Schweiz wie überall in Europa schon seit Jahrtausenden. Doch eine Architektur im modernen Sinn brachte hier erst der Klassizismus. Seit der Eröffnung des Polytechnikums und seit Semper kann unser Land zudem mit aussergewöhnlichen baulichen Leistungen aufwarten. Diese wurden aber kaum je in einem Überblick gewürdigt, da die meisten Publikationen sich entweder die alte Baukunst, das 19. Jahrhundert oder die Moderne zum Thema nahmen. Einer Initiative der Pro Helvetia ist es zu verdanken, dass 1998 ein kleines, von Christoph Allenspach verfasstes Kompendium zur Schweizer Architektur im 19. und 20. Jahrhundert erscheinen konnte. In knappen Aufsätzen werden etwa die Semper-Schule, das Neue Bauen, die Nachkriegsarchitektur, der Tessiner Rationalismus sowie die neusten Entwicklungen aus baukünstlerischer, aber auch städteplanerischer Warte beleuchtet. Das in fünf Sprachen verlegte und schnell vergriffene Buch ist nun wieder erhältlich, und zwar in einer aktualisierten Fassung.
[Christoph Allenspach: Architektur in der Schweiz. 19. und 20. Jahrhundert. Pro Helvetia, Zürich 2002. 176 S., Fr. 24.-.]
«The beautiful Spirit of Antiquity»
Der englische Architekt und Innendekorateur Robert Adam
Der Faszination englischer Landsitze mit ihrer bald geheimnisumwitterten, bald mondänen Aura kann man sich kaum entziehen. Dies zeigte jüngst auch Robert Altmans in den dreissiger Jahren angesiedelte Kriminalkomödie «Gosford Park», wo sich vor dem herrschaftlichen Hintergrund eines Herrenhauses - die Innenaufnahmen wurden teilweise in den Privatgemächern von Syon House gedreht - die Spannungen zwischen einer dekadenten High Society und ihrer Dienerschaft im Mord an Sir William, dem Hausherrn, entladen. Die hier am Horizont aufziehenden gesellschaftlichen Umwälzungen führten schliesslich dazu, dass Britanniens grosse Landhäuser heute wie märchenhafte Relikte aus einer längst vergangenen Epoche erscheinen - aus einer Zeit, als prachtvolle Gebäude in weitläufigen Parkanlagen den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg der vornehmsten Familien im Königreich spiegelten. Oft über Jahrhunderte gewachsen, erfuhren diese Country Houses im 18. Jahrhundert ihre höchste architektonische Verfeinerung. Die auf dem Grand Tour nach Italien mit der Kunst und der Kultur von Altertum und Renaissance vertraut gewordenen Adeligen machten sich nach der Heimkehr ins neblige Albion zum Motto, was Lord Arundel schon lange gefordert hatte: nämlich «to transplant Old Greece into England».
«Griechisch» erschien damals im weitesten Sinne alles Antike, das von den Römern gepflegt und von der Renaissance wiederbelebt worden war. Die Grundlagen dieser Formensprache schuf Inigo Jones in der nach-elisabethanischen Zeit mit seinem Palladianismus, der nach einem barocken Intermezzo von Lord Burlington und William Kent in Meisterwerken wie Chiswick House und Holkham Hall weiter verfeinert wurde. Doch erst durch die Hallen, Vestibüle und Salons von Robert Adam (1728-92), die von den Marmorböden über die Decken, Wandreliefs, Friese, Säulen, Spiegel und Konsolen bis hin zu den Kamineinfassungen, Vasen und Kerzenleuchtern vollendet gestaltet sind, schien der wahre Geist der Antike zu schweben und im Galerientrakt von Newby Hall reinste Form anzunehmen. Die von der Tribuna in Florenz, dem Minerva-Tempel in Rom sowie dem Pantheon beeinflusste und mit «etruskischen» Dekorationen ausgestaltete Oberlichtrotunde bildet das Herzstück dieses ersten bedeutenden modernen Museumsbaus, in welchem William Weddell die legendäre Jenkins- Venus und andere antike Fundstücke präsentierte.
Monumentale Form und intime Grösse vereinen sich in dieser Skulpturengalerie aufs Glücklichste zu einem antikischen Gesamtkunstwerk. Gleichzeitig realisierte Adam aber auch vom Rokoko angehauchte Räume, gotisch inspirierte Interieurs sowie frühromantische, die Festungsarchitektur des schottischen Mittelalters und der italienischen Renaissance verschmelzende Schlösser. Diese Stilvielfalt hängt nicht allein mit den Wünschen der Auftraggeber zusammen. Sie erklärt sich auch aus Adams Welterfahrung zwischen Schottland und Italien. Der in Edinburg aufgewachsene, an der dortigen Universität und bei seinem Vater John Adam ausgebildete Architekt bereiste zwischen 1754 und 1758 den Kontinent. In Rom, wo er sich mit dem acht Jahre älteren Piranesi angefreundet hatte, studierte er die Architektur der Kaiserzeit, um danach in Split mit Charles-Louis Clérisseau den Diokletianspalast zu vermessen und nach seiner Heimkehr zu publizieren. In London eröffnete er ein Architekturbüro, in das sein Bruder James (1732-94) nach dessen Grand Tour 1763 eintrat. Dank der Unterstützung schottischer Freunde kam Robert als knapp dreissigjähriger Architekt mit so wichtigen Auftraggebern wie dem Duke of Northumberland in Kontakt, für den er die Staatsgemächer des elisabethanischen Syon House in eine fulminante frühklassizistische Raumfolge verwandelte.
Weniger Glück hatte Adam mit eigenständigen Bauten. Neben einigen öffentlichen Architekturen und Wohnanlagen in Edinburg und London konnte er nur wenige Häuser von Grund auf planen. Vor allem bei den in seinem Schaffen zentralen Landsitzen musste er sich nur allzu oft mit partiellen Eingriffen begnügen, wobei ihn die baulichen Realitäten zu so bedeutenden Lösungen führten wie der triumphbogenartigen Südfassade von Kedleston Hall oder dem transparenten ionischen Portikus am elisabethanischen Palast von Osterley Park. Die oft sehr komplexe Baugeschichte dieser Häuser und die Tatsache, dass einige wichtige Werke im Laufe der Zeit entweder stark verändert oder gar abgebrochen wurden, machten eine Beschäftigung mit Adam lange schwierig, bis sich David King daranmachte, den rund 9000 Blätter umfassenden Bestand von Adams zeichnerischem Nachlass im Soane- Museum zu sichten und mit den Adam zugeschriebenen Bauten zu vergleichen. Daraus resultierte 1991 die Publikation eines gewichtigen Œuvrekatalogs, der seit wenigen Monaten überarbeitet und leicht erweitert neu aufliegt. Ergänzt wird dieses Übersichtswerk nun durch einen zweiten Teil, der dem «Unbuilt Adam» gilt. Hier werden anhand von Zeichnungen rund 200 nicht realisierte Projekte wie jenes für Lincoln's Inn oder für das Haymarket Opera House diskutiert.
Gibt sich der wissenschaftliche Doppelband nüchtern und sachlich, so veranschaulicht der ebenfalls seit kurzem vorliegende Prachtband «The Genius of Robert Adam» von Eileen Harris in einem opulenten Bilderbogen, warum der Geschmack eines ganzen Zeitalters nach Adam benannt wurde. Harris analysiert 19 repräsentative Interieurs - vom klassizistischen Stadtpalast bis hin zum neugotischen Culzean Castle -, diskutiert deren Baugeschichte und Adams Fähigkeit, altmodische Innenräume in spannungsvolle Raumsequenzen zu verwandeln. Damals galt es in der Gesellschaft als Erfolg, wenn man in seinem Haus «an impressive Adam design» vorweisen konnte. Stolz hielt Robert Adam denn auch 1773 im ersten Teil seiner Werkübersicht «The Works» fest, dass er «had been able to seize the beautiful spirit of antiquity, and to transfuse it, with novelty and variety». Die von Adam durch Nischen, Säulen, Apsiden, aber auch durch Licht und Schatten erzeugten neuartigen räumlichen Bewegungen und Szenarien wirkten weiter auf John Soane, dessen Interesse an Adam sich nicht zuletzt darin manifestierte, dass er 1833 den zeichnerischen Nachlass erwarb. Sonst aber war Fortuna den Bauten Adams nicht immer günstig gesinnt. Schon im 19. Jahrhundert wurden einige seiner Landsitze zerstört, und sein 200. Geburtstag wurde gleichsam mit dem Abbruch von zwei Londoner Meisterwerken «gefeiert»: dem Lansdowne House und dem protomodernen Adelphi. Die neuste Forschung macht nun nicht nur deutlich, wie gross diese Verluste waren, sondern auch wie bedeutsam neben den erhaltenen auch die Entwürfe und nicht realisierten Werke sind.
[ David King: I. The Complete Works of Robert and James Adam (erweiterter Reprint der Ausgabe von 1991). II. Unbuilt Adam (neuer Titel). Zwei Bände in einem Volumen. Architectural Press, Oxford 2001. 468 S. und 304 S., Fr. 259.-. - Eileen Harris: The Genius of Robert Adam. His Interiors. Yale University Press, London 2001. 378 S., Fr. 188.50. ]
Von den Aborigines lernen
Pritzker-Architekturpreis an den Australier Glenn Murcutt
Nach der Auszeichnung von Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron erweist sich die diesjährige Verleihung des Pritzker-Architekturpreises an den Australier Glenn Murcutt als weniger trendy denn politisch korrekt. Murcutt machte sich einen Namen als ökologisch engagierter Einzelkämpfer, der sich für die ethische Seite der Baukunst einsetzt.
Etwas vollmundig bezeichnet die Hyatt Foundation den mit 100 000 Dollar dotierten Pritzker Architecture Prize, der von ihr seit 1979 jährlich verliehen wird, gerne als Nobelpreis der Architektur. Diesem hohen Anspruch vermochte er aber lange nur bedingt zu genügen. Doch nach einer Krise in den neunziger Jahren - als etwa Christian de Portzamparc statt Jean Nouvel oder der längst zum Vielbauer gewordene Norman Foster geehrt wurden - begann man ihn dank der Auszeichnung von Vordenkern wie Rem Koolhaas und Herzog & de Meuron auch in der Szene wieder ernst zu nehmen. Gespannt wartete diese daher auf den Namen des Preisträgers von 2002, der am Montag in Los Angeles bekannt gegebenen wurde.
Eine politisch korrekte Wahl
Zur Festigung ihres in den letzten beiden Jahren errungenen Ansehens standen der Pritzker- Jury mehrere valable Kandidaten zur Verfügung. Naheliegend war die Wahl eines Architekten aus den USA, die seit der Kür von Robert Venturi im Jahre 1991 nicht mehr zum Zuge gekommen waren. Mit Tod Williams und Billie Tsien, von denen so wichtige Bauten wie das Neurosciences Institute in La Jolla oder das erst das vor kurzem eröffnete American Folk Art Museum in New York stammen, mit Steven Holl, dessen Kiasma- Museum in Helsinki höchstes Lob erhielt, oder mit Jungstars wie dem Kalifornier Greg Lynn oder dem in Ägypten geborenen Wahlamerikaner Hani Rashid hätte man Anwärter auszeichnen können, deren Schaffen zurzeit weit über Amerika hinaus strahlt. Auf Grund ihrer Karriere, aber auch aus politischer Korrektheit hätte ausserdem die in London tätige Irakerin Zaha Hadid, die gegenwärtig ein Kunstmuseum in Cincinnati baut, den noch nie an eine Frau oder an eine Persönlichkeit der islamischen Welt vergebenen Preis verdient. Ebenfalls mit bedeutenden amerikanischen Projekten konnten drei weitere aussichtsreiche Anwärter aufwarten: Nouvel, Daniel Libeskind und Santiago Calatrava. Schlechter standen dagegen die Chancen für zwei nicht weniger einflussreiche Architekten, für Toyo Ito und den an der Columbia University in New York lehrenden Lausanner Bernard Tschumi, war doch der Preis bereits 1993 und 1995 nach Japan und im vergangenen Jahr in die Schweiz gegangen.
Doch keine dieser Vermutungen wurde bestätigt. Zweifellos war Political Correctness mit im Spiel, als sich die Jury, der erneut J. Carter Brown, Ada Louise Huxtable und Carlos Jimenez angehörten, für Australien entschied, den einzigen noch nicht auf der Pritzker-Liste vertretenen Erdteil. Aus der bisherigen Vorliebe der Hyatt Foundation für grosse Büros hätte man schliessen können, dass der Jury beim Blick auf den Südkontinent vor allem das urbane Melbourner Team von Denton Corker Marshall aufgefallen wäre. Doch wurde schliesslich mit dem 1936 geborenen, in Neuguinea und Australien aufgewachsenen und seit 1969 in Sydney tätigen Glenn Murcutt ein Einzelkämpfer gekürt, der mit seiner Architektur der Seele und dem Wesen Australiens nachspürt. Als diesem Verfechter eines ebenso humanen wie naturnahen Bauens 1992 die Alvar- Aalto-Medaille verliehen wurde (NZZ 11. 12. 92), sah das damalige Preisgericht in Murcutts Werk den Beweis dafür, «dass die zeitgenössische Architektur fähig ist, auf ökologische, soziale, technologische und ästhetische Herausforderungen Antworten zu finden».
«Touch this Earth lightly»
Nach baukünstlerischen Anfängen, die gleichermassen Mies van der Rohe und Alvar Aalto verpflichtet waren, fand Murcutt in der Auseinandersetzung mit der ruralen Bautradition seiner Heimat und im Dialog mit der Natur zu einer unverwechselbaren Architektur. In deren Zentrum steht das Wohnhaus als Stätte der Selbstfindung und der Selbstverwirklichung des Individuums, aber auch als Ort der Zuflucht und des Schutzes im Sinne Henry David Thoreaus. Obwohl es sich bei diesen Bauten oft um prototypische Beiträge zur Regionalismusdebatte, zur Bausoziologie und zur Umweltverträglichkeit handelt, kann das von Murcutt favorisierte Privathaus über seine Bedeutung für das meist dünn besiedelte Australien hinaus nur sehr beschränkt als Beitrag an die globale Baukultur verstanden werden. Aber auch im australischen Kontext wird Murcutts Architektur heute weniger diskutiert als noch vor 10 Jahren. Damals setzten sich Architekten wie Gabriel Poole, Lindsay Clare oder James Grose kreativ mit Murcutts Verandahäusern auseinander.
Vielfältige Bezüge zum Genius Loci prägen Murcutts Architektur, die im Erscheinungsbild bestimmt wird durch ihre Verwandtschaft mit den einfachen Unterständen der Ureinwohner, den klassischen Verandahäusern oder den Wellblechhütten. Mit ihren Holzwänden und Blechdächern erinnern diese Bauten oft an Scheunen, mitunter dominiert aber auch ein grossstädtisch elegantes Vokabular. Doch selbst bei den in Sydney errichteten Stadthäusern sind es das Tageslicht und der Sternenhimmel, die das Raumerlebnis bestimmen. Diese Beschäftigung mit der Natur zeichnet die für aufgeklärte städtische Auftraggeber geschaffenen Wohnhäuser ebenso aus wie das 1994 realisierte Marika-Alderton-Haus in East Arnhem Land, wo Murcutt für längere Zeit unter Aborigines lebte und von ihnen lernte, «to touch this Earth lightly». In der Mitte der meist auf Stahlstützen stehenden längsrechteckigen Häuser befindet sich jeweils ein grosser Wohnraum, dem sich Schlafkojen und Serviceräume unterordnen. Das eigentliche Herz aber ist die Veranda, die es erlaubt, im Freien und doch geschützt zu sein.
Mehr als eine Utopie des Buschs
Die besten Bauten realisierte Murcutt zweifellos in den siebziger bis neunziger Jahren. Damals war die Begeisterung so gross, dass Murcutts Biograph Philip Drew das 1982 in Kempsey nördlich von Sydney errichtete Museum für Lokalgeschichte als das «erste wirklich australische Gebäude» bezeichnete. Die neusten Arbeiten - etwa das vor wenigen Monaten in den Southern Highlands vollendete Bowral House mit seinem erstaunlich schwerfälligen Steinsockel - können hingegen gewisse formalistische Härten nicht verbergen. Obwohl er sich in dem 1999 mit Wendy Lewin und Reg Lark realisierten Education Centre in Riversdale einer zeitgemässeren Formensprache annäherte, dürfte sein langjähriges Beharren auf dem immer gleichen Thema mit ein Grund dafür sein, dass Murcutt heute im australischen Architekturdiskurs eher als eine Randerscheinung wahrgenommen wird. Dennoch bleibt er als soziales und ökologisches Gewissen der australischen Architektenschaft eine wichtige Figur, denn kein anderer lebt wie er dem Nachwuchs die Bedeutung einer humanen, ethisch engagierten Baukunst vor. Nicht zuletzt deswegen hat Murcutt den Pritzker-Preis verdient.
Inspiration aus dem Norden
Junge Architekten aus Italien und der Schweiz in Mailand
Jahrelang dämmerte die italienische Baukunst vor sich hin. Doch nun keimt wieder Hoffnung. Zum einen sorgen Projekte ausländischer Stars für frischen Wind, zum andern bemühen sich junge Architektenteams mit viel Einsatz um den internationalen Anschluss. Das ist nicht einfach, da die Wettbewerbskultur und mit ihr das öffentliche Interesse an Architektur erst wieder aufgebaut werden müssen. So bleiben als Orte des Diskurses neben festgefahrenen Hochglanzmagazinen wie «Domus» und sporadisch stattfindenden Ausstellungen vorerst nur die Architekturfakultäten von Venedig, Mailand - und von Mendrisio. Da ist die Initiative des Centro Culturale Svizzero, der Mailänder Aussenstelle von Pro Helvetia, höchst willkommen. Dieses lud fünf junge Architektenteams aus Zürich und ebenso viele aus Italien zu einem «Transalpinarchitettura» betitelten Ausstellungsdialog in seinen Veranstaltungsraum an der Piazza Cavour ein.
Die kleine, von Alberto Alessi eingerichtete Schau macht die unterschiedlichen Temperamente sichtbar, wenn etwa der sachlich kühlen Präsentation der Schweizer das rhetorische Feuerwerk der Italiener antwortet. Gleichzeitig offenbaren sich ganz unterschiedliche Entwurfsstrategien: Entwickeln die Schweizer ihre Projekte aus dem Kontext, so verstehen die Italiener die Architektur zunächst einmal als ein Designproblem. Das zeigt sich beim eleganten Servicecenter in Orio al Serio von De Otto Associati aus Bergamo und mehr noch bei den organischen Projekten (etwa für ein neues Auditorium in Sarajewo) von Sciolari & Orsi aus Rom sowie bei den Medienräumen des ebenfalls in Rom tätigen Büros Ma0. Auf modische Attitüden verzichtet hingegen das Genueser Team 5+1. In seinem Archäologischen Museum von Aquileia schwingen noch Anklänge an Aldo Rossi mit, während in der zusammen mit Chaix & Morel aus Paris realisierten Universität von Savona eine neomodernistische Sprache vorherrscht. Als Wanderer zwischen den Welten erweist sich der in Rom und Zürich tätige Alessi mit seinem Wohnhaus in Travagliato, das von einer Steven Holl verwandten Raumauffassung zeugt.
Noch grösser ist die Vielfalt entwerferischer Positionen im Schaffen der eingeladenen Schweizer Architekten. Ihre Bauten und Entwürfe belegen augenfällig, dass dem Nachwuchs heute Zürich - und nicht mehr Basel und Graubünden - Quell der Inspiration ist. Der plötzliche Ideenreichtum in einer Stadt, die lange ein architektonisches Schattendasein fristete, mag erstaunen. Doch lässt er sich nicht zuletzt mit jener neuen Offenheit erklären, die zurzeit fast alle Bereiche von der Partyszene bis zum Wettbewerbswesen durchweht. Die eigentlichen Senkrechtstarter sind Camenzind & Gräfensteiner, die mit ihrem Pneushop am Mythenquai, ihrer Sporthalle in Uster, ihren Entwürfen für ein Indianermuseum und für die «Seewürfel» in Zürich ebenso brillieren wie mit ihrem Wettbewerbsprojekt für eine wellenförmig sich ausbreitende Überbauung des Ponte Parodi im Hafen von Genua. Wellenförmig ist auch das Dach des Extasia-Pavillons in Yverdon von Vehovar & Jauslin, eines der interessantesten Beiträge zur Expo 2002 überhaupt. Stark konzeptuell arbeiten Grego & Smolenicky, die den Ballettsaal des Zürcher Opernhauses in einen Farbraum verwandelten, beim Hauptquartier von Accenture aber mit Mitteln der Symmetrie für ein nobles Erscheinungsbild sorgten. Ebenfalls auf Symmetrie und Repräsentation setzten Müller & Truniger, und zwar beim Rathaus in Jona, das gleichermassen von Salvisberg und Hans Kollhoff beeinflusst ist. Einer skulpturalen Einfachheit verpflichtet sind die Berner Lehrwerkstätten von Graber & Pulver, doch bei der Erweiterung der Primarschule Bachtobel in Zürich gilt ihr Interesse nun der Rhythmisierung des Baukörpers.
Leicht hätten diese fünf Zürcher Haltungen erweitert werden können um Arbeiten von jüngeren Teams wie Baumann Buffoni Roserens, Bünzli & Courvoisier, EM2N oder Pool. Doch ist nicht Vollständigkeit Ziel der Schau, sondern der Gedankenaustausch zwischen Nord und Süd - wobei selbstverständlich den Italienern die jüngste Schweizer Baukunst nähergebracht, aber auch die italienische Sicht der Architektur nördlich der Alpen bekannt gemacht werden soll. Ganz in diesem Sinn will nun Pro Helvetia den Dialog in Zürich weiterführen.
[Bis 22. März. Kein Katalog.]