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2. August 2002 Neue Zürcher Zeitung

Nur nicht auffallen

Diskussion zum heutigen Stand der Baukultur in Deutschland

Als der Philosoph Martin Heidegger die Kunst streng abgrenzte von der «Zeughaftigkeit» der uns umgebenden Alltagsdinge, dachte er bestimmt nicht an die deutsche Architektur. «Das einzelne Zeug», schreibt Heidegger in «Sein und Zeit», «wird abgenutzt und verbraucht (. . .). Diesem Schwund verdanken dann die Gebrauchsdinge jene langweilig aufdringliche Gewöhnlichkeit.» Heidegger gibt uns mit Blick auf die Mutter aller Künste, die Architektur, eine Nuss zu knacken. Ist das fertige Bauwerk ein sich im alltäglichen Umgang abschleifendes «Zeug» wie Löffel oder Glas? Oder ist es ein Kunstwerk und damit dem Verfall durch die konsumierende Vernutzung entzogen? Damit aber nicht genug: Während Löffel oder Glas vor den Blicken der Öffentlichkeit verborgen in Schubladen und Schränken auf ihren Gebrauch warten, steht die Architektur als die öffentlichste aller kulturellen Äusserungen unter den Augen des Publikums. Es ist schlechterdings ihr Wesen, öffentlich zu sein. Doch weil sie so öffentlich ist, fällt sie oft gar nicht mehr auf. Sie gerät paradoxerweise unter den Blicken des Publikums in einen Modus der Vergessenheit.

Peter Conradi, Präsident der deutschen Bundesarchitektenkammer, ist diese Vergessenheit der Architektur in Deutschland ein Dorn im Auge. «Zweifellos ist es ein Defizit in Deutschland, dass wir bei weitem nicht das öffentliche Interesse an der gebauten Umwelt haben wie in der Schweiz oder den Niederlanden», bedauert der ehemalige SPD-Sprecher der Bundestags-Baukommission gegenüber der NZZ. Deutsche Architekten seien zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass «sie ihre Aufgabe, Bewusstsein und Kritikfähigkeit zu wecken, ausreichend wahrnehmen könnten». Während Ärzte, Lehrer, Rechtsanwälte mit starker Stimme ihre Interessen in Landesparlamenten und im Bundestag artikulieren, scheinen die Architekten nicht mal ein Stimmchen zu besitzen.

Leidet die deutsche Architektur nur unter einem Vermittlungsproblem? Wird ihr Genius im In- wie im Ausland verkannt? Nein, meint Armin Rogall, Dekan für Architektur an der Fachhochschule Bochum: «Das Elend der deutschen Baukultur besteht darin, dass es keine Baukultur mehr gibt.» In seinen Augen fehlt deutschen Architekten «der Mut zum Wagnis und zur Grenzüberschreitung». Dieser setzte kulturelle Horizonte voraus, um deren Bildung es aber gerade an deutschen Universitäten schlecht bestellt sei. Das Ergebnis sei ein «traditionsvergessener Investorenschmalz, der sich überall breit macht». Forscht man nach den tieferen Ursachen dieser Misere, erhält man einige überraschende Antworten. Die merkwürdige Gleichgültigkeit des Publikums an seiner gebauten Umwelt scheint in direkter Proportionalität zu stehen zu einem Mangel an unmittelbarer politischer Partizipation der Deutschen, vermutet Rogall. Gerade die Meinung jener Menschen, in deren Lebenswelt ein neues Bauwerk entsteht, werde in Deutschland eher als Störung denn als Bereicherung empfunden. Es gebe bei der Planung ein grosses Demokratiedefizit. Dabei zeigen die Erfahrungen mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park (1989-99) und verschiedenen Perspektivenwerkstätten in Essen, Mülheim und Leverkusen, wie stark Partizipation den öffentlichen Diskurs über Planen und Bauen beleben kann.

Auch die deutsche Wiedervereinigung hat nach Ansicht von Kammerpräsident Conradi der Entwicklung eines baukulturellen Bewusstseins kaum genutzt. Wenn deutsche Architektur heute im internationalen Massstab oft zweite Wahl sei, liege das auch an dem «Goldrausch der beginnenden neunziger Jahre, als niemand gross nach Baukultur fragte. Da wurde eben gebaut, weil alle bis zur Halskrause voll mit Aufträgen waren.» Als Mitte der neunziger Jahre die Bautätigkeit radikal einbrach, begann die «Diktatur des Preises», wie es Conradi ausdrückt. Die Folgen waren «viele unanständige Wettbewerbsverfahren, viele Generalunternehmer, die die Planung gleich mit machten und Architekten nur noch als Subunternehmer beschäftigten». Der Architekt gestaltete nicht mehr, er versuchte oft nur noch, das Schlimmste zu verhindern. Erst mit der Krise tauchte die Frage auf: «Wollen wir, dass Geld der Massstab für die Qualität unserer gebauten Umwelt ist?» Ende der neunziger Jahre begann dann auch in Deutschland eine öffentliche Debatte - im europäischen Vergleich jedoch «fünf Jahre zu spät».

Im Wiedervereinigungstaumel haben deutsche Architekten offenbar auch das Ausland schlicht und einfach vergessen. Abgesehen von Ausnahmen wie von Gerkan, Marg und Partner in China taten sie wenig, um sich jenseits der Grenzen zu exponieren. Derweil gründete Frankreich die Association des Architectes Français à l'Export (AFEX), ein inzwischen höchst erfolgreiches Netzwerk für Architekturexport. Umgekehrt öffnete sich nach der Wiedervereinigung der deutsche Markt sehr stark für ausländische Architekten: Die spektakulärsten Duftmarken in Berlin setzten Norman Foster, Frank Gehry, Helmut Jahn, Daniel Libeskind und Renzo Piano. Die Liste der Berliner Architekten, die an der «grössten Baustelle Europas» beteiligt waren, ist dagegen vergleichsweise kurz: Axel Schultes und Charlotte Frank mit dem Bundeskanzleramt, Thomas Müller und Ivan Reimann mit dem Neubau des Auswärtigen Amts, Gernot und Johanne Nalbach mit dem Haus der Bundespressekonferenz, Hans Kollhoff mit dem Hochhaus am Potsdamer Platz, Josef Paul Kleihues mit den Bauten am Brandenburger Tor sowie Sauerbruch & Hutton mit dem GSW-Hochhaus an der Kochstrasse. Mit Unterstützung der Bundesregierung baut nun die Bundesarchitektenkammer seit Anfang 2002 ein Netzwerk Architekturexport (NAX) auf. Ebenfalls auf Initiative der Kammer versucht seit eineinhalb Jahren eine Initiative Baukultur der Architekturdebatte neuen Schwung zu verleihen. Wie weit Deutschland hier zurückliegt, zeigt ein schlichtes Datum: Der erste nationale Kongress zum Thema «Baukultur in Deutschland» wurde im Dezember 2001 in Köln durchgeführt. Auch Conradi beschleicht da ein flaues Gefühl: «Man kann sich zu Recht fragen: Warum habt ihr das nicht schon vor zehn, zwanzig Jahren gemacht?» Doch letzte Woche fand nun zudem in Berlin der erste in Deutschland veranstaltete internationale Architekturkongress (NZZ 26. 7. 02) statt.

Aber Conradi will noch mehr: Grosse Summen würden von der Bundesregierung für die Vermittlung zeitgenössischer Kunst ausgegeben, nicht aber für die Vermittlung von zeitgenössischer Baukultur. Ein «kläglich finanziertes Deutsches Architekturmuseum» in Frankfurt am Main und die Aktivitäten von ein bis zwei privaten Galerien, das sei bereits alles, was sich Deutschland zu diesem Thema leiste. Ganz anders Holland, wo das Niederländische Architekturinstitut (NAI) in Rotterdam seit 1993 Massstäbe in Sachen Baukultur setzt und die Debatte bis in die Provinz trägt. Über das Land sind kleinere Architekturzentren verteilt, und das Architectuur-Lokaal in Amsterdam dient als Informationsbörse für Bauherren. Ausserdem gibt es einen Reichsbaumeister, der die Architektur auf nationaler Ebene ins Gespräch bringt. Rund 16 Millionen Euro ist den Niederlanden diese Vermittlung von Baukultur jährlich wert. Anstrengungen auch mit Vorbildcharakter für Deutschland, meint Conradi: «Von den Niederlanden können wir lernen, wie man einer interessierten Bürgerschaft das Thema Architektur vermittelt und wie sich Architekten noch besser in die öffentliche Debatte einbringen können.»

5. Oktober 2001 Neue Zürcher Zeitung

Es lebe die neue Mitte

Das Ruhrgebiet auf dem Weg zur Investorenstadt

Seit dem Herbst 1996 lockt unweit von Oberhausens Innenstadt das «CentrO» die Konsumenten des Ruhrgebiets magisch an. Gleichzeitig kündigt dieses gigantische Einkaufszentrum den schleichenden Niedergang der Gemeinwesen des Ruhrgebiets, die Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes und damit die Investorenstadt an.

Vor fünf Jahren wurde mit dem «CentrO» in Oberhausen Europas grösstes Einkaufs- und Freizeitzentrum eröffnet. Über 23 Millionen Konsumenten werden seither jedes Jahr durch die für über zwei Milliarden Mark realisierte «Neue Mitte» Oberhausens geschleust. Sie sorgen für Jahresumsätze von weit über einer Milliarde Mark. Nur drei Kilometer südlich dieses Einkaufsparadieses befindet sich Oberhausens altes Zentrum. Es liegt heute abseits des Booms. So zog beispielsweise C & A von Alt-Oberhausen in die neue Mitte um; und bis heute ist nicht geklärt, was mit der teilweise leer stehenden Immobilie geschehen soll. Schwer zu kämpfen hat auch das regionale Textilkaufhaus Mensing, sogar der Kaufhof und Peek & Cloppenburg reduzierten ihre Verkaufsfläche, weil sie auch im «CentrO» präsent sind. Gegen dessen Konkurrenz scheint kein Kraut gewachsen zu sein.


Auszehrung der Innenstädte

Inzwischen macht sich der Sog des «CentrO» bis nach Essen, Duisburg und Bochum bemerkbar - und löst eine Lawine von Folgeprojekten aus: Weil allein aus Duisburg jährlich 700 Millionen Mark in die Region fliessen, will die Stadt jetzt nachziehen: In unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofes entsteht in den nächsten Jahren auf etwa 100 000 Quadratmetern das Mammutzentrum «Multi-Casa», in Essen und in Dortmund sind ebenfalls Massstab sprengende Kommerz- und Vergnügungszentren geplant. Der Dortmunder Städteplaner Peter Zlonicky, als ehemaliger Direktor der Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park mit den Besonderheiten der Region bestens vertraut, prophezeit «Auszehrung und Verfall der Innenstädte». Die Konsequenzen für die historische Stadtstruktur würden überhaupt nicht bedacht, klagt er. Sein Duisburger Kollege, der Regionalforscher Hans-Heinrich Blotevogel, befürchtet nicht nur «ein Ausbluten der alten Zentren», sondern sieht im «CentrO» gar einen «bewussten Bruch mit der europäischen Stadttradition». Sollte das Beispiel «CentrO» Schule machen, wofür zurzeit vor allem im Ruhrgebiet vieles spricht, drohe flächendeckend die «postöffentliche Stadt» von Investors Gnaden.

Was ist so gefährlich am «CentrO», dass es Forscher und die Kommunen rundherum derart in Aufregung versetzt? Nach seinem Bruder im englischen Sheffield ist es Europas zweites Zentrum, das wegen seiner urbanistischen Inszenierung von Menschen aus der Region als echter Stadtersatz angenommen wird: Herzstück bildet eine 400 Meter lange Promenade an einem hafenartigen Wasserbecken mit 25 Restaurants und Diskotheken, daneben ein acht Hektaren grosser Vergnügungspark, nicht zu vergessen die Glaskuppel der Coca-Cola-Oase, die Musicalhalle und die multifunktionale «Arena»: Das «CentrO» ist eine gewaltige Illusionsmaschine mit einem Hauch von Barcelona, Las Vegas und Saint-Tropez. Wahrscheinlich liegt in diesem nach dem Prinzip «Panem et Circenses» inszenierten Mix das Geheimnis seiner magnetischen Wirkung: Im meist wolkenverhangenen Ruhrgebiet bietet es eine willkommene Flucht aus dem 50er-Jahre-Mief der Oberhausener Innenstadt (220 000 Einwohner), deren Geschäfts-, Freizeit- und Gastronomieszene langsam vergreist. Wer in Oberhausen jung ist, meidet nach Feierabend die verrauchten Eckkneipen und trifft sich mit Freunden beim Spanier oder Mexikaner in der Neuen Mitte.

Geschickt haben jedoch die Planer das «CentrO» nicht nur mit Ferienillusionen gewürzt, sondern auch noch mit Stilelementen der untergegangenen Industriearchitektur - zur Stärkung der regionalen Identität: Keine glitzernde Kommerzarchitektur von der Stange entstand auf der 83 Hektaren grossen Thyssen-Industriebrache, sondern ansprechend gestaltete, grosszügige Galerien, deren Dachkonstruktion Zitate der abgerissenen Zechen und Stahlwerke schmücken. Gar mit Ironie spielt der Tram- und Busbahnhof. Er sieht aus wie ein kühn übereinander getürmtes Mikado aus Stahlschrott.


Attraktion gegen Bevölkerungsschwund

Das «CentrO» trifft das Ruhrgebiet zu einer Zeit, da es ohnehin unter dramatischem Bevölkerungsschwund leidet. Händeringend überlegen sich die Stadtväter, mit welchen Attraktionen sie die Steuerzahler noch bei Laune halten können. Jetzt rächt es sich, dass die Innenstädte seit den siebziger Jahren vorwiegend für den Kommerz reserviert waren und damit die Mieten unerschwinglich wurden - vor allem für Familien. Gewohnt wird deshalb ausserhalb - in den sich aufblähenden Speckgürteln. Zudem treibt die hohe Arbeitslosigkeit die Bürger in Scharen davon. Allein Essen verliert Jahr für Jahr etwa 4000 Einwohner, das Ruhrgebiet deren 60 000 pro Jahr, gut ausgebildete Menschen zumeist. Dieser Aderlass hat Folgen. Die Städte können wegen sinkender Steuereinnahmen ihre aufgeblähte Infrastruktur nicht mehr bezahlen. Bauinvestitionen zur Verschönerung des Stadtbildes bleiben aus oder werden weit in die Zukunft gestreckt.

Es ist deshalb kein Zufall, dass das erste konsequent durchgestylte Urban Entertainment Center Deutschlands gerade im Ruhrgebiet entstanden ist und nicht etwa im Dunstkreis von München mit seiner attraktiven Innenstadt. Auch im englischen Sheffield, vom Niedergang der Industrie womöglich noch stärker gebeutelt als Oberhausen, ging die Rechnung der Investoren auf - nur dass der Standort Ruhr aus Sicht privater Geldgeber eine noch grössere Goldgrube ist: Denn nirgendwo in Europa können Investoren Stadtvätern und Landesregierung ihre Bedingungen so schamlos diktieren wie im Revier. Nirgendwo gibt es so viele industrielle Freiflächen. Nirgendwo - abgesehen von den neuen Bundesländern - winken dazu üppigere Subventionen aus den Strukturförderungsfonds des Landes, des Bundes und der Europäischen Union und als Dreingabe ein gewaltiger Markt von 20 bis 30 Millionen Konsumenten, der bis nach Holland reicht.

In der europäischen Tradition ist das Stadtzentrum ein Raum, der allen Menschen offen steht. Diesen Umstand sieht Blotevogel beim «neuen kommerziellen Zentrum von Oberhausen» nicht mehr erfüllt. Für die natürlichen Wechselfälle gewachsener Urbanität gibt es im «CentrO» keinen Platz mehr: Strassensänger und Obdachlose, politische Aufrufe und Demonstrationen sind hier tabu. Was die urbanistische Sonderwelt stört, wird mittels privaten Wachdiensts binnen Minuten entfernt. Für die sozialen Probleme ist weiterhin die alte Kernstadt zuständig, die so weiter an Attraktivität verliert - ein Teufelskreis mit klar verteilten Rollen.

6. April 2001 Neue Zürcher Zeitung

Kulturkampf an der Ruhr

Die IBA Emscher Park ein gutes Jahr nach ihrem Finale

Nur noch Schrott wäre wohl übrig vom Stahlwerk in Duisburg-Meiderich, vom Gasometer in Oberhausen, von der Kokerei der Zeche Zollverein in Essen oder der Jahrhunderthalle in Bochum, hätte es die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park nicht gegeben. Wobei der Begriff «Internationale Bauausstellung» nicht in Worte fasst, welche Evolution sich seit 1989 entlang dem Abwasser-Fluss Emscher im nördlichen Ruhrgebiet ereignet hat: Die längste Bauausstellung aller Zeiten - sie dauerte zehn Jahre - war weit mehr als eine blosse Werkschau zukunftsweisender Architektur. Sie war ein bis dahin beispielloses soziokulturelles und ökologisches Erneuerungsprojekt. Rettungsanker für eine Kulturlandschaft, der man wie den englischen Kohlerevieren noch vor 15 Jahren den sicheren Niedergang vorausgesagt hatte: ausgebrannt und ausgebeutet; mit Städten, in denen keiner mehr wohnen wollte, einer zerstörten Landschaft und mit desillusionierten, arbeitslosen Menschen. Seit der IBA ist das anders. Die Menschen haben wieder Mut gefasst. Was war das Erfolgsrezept?


Neue Inhalte für alte Bauten

Der IBA ist es gelungen, die ehemaligen grossindustriellen Arbeitsstätten mit neuen kulturellen und populären Inhalten zu füllen - sie gleichsam symbolisch neu zu besetzen. «Die IBA hat der Region ihre Würde zurückgegeben, die sie durch die Entindustrialisierung verloren hatte», sagt heute einer ihrer ehemaligen Direktoren, der Dortmunder Städtebauprofessor Peter Zlonicky. Zum Beispiel mit dem Gasometer in Oberhausen. Noch vor zwölf Jahren als Altlast einer untergegangenen Epoche zum Abriss freigegeben, ist er heute mit 118 Metern Höhe und fast 70 Metern Breite einer der grössten Ausstellungsräume der Welt. In der Bochumer Jahrhunderthalle findet alljährlich unter dem Titel «Musik im Industrieraum» ein industriekulturelles Musikfestival statt. Gar über ein veritables Weltkulturerbe in spe verfügt die Stadt Essen mit der Zeche Zollverein. Der Schwerpunkt lautet hier: neues Design. Der Populärkultur gewidmet ist hingegen der Landschaftspark Duisburg-Meiderich: Dort ist im Gasometer des alten Stahlwerks eine Tauchschule eingezogen. Die ehemaligen Kohlebunker nutzt der Alpenverein Duisburg als beste Kletterstrecke weit und breit.

Etwa fünf Milliarden Mark aus 30 verschiedenen Fördertöpfen hat das Team der IBA um seinen Geschäftsführer Karl Ganser in der Region verbaut. Doch weniger die Höhe dieser Summe beeindruckt als vielmehr die innovativen Kriterien, nach denen sie in insgesamt 120 Projekte investiert wurde. Im «Memorandum» von 1988 finden sich die beiden Leitprinzipien der IBA: «Projekte statt Programme» und «Pläne lernen von Projekten». Damit gemeint war die Abkehr von dem, was der Stadtplaner Helmut Siebel einmal als das «Gottvatermodell» in der Regional- und Stadtplanung bezeichnet hat: «Dabei wird ein Planungssubjekt vorausgesetzt, das allwissend, allgütig und allmächtig ist, das über alle Informationen und Machtmittel verfügt, jenseits von Gut und Böse handelt und gleichsam aus einer Tabula-rasa-Situation heraus eine neue Welt schafft», erklärt Siebel voller Ironie das Modell bisheriger Entwicklungsplanung. Statt weiter Gottvater zu spielen, hat die IBA als Tochter des Landes Nordrhein-Westfalen auf die eigenständige Vernetzungskraft ihrer Projekte gesetzt.

Dass ihr überhaupt die Macht zuwuchs, Veränderungen von solcher Tragweite anstossen zu können, verdankt sich ihrer besonderen Konstruktion: Sie war eine völlig eigenständige Gesellschaft, ausgestattet mit einem Budget, das auch für Politiker beinahe unantastbar war. Nur so war es möglich, etwas ganz Neues zu wagen und Projekte ohne die Gefahr von politischer Verwässerung entlang klarer Qualitätskriterien zu entwickeln. Jedes Einzelprojekt sollte gleichsam den gesamten IBA-Geist als «Pars pro Toto» verkörpern: Zeichenhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, ökologische Innovation, regionale Einbettung und Partizipation. Mit Projekten, die bewusst die Grenzen der 52 beteiligten Gemeinden überschritten, hat die IBA zudem versucht, ein regionales Bewusstsein zu fördern.

Wie bewirkt man Innovation in nicht innovativen Milieus? Das war die grösste Herausforderung, mit der sich die IBA 1989 konfrontiert sah. Wie begeistert man Menschen aus konservativen, hierarchisch geprägten Milieus der Schwerindustrie für Ziele wie Partizipation, Qualität und ökologische Innovation? Damit die IBA nicht zur Spezialveranstaltung von Intellektuellen wurde, nahm sie sich auch die Bergarbeitersiedlungen der Region vor. Ihre Sanierung erfolgte unter Beteiligung der Bewohner, deren Bedürfnisse genauso ernst genommen wurden wie der Denkmalschutz. Die Bewohner machten so eine neue Erfahrung: Einmischung lohnt sich. Um diesen soziokulturellen und planerischen Subtext der IBA geht es, wenn der Duisburger Regionalforscher Hans Heinrich Blotevogel rückblickend schwärmt: «Die IBA war die wichtigste Innovation, die wir hier seit Jahrzehnten hatten.» Auch deshalb, «weil sie die alte Planer- und Politikerriege der Kohle- und Stahlbetonfraktion in den Städten aufgebrochen hat. Vor allem jüngeren Experten hat sie geholfen, ihr Ideenpotenzial einzubringen.»

Ein gutes Jahr nach Ende der IBA - im November 2000 - drehte sich der Wind an der Ruhr schlagartig. Zlonicky spricht von einem «Wettersturz» in der Landespolitik, Blotevogel sieht «ein grosses Debakel», der Festivalleiter von «Musik im Industrieraum», Bojan Budisavljevic, drohte «aufzugeben», und der ehemalige IBA-Geschäftsführer Ganser hat sich grollend ins Saarland zurückgezogen, wo er eine neue IBA verwirklichen will - nicht ohne noch den Hinweis in Richtung der Landespolitik zu hinterlassen, sie sei dabei, «sein Lebenswerk zu zerstören».

Der Wettersturz und der Fall der IBA ins «publizistische Schwarze Loch» (Zlonicky) begann schon im Jahr ihres Finales, 1999, mit einem handfesten Streit um das Erbe. Ganser hatte als Nachfolgeorganisation eine Agentur Ruhr ins Gespräch gebracht. Ihre Aufgabe: das Erbe in Form eines Nationalparks Ruhrgebiet weiterentwickeln. Doch dann verweigerten die Kommunen Ganser die Gefolgschaft. Ein von interessierter Seite lanciertes Gutachten hatte sie aufgeschreckt: Die Agenturlösung sollte sie 110 Millionen Mark im Jahr kosten. Als auch die Landesregierung das Projekt fallenliess, war es gescheitert.


Kritik an der IBA

Dann kam der pompös inszenierte IBA-Schlusspunkt. Vom Finale versprach sich Ministerpräsident Wolfgang Clement Rückenwind für die bevorstehenden Kommunalwahlen im Spätherbst 1999. Sogar der Bundeskanzler kam an die Ruhr und lobte das Erreichte. Doch die Abstimmungen wurden für seine Partei zum Desaster: Die SPD verlor viele ihrer Hochburgen an die CDU und musste nach den herben Verlusten - besonders in den Kernstädten der IBA - befürchten, auch die Landtagswahlen im Mai 2000 zu verlieren, die sie aber am Ende doch noch gewann. In dieser Situation suchte Clement einen Sündenbock - und fand ihn in der IBA: Sie habe keine Arbeitsplätze geschaffen und damit ihr selbst gestecktes Ziel verfehlt, lautet die Kritik.

Nun ist es durchaus richtig, dass die IBA weit weniger beschäftigungswirksam war, als es sich mancher erhofft hatte. Aber nicht aus eigener Schuld, sondern wegen der politischen Grosswetterlage des Jahres 1989: «Als wir mit der IBA begannen, war einfach nicht vorauszusehen, dass im selben Jahr die Mauer fallen würde», rechtfertigt sich Zlonicky. Die jungfräulichen Märkte des Ostens hätten viele Investoren, die zuvor noch in Nordrhein-Westfalen investieren wollten, in die neuen Bundesländer gezogen, wo grosszügigere staatliche Hilfen winkten.

Der seit dem Ende der IBA häufig erhobene Vorwurf, die IBA sei nur etwas für Schöngeister gewesen, geht einher mit einem neuen paternalistischen Politikstil vor allem von Wirtschaftsminister Ernst Schwanhold (SPD). Nach zehn Jahren IBA müsse nun endlich wieder harte Wirtschaftspolitik gemacht werden, tönt es aus seinem Hause - als hätte es den partizipationsorientierten Politikstil der IBA nie gegeben. Damit das Ruhrgebiet «nicht den Anschluss an Europa verpasst», hat ihm Schwanhold eine Rosskur verordnet: Öffentliche Unterstützung erführen ab sofort nur noch jene Projekte, die Arbeitsplätze versprächen. Hintergrund der Eile: Bis 2006 läuft die letzte EU-Förderung aus Ziel-II-Mitteln für das Ruhrgebiet aus. Insgesamt 3,9 Milliarden Mark sollen noch fliessen. Bis dahin will der Wirtschaftsminister im ehemaligen industriellen Kernland Deutschlands 200 000 neue Arbeitsplätze geschaffen haben. Um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, hat sich die Landesregierung ein neues Instrument geschaffen: die Projekt Ruhr GmbH - wie die ehemalige IBA ebenfalls eine Landestochter. Sie soll nun richten, was die IBA angeblich versäumt hat: «Das Ruhrgebiet soll die Region der wirtschaftlichen und technologischen Innovationen werden», heisst das wichtigste Ziel. Auffällig ist, dass die IBA (ein gutes Jahr nach ihrem Ende) in dem Strategiepapier nicht einmal mehr erwähnt wird - als hätte es sie nie gegeben.


Verödung der Kulturlandschaft?

Kritiker wie Hans Heinrich Blotevogel sehen in der beabsichtigten Arbeitsweise der Projekt Ruhr GmbH als wirtschaftspolitische «Treiber-Einrichtung» einen Rückfall in alte Verhaltensmuster der Vor-IBA-Zeit: Nun dominierten wieder «Projekte von oben statt die Förderung kommunaler Eigeninitiativen. Das ist nicht das, was die IBA an innovativen Prozessen vorgemacht hat.» Die neue Regionalförderung werde nun bis 2006 wieder nach dem altbewährten Pawlow-Prinzip funktionieren, befürchtet Blotevogel: «Den Städten wird von der Landesregierung die Wurst hingehängt, und sie schnappen danach.»

Besonders die von der IBA geförderte Kulturlandschaft droht mit einer solchen Förderungspolitik zu veröden. Gefährdet sind vor allem Projekte mit experimentellem Charakter. Nur zu gut in dieses Bild einer Projektierung von oben passt auch die neueste Idee aus dem Hause Clement: Eine sogenannte Ruhr-Triennale soll der hiesigen Kulturlandschaft endlich auch zum Sprung in die überregionalen Feuilletons verhelfen. Als Lichtgestalt fungiert kein Geringerer als Gérald Mortier. Er wird ab 2003 mit einem 30-Millionen-Mark-Etat an die Ruhr geholt. Manche fragen sich, wo das Geld plötzlich herkommt und ob es dann nicht an anderer Stelle fehlen wird - bei der freien Kulturszene zum Beispiel, die schon jetzt ums Überleben kämpft.