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Barocke Raumwunder
Eine Ausstellung zur Vorarlberger Bauschule in Bregenz
Woran liegt es, dass Graubünden, das Tessin und Vorarlberg immer wieder wichtige Beiträge zur europäischen Architektur geleistet haben? Unter anderem an den beschränkten Arbeitsmöglichkeiten, welche die Baumeister und Handwerker aus ihrer kargen Heimat in die Welt hinaus streben liessen. Dabei erlaubte es ihnen eine enge verwandtschaftliche Organisation, alle Aufgaben vom Entwurf bis hin zur künstlerischen Ausgestaltung im Team auszuführen. Während sich ganze Dynastien von Tessinern in Rom oder St. Petersburg niederliessen, zogen die seit etwa 1650 in der Auer Zunft organisierten Vorarlberger im 17. und 18. Jahrhundert als Saisonniers nach Süddeutschland, in die Ostschweiz oder ins Elsass und kehrten im Winter zur Weiterbildung heim. Längst gehört der familiäre oder zünftische Zusammenschluss der Vergangenheit an, und dennoch herrscht unter den Architekten in Bregenz, Chur oder Lugano weiterhin ein gemeinsames Interesse an handwerklicher Perfektion und konstruktiver Einfachheit, was sich bis heute in ebenso pragmatischen wie qualitativ hochstehenden Bauten manifestiert.
Solche Sachverhalte untersucht nun eine den Meistern aus dem Bregenzer Wald gewidmete Ausstellung im Vorarlberger Landesmuseum in Bregenz und gewichtet zugleich die Stellung der lokalen Bauschule im barocken Kontext neu. Denn die von den Beers, den Thumbs und Caspar Moosbrugger errichteten Kloster- und Wallfahrtskirchen von Birnau, Einsiedeln, Rheinau, St. Gallen oder Weingarten sind nicht nur strahlende Gesamtkunstwerke, sondern auch Hauptbeispiele der zum Synonym der Vorarlberger Schule gewordenen und als Antithese zu Borrominis Raumkunst geltenden barocken Wandpfeilerkirche.
Diese baukünstlerischen Juwele bilden den Auftakt zu einer von Werner Oechslin konzipierten und von einem kleinen Katalogbuch begleiteten Schau. In deren Zentrum stehen die «Auer Lehrgänge», zwei 1940 wiederentdeckte, aber jetzt erstmals ausgestellte Konvolute lavierter Zeichnungen, welche von den Mitgliedern der Auer Zunft - Baumeistern, Steinmetzen und Stuckateuren - zur Schulung verwendet wurden. Die wohl um 1715 im Moosbrugger-Kreis entstandenen Musterbücher geben Darstellungen aus den Theoriebüchern von Vignola, Pozzo und Daviler, aber auch im Zusammenhang mit Vorarlberger Bauten entstandene Entwürfe wieder und sind so wertvolle Dokumente der barocken Architekturausbildung. Darüber hinaus gewährt die kompakte Schau am Beispiel des Klosters Mehrerau Einblicke in die kollektive Baupraxis der Vorarlberger, die - wie das Schlusskapitel zeigt - in einzelnen Fällen bis heute das Architekturgeschehen im Westen Österreichs prägt.
[ Bis 29. Oktober im Vorarlberger Landesmuseum. Katalog: Architectura practica. Barockbaumeister und moderne Bauschule aus Vorarlberg. Hrsg. Tobias Natter und Ute Pfanner. Bucher-Verlag, Hohenems 2006. 94 S., Euro 17.-. ]
Baukünstlerische Höhenflüge
Alternativen zur Architekturbiennale in Buchform
Immer mehr Architekten fühlen sich als Künstler. Dies lässt sich nirgends so gut ablesen wie an den Kulturbauten, die mit skulpturalen Formen oder dramatischen Raumfolgen ihren Inhalt ganz bewusst zu überbieten trachten. Ikonen wie Frank Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao, Jean Nouvels KKL, Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin, Zaha Hadids «Phæno»-Center in Wolfsburg oder Ben van Berkels Mercedes-Benz- Museum in Stuttgart, die oft nur ihrer Architektur wegen besucht werden, gelten als Hauptfaktoren des Städtetourismus und der Standortgunst. Doch solche baukünstlerische Höhenflüge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst in führenden Architekturnationen wie der Schweiz, den Niederlanden oder Spanien die gebaute Wirklichkeit im besten Fall Mittelmass darstellt, dieweil man die Meisterwerke suchen muss.
Verführerische Bauwerke
Es liegt nicht allein an dieser Unstimmigkeit, dass die neuste Architekturbiennale, die am vergangenen Sonntag in Venedig ihre Tore öffnete, vom Kult der Einzelbauten wegzukommen und das Augenmerk vermehrt auf die Stadt und deren Sorgen zu richten sucht. Unter der Leitung des Londoner Architekten und Stadtplaners Richard Burdett will sie darlegen, wie sekundär Aspekte der architektonischen Ästhetik verglichen mit den Herausforderungen und Chancen sind, welche die rasante Verstädterung mit sich bringt. In einer Welt, in der es bald Dutzende von Megastädten mit über 20 Millionen Einwohnern geben soll, muss über die urbane Zukunft nachgedacht werden - und dennoch fragt man sich, ob der Grossanlass in der Lagune ein Publikum, das auf visuelle Reize und nicht auf Belehrung aus ist, befriedigen oder gar fesseln kann.
Als Alternative zur eher faktenorientierten Architekturbiennale bietet sich den Liebhabern kunstvoller Bauten die Möglichkeit, gleichsam vom Sofa aus die neusten Highlights zu besichtigen: weltweit in Form einer heiteren Blütenlese oder - etwas reflektierter - auf virtuellen Reisen durch Grossbritannien, Japan, die Niederlande und die Schweiz. Möglich wird dies dank zwei Serien reich bebilderter, vom Kunst- und Architekturpublizisten Philip Jodidio im Taschen-Verlag herausgegebener Übersichtswerke. Von der 2001 gestarteten Reihe «Architecture Now» liegt bereits der vierte Band vor. Er zeigt 83 neue Arbeiten von 73 Architekten. Erhellen die einen Gebäude die Bezüge zwischen Architektur und Kunst, so loten andere das ökologische Potenzial des Bauens aus. Die nüchterne Kiste muss dabei immer öfter zerklüfteten neokubistischen Kreationen oder biomorphen Archiskulpturen weichen. Denn das Publikum sehnt sich ganz offensichtlich nach komplexen Gebilden wie der Seattle Central Library von Rem Koolhaas oder nach verspielten Anlagen wie dem Dalki-Themenpark von Moongyu Choi im südkoreanischen Paju.
Überbordender Bilderreigen
An diesem Kokettieren mit dem schönen Schein kann sich die solide Schweizer Baukunst höchstens mit den Kultbauten von Herzog & de Meuron in München, Minneapolis und San Francisco beteiligen. Wer mehr über die hiesige Szene erfahren will, greift deshalb zum Band «Architecture in Switzerland». Neben Arbeiten international bekannter Grössen wie Roger Diener oder Peter Zumthor finden sich so unterschiedliche Bauten wie die buntfarbene Primarschule in Rolle von Devanthéry & Lamunière aus Genf oder der über einem Glassockel schwebende Kupferquader von Aldo Celorias Villa Travella in Castel San Pietro. Da auch hier verführerische Bilder die Botschaft überbringen müssen, kommt etwa der Zürcher Wohnungsbau, der wichtigste Beitrag der Limmatstadt zur Schweizer Architektur der letzten Jahre, nicht mit seinen innovativsten Beispielen zum Zug, sondern mit der neoexpressionistischen Siedlung Broëlberg von E2A und der «Wallpaper»-Extravaganz eines Hauses am Üetliberg von Fuhrimann Hächler. Dennoch gibt der Querschnitt einen gültigen Einblick in die sich allmählich von der «Schweizer Kiste» lösende Baukunst unseres Landes, dessen architektonische Psychologie Jodidio in der kurzen Einführung erstaunlich gut trifft.
Ähnlich repräsentativ ist der Band «Architecture in the United Kingdom», der wie alle Publikationen dieser neuen Serie knapp 30 Arbeiten von rund 15 Büros in einem Bilderreigen vorführt. Nicht zu übersehen ist eine gewisse baukünstlerische Erstarrung im Inselreich, wo noch immer die beiden Lords - Norman Foster und Richard Rogers - das Sagen haben. Auch wenn der bald 60-jährige Exzentriker Will Alsop die Popkultur von Archigram in die Gegenwart hinüberretten will, gehen derzeit die interessantesten Impulse von Architekten aus, die von überall her nach London streben. Während das iranisch-spanische Duo FOA in seiner neuen Wahlheimat erst Projekte vorweisen kann, ist der aus Tansania stammende David Adjaye mit seinen Idea Stores bereits zum Idol der Jungen geworden.
Selbst in den Niederlanden, dem «Hollywood der Architekten», ist eine gewisse kreative Stagnation auszumachen. Das können die geheimnisvoll im Wasser sich spiegelnden «5 Sphinxen» von Neutelings Riedijk in Huizen oder das wie in einem Eissturm erstarrte Rathaus von Erick van Egeraat in Alphen aan den Rijn ebenso wenig überspielen wie die Neustadt Almere, in der neben dem Vordenker Rem Koolhaas auch Nachwuchsarchitekten tätig sind. Diese stehen jedoch meist im Bann der übergrossen Vorbilder oder dann der neusten Moden, wie der deutlich an Koolhaas' Rotterdamer Kunsthal inspirierte Teepavillon von SeARCH in Rheden oder die Blob-Architektur von Nox zeigen.
Japan hingegen scheint aus seiner Krise herauszufinden. Neben Fumihiko Maki, Arata Isozaki oder Tadao Ando, den vielbeschäftigten Vertretern der «grauen» Neo- und Postmoderne, konnten jüngst die angesehenen Büros von Toyo Ito und Sanaa wichtige Aufträge realisieren, darunter die Flagship-Stores grosser Modefirmen. Diese erlauben es ihnen genauso wie ihrem Kollegen Jun Aoki, den baukünstlerischen Luxus zu thematisieren. Mit Kulturbauten beweisen sich schliesslich einige jüngere Architekten: Takaharu und Yui Tezuka mit dem klosterartigen Museum für Naturwissenschaften in Matsunoyama oder Makoto Yokomizo mit dem camouflierten, von Mies van der Rohe beeinflussten Tomihiro- Kunstmuseum in Azuma. Im Häuserbrei der endlosen japanischen Stadtlandschaften kommt diesen Juwelen nicht zuletzt die wichtige Aufgabe von städtebaulichen Katalysatoren zu.
[ Philip Jodidio: Architecture Now. Band 4. Taschen-Verlag, Köln 2006. 575 S., Fr. 50.-. ]
[ Architecture in Japan; Architecture in the Netherlands; Architecture in Switzerland; Architecture in the United Kingdom. Alle vier Bände: Hrsg. Philip Jodidio. Taschen-Verlag, Köln 2006 (dreisprachig: dt., engl., frz.). Je 192 S., Fr. 35.-. ]
Glas und Farbe
Das Lakefront Center von Justin Rüssli in Luzern - ein neuer Akzent in der Schweizer Hotel-Landschaft
Die Belle Epoque gilt als die grosse Zeit der Hotellerie. Den damals in den Metropolen und eleganten Kurorten entstandenen Luxustempeln ebenbürtig waren wohl erst wieder das «Fontainebleau» oder das «Eden Roc» mit ihren glitzernden Lobbys, Klubs und Restaurants, die Morris Lapidus um 1955 im Norden von Miami Beach schuf. Ende der achtziger Jahre brachte dann Ian Schrager mit den von Philippe Starck gestylten New Yorker Häusern «Royalton» und «Paramount» das Designhotel in Mode. Neue baukünstlerische Impulse erhoffte man sich daraufhin von Schragers Projekt am Astor Place in Manhattan, das Herzog & de Meuron und Rem Koolhaas zu einem Leuchtturm in der Hotel- Landschaft machen sollten. Doch das ehrgeizige Projekt scheiterte 2001. An seiner Stelle zogen leider bald schon pompöse Riesenbauten wie der segelförmige «Burj al-Arab» in Dubai oder die mit Design überladene «Puerta América» in Madrid die Aufmerksamkeit auf sich.
Hierzulande setzte der Wiederaufschwung im Hotelbau Mitte der neunziger Jahre ein mit Tilla Theus' Transformation einer Zürcher Altstadtzeile zum Hotel «Widder» und der Erweiterung des «Zürichbergs» um einen schneckenförmigen Solitär von Burkhalter & Sumi. Vor zwei Jahren dann konnte mit dem architektonisch bedeutenden «Park Hyatt» von Meili Peter Zürichs erstes grosses Stadthotel des 21. Jahrhunderts eröffnet werden. Ihm folgte nun vor sechs Wochen in Luzern das «Radisson», das mit seiner skulpturalen Glashaut noch abstrakter wirkt als das Zürcher Luxushaus und einen farbigen Akzent in die Luzerner Hotel-Landschaft setzt. Seit die Leuchtenstadt mit Jean Nouvels KKL über eine neue Attraktion verfügt, herrscht bei den Hoteliers Aufbruchstimmung. So konnten Diener & Diener dem altehrwürdigen «Schweizerhof» und Pia Schmid dem «Montana» zu einem zeitgemässen Auftritt verhelfen, während Nouvel einen Altbau in das trendige «The Hotel» verwandelte; und zurzeit erweitern Herzog & de Meuron das 1957 wegweisende «Astoria», ein Frühwerk von Theo Hotz, um einen Anbau zum Kongresshotel.
Anders als diese Häuser, die entweder an der Seepromenade, am Hang oder im schönen Gründerzeitquartier zwischen Bahnhof und Altstadt liegen, erhebt sich das «Radisson» als Teil des multifunktionalen, auch Schulen und Wohnungen umfassenden Lakefront Center zwischen Bahnhof, KKL, Werftanlage und Dienstleistungszone in einer ebenso heterogenen wie städtebaulich spannenden Umgebung, die bis vor zwei Jahren noch durch die Güterschuppen der Bahn geprägt war. Obwohl es mit einem Nutzungsmix auf die wenn nicht schöne, so doch abwechslungsreiche Nachbarschaft antwortet, tritt das Lakefront Center zum See hin ganz entschieden als Stadthotel auf. Der 42-jährige Luzerner Architekt Justin Rüssli, der seine Sporen bei Steven Holl in New York abverdiente und in Zusammenarbeit mit diesem soeben die Schweizer Botschaftsresidenz in Washington vollenden konnte, gab dem Gebäude gleich mehrere Gesichter. Seine grösste Bildhaftigkeit erreicht das wie die Washingtoner Residenz mit seinen rechtwinkligen Auskerbungen und Erkern an eine minimalistische Skulptur gemahnende Haus an der Seefassade, die sich wie die Werftfassade aus einer Vielzahl gläserner Rechtecke zusammensetzt. Dabei erzeugen die bunten, in den Fenstern angebrachten Sonnenstoren ein Farbenspiel, das Erinnerungen an Holls MIT-Studentenheim in Cambridge wachruft.
Die zum Pilatus hin orientierte Gebäudewand öffnet sich auf einen U-förmigen, wiederum von drei unterschiedlichen Fassaden gefassten Innenhof, den sich Hotel und Schulen teilen. Man betritt ihn von einer der beiden das Bahnareal überspannenden Passerellen aus auf einer angedockten Brücke, die bereits den industriellen Touch der Gleisfassade vorwegnimmt. Diese mehrfach gebrochene Rückseite des Gebäudes verweist ihrerseits mit einer fünfgeschossigen Auskragung ganz im Norden auf die elegante Seefront.
Spaziert man vom KKL am Inselipark vorbei in Richtung Werft, so erblickt man vom Lakefront Center zunächst die seeseitige Terrasse des Hotelrestaurants. An der Werftstrasse betritt man die in kühles Blau getauchte Lobby des «Radisson», deren Wellenmotive und Raumteiler aus Fiberglas-Stäben an ein Aquarium denken lassen. Der transparente Raum geht fliessend über in die in Retrofarben von Orange bis Violett gehaltene Lounge-Bar mit ihren geblümten Sofas und den Sesseln von Ron Arad. Am Schluss der heiteren Raumsequenz wartet das Restaurant mit erdigen Tönen, dezentem Mobiliar und einer orange illuminierten Schauküche auf. Aus dieser von Justin Rüssli und dem französischen Designer Henry Chebaane ganz lichtdurchlässig konzipierten Eingangsebene führt eine Treppe hinauf zu den introvertierten Tagungs- und Kongressräumen. Darüber befinden sich die 165 bald in coolem Business-, intimem Ferien- oder angesagtem Freizeitlook gehaltenen Zimmer und Suiten. Anders als Nouvels «The Hotel», das sich mit kunstvoll inszenierten Räumen an ein mondänes Publikum richtet, will das «Radisson» als angenehme Light-Version eines Designhotels einem breiten Publikum gefallen.
Noch schöner als die Hotelgäste haben es nur die Besitzer der 23 Maisonettewohnungen, die sich im siebten und achten Geschoss wie ein Kranz um das Gebäude winden und dessen Starrheit rhythmisch auflösen. Dank wechselnden Ausblicken auf Berge, See und Bahnhof darf man sich hier permanent in den Ferien wähnen.
Verstand und Gefühl
Weitung des Blickfelds - neue Entwicklungen und Tendenzen in der Tessiner Architekturszene
Ihren ersten Grossauftritt erlebte die Tessiner Architektur anlässlich der Zürcher «Tendenzen»-Ausstellung von 1975. Mit der vor gut zehn Jahren von Mario Botta vorangetriebenen Gründung der Architekturakademie Mendrisio etablierte sich dann die «Tessiner Schule». Seither formierte sich - von vielen kaum bemerkt - eine vitale junge Architektenszene.
Das alte Klagelied, architektonischer Wildwuchs habe in den vergangenen Jahrzehnten weite Gebiete des Tessins in eine gesichtslose Agglomeration verwandelt, hört man von Deutschschweizern immer wieder. Dabei spiegelt sich in dieser Entwicklung nur ein gesamtschweizerisches Phänomen. Die durch den ungezügelten Bauboom bewirkte Landschaftszerstörung nahmen die Protagonisten der «Tessiner Schule» schon in den sechziger Jahren wahr. Der immer noch unterschätzte Rino Tami konzipierte damals einen Bebauungsplan für die später zum suburbanen Chaos verkommene Scairolo-Ebene bei Lugano. Doch dieser scheiterte an den gegenläufigen Interessen der vielen Kleingemeinden.
Anders als etwa der von Frank Lloyd Wright begeisterte Franco Ponti, der 1961 das pittoreske San-Michele-Quartier bei Caslano als eine Art Kleinvenedig diskret in eine Bucht des Luganersees fügte, setzten Aurelio Galfetti, Luigi Snozzi, Livio Vacchini und bald auch Mario Botta oder Ivano Gianola mit harten Betongebäuden im amorphen Häuserbrei auffällige Zeichen, die jedoch die Zersiedelung nicht bremsen, sondern allenfalls ästhetisieren konnten. Gleichwohl begründete ihr formal höchst unterschiedliches Schaffen, das 1975 dank der Zürcher Ausstellung «Tendenzen - Neuere Architektur im Tessin» fast über Nacht zu internationalen Ehren kam, einen in den Jahren der postmodernen Popularisierung der Baukunst vielbeachteten Regionalismus. Ging es bei dieser Architektur für Architekten anfangs um Denkmodelle, so stand bald schon das Bauen im Mittelpunkt. Das ist bis heute so geblieben, kümmert sich doch die neuste Architektengeneration weniger um die Ethik und den Widerstand von einst als vielmehr um das Realisieren von Bauten, deren bildhafte Fassaden Stimmung und Atmosphäre vermitteln wollen.
URBANISTISCHES DESINTERESSE
Gut drei Jahrzehnte sind es nun her, seit die Welt erstaunt von einer Architektur des Aufbegehrens in der italienischsprachigen Schweiz Kenntnis nahm. Vor zehn Jahren dann, als es um die Baukunst des Südkantons bereits ruhiger geworden war, wurde die Accademia di Architettura in Mendrisio gegründet, an der seither bedeutende Architekten und Theoretiker aus dem In- und Ausland unterrichten. Trotz dieser Schule und den andauernden Erfolgen von Botta, Gianola, Snozzi und Vacchini nahm aber das Interesse am Tessiner Architekturgeschehen ab. Selbst vor Ort hat die qualitativ hochstehende Architektur - obwohl sie von den Tourismusbehörden seit Jahren gerne und gezielt vermarktet wird - einen schweren Stand.
Bevorzugt gelegene Bauten werden meist von Durchschnittsbüros realisiert, wie etwa das Projekt des megalomanen Palazzo Mantegazza von Giampiero Camponovo an der Seepromenade in Lugano Paradiso oder der rein spekulative Zwillingsbau der «Residenza Forum» am Lungolago von Locarno zeigen. Nun sollen auf der anschliessenden Parzelle noch die letzten historischen Bauten am Ufer - ein schönes Beispiel der Novecento-Architektur sowie ein kleines Gründerzeit- Hotel - einem weiteren Luxus-Apartmenthaus weichen. Hier werden Vetternwirtschaft, die fehlende architektonische Kultur der Investoren und das skandalöse Schweigen der Architektenschaft sichtbar, aber auch ein mangelndes Sensorium breiter Kreise - auf baukünstlerischem wie auf städtebaulichem Gebiet. Allerdings hat es nicht einmal die Architekturakademie in Mendrisio mit ihrem Allerweltsneubau von Soliman und Zurkirchen geschafft, als Vorbild zu wirken.
Was das urbanistische Engagement für die Stadt betrifft, so tun und taten sich schon die Exponenten der Tessiner Tendenza schwer, auch wenn einige sorgfältig ins Stadtgewebe integrierte Bauten wie Galfettis Postgebäude in Bellinzona und Bottas Ransila-Geschäftshaus in Lugano (beide 1985 vollendet) das Gegenteil zu untermauern scheinen. Mit ihrer Architektur der «starken Formen» vermochten sie zwar Orte zu bauen und damit Akzente in der Landschaft zu setzen. Aber die Stadt mit ihren komplexen historischen und soziologischen Bezügen blieb ihnen eher fremd, vielleicht weil diese sich kaum für autistische Solitäre eignet. Das veranschaulicht etwa Bottas krabbenartiger Zylinder des Centro Cinque Continenti (1992), welcher sich nicht in den Strassenraster von Paradiso integrieren will.
Zu einer eigenen Theorie des Städtebaus fand seit den siebziger Jahren nur Snozzi über seine urbanistische Kritik in Monte Carasso. Bis heute ist dieser Vorort von Bellinzona neben Iragna, wo Raffaele Cavadini mit einigen gezielten Eingriffen das urbanistische Gewebe zu festigen verstand, der einzige Ort, der ahnen lässt, wie sich die Tessiner Dörfer und Städte in den vergangenen Jahrzehnten glücklicher hätten entwickeln können. Doch ebenso schwer wie das verbreitete stadtplanerische Desinteresse der Architekten wiegt der Mangel an politischem Willen in einem in zahllose Gemeinden aufgesplitterten Kanton, in welchem mittelmässige Architekten gerne Bürgermeister spielen. So wird im Tessin nicht Städtebau betrieben, sondern der Siedlungsteppich der Città diffusa immer weiter ausgebreitet. Statt diesen Zustand zu kritisieren, pries Galfetti schon 1993 - anlässlich seiner Ausstellung im Museo Vela in Ligornetto - die durch die suburbane Wucherung entstandene Bandstadt, die sich der Autobahn entlang von den Toren Comos bis fast zum Gotthard hin ausdehnt, als Ausdruck des zeitgenössischen, im Tessin ganz auf das Privatfahrzeug ausgerichteten Lebens.
Neuerdings bilden sich in diesem amorphen Häusermeer aber einzelne Kristallisationskerne wie das 2005 eröffnete Max Museo von Pia Durisch und Aldo Nolli in Chiasso. Gleichzeitig versucht Lugano seine städtischen Qualitäten zu stärken: In den nächsten Jahren soll hier - ausgehend von Ivano Gianolas Plänen - die Ruine des Grand-Hotels «Palace» in ein Zentrum mit Kunstmuseum, Theater- und Konzertsaal umgebaut und erweitert werden; und derzeit wird die lange vernachlässigte Zone rund um den Jachthafen an der Cassarate-Mündung nach den Entwürfen von Gino Boila und Enzo Volger urbanistisch aufgewertet. Ebenfalls in Lugano konnte 1998 Galfetti, der kurz zuvor noch in Locarno mit seiner Megarotunde ein städtebaulich fragwürdiges Zeichen gesetzt hatte, einen vorbildlichen Masterplan für den neuen, im Jahr 2002 eröffneten Universitätscampus vorlegen. Das Bauen überliess er - mit Ausnahme der von ihm und Jachen Könz konzipierten Aula Magna - jüngeren Architekten wie Sandra Giraudi und Felix Wettstein, die das Laboratorio bauten, oder Giorgio und Michele Tognola, welche einen vorbildlichen Bibliotheksumbau realisieren konnten. Mittlerweile geht die zweite Bauphase mit dem Gebäude der Informatikwissenschaften der Tognolas und dem als Scharnier zwischen den Neubauten und dem denkmalgeschützten Altbau dienenden Corpo Centrale, einem Kubus mit Glasstirn und seitlichen Betonwangen von Elio Ostinelli, der Vollendung entgegen. So ist hier ein Ort im Werden, an dem sich die Tessiner Architektur in ihrer heutigen Ausdrucksvielfalt ganz ähnlich manifestieren kann wie einst die Tendenza im Schulbauprogramm der siebziger Jahre.
WEITUNG DES BLICKFELDS
Es sind also nicht die international bekannten Exponenten der «Tessiner Schule», die - wie so oft vermutet - dem Nachwuchs im Wege stehen. In einem kleinen Land, das nur selten Prestigeaufträge zu vergeben hat, leiden die jungen Architekten vielmehr unter den komplexen politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Konstellationen. Diese hinderten schon die mittlere Generation an der Entfaltung. Man trifft daher nur selten auf deren Bauten. Dabei überzeugen Arbeiten wie Cavadinis ethnographisches Museum (2000) in Olivone oder Michele Arnaboldis Raiffeisenbank (2002) in Intragna durch ihre kritische Weiterführung der Ideen der Tendenza mittels eines kargen Minimalismus und Roberto Briccolas Bauten durch eine asketische Einfachheit, mit der er allerdings immer wieder aneckt, wie der langwierige Streit um sein bereits 1998 errichtetes und mit viel Kritikerlob bedachtes Ferienhaus in Campo Vallemaggia zeigt.
All diesen Schwierigkeiten zum Trotz kehren auch heute die jungen Tessiner Architekten nach ihren Lehr- und Wanderjahren fast immer in ihre Heimat zurück - nicht zuletzt, weil sie hoffen, dank ihrer Kenntnis der lokalen Verhältnisse und dank ihren Beziehungen der architektonischen Kultur neue Impulse vermitteln zu können. Obwohl sie die Anliegen der Tendenza - vom kritischen Dialog mit dem Territorium bis zum Lavieren zwischen «poesia e maniera» - durchaus respektieren, pflegen sie einen in der steten Auseinandersetzung mit dem aktuellen Architekturdiskurs weltgewandter gewordenen baukünstlerischen Ausdruck. Eine der Tendenza ebenbürtige, aber den neusten Strömungen auf dem Gebiet der Architektur adäquate regionale Sprache zu kreieren, fällt ihnen dennoch schwer, zumal ihnen als Betätigungsfeld meist nur der Privatauftrag bleibt, der sich oft in Umbauten oder in der Realisation von Einfamilienhäusern erschöpft.
NEUER INTERNATIONALISMUS
Auch wenn der Bau kleiner Villen im engräumigen Tessin oft eine weitere Beeinträchtigung von Dorfbildern und Landschaften zur Folge hat, zeitigt er doch immer wieder interessante Lösungen. Erwähnt sei nur der geschickt in den vorstädtischen Kontext eingebettete karge Betonkörper der 2004 in Monte Carasso vollendeten Casa Grossi, bei der Giacomo und Riccarda Guidotti das Gleichgewicht dramatisch zu inszenieren wussten und gleichzeitig Snozzis architektonische und urbanistische Ideen virtuos weiterdachten. In einer globalisierten Welt, in der sich die Architektur fast nur noch durch spektakuläre Werke Gehör verschaffen kann, wird es jedoch immer schwieriger, mit solchen Miniaturen überhaupt noch zur Kenntnis genommen zu werden. Denn die von klingenden Namen beherrschte Szene lässt kaum mehr Platz für architektonische Haltungen, die sich mit den historischen, topographischen oder baugeschichtlichen Eigenheiten eines Gebiets auseinandersetzen.
So macht sich auch im Tessin - wie in anderen Hochburgen des Regionalismus von Katalonien über die Deutschschweiz und Vorarlberg bis in die Steiermark - dank einem durch die Medien geförderten Ideenaustausch und der rasend schnellen Verbreitung des computergestützten Entwerfens eine globalisierende Tendenz bemerkbar. Die äussert sich derzeit in skulptural abgewinkelten oder blobartig-organischen Baukörpern, die neben den kantigen Betonhäusern, wie sie etwa die Guidottis oder Cavadini pflegen, auch in der Südschweiz immer öfter anzutreffen sind. Das hat zur Folge, dass sich Tessiner Bauten zusehends weniger von anderswo ausgeführten Werken unterscheiden. Diese Entwicklung lässt sich etwa im Schaffen von Giorgio und Giovanni Guscetti aufzeigen: Während in deren burgartiger, von einem fast romanisch strengen «Bergfried» akzentuierter Zentrumsbebauung in Airolo urbanistische Gedanken von Snozzi nachklingen, zeugt die gekrümmt in die Höhe wachsende Kletterhalle, die wie ein Periskop aus der Auenlandschaft von Ambri auftaucht, von einer Öffnung hin zum Internationalen.
Von der kompromisslos harten Haltung der alten Garde haben sich die jungen Tessiner Architekten ebenso befreit wie von deren Tabula-rasa-Mentalität. Das demonstriert etwa die feinfühlige Vergrösserung eines alten Loggienhauses von Mario Ferrari, Michele Gaggetta und Stefano Moor in Cureglia (1999), die Restaurierung eines geschundenen mittelalterlichen Steinhauses in Mendrisio (2000) und des hoch über Claro gelegenen Benediktinerinnenklosters Santa Maria Assunta (2004) durch Durisch & Nolli. Mit dem Ort, seiner Geschichte und Atmosphäre haben sich diese Luganeser Architekten danach auch beim Projekt des Max-Museums in Chiasso (2005) auseinandergesetzt und daraus eine Architektur der Bilder und der Stimmungen geschaffen, die internationalen Vergleichen standhält. Ebenso vielseitig geben sich Britta und Francesco Buzzi aus Locarno. Nachdem sie in Ascona mit der Villa «sulla Roccia» ein Traumhaus aus dem Geist der sechziger Jahre geschaffen und in Gerra Gambarogno eine minimalistische Holzkonstruktion in die brüchige Aussenhülle eines Rusticos eingefügt hatten, entschieden sie sich bei einer ihrer neusten Planungen, einem wie eine kubistische Plastik aus den alten Trockenmauern herauswachsenden Haus in Ronco über dem Lago Maggiore, für eine ganz modisch-aktuelle Formensprache. Mit dieser spielt auch der Luganese Luca Gazzaniga, wie seine stark vom gegenwärtigen Architekturdiskurs geprägten Davoser Entwürfe oder die von organischen Öffnungen durchdrungene Casa Cedrini in Muzzano beweisen. Dabei setzt er seine Villen eleganten Möbeln gleich ins Grüne, als wolle er damit der von der Tendenza propagierten «starken Form» eine Abfuhr erteilen.
Die Casa «Le Terrazze» von Giraudi & Wettstein am Monte Brè in Lugano scheint hingegen gleichsam aus dem Berg herauszubrechen, wobei das freie Linienspiel der Sonnendecks und der relingartigen Geländer der lieblichen, von Buchten und Hügeln geprägten Landschaft am Luganersee antwortet. Damit erinnert dieses Werk an die von ihnen zusammen mit Cruz & Ortiz konzipierte Basler Bahnhofspasserelle, bei der sie mit einem gezackten Dachverlauf auf die Juraketten Bezug nahmen. Der freie Fluss der Wände bestimmt auch ihr siegreiches Wettbewerbsprojekt für die Neugestaltung der Hauptfassade des etwas in die Jahre gekommenen Luganeser Kongresshauses. Doch dieser überzeugende Entwurf aus dem Jahre 2004 harrt derzeit - wie manch anderer Wettbewerbsentwurf im Tessin - der Ausführung. Das ist umso bedauerlicher, als die jüngeren Tessiner ihre Vorstellungen in den grossen Ausschreibungen der jüngsten Zeit für das Centro Turistico Culturale in Ascona oder die Neubebauung des Campo Marzio in Lugano nicht durchsetzen konnten. Da erweist es sich als eine glückliche Fügung, dass die Tessiner Sektion des Schweizerischen Alpenclubs (SAC) - im Gegensatz zu anderen touristische Institutionen - die junge heimische Architektur entdeckt hat. Ausgehend von einem Wettbewerbsentwurf, konnten Nicola Baserga und Christian Mozzetti aus Muralto hoch über Bedretto die hotelartige Berghütte «Cristallina» errichten, deren langgestreckter Flachdachbau aus Holz über den Bruchsteinsockel in Richtung Tal zu gleiten droht und so einen geschützten sonnenseitigen Vorplatz schafft. Die Erfahrung, die sie mit diesem Haus und dem vor genau einer Woche eröffneten hochhausartigen Michela-Motterascio-Refugium im Bleniotal sammelten, brachte ihnen nun über eine weitere Ausschreibung den Auftrag für die fein proportionierte Erweiterung der Moiry-Hütte im Val d'Anniviers, die gleichsam neben dem Altbau über dem Abgrund schweben wird.
SCHÖ4NHEIT UND GLAMOUR
All die erwähnten Bauten und Projekte machen deutlich, dass derzeit die Tessiner Architektur weder programmatisch noch formal eine einheitliche Linie kennt. Das überrascht nicht, denn schon zur Zeit der Tendenza pflegten die Protagonisten ihre eigene Sprache. Nur wurde diese damals von einer kämpferischen gesellschaftspolitischen Haltung übertönt. Es lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten unter den jungen Tessinern ausmachen. So ist für sie - anders als in Italien, wo die Theorie immer noch weit über der Praxis steht - weiterhin die Bauausführung zentral. Dabei haben sie die Architektur des Aufbegehrens in eine Baukunst der Gefühle und der Stimmungen transformiert, in der mediterrane Phantasie, lateinische Rationalität sowie eine deutschschweizerisch inspirierte Sachlichkeit und Detailsorgfalt zusammenfinden.
Wenn man heute noch von einer Tessiner Architektur spricht, dann wohl in erster Linie hinsichtlich dieser Vermischung von cis- und transalpinen Haltungen und des Ideenaustausches zwischen Nord und Süd. Dazu gesellt sich die mit einer Offenheit für internationale Diskurse einhergehende Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Betons, die bei Buzzi & Buzzi, Giraudi & Wettstein oder den Tognolas zu minimalen Betonskulpturen und bei Durisch & Nolli zu einer Verschränkung von Raum und Konstruktion führte. Das einstmals ethisch begründete Streben nach Einfachheit scheint dabei allerdings immer mehr einer Sehnsucht nach Schönheit und Glamour zu weichen.
Moderne Manierismen
Joze Plečnik überstrahlt den Architektursommer an der Donau
Im Wiener Sommer häufen sich alljährlich die Architekturereignisse. Obwohl es sich dabei meist nur um kleinere Ausstellungen handelt, verdichten sie sich jeweils zu einem neuen Bild. Diesmal lenkt eine Joze-Plečnik-Retrospektive den Blick auf das manieristisch Übersteigerte.
Wie ein riesiges Füllhorn erscheint Wien all jenen, die sich für das Gebaute interessieren. Das beeindruckte schon Joze Plečnik (1872-1957), nachdem er sich 1892 von Ljubljana über Graz in die Donaumetropole vorgetastet hatte. Damals war die Ringstrassen-Architektur en vogue - und stellte mit ihrem Pomp eine Herausforderung für den strengen Slowenen dar. Aus heutiger Sicht darf sie denn auch als Nährboden der Wiener Moderne gelten, selbst wenn die unlängst von Wien Tourismus herausgegebene Architekturbroschüre «Vom Jugendstil bis zur Gegenwart» kein Auge für die Bauten von Hansen, Semper oder Ferstel hat. Dafür verweist das kleine, in sechs Kapitel gegliederte Heft nicht nur auf Ikonen wie das Loos-Haus, sondern auch auf weniger bekannte Meisterwerke wie den Ringturm von Erich Boltenstern, das Hauptwerk der Wiener Nachkriegsarchitektur, in welchem die Sachlichkeit von Adolf Loos weithin sichtbar weiterlebt. Im Ausstellungsraum der Ringturm-Lobby wird nun das Werk von Plečnik präsentiert, der anlässlich der grossen Pariser Retrospektive von 1986 «wiederentdeckt» wurde und seither vielen als erster postmoderner Architekt gilt.
Plečniks übersteigerte Klassik
Die Ausstellung dokumentiert Plečniks Schaffen in Wien, Prag und Ljubljana anhand von reproduzierten Plänen, Zeichnungen und Fotos. Weiter sind kunsthandwerkliche Gegenstände, Stühle und Zeichnungen aus Privatbesitz zu sehen. Die fulminanten Blätter aus dem Ljubljaner Nachlass aber fehlen. Mit solchen Skizzen feierte der ursprünglich zum Tischler ausgebildete Plečnik in Wagners Atelier erste Erfolge, um sich dann 1901 nach seiner prägenden Italienreise in Wien selbständig zu machen. Die Unabhängigkeit von Wagner demonstrierte er mit der am französischen Jugendstil inspirierten, von einem Rosenteppich überzogenen Villa Langer. Ihr folgten das von Sempers Bekleidungstheorie ausgehende Zacherl-Haus und 1913 die tempelartige Heilig- Geist-Kirche, ein früher Betonbau, der dem Thronfolger missfiel und Plečnik letztlich um eine Wiener Professur brachte. Stattdessen unterrichtete er in Prag, wo er seine Ruhmestaten - die Umgestaltung der Burg und den Bau der in einen «Hermelinpelz» aus Klinker und Stein gehüllten Herz-Jesu-Kirche - erst nach der Übersiedlung in seine Heimat realisieren konnte.
Dort setzte er alles daran, das verschlafene Ljubljana zusammen mit dem Stadtbaumeister Matko Preslowšek in eine mediterran angehauchte Metropole zu verwandeln, indem er bauliche Juwelen wie die Ljubljanica-Brücken, das Wehr, den Markt, die Universitätsbibliothek, das Bügeleisenhaus und den Friedhof ale schuf. Daneben entstanden eigenwillige Gotteshäuser wie die Michaelskirche im Laibacher Moor, bei der er die rurale Bautradition neu interpretierte und mit einer Balkendecke all'antica seiner Theorie einer Abstammung der Slowenen von den Etruskern Nachdruck verlieh. All diese Werke zeigen, dass Plečnik, dem jede Ironie beim Bauen abging, im Grunde mit der Postmoderne nichts zu tun hat. Denn «Geschichte war für ihn Gegenwart», wie Friedrich Achleitner in der Einführung zum kleinen, attraktiv bebilderten Katalog feststellt. Näher steht Plečnik der mitunter ebenfalls aus Wiener Quellen schöpfenden lombardischen Novecento-Architektur. Doch anders als etwa Gio Ponti, der die antiken Vorbilder surrealistisch umdeutete und schliesslich zu einer geschliffenen Moderne fand, flüchtete sich Plečnik in seinen letzten Jahren im sozialistischen Jugoslawien in eine religiös parfümierte Dekorationskunst.
Zacherl-Haus und Donau-City-Center
Auf Plečnik Bedeutung für Wien wird gegenwärtig auch im Architekturzentrum (AZW) hingewiesen. Die im Museumsquartier angesiedelte Institution präsentiert neu als Dauerausstellung ein A-Schau genanntes «Schaufenster zur baukulturellen Identität» Österreichs der letzten 100 Jahre, zu der Ende August bei Birkhäuser ein Katalog erscheinen soll. Auftakt zu der 420 Bauten von 170 Architekten umfassenden Synopse macht Plečniks Zacherl-Haus am Bauernmarkt, das bereits 1905, also sechs Jahre vor dem Loos-Haus, mit seiner nüchternen Fassade, den stilisierten Atlanten und dem vorkubistischen Gesims die moderne Architektur in Wien ankündigte. In einen internationalen Kontext gestellt werden die Bauten mittels Vergleichsabbildungen, unter denen sich auch die Bibliothèque Nationale de France von Dominique Perrault findet.
Dieser Franzose wird nun in der «Alten Halle» des AZW mit der Ausstellung «Meta- Buildings» geehrt. Anlass zu der vier neue Projekte zelebrierenden «Personale» gab das in der Wiener Donau-City im Bau befindliche, aus zwei «auseinander gezogenen Torsi» bestehende Doppelhochhaus. In den mit 220 und 160 Metern Höhe vergleichsweise kleinen Glastürmen will Perrault erstaunlicherweise seine Theorie der Meta-Buildings verkörpert sehen, welche «die Dimension herkömmlicher Bauten sowohl massstäblich als auch konzeptionell zugunsten der Umgebung» überschreiten und eine neue stadträumliche Qualität schaffen sollen. Nach einem ähnlich exaltierten Raumausdruck - wenngleich in weitaus bescheidenerem Massstab - streben auch Wiener Designbüros wie Checkpointmedia, welches für das frische Ausstellungskonzept des Wiener Mozart-Hauses zeichnet, oder das für seine Raumexperimente bekannte Architektenteam AllesWirdGut. Sie kommen in diesen Tagen im Designforum (gleich beim AZW) zum Zug, wo unter dem Titel «360° Design Austria» insgesamt 36 in den Bereichen Graphic, Industrial, Multimedia, Interior und Experimental Design tätige Büros vorgestellt werden.
Während die von einem opulenten Katalog begleitete Schau nur Abbildungen zeigt, kann die Studiensammlung des Museums für Angewandte Kunst (MAK) die 80-jährige Geschichte des Freischwingers mit kostbaren Originalen von Mies van der Rohes Klassikern bis hin zu den Verrücktheiten von Luigi Colani oder Ron Arad illustrieren. Nicht weniger exzentrisch als die heutigen Designer war Yves Klein, dessen zukunftsoptimistische «Luftarchitekturen», die er zusammen mit dem Architekten Claude Parent um 1960 entwickelte, derzeit in der MAK-Galerie zu sehen sind. Zeichnungen aus Privatbesitz wie «Eingang ins technische Eden» vergegenwärtigen vollklimatisierte Städte, in denen die Menschen in Bauten aus Feuer und heisser Luft ihr Glück hätten finden sollen.
Österreicher im MAK
Gleichsam die Antithese zu Kleins Luftkunst stellt der die Festigkeit der Semper-Schule verkörpernde Ringstrassen-Palast des MAK selbst dar. Der Genese dieses von der italienischen Renaissance beeinflussten Gesamtkunstwerks geht die intime «Stadtumbau»-Ausstellung im Kunstblättersaal des MAK nach. Zeichnungen und Modelle belegen die Zusammenarbeit des Architekten Heinrich von Ferstel mit Kunsthistorikern, Freskenmalern und Bildhauern ebenso wie die von Peter Noever initiierten Neuerungen und Erweiterungen von 1989. Das damals von Hermann Czech im Nordflügel des Ferstel-Baus eingerichtete MAK-Café musste jüngst einem neuen Innenraumkonzept Platz machen.
Dieses stammt vom unkonventionellen Wiener Büro Eichinger oder Knechtl, das schon 1998 mit dem Café im Palmenhaus Aufsehen erregt hatte. Dem etwas düster zum Nobelrestaurant «Österreicher im MAK» umgestalteten Saalbau antwortet der an diesen mittels einer balgenartigen Passerelle angedockte luftig heitere Pavillon, den man als Glanzlicht der neusten Wiener Baukunst bezeichnen darf. Durch das pastellfarbene, an einen Diner erinnernde Interieur, das mit Schiebedächern zum Himmel geöffnet werden kann, weht der Geist der fünfziger Jahre. Doch nach aussen gibt sich der Anbau, der mit seinem kubisch gebrochenen Fensterkranz über dem eingezogenen Sockelgeschoss zu schweben scheint, ganz zeitgemäss. Dabei beherrschen Eichinger oder Knechtl die Kunst der manieristischen Überspitzung ähnlich gut wie Plečnik. Nur dass die Wiener statt mitteleuropäischer Schwere mit heutigen Materialien und Detaillösungen eine poppig-barocke Atmosphäre erzeugen.
[ «Joze Plečnik» bis 8. September, Katalog 22 Euro. - «A-Schau» permanent, Katalog erscheint Ende August. - «Dominique Perrault» bis 23. Oktober, Katalog Euro 26.80. - «360° Design Austria» bis 3. September, Katalog Euro 19.80. - «Freischwingen» bis 29. Oktober, Katalog 21 Euro. - «Yves Klein - Air Architecture» bis 24. September, Katalog Euro 24.80. - «Raumplanung» bis 29. Oktober, kein Katalog. ]
Der Stuhl als Architektur
Retrospektive des Möbeldesigners Poul Kjærholm im Louisiana-Museum in Humlebæk bei Kopenhagen
Dänisches Design geniesst Weltruf. Dazu beigetragen haben auch die Möbelklassiker von Poul Kjærholm (1929-1980). Dem grossen Entwerfer widmet nun das Louisiana-Museum eine Retrospektive.
Fällt der Name Poul Kjærholm, so geraten Kenner des modernen Möbeldesigns ins Schwärmen. Gibt es doch kaum einen formschöneren Stuhl als den filigranen PK 22. Bei ihm fügen sich Konstruktion, Verbindungen und Sitzgeflecht zu jener harmonischen Ausgewogenheit, die einst Christian Frederik Hansen mit seinen klassizistischen Gesamtkunstwerken in Dänemark zum gestalterischen Standard erhoben und Arne Jacobsen seit den 1920er Jahren in den modernen Alltag übergeführt hat. Gleichwohl hält man im Anfang 2006 vom Kulturministerium in Kopenhagen publizierten Kanon der dänischen Kultur vergeblich Ausschau nach einem Werk Kjærholms. Dabei zählt er zusammen mit dem Allroundgenie Jacobsen, dem Leuchtenmacher Poul Henningsen, dem Kunststoff-Magier Verner Panton und dem Sesselkünstler Hans Wegner zu den Grossmeistern der vielbewunderten dänischen Gestaltung. Der Kanon wird deshalb im Dansk Design Centrum in einer kleinen Schau auf die Design-Auswahl hin kritisch durchleuchtet. Gleichzeitig kann man in der englisch betitelten Hauptausstellung «Use it! Danish Design in Everyday Life» nicht nur neuste Gebrauchsgegenstände testen, sondern auch den Sitzkomfort der Klassiker von Wegner, Jacobsen, Panton und Kjærholm prüfen.
Klassizistische Formvollendung
Die Nähe zum Klassizismus im Sinne einer zeitlosen Vollkommenheit verdeutlicht kein anderer Entwurf Kjærholms so klar wie der faltbare Hocker PK 91 von 1961, der direkt aus einem Relief von Bertel Thorwaldsen stammen könnte, nur dass die propellerartig verdrehten Scherenbeine aus Chromstahl und der Sitz aus feinstem Leder sind. Für den 1929 in Østervr geborenen Kjærholm, der nach einer Lehre als Möbelschreiner von 1949 bis 1952 an der Kunsthndværkskolen in Kopenhagen bei Wegner studierte, standen stets natürliche Materialien wie Holz, Stahl, Leder oder Schnur im Mittelpunkt des kreativen Denkens. Damit unterschied er sich früh schon von seinen mit Kunststoffen experimentierenden Kollegen wie Panton, dessen berühmter «Panton- Chair» wohl von Kjærholms 1953 in Papiermaché und in Metalldraht ausgeführtem Entwurf für einen Gartenstuhl und von Aagaard Andersens zeitgleichem Modell für einen Freischwinger inspiriert war.
Die lange auf Innovation fixierte Rezeption der Möbelkunst führte dazu, dass Kjærholms Arbeiten in der Öffentlichkeit bisher nicht die ihnen gebührende Bekanntheit erlangt haben - auch wenn man heute in der Terminal-Halle des Flughafens von Kopenhagen auf dem PK 22 ruhen und im MoMA auf dem 1957 kreierten Tagbett PK 80 sitzend die Exponate oder die Stadtlandschaft betrachten kann. Nun hat es sich das Louisiana-Museum im nördlich von Kopenhagen gelegenen Humlebæk zur Ehrensache gemacht, den 1980 auf dem Höhepunkt seiner Karriere verstorbenen Kjærholm, der 1976 für den Konzertsaal des Hauses den Louisiana Chair, einen wohlproportionierten Klappsitz aus Holz, entwickelt hatte, mit einer ersten grossen Retrospektive einem breiteren Publikum vertraut zu machen. Diese reiht sich ein in die gewichtigen Sommerausstellungen zu Architektur und Design, in deren Rahmen bereits Jacobsen, Jean Nouvel und Jørn Utzon zum Zuge kamen.
Die im Stil der sechziger Jahre inszenierte Kjærholm-Schau kann mit wertvollen Serienmöbeln und Prototypen aufwarten. Darunter befinden sich so eigenwillige Konstruktionen wie der Polstret Stol genannte, aus zwei Teilen bestehende Dreibeiner aus gepolsterten Aluschalen von 1953, in welchem sich Handwerkskunst und Avantgardedesign mit einem ironischen Augenzwinkern vereinen. Zu welch frischen Lösungen Kjærholms Mischung aus handwerklicher Tradition und neuen Techniken führte, veranschaulichte schon seine Diplomarbeit von 1951, der PK 25, ein Sessel aus mehrfach gebogenem Stahl mit einem Sitzpolster aus Fahnenschnur, der ihn schlagartig berühmt machte und ihm eine Forschungsstelle bei der renommierten Designfirma Fritz Hansen eintrug. Dieses Frühwerk steht zusammen mit weiteren Prototypen aus dem unerhört fruchtbaren Jahr 1952 in der Abteilung «Werkstatt». Sie macht den Auftakt zu der in sechs Stationen gegliederten Schau, welche die Möbel auf Präsentationsinseln und vor Paravents zeigt und so auf Kjærholms legendäre Ausstellungseinrichtungen der sechziger und siebziger Jahre verweist.
Im anschliessenden «Fabrik»-Raum begegnet man Prototypen, Zeichnungen und Entwürfen - etwa für den aus zwei organisch geformten Holzteilen zusammengefügten PK 0 von 1952, der von Kjærholms Interesse am sechs Jahre zuvor von Charles Eames ebenfalls in Holz ausgeführten LCW-Stuhl zeugt. Unter dem Stichwort «Montage» werden dann all jene Stühle, Sessel oder Tische, die Kjærholm zur Kultfigur machten, bis auf ihr Skelett aus Stahl oder Holz entblösst und Einblicke in den streng architektonischen, von Funktion und Modell ausgehenden Entwurfsprozess gewährt. Im «Handwerk»-Bereich wird anschliessend die sorgfältige Herstellung von Lederpolster und Rohrgeflecht - beispielsweise der berühmten Liege PK 24 von 1965 - zelebriert, die die Möbel des Dänen so kostspielig machen.
Architektonische Konstruktionen
Dass die klassische Aura von Kjærholms Möbeln nicht zuletzt von der gestalterischen Beschränkung auf primäre geometrische Formen herrührt, veranschaulicht die Abteilung «Elemente» am Faltstuhl PK 91, am Rundhocker PK 33, am würfelförmigen Beistelltisch PK 71 oder am modularen Vitrinensystem von 1971. Dem gingen die Schaukastenentwürfe für die dänische Kunsthandwerks-Ausstellung von 1957 voraus. Hier begann Kjærholms Suche nach dem idealen Raum, den er bald schon im dänischen Beitrag für die Mailänder Triennale von 1960 und im leider nicht realisierten Entwurf für die Möblierung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington (1967) formulierte. Solchen Inszenierungen ist das Schlusskapitel «Raum» gewidmet, in welchem man erfährt, wie Kjærholm, der bereits in den fünfziger Jahren in einem Essay die Wichtigkeit des Zusammenklingens von Körper, Material und Raum betonte, mit Möbeln, wandgrossen Fotos und Stellwänden schwebend leichte Installationen gestaltete.
Ebenso makellos wie die architektonisch gedachten Arbeiten Kjærholms präsentiert sich auch die Ausstellung. Weder Querverweise auf die Entwicklungen in der damaligen Designerszene noch eine kritische Annäherung an die späten, formal stärker vom Zeitgeist beeinflussten Möbel stören das Bild. Denn mittlerweile gelten Kjærholms schwere, weniger zeitlose Holzstühle und Freischwinger als Ikonen der Seventies. Als solche sind sie hoch im Kurs, wie jüngst erst die «Design Miami»-Messe in Basel zeigte.
[ Die Kjærholm-Ausstellung im Louisiana-Museum in Humlebæk dauert bis zum 24. September. Katalog: Poul Kjærholm. Furniture Architect (englisch). Hrsg. Michael Sheridan. Louisiana- Museum, Humlebæk 2006. 224 S., dKr. 348.-. - Die Ausstellung «Use it! Danish Design in Everyday Life» im Dansk Design Centrum in Kopenhagen dauert bis zum 1. November. ]
Glitzernde Fassaden am See
Wiedereröffnung des erneuerten Festspielhauses in Bregenz
Vor neun Jahren wurde das 1980 eingeweihte Festspielhaus in Bregenz von Dietrich & Untertrifaller erweitert. Nun konnte der Altbau in nur zehn Monaten von denselben Architekten für 40 Millionen Euro saniert, umgestaltet und mit einer attraktiven Fassade versehen werden.
Seit geraumer Zeit erlebt Vorarlberg eine kulturelle Blüte. Dies dank seinen Musikfestspielen, seinen Museen und nicht zuletzt dank seiner Baukunst. Zwar war es ein Schweizer, der die lokale Architekturlandschaft mit dem Glaskubus des Kunsthauses Bregenz weltbekannt machte. Doch schon lange bevor Peter Zumthors städtebaulich perfekt inszeniertes Meisterwerk 1997 eröffnet wurde, gab es in Vorarlberg eine kreative Architekturszene. Diese hat inzwischen aber mit allzu verspielten Fingerübungen etwas Terrain eingebüsst. Nun soll mit einem weiteren Kulturbau in der Landeshauptstadt Bregenz die lokale Architektur neu positioniert werden. Es handelt sich dabei um das Festspielhaus, das sich mit über 400 000 Besuchern jährlich als das bedeutendste Veranstaltungs- und Kongresszentrum im Bodenseeraum anpreist. Obwohl das Bauwerk mit seiner Glasfassade und dem skulpturalen Bühnenturm ganz neu und zeitgemäss erscheint, ist es ein über die Jahre entstandenes Konglomerat. In ihm spiegelt sich die Geschichte der Bregenzer Festspiele, die 1946 ihren Anfang nahmen.
Verschmelzung sperriger Bauteile
Begonnen hatten die Bodensee-Festspiele auf zwei Ledischiffen. 1952 entstand auf dem Gelände des jetzigen Strandbads die erste Festspieltribüne. Ihr folgte 1979 etwas weiter nördlich die heutige Arena als seeseitiger Anbau an das Festspiel- und Kongresshaus des Bregenzer Architekten Wilhelm Braun, das im Januar 1980 mit einem Soloabend des Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli eröffnet wurde. Wohl eignete Brauns Betongebäude eine gewisse Ausdruckskraft, doch der geknickte, banal durchfensterte und rein funktionalen Anforderungen gehorchende Unterbau nahm ihm jegliche Ausstrahlung. Das 1992 siegreich aus einem Wettbewerb hervorgegangene Projekt zur Erweiterung, Sanierung und innenräumlichen Ordnung des Festspielhauses der Bregenzer Architekten Helmut Dietrich und Much Untertrifaller stellte dann dem Kulturtempel ein attraktives Antlitz in Aussicht. Fünf Jahre später konnte der erste Bauabschnitt abgeschlossen werden - bestehend aus dem geduckten, als Gegenstück zum aufragenden Bühnenturm konzipierten Kubus der Werkstattbühne, dem Seestudio und dem vitrinenartigen Seefoyer, welches das zuvor völlig introvertierte Festspielhaus zum Wasser öffnet. Diese Addition sperriger Bauteile wird logisch erschlossen mittels eines hoch über die ganze Anlage gespannten, brückenartigen Verwaltungsbalkens, in dessen Stahlfachwerk die industrielle Anmutung der Erweiterung ihren Höhepunkt erreicht.
Doch erst die vor zwei Jahren genehmigte, vierzig Millionen Euro teure zweite Bauphase brachte dem Haus (in nur zehn Monaten) eine identitätsstiftende Platzfassade. Mit ihrer Haut aus Glas und Putz verwandelt sie den Bau, der zuvor hermetisch wirkte, in eine «offene und kommunikative», die Passanten zum Eintreten auffordernde Architektur. Blickfang ist ein teleskopartig aus der dunklen Verglasung vorspringender, auf die neue Erschliessungsachse im Innern verweisender Erker, in dessen Stirn sich der Himmel spiegelt. Nach Süden geht die durchsichtige Aussenhülle in eine verputzte Lochfassade über, hinter der sich Garderoben und Arbeitsräume befinden. Zum See hin aber weicht der Glasvorhang allmählich dem auskragenden Teil der Seetribüne, durch deren Stahlkonstruktion hindurch die Ufer des Bodensees leuchten. Über dieser kosmetisch aufgeputzten Eingangsfront erhebt sich weiterhin der alte, nun mit Glasfaserbetonplatten und einem Fensterband verschönerte Theaterbau. Seeseitig wurde ihm ein über der Freiluftarena schwebender dreigeschossiger Glaskasten mit Stadtfoyer und Lounge vorgehängt, der dem Festspielhaus zusammen mit dem bereits 1997 eingeweihten Seefoyer auch zum Wasser hin ein Gesicht gibt.
Bei der heutigen Eröffnung wird die politische und kulturelle Prominenz das frisch wie ein Neubau glitzernde Haus unter dem als Pendant zum Verwaltungsbalken entworfenen Teleskop-Erker betreten. Wo früher alles unübersichtlich war, erblickt man nun rechts im elegant gestalteten Eingangsbereich das Ticketcenter, links die Garderobe und das ganzjährig bewirtschaftete Restaurant. Geradeaus steigt man über die zentrale Treppe hinauf zum Hauptfoyer. Dort gewährt eine neu geschaffene, durch den Teleskop-Balken angedeutete Raumachse freie Sicht auf Wasser und Bäume - vom Seefoyer bis zum ganz in poliertem Holz gehaltenen Propter-Homines- Saal im Eingangserker. Dieser neue Pausenraum kann wie die beiden anschliessenden, ebenfalls auf den begrünten Vorplatz ausgerichteten Säle für Kongresse genutzt werden.
Leichter als zuvor sind nun im Hauptfoyer die Eingänge zum kleinen Seestudio, zur Werkstattbühne, zur 7000 Sitze umfassenden Arena sowie zum grossen Saal auszumachen. Dieser 1700 Plätze bietende multifunktionale Raum wurde mit dunklem Akazienfurnier und roten Sesseln herausgeputzt, technisch auf den neusten Stand gebracht und so zum Juwel des ganzen Bauensembles geschliffen. Besondere Bedeutung kommt der von Dietrich & Untertrifaller zusammen mit dem Münchner Akustikingenieur Karlheinz Müller entwickelten Decke zu, die es erlaubt, die Nachhallzeit den akustischen Anforderungen von Musikdarbietungen, Theateraufführungen oder Kongressen anzupassen. Neu ist auch die nunmehr fest eingebaute Rangtribüne, von der aus man ins Stadtfoyer und in die VIP- Lounge - beide mit Sicht auf Freiluftarena und See - gelangen kann.
Elegante Zurückhaltung
Die Architekten haben ihr Ziel, «dem Haus ein neues Gepräge innerhalb der vorgegebenen Rohbaugeometrie» zu geben, nie aus den Augen verloren. So kommt das mit Respekt vor Brauns alter Baustruktur verjüngte Festspielhaus ohne grosse modische Konzessionen aus, sieht man einmal vom wolkenbügelartigen Verwaltungsbalken und vom kubischen Eingangserker ab, die aber neben der zeichenhaften auch eine funktionale Aufgabe erfüllen. Störend ist höchstens die etwas dunkle und leblose Glashülle, die der Eingangsfront einen Hauch von banaler Kommerzarchitektur verleiht. Hier hätte der kulturelle Inhalt gestalterisch besser hervorgehoben werden können. Schwerer wiegt aber die Tatsache, dass mit dem umgebauten Festspielhaus ein neuer architektonischer Ort am Bodensee geschaffen wurde.
Gefasst wird das neue Wahrzeichen durch die puristische Aussenraumgestaltung des Zürcher Büros Vogt Landschaftsarchitekten. Schon von weitem schimmert der mit ockerfarbenem Splittmastix belegte Platz, auf dem sich das Festspielhaus wie auf einem Präsentierteller erhebt, durch den lichten, von den Auenwäldern des Rheindeltas inspirierten Grünbereich. Gleichzeitig bringen die Kronen der 373 in inselartigen Gruppen gepflanzten Eschen, Pappeln, Kiefern und Kirschen die hässlichen Bauten des Casinos und des Hotels «Mercure» hinter einem Blättervorhang zum Verschwinden und fokussieren damit alle Aufmerksamkeit auf den von Bescheidenheit und Ehrlichkeit geprägten Umbau.
[ Am 8. Juli findet für alle Interessierten ein volksnaher Tag der offenen Tür statt; am 19. Juli werden im Festspielhaus die Bregenzer Festspiele eröffnet, und am 20. Juli wird der «Troubadour» auf der Seebühne gespielt ]
Magische Tannen
La Chaux-de-Fonds als Zentrum des Jugendstils
Die beiden Boomstädte der vorletzten Jahrhundertwende, La Chaux-de-Fonds und St. Gallen, gelten als Zentren des Jugendstils in der Schweiz. Anders als die Textilhochburg entwickelte aber die Uhrenmetropole unter Charles L'Eplattenier eine eigene, auf Geometrie und Reduktion basierende Variante des Art nouveau: den Style sapin. Ihm widmet das Musée des Beaux-Arts in La Chaux- de-Fonds eine suggestive Übersichtsschau.
Allein schon die Inszenierung lohnt einen Besuch der grossen Jugendstil-Ausstellung «Mon beau sapin» in La Chaux-de-Fonds. Unter der Regie der Zürcher Architekten Barbara Holzer und Tristan Kobler ist in den Hallen des Musée des Beaux-Arts eine eindrückliche Präsentation zustande gekommen, die den Objekten aus der leicht angestaubt wirkenden Epoche eine ungeahnte Frische und Strahlkraft verleiht. Höhepunkte der Schau bilden viele zuvor noch nie gezeigte Entwürfe und Realisationen der Style sapin oder Tannenstil genannten geometrischen Variante des Art nouveau in der Uhrenmetropole. Der erste, in knalligem Gelb gehaltene Raum umschreibt mittels erlesener Möbel, Uhren, Zierobjekte, Glasmalereien und Gemälde die Spannweite der lokalen künstlerischen Produktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vorbei an Postern und Plakaten, welche die frühe Rezeption des floralen französischen und belgischen Jugendstils, aber auch die sozialen und kulturellen Entwicklungen in der Jurastadt belegen, gelangt man im dritten Saal zu einem grossen Modell von La Chaux-de-Fonds. Dieses visualisiert den durch wiederkehrende Wirtschaftskrisen kaum gebremsten Bauboom der kleinen, multikulturellen Grossstadt in den Bergen, deren modernes Aussehen und deren Dynamik früh schon als amerikanisch bezeichnet wurden.
Weltoffene Stadt
Das nach dem grossen Brand von 1794 ganz rational um einen zentralen Platz mit sternförmig ausstrahlenden Strassen wiederaufgebaute Dorf erhielt 1835 ein von Charles-Henri Junod konzipiertes, zukunftsweisendes Schachbrettraster, das die Stadtwerdung beflügelte und später noch in den urbanistischen Visionen Le Corbusiers nachklingen sollte. Innerhalb dieses Strassennetzes entstanden Fabriken, Mehrfamilienhäuser und Villen, die etwa seit der Zeit der Vollendung der grossen Synagoge (1896) vermehrt mit Dekorelementen des Art nouveau aufwarten konnten. Die schnelle Reaktion auf aktuelle Moden und Stile entsprach ganz der Art der weltgewandten Uhrenfabrikanten. Aber nicht nur die neusten Bauformen wurden importiert. Man sammelte in dem 1886 nach Londoner Vorbild gegründeten Musée d'art industriel auch Vorzeigestücke des gehobenen Kunsthandwerks der Epoche, welche den Schülern der 1870 gegründeten Ecole d'art als Studienobjekte dienen sollten.
Ihre glanzvollsten Jahre erlebte diese Schule unter Charles L'Eplattenier von 1897 bis 1914. Indem der noch immer unterschätzte Künstler, Entwerfer und Lehrer die Ecole d'art erneuerte, verwandelte er La Chaux-de-Fonds in ein Kreativitätszentrum des späten Jugendstils. Inspiriert von der Arts-and-Crafts-Bewegung und den künstlerisch-philosophischen Schriften John Ruskins, William Morris' und des Lausanners Eugène Grasset, hielt er seine Schüler an, die Natur des Juras - von den Tannen bis zur Tektonik der Kalkfelsen - zu studieren, deren Regelmässigkeiten zu analysieren und in abstrakte Ornamente zu übertragen. Kaum hatte er 1905 den Cours supérieur eingeführt, schuf er mit seinen begabtesten Studenten auch schon innenarchitektonische und baukünstlerische Gesamtkunstwerke.
Zum Manifest dieser in der französischsprachigen Welt einzigartigen Transformation des verspielten Art nouveau in eine rationale Dekorationskunst wurde die 1906 vom damals 19-jährigen Charles-Edouard Jeanneret, dem späteren Le Corbusier, unter Mithilfe des Architekten René Chapallaz für den jungen Bijoutier und Unternehmer Louis Fallet entworfene und von Jeannerets Kommilitonen vom Cours supérieur, dem Maler Georges Aubert und dem Bildhauer Léon Perrin, ausgestaltete Villa Fallet. Diesem kleinen Chef d'uvre folgten neben verschiedenen Interieurs, darunter der zerstörte Lichtraum der Kapelle von Cernier-Fontainemelon, die zwischen Heimat- und Tannenstil oszillierenden Häuser Stotzer und Jacquemet sowie 1910 - als abschliessender Höhepunkt - das Krematorium von La Chaux-de-Fonds.
Diesen dank der Le-Corbusier-Forschung spätestens seit Stanislaus von Moos' Studie von 1968 «wiederentdeckten» Bauten ist es zu verdanken, dass L'Eplatteniers Style sapin nicht ganz vergessen ging. Den Architekturen ist denn auch zusammen mit Beispielen des Kunsthandwerks sowie den raffiniert gestalteten und 1906 in Mailand ausgezeichneten Taschenuhren der zentrale Raum im Museumsneubau gewidmet. Von hier geht es nach links in eine von Holzer und Kobler ganz frei im Tannenstil eingerichtete Halle, in welcher die vom Musée d'art industriel erworbenen Kostbarkeiten des internationalen Jugendstils mit den Entwürfen des L'Eplattenier-Kreises einen aufschlussreichen Dialog eingehen. Nach rechts hingegen gelangt man durch eine modisch verschachtelte Filmkoje in einen von bunt digitalisierten Jugendstilornamenten überwucherten Saal, der mit Meisterwerken des lokalen Art nouveau aufwartet. Spätestens hier wird klar, dass der Jugendstil-Diskurs künftig nicht mehr um den Style sapin herumkommen wird - zumal mit dem die Schau begleitenden, reich illustrierten Katalogbuch ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der damaligen Dekorationskunst und Architektur in La Chaux-de-Fonds geleistet wurde.
Style sapin und klassische Moderne
Zwar erwies sich der Cours supérieur als ebenso kurzlebig wie die von L'Eplattenier anschliessend angeregten und von Aubert, Jeanneret und Perrin 1910 gegründeten Ateliers d'art réunis und die Nouvelle section der Kunstschule, an der sie alle als Professoren unterrichteten. Doch ebneten diese Initiativen zusammen mit der von L'Eplattenier vorangetriebenen Suche nach einer strukturalen Logik hinter den Erscheinungsformen der Natur und damit letztlich nach gestalterischer Wahrheit den Weg für ihn und seine Mitstreiter in die Moderne. Davon zeugt in La Chaux-de-Fonds das prachtvoll neuklassizistische, 1926 nach Entwürfen von L'Eplattenier und Chapallaz vollendete Kunstmuseum, aber auch Jeannerets architektonische Entwicklung.
Dieser lässt sich auf einem Rundgang durch die Stadt nachspüren, zu dem die Ausstellung ebenso wie ein Stadtplan mit eingezeichneten Art-nouveau-Architekturen einlädt. Vorbei an der Maison L'Eplattenier von René Chapallaz, bei welcher der Style sapin erstmals zu erahnen ist, sowie an den zwischen 1906 und 1909 errichteten Villen Fallet, Stotzer und Jacquemet gelangt man oben am Chemin de Pouillerel auch zum Elternhaus Jeannerets (1912). Hier führte der junge Architekt den nach einer «Synthese von Natur und Geometrie» strebenden Tannenstil weiter in Richtung des corbusianischen Spiels geometrischer Körper im Licht, dem er dann 1917 in der für Anatole Schwob erbauten Villa Turc Klarheit verleihen sollte. Dieses Schlüsselwerk veranschaulicht aber auch, wie sehr La Chaux-de- Fonds und L'Eplattenier als grosser Förderer von Jeanneret auf die architektonischen Visionen Le Corbusiers einwirkten. Auch weil sie diesen Aspekt erhellt, ist die von kleinen Nebenausstellungen zur Uhrmacherkunst der Belle Epoque, zum Jugendstil-Plakat und zu den Postkarten der Zeit flankierte Schau im Musée des Beaux-Arts von Bedeutung.
[ Bis 17. September. Katalogbuch: Le style sapin à La Chaux-de- Fonds. Une expérience Art nouveau. Hrsg. Helen Bieri Thomson. Somogy Éditions d'Art, Paris 2006. 199 S., Fr. 48.-. ]
Tempel des Computerzeitalters
Das neue Mercedes-Benz-Museum von UN-Studio in Stuttgart - ein spannendes baukünstlerisches Experiment
Nach nur viereinhalbjähriger Planungs- und Bauzeit kann heute in Stuttgart das neue Mercedes-Benz-Museum eingeweiht werden. Der Autotempel ist ein Meisterwerk der computergestützten Architektur.
In der Museumsarchitektur, die sich seit langem schon als baukünstlerische Königsdisziplin versteht, überstürzen sich derzeit die Ereignisse. Zog jüngst das De Young Museum von Herzog & de Meuron in San Francisco alle Aufmerksamkeit auf sich, so dürfte bald schon das Bostoner ICA der Expo-Wolkenbauer Diller & Scofidio in aller Munde sein. Und heute wird in Stuttgart ein weiteres ungewöhnliches Ausstellungshaus eröffnet: das Mercedes-Benz-Museum. Mit dem am Rand des DaimlerChrysler-Areals in Untertürkheim gelegenen Autotempel ist Ben van Berkel, dem Vordenker des Amsterdamer UN-Studios, ein Meilenstein der computergestützten Baukunst gelungen. Diese amorphe Bauplastik, die bald an ein geknautschtes Raumschiff, bald an die Guggenheim-Schnecke von Frank Lloyd Wright oder an einen Autosilo erinnert, setzt der seit Le Corbusier gepflegten Liebesbeziehung zwischen Architektur und Auto ein Denkmal und definiert zugleich den umbauten Raum ganz neu.
Monument an der Hochstrasse
Den Autofahrern, die auf der sechsspurigen Hochstrasse zwischen den Fahrzeugwerken und dem Gottlieb-Daimler-Stadion das von Waldhügeln und Weinbergen gefasste Neckartal queren, brennt sich die Baufigur unweigerlich ins Gedächtnis ein. Dieses Monument, das aus dem Vorstadtchaos einen Ort macht, aber auch für die überholte Idee einer autogerechten Stadtentwicklung zu werben scheint, ist hier seit den dreissiger Jahren nun schon das dritte Haus, in welchem die Geschichte des Autos am Beispiel der Marke Mercedes zelebriert wird. Nötig wurde es, weil der architektonisch wertvolle, 1961 von Gutbier und Kammerer errichtete Vorgängerbau für die wachsende Zahl von Exponaten und die mittlerweile jährlich gut 500 000 Besucher zu eng geworden war. Den Bauwettbewerb konnte UN- Studio Anfang 2002 für sich entscheiden: Van Berkel schlug ein organisches Volumen über kleeblattförmigem Grundriss vor, das aus einem hügelartig gewellten Sockelgebäude herauswächst. Der unkonventionelle, auf dem abstrakten mathematischen Modell einer Doppelhelix basierende Entwurf konnte - ausgehend von Maquetten, die aus Papier und Draht gebastelt wurden - nur dank fortschrittlichen Computerprogrammen errechnet werden.
Damit aber erwies sich das Projekt von UN- Studio als Herausforderung, welche die Bauherrschaft umso lieber annahm, als sie sich von ihm ein bauliches Symbol für die Innovationskraft von Mercedes-Benz versprach. Zudem ermöglichte van Berkels Idee der «offenen Planung» eine prozessuale Anpassung der hochkomplexen Entwürfe während der knapp angesetzten Entstehungsphase. Den Neubau könnte man angesichts der ungewohnten Hülle als ein weiteres Architekturspektakel abtun. Doch im Innern entpuppt er sich als geniales Raumgefüge, das von Kritikern euphorisch, aber ungenau als barock bezeichnet wurde. Ähnlich expressiv wie die verschlungenen Raumsequenzen wirkt das Äussere mit seinen matt schimmernden Alu-Flächen und dem endlosen Fensterband, das sich wie die kreisförmig geschälte Haut eines Apfels um das Gebäude zieht und so die Haifischzähne des Stützenkranzes sichtbar macht. Auch wenn hier van Berkel ganz offensichtlich dem weltweiten Trend hin zur skulpturalen Bauform folgte, galt seine auf «Designmodellen» basierende Entwurfsstrategie doch in erster Linie der Schaffung eines subtil vom Licht modellierten Raums, wie er ihn einst während seiner Wanderjahre in Calatravas Meisterwerk, der Höhle des Zürcher Bahnhofs Stadelhofen, kennen gelernt hatte.
Dunkle Kavernen spielen auch in Untertürkheim eine Rolle. Zusammen mit hellen Ausstellungsflächen, introvertierten Rampen und aussichtsreichen Treppenwegen machen sie das Gebäudeinnere zu einer jener fliessenden architektonischen Landschaften, die seit Rem Koolhaas' Rotterdamer «Kunsthal» und dem Weltausstellungspavillon von MVRDV in Hannover den niederländischen Diskurs bestimmen. Doch erst im Mercedes-Benz-Museum verdichtet diese sich - von allem Anekdotischen befreit - zu einer schlüssigen Einheit von Form und Funktion, die alle ehedem gegenüber den Plänen und Modellen gehegten Bedenken vergessen macht. In der kraterartigen, an den Raketenhangar eines Bond- Films erinnernden Eingangshalle, dem einzigen Innenraum, in welchem man das Gebäude fast in seinen gesamten 47 Metern Höhe erfassen kann, wird deutlich sichtbar, wie sich UN-Studio mit Hilfe des Stuttgarter Meisteringenieurs Werner Sobek bis an die Grenzen des zurzeit technisch Machbaren vorgewagt hat.
Das Licht und der Beton
Vier riesige, zweifach gekrümmte Betonträger, die propellerartig aus den drei vertikalen Erschliessungskernen herauswachsen, tragen die halbrunden, auf neun Ebenen ineinander verschliffenen Ausstellungsräume, deren 33 Meter weit sich stützenlos spannende Decken das Gewicht von bis zu 10 Lastwagen aushalten müssen. Die Plastizität des von stets anders einfallendem Licht modellierten Betons lässt an Eero Saarinens New Yorker TWA-Terminal und andere Betonplastiken der fünfziger und sechziger Jahre denken. Damit aber verkörpert dieses Bauwerk eher künstlerische Individualität als jene geschliffene architektonische Anonymität, die in van Berkels zwischen «Art and Airport» pendelnder Recherche sonst ebenfalls eine Rolle spielt.
Zwei gegenläufig verschränkte Wege erschliessen ein Raumkontinuum, das jede Vorstellungskraft zu sprengen scheint. Diese «promenade architecturale», die schon kahl und leer begeistern könnte, diente nun dem Stuttgarter Büro HG Merz als Bühne für eine suggestive Inszenierung der 1500 Exponate: von kleinen Mercedes- Gadgets bis hin zum Papamobil und zu 170 weiteren Fahrzeugen. Den 16 000 Quadratmeter grossen, spiralförmig absteigenden Ausstellungsbereich erreicht man in einer der drei an Science- Fiction-Filme der Nachkriegszeit erinnernden Fahrstuhl-Kapseln, die einen durch eine weisse Stoffwolke hinauf auf eine sternförmige Brücke unter dem verglasten Oberlicht tragen. Dort wird man von einer Pferde-Installation und den ersten, noch kutschenartigen Automobilen empfangen. Nach einem kurzen Blick hinunter ins Atrium hat man die Wahl zwischen den beiden einander entgegengesetzten Abstiegen durch die acht abgedunkelten, im Geist der jeweiligen Epoche gestalteten Räume der Mercedes-Mythen oder durch die taghellen Hallen mit den thematischen Fahrzeugpräsentationen. Sichtbezüge nach aussen auf Autobahn und Stadtlandschaft oder quer durch das Atrium lassen das Labyrinth transparent erscheinen, so dass man ganz unbeschwert zwischen den Ausstellungswelten wechselt.
Nach einem 1,5 bis 5 Kilometer langen Hin und Her und Auf und Ab erreicht man auf beiden Rundgängen die von Motorengeheul erfüllte Ebene des Autorennsports, wo eine gekurvte Rennstrecke mit 34 Flitzern fast das ganze Geschoss einnimmt. Anschliessend gelangt man über eine skulpturale, orangefarbene Treppe hinunter zum Restaurant auf Eingangsniveau und weiter zu den neusten Fahrzeugmodellen im allen Besuchern frei zugänglichen Tiefgeschoss. Von dort mäandert ein unterirdischer Weg vorbei an verglasten Restaurants, Shops und Lichthöfen durch den Sockelbau hinüber zum Mercedes- Benz-Center genannten Verkaufsgebäude. Dieses wächst ebenfalls aus der von UN-Studio konzipierten und von lokalen Gartenarchitekten etwas nüchtern umgesetzten Sockellandschaft heraus, wurde aber von Christoph Kohlbecker nach den restriktiven Vorgaben von DaimlerChrysler ganz wie eine unpersönliche Messehalle gestaltet. Diese sterile Hochglanzarchitektur beweist allen, die noch Vorbehalte gegenüber van Berkels Extravaganzen hegten, dass solche baukünstlerische Experimente immer wieder auch architektonischen Mehrwert schaffen können.
Architektonische Metamorphosen
Eine Werkschau von Thom Mayne und Morphosis im Centre Pompidou in Paris
Seit Thom Mayne vom Architekturbüro Morphosis im vergangenen Jahr den Pritzker-Architekturpreis erhalten hat, stossen seine dekonstruktivistisch angehauchten Metamorphosen vermehrt auf Interesse. Das Centre Pompidou präsentiert nun Projekte von Morphosis in einer Werkschau.
Architektur, man weiss es, lässt sich im Museum nur bedingt wiedergeben. Seit der Computer die handgefertigten Ansichten und Pläne verdrängt hat, muss man zudem immer öfter auf die Begegnung mit Originalzeichnungen verzichten. Deshalb ergriffen die Architekten die Flucht nach vorn und deklarierten die meist von ihnen selbst - und daher ohne kritische Reflexion - als architektonische Gesamtkunstwerke konzipierten Ausstellungen als eigenständige Werke. So haben Herzog & de Meuron schon 1995 ihre Pariser Schau und später die Retrospektiven in Montreal und Basel ins Werkverzeichnis aufgenommen. Auch Rem Koolhaas, Renzo Piano oder UN Studio verwandelten ihre Präsentationen in museale Selbstdarstellungen. In diesen illustren Kreis einzureihen sucht sich nun auch Morphosis, das Büro des letztjährigen Pritzker-Preis-Trägers Thom Mayne, indem es seine Ausstellung im Centre Pompidou zur Architektur erklärt. Die im obersten Stockwerk des Pariser Modernetempels realisierte baukünstlerische Intervention besteht aus einem sanft ansteigenden, mit Glas ausgefachten Aluminiumraster. Wie eine umgestürzte Fassade beherrscht es den Ausstellungsraum und gibt dem Eintretenden zu verstehen, dass Mayne und Morphosis mit den Konventionen des orthogonalen Raums brechen und die Architektur als topographische Gratwanderung sehen.
Formale Spielereien
Ende der achtziger Jahre kulminierte das postmoderne, durch James Stirling beeinflusste Frühwerk von Morphosis im Kult-Restaurant «Kate Mantilini» von Beverly Hills und im Crawford House von Santa Barbara. Danach wandte sich das 1972 gegründete Büro, das sich - seinem Namen folgend - immer wieder neu formen will, der von Gehry propagierten kalifornischen Variante des Dekonstruktivismus zu. Doch kaum hatte das Team die ersten bedeutenden Aufträge erhalten, trennte sich Mayne 1992 von seinem Partner Michael Rotondi. Die wichtigsten seither von Morphosis entworfenen Projekte werden nun in der Pariser Schau mittels Plänen, Computerbildern, Videos und einer Vielzahl reizvoller Modelle unter der bald an eine Vitrine, dann wieder an einen Bildschirm erinnernden, schrägen Glasebene vorgestellt. Auf einer Projektionsfläche in der Tiefe des Raums sind dazu die «Stillen Kollisionen» zu sehen, die Frédéric Flamands Tanzkompanie in einem Bühnenbild von Mayne aufführte. Damit soll wohl angedeutet werden, wie viel Architektur in der Vorstellung des 62-jährigen Kaliforniers mit Bewegung, Chaos und Raum zu tun hat.
Will man die nach einem undurchschaubaren Prinzip angeordneten Exponate studieren und nicht nur wie ein Riese auf der 250 Quadratmeter grossen Glasfläche über Haus- und Stadtmodelle wandeln, geht ohne Plan gar nichts. So findet man die Modelle der Diamond-Ranch-Schule in Pomona, mit der Mayne und Morphosis 1996 ihren Neuanfang eindrücklich demonstrierten, auf Feld «S-5». Dem weniger gelungenen Sitz der Hypobank in Klagenfurt, der wie ein in sich zusammengebrochenes Riesendach aus Stahl erscheint, ist hingegen das Feld «O-1» zugewiesen. Mit dieser exzentrischen Schöpfung besetzten die Südkalifornier 1999 erstmals europäisches Terrain. Ihr folgt nun in Spanien ein Wohnkomplex, der aus dem dreidimensionalen Geflecht eines Scheibenhochhauses und einer Hofhausanlage besteht.
Nähe zur Kunst
Zwei konventionellere Gebäude setzen neuerdings in Kalifornien Akzente: der seit 2004 mit den beweglichen Wimpern seiner Sonnenblenden klimpernde Caltrans-Sitz in Los Angeles und die Grossstadtikone eines soeben vollendeten Verwaltungsgebäudes in San Francisco. Hier wird das Bestreben von Morphosis, auf die Komplexität der Welt mit einer Aufsplitterung von Architektur und Raum zu reagieren, zur formalistischen Attitüde. Als ausdrucksstärker erweist sich etwa die im Bau befindliche Erweiterung der Cooper Union in New York mit ihrem höhlenartigen, nach aussen wie eine Explosionswunde aufklaffenden Erschliessungskern.
Auf den Bedeutungsverlust des öffentlichen Raums in einer zunehmend medialer ausgerichteten Welt antwortet Morphosis mit intuitiv hergeleiteten Stadt- und Gebäudeformen, wie die spaghettiartigen Überwucherungen des Stadtkörpers beim New York City Park zeigen. Dieser Entwurf wird leider ebenso unrealisiert bleiben wie das spannende Wettbewerbsprojekt für die Europäische Zentralbank in Frankfurt - eine Bauskulptur, die mit ihren gegeneinander verschobenen und abgeknickten Körpern den Raum rhythmisiert und Durchblicke gewährt hätte. Mit ihren Tentakeln sollte sie brückenartig über den Main hinausgreifen und so die Nähe von Morphosis zur Kunst verdeutlichen, befasste sich Thom Mayne doch immer wieder mit dem Werk von Gordon Matta-Clark, Robert Smithson, Keith Sonnier oder James Turrell. Diesen künstlerisch-geistigen Hintergrund des Schaffens von Morphosis vertieft die gleichzeitig im Centre Pompidou präsentierte Ausstellung «Los Angeles - naissance d'une capitale artistique».
[ Bis 17. Juli im Centre Pompidou, anschliessend im Museum of Contemporary Art in Los Angeles. Katalog: Morphosis. Continuities of the Incomplete (Continuités de l'inachèvement). Editions du Centre Pompidou, Paris 2006. 208 S., Euro 39.90. ]
Eine Werkbundsiedlung von Kazunari Sakamoto für München
Die Moderne hat in den letzten 100 Jahren zwar viele architektonische Meisterwerke hervorgebracht, doch auf dem Gebiet des Städtebaus ist sie gescheitert. Das wirkt sich in gemilderter Form bis heute aus, wie allein schon ein Blick auf die von allzu grossen Neubauvolumen und sterilen Parkanlagen geprägten Umgestaltungen ehemaliger Industrieviertel in Zürichs Norden oder Westen zeigt. Doch nun soll alles besser werden. Will doch die bayrische Sektion des 1907 zur Förderung der Baukultur gegründeten Deutschen Werkbunds mit Blick auf das Hundertjahrjubiläum in München als zukunftsweisendes Wohnmodell die Werkbundsiedlung «Wiesenfeld» realisieren. Diese soll nicht wie 1929 der legendäre «Weissenhof» in Stuttgart und danach die Anlagen in Breslau, Prag, Wien und Zürich auf das familiäre Dasein am Stadtrand, sondern auf ein dem heutigen Lebensstil entsprechendes urbanes Wohnen ausgerichtet sein.
Renaissance des Wohnungsbaus
Auf den vom Münchner Architekten Hannes Rössler, dem Vorsitzenden des Werkbunds Bayern, initiierten und im Juni 2005 ausgeschriebenen Wettbewerb antworteten gut 400 Interessenten aus aller Welt, was eindrücklich beweist, dass der immer wieder stiefmütterlich behandelte Wohnungsbau heute erneut auf Interesse stösst. In einer Vorauswahl reduzierte man den Teilnehmerkreis auf 35 Architekten. Diese sollten neue Perspektiven für ein nachhaltiges, bezüglich Sozial- und Altersstruktur dynamisch durchmischtes Quartier des 21. Jahrhunderts auf dem fünf Hektaren grossen Areal der Schwabinger Luitpold-Kaserne aufzeigen. Im Februar 2006 wurden dann 12 Entwürfe ausgezeichnet, darunter diejenigen von Christian Kerez aus Zürich und Kees Christiaanse aus Rotterdam.
Den ersten Platz aber teilten sich drei andere Projekte: Ausgehend von den teilweise überholten lokalen Vorschriften bezüglich Bauhöhe, Abstandsgrüns und Schattenwurfs, schlug das junge Münchner Büro 03 (Garkisch, Schmid, Wimmer) pragmatische, aus der Stadtstruktur abgeleitete Zeilenbauten vor. Diese vermitteln zwar bezüglich Form und Grundrisses zwischen den Kasernenbauten, einem städtischen Lagerhallenareal und einer kleinen Gartenstadt, gemahnen jedoch stark an die monotonen Siedlungen des Modernismus. Allmann Stattler Wappner, ebenfalls aus München, konzipierten hingegen eine bald geometrisch abgewinkelte, bald schleifenartig ondulierte Grossform mit wechselnden Geschosshöhen, die der Begrenzung des rechteckigen Areals folgt und im Innern eine parkartige Fläche freilässt. Mit seiner Girlande unterschiedlicher Baukörper könnte das entfernt an einen Forschungs- oder Verwaltungs-Campus der sechziger Jahre erinnernde Projekt zwar gut den Anforderungen des sozialen und freitragenden Wohnungsbaus genügen und die geforderten Wohnungstypen für Familien, Singles, Alte und Studenten aufnehmen, aber einen zukunftsträchtigen Entwurf stellt es nicht dar.
Diesen erkannte die Jury im überarbeiteten Projekt von Kazunari Sakamoto, das sie Anfang April denn auch zur Ausführung empfahl. Es schlägt 41 frei innerhalb eines orthogonalen Rasters über das Areal verteilte Einzelhäuser mit Grundflächen von 9 × 12 bis 12 × 15 Metern sowie drei Höhen von 4, 8 und 11 Geschossen vor. Die Häuser mit insgesamt 400 Wohnungen bilden ein allseits durchlässiges, jedoch nicht völlig transparentes Konglomerat, aus dessen Rhythmus mehr noch als der Doppelkubus des Studentenhauses die zentrale Kindertagesstätte ausbricht. Deren wohl von Hertzberger und van Eyck beeinflusste strukturalistische Konfiguration, die der Juror Heinz Tesar treffend ein «sprachliches Missverständnis» nannte, dürfte denn auch Gegenstand der Weiterbearbeitung sein. Da möglichst alle 12 in der ersten Runde prämierten Büros nach den Vorgaben des 63-jährigen Japaners mit dem Bau einzelner Häuser betraut werden sollen, ist nun ein «professoraler Workshop» unter Sakamotos Leitung vorgesehen. Damit soll gewährleistet werden, dass das «visionäre Potenzial» des Entwurfs im Laufe der voraussichtlich im Frühjahr 2007 beginnenden Ausführung nicht durch die beteiligten Bauträger und Architekten verwässert wird.
Worin aber besteht das Aussergewöhnliche von Sakamotos Projekt? Eine entfernt vergleichbare Einzelhausanlage existiert bereits im olympischen Dorf von Turin, einer ökologischen Modellsiedlung, die auf ein urbanistisches Konzept des Münchners Otto Steidle zurückgeht und unter anderem mit Bauten von Diener und Krischanitz aufwarten kann (NZZ 30. 1. 06). Sakamoto geht jedoch weiter und schlägt drei unterschiedlich hohe Typen von Baukörpern mit zwei oder drei Klein- oder Familienwohnungen pro Etage vor. Sie stehen auf Erdgeschosshöhe eng zusammen, gewähren aber dank ummauerten Privatgärten Intimität, ohne dass dadurch der öffentliche Durchlass stark behindert würde.
Tanzende Einzelhäuser
Mit dieser für europäische Verhältnisse ungewöhnlichen Verdichtung bezieht sich Sakamoto wohl auf die Grossstadt-Dörfer der zentralen Tokioter Wohnviertel, wo kleine Einzelhäuser Schulter an Schulter stehen. In München werden sie in einen grösseren Massstab übertragen, etwas auseinander gerückt und von Bäumen umspielt, deren Kronen als Sichtschutz zwischen den Wohnungen dienen sollen. Darüber jedoch dürfen sich die acht elfgeschossigen Türme in einem Abstand von 30 bis 80 Metern den Luftraum und die Sicht auf Innenstadt und Alpen teilen.
Dem Auftrag entsprechend sieht Sakamotos heiter-bewegtes Projekt ein reines Wohnquartier über einer grossflächigen Tiefgarage vor, doch könnten in den Erdgeschossen entlang der beiden internen Erschliessungsstrassen durchaus Cafés, Geschäfte oder Ateliers für etwas Leben sorgen. Für die Wohnqualität wird es zudem entscheidend sein, dass die grossen Fenster und Balkone nicht ästhetischen oder rechnerischen Überlegungen geopfert werden. Wirtschaftlichkeit verspricht ja allein schon die Beschränkung auf drei Haustypen, die eine Reduzierung der Mittel ermöglichen, aber die beteiligten Architekten auch dazu zwingen, sich beim Planen strikt an Sakamotos Kubaturen zu halten. Im Idealfall könnte also bis zum Frühjahr 2010 in München eine städtebauliche Trauminsel entstehen. Eine Trauminsel, auf der die humanistischen Prinzipien des Werkbunds in einer zeitgemässen, gleichermassen von Individualität und Dichte geprägten Wohnkultur neuen Ausdruck finden und so dem Siedlungsbau wieder eine Vorreiterrolle zuerkennen würden.
Ein Virtuose des Betons
Pritzker-Architekturpreis an den Brasilianer Paulo Mendes da Rocha
Die Vergabe des oft und gerne mit dem Nobelpreis verglichenen Pritzker-Architekturpreises gibt jedes Frühjahr Anlass zu Spekulationen. So vermutete man, dass sich die aus sieben Architekten, Kritikerinnen und Unternehmern - darunter Frank O. Gehry und der Basler Rolf Fehlbaum - zusammengesetzte Jury erneut für einen Hauptexponenten des zeitgenössischen Architekturdiskurses entscheiden würde. An vorderster Stelle stand dabei Toyo Ito, der grosse Architekt der mittleren Generation in Japan. Aber auch der im uruguayischen Montevideo geborene und in den USA tätige Argentinier Rafael Viñoly oder vielleicht ein junger Chilene - etwa Mathias Klotz oder Alejandro Aravena - waren mögliche Anwärter. Doch das Preisgericht, das in den vergangenen Jahren zwischen Vordenkern wie Rem Koolhaas, Herzog & de Meuron, Zaha Hadid und Thom Mayne, dem ökologisch engagierten australischen Einzelkämpfer Glenn Murcutt und dem fast schon legendären Dänen Jørn Utzon wechselte, wollte diesmal offensichtlich überraschen und kürte - in einer durchaus überzeugenden Wahl - den 1928 in Vitória geborenen Brasilianer Paulo Mendes da Rocha.
Der kreative Altmeister, der immer wieder Architekturen schuf, die europäische Erfindungen der jüngsten Zeit vorwegzunehmen schienen, war in Fachkreisen spätestens seit der 7. Architekturbiennale von Venedig und der Verleihung des Mies-van-der-Rohe-Preises für lateinamerikanische Architektur (2000) bekannt. Die vor vier Jahren von der Zürcher Architektin Annette Spiro im Niggli-Verlag herausgegebene Monographie (NZZ 14. 9. 02) machte Mendes da Rocha dann einem breiteren deutsch- und englischsprachigen Publikum vertraut. Bereits als 30-Jähriger schuf dieser mit dem expressiven Beton-Ufo einer Sporthalle in São Paulo ein Meisterwerk des Brutalismus. Wohnhochhäuser folgten; und mit der formal aus seinen Villen entwickelten São-Pedro-Kapelle, einem transparenten Bau mit schwebendem Betondach, gelang ihm 1987 ein Wurf, der problemlos neben computergenerierten Schöpfungen wie Ben van Berkels Mercedes-Museum in Stuttgart zu bestehen vermag.
Allein in São Paulo zeugen Bauten wie das «Forma»-Möbelgeschäft (1987), dessen Hauptfassade Logo und Vitrine zugleich ist, das Skulpturenmuseum (1988) mit dem dominierenden Schwebebalken oder das Centro Cultural FIESP (1996) von Mendes da Rochas Innovationskraft, die nun hoffentlich dank dem 28. Pritzker-Preis weltweit diskutiert wird. Über seine architektonischen Arbeiten hinaus widmet sich der Brasilianer der ganzen Breite der Gestaltung - von modernistischen Sitzmöbeln über Platzanlagen bis hin zu städtebaulichen Projekten in Montevideo, Vitória oder Vigo. Kurz: Mit Mendes da Rocha wird ein Visionär geehrt, dessen Werk den Architekten des Nordens zeigt, dass sich ein Blick nach Lateinamerika auch heute lohnt.
Schaufenster des argentinischen Wirtschaftsbooms
Das neue Puerto-Madero-Viertel am Hafen von Buenos Aires
Seit je spiegelt sich der Reichtum Argentiniens in Buenos Aires' Stadtbild. Die Prachtstrassen, Parks und Monumente dieser europäischsten Metropole Südamerikas erinnern an Paris, Madrid und Barcelona. Hochhäuser wie in anderen Riesenstädten gab es in der City denn auch lange kaum - einmal abgesehen vom 120 Meter hohen Art-déco-Juwel des 1936 eingeweihten Kavanagh-Hochhauses. Zwischen diesem und den einstigen Hafenanlagen des Puerto Madero bildete sich dann zaghaft eine Skyline. Bereits 1968 wurde der 32-stöckige Turm der Unión Industrial Argentina errichtet, mit dem sich der 1944 in Montevideo geborene Rafael Viñoly früh einen Namen machte. Doch die eigentliche Wolkenkratzer-Phalanx, die nun wie ein Keil die City von der Hafenzone trennt, ist jünger. Hier finden sich mit dem Viertelzylinder des República-Turms (1996) und dem an ein Teppichmesser gemahnenden Boston-Turm (2000) zwei Arbeiten des in New Haven tätigen Argentiniers Cesar Pelli, aber auch das an einen Flaschenöffner aus Kristall erinnernde La-Nación-Hochhaus (2005) von Hellmuth Obata Kassabaum.
Von diesem amerikanischen Kommerzbüro stammt ausserdem das schnittig gekurvte, mit einer preisgekrönten Klimahaut versehene Malecón-Hochhaus, das sich seit Mitte 1999 am Südende des Puerto Madero erhebt. Dieser 1887 bis 1897 nach Plänen von Eduardo Madero realisierte Hafen mit den vier je gut 600 Meter langen Becken dämmerte - für die Frachtschifffahrt zu klein geworden - während Jahren vor sich hin. Im Zeichen der globalen Revitalisierung ausgedienter Hafengebiete wurde 1989 die Corporación Puerto Madero mit dem Ziel gegründet, die 16 langgestreckten Lagerhäuser am Westrand der Hafenbecken zu sanieren und in Universitäts-, Geschäfts- und Wohnbauten umzuwandeln. So entstand zwischen 1992 und 1999 ein stimmungsvolles Quartier mit trendigen Bars und Restaurants, das - nur einen Katzensprung vom Finanzdistrikt und von den an der Avenida Madero emporgeschossenen Hochhäusern entfernt - zur beliebten Flanierzone am Wasser wurde.
Für das über einen Quadratkilometer grosse Areal östlich der Hafenbecken, das sich bis zum Erholungsgebiet Costanera Sur mit seinen Gärten, Museen und Strandanlagen, seinen Lagunen und Naturschutzzonen ausdehnt, wurde im Juni 1991 ein städtebaulicher Ideenwettbewerb ausgeschrieben. Die drei erstplacierten Büros formierten sich um den Architekten Borthagary zu einem Team, das schliesslich einen überzeugenden Masterplan vorlegte - bestehend aus zwei Parkanlagen sowie einem freien Strassenraster, das mit drei die Hafenbecken querenden Brücken und einem Fussgängersteg eng an die Innenstadt gebunden ist. Die niedrigen Bauten entlang der Hafenbecken und die parkseitig bis zu 170 Meter hohen Türme, die auf Le Corbusiers Vision von 1929 für diesen Ort verweisen, sollten insgesamt rund zwei Millionen Quadratmeter Büro- und eine Million Quadratmeter Wohnfläche offerieren. Obwohl man aufgrund der manisch-depressiven Wirtschaftsentwicklung lange an der Verwirklichung dieses ehrgeizigen Projekts gezweifelt hatte, konnten die ersten Bauten noch während der Wirtschaftskrise um das Jahr 2000 vollendet werden: 12 vier- bis neunstöckige Bürobauten an der Cossettini- sowie 8 neunstöckige Wohnblocks an der Manso-Strasse, aber auch Wahrzeichen wie Calatravas Puente de la Mujer mit der drehbaren Haifischflosse oder das Hilton- Hotel von Mario Alvarez, dem wohl erfolgreichsten Architekten der Stadt.
Weitere Entwürfe lagen in den Schubladen bereit, so dass seit Beginn der gegenwärtigen Boomphase im Jahr 2003 die Häuser wie Pilze aus dem Boden schiessen, darunter mehrere nahezu 50-stöckige Wohntürme am Parque Mujeres Argentinas. Deren luxuriöse Wohnungen sind nicht nur bei der oberen Mittelschicht gefragt, die aus den bewachten Vorstadtsiedlungen wieder ins sicher gewordene Zentrum zurückkehrt, sondern auch bei Ausländern. Der florierende Tourismussektor profitiert zudem von neuen Hotels wie jenem, das jüngst von Philippe Starck in der einstigen Porteño-Mühle eingerichtet wurde.
Diesem Schaufenster des neusten argentinischen Wirtschaftswunders, in welchem Ende 2006 bereits 14 000 Menschen wohnen und rund 70 000 arbeiten dürften, fehlt nur noch ein kulturelles Zentrum von nationaler Ausstrahlung. Das 2002 von Rafael Viñoly geplante Fortabat-Museum für argentinische Kunst - eine industriell anmutende Bauform mit tonnenförmig aufgespanntem Glasdach - könnte diesem Anspruch genügen. Doch will der direkt am Jachthafen gelegene Neubau, mit welchem die einst mächtige Zementbaronin Amalia Fortabat dem Ende 2001 vom Unternehmer Eduardo Costantini im Nobelviertel Palermo eröffneten Museum für lateinamerikanische Kunst von Atelman Fourcade Tapia die Stirn zu bieten sucht, nicht fertig werden. Umso rasanter wächst dafür Pellis Torre Repsol über einem aus zwei verschränkten Dreiecken bestehenden Grundriss in den Himmel. Der 160 Meter hohe Bürobau mit dem sich zwischen dem 26. und dem 31. Stock zur Stadt hin öffnenden Wintergarten soll als «ökologisches Wahrzeichen» schon in zwei Jahren weithin sichtbar vom gelungenen Hafenumbau künden, der einer geschickten Mischung aus Baukunst, Investorenarchitektur und historischem Ambiente zu verdanken ist.
Architektonische Zwitterwesen
Das Amsterdamer UN-Studio - eine Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt
Seit dem Bau des räumlich komplexen Möbius-Hauses in Het Gooi zählt Ben van Berkel von UN-Studio zu den Vordenkern der zeitgenössischen Architekturszene. Im Hinblick auf die Eröffnung des Mercedes-Benz-Museums in Stuttgart ehrt nun das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt das Amsterdamer Büro mit einer Retrospektive.
Seit Rem Koolhaas' wegweisendem, aber unrealisiert gebliebenem Projekt eines Zentrums für Medientechnologie in Karlsruhe (1989) wurde vor allem in den Niederlanden der architektonische Raum erforscht und die vor achtzig Jahren von Le Corbusier propagierte Idee des freien Grundrisses hin zur dreidimensional verschränkten Innenwelt erweitert. Davon zeugten 1997 das vom Rotterdamer Büro MVRDV mit schiefen und gekurvten Erschliessungsebenen versehene VPRO-Gebäude in Hilversum und ein Jahr später das in einem lichten Wald bei Het Gooi errichtete Möbius-Haus des Amsterdamer UN-Studios. Hier umschreiben kontinuierliche, auf dem Möbiusband beruhende Wandflächen die Innenräume, um gleich darauf dank einer Drehung die Aussenhaut der Villa zu bilden.
Bauen im Computerzeitalter
Mit der architektonischen Umsetzung dieses im 19. Jahrhundert von August Ferdinand Möbius beschriebenen mathematischen Modells war dem heute 49-jährigen Ben van Berkel eine baukünstlerische Sensation gelungen. Seither hat das von ihm geleitete UN-Studio, welches sich selbstbewusst als «eines der innovativsten Architekturbüros Europas» anpreist, eine auf mathematischen Modellen basierende Entwurfsstrategie «für ein neues Bauen im digitalen Zeitalter» entwickelt. Mit einem räumlich komplexen, auf einer verschränkten Doppelhelix basierenden Projekt konnte es 2001 den Wettbewerb des Stuttgarter Mercedes-Benz-Museums für sich entscheiden. Das nun der Vollendung entgegengehende Gebäude erscheint im postindustriellen Niemandsland von Untertürkheim wie ein metallisch glänzender, seltsam gemorphter Zwitter - halb CD- Player, halb Autosilo oder Raumstation. Kritiker schwärmten bereits von einer barocken Lösung. Doch so einfach kann das Form- und Raumgefüge dieser skulpturalen Science-Fiction-Architektur nicht charakterisiert werden. Ihr Inneres lebt von einem doppelten Raumkontinuum, welches der Funktion des Hauses auf spektakuläre Weise entgegenkommt und Ausstellungssituationen von der traditionellen Halle für Oldtimer bis hin zum nachgebauten Autobahnstück voller schnittiger Wagen bietet.
Schon jetzt wird der Autotempel, der im Mai seine Tore öffnen soll, allenthalben als neuer Höhepunkt der zeitgenössischen Architektur gefeiert. Es erstaunt daher nicht, dass das finanziell angeschlagene Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt auf dieses Wunderwerk setzt und nun dessen Grossmodell als Highlight einer Retrospektive anpreist, die von UN-Studio selbst inszeniert wurde. Diese Schau bietet mittels werbewirksamer Farbbilder eine Übersicht über die vom 1988 gegründeten Amsterdamer Büro realisierten Bauten. Gleichzeitig verankert sie auf einem dreidimensionalen Diagramm, das die ganze Erdgeschosshalle füllt, sechzehn Bauten und Projekte in einem zweiachsigen Koordinatensystem, wobei die einzelnen Werke den sich fünfmal wellenartig aufwölbenden Längsbändern zugeordnet sind. Die Wellenberge erheben sich an den Schnittstellen mit den Querachsen, die den fünf Entwurfsmodellen entsprechen: den eher ideellen Prinzipien der «Inklusivität» und der «umfassenden Planung» sowie den strukturellen Leitlinien des «V-Modells», des «mathematischen Modells» sowie des «Blob-und-Box-Modells». So kann man denn die faszinierenden, aus Damenstrümpfen, Schaumgummi, Draht, Papier und Stecknadeln gebastelten Maquetten der aus unterschiedlichen Entwurfsmodellen resultierenden Bauprojekte bald auf dem einen, bald auf dem anderen Wellenberg antreffen.
Mangel an Phantasie?
Die etwas geschmäcklerische, auf den ersten Blick an eine Schmuck- oder Designmesse erinnernde Präsentation versteht sich als räumliche Umsetzung einer praxisorientierten Theorie, die der Architekturwelt zeigen soll, wie sich Bauwerke «unvoreingenommen» im Rahmen einer «offenen Planung» entwickeln lassen. Ob sich dieses Gedankengerüst als «ultimativer» Leitfaden des computergestützten Planens etablieren wird, ist fraglich. Wohl eher dient es dem Versuch einer Selbstpositionierung, denn niederländische Büros befinden sich seit den Theorie-Exzessen von Rem Koolhaas' Think-Tank OMA/AMO unter enormem Profilierungsdruck.
Ein effizientes Werkzeug zur Abwicklung einzelner Planungsschritte muss nicht unbedingt zu baukünstlerischen Spitzenleistungen führen. Das verdeutlichen jene realisierten Werke von UN- Studio, bei denen es sich um intelligente Adaptionen von Vorbildern handelt, welche dann - vielleicht aus Mangel an formaler Phantasie - krampfhaft variiert werden. So ist die zeichenhafte Erasmus-Brücke (1996) in Rotterdam nicht ohne Calatravas Puente Alamillo in Sevilla, das in ein nachts glitzerndes Paillettenkleid gehüllte Galleria-Gebäude in Seoul nicht ohne Future Systems denkbar. Im SUM-Büromöbel hingegen scheinen sich Carlo Mollino und Zaha Hadid zu begegnen, während das Kaffeeservice für Alessi - trotz Verweis auf das geometrische Paradoxon der «Kleinschen Flasche» - an einen allzu symmetrischen Colani-Entwurf gemahnt. Und die Hochhäuser von Arnheim sind kaum mehr als banale Investorenarchitektur.
Allerdings liegt die Stärke der Arbeiten von UN-Studio nicht in deren äusserer Erscheinung - auch wenn das Büro mit dem enigmatischen Umspannwerk in Innsbruck, dem heiter-eleganten Apartmenthaus in Zuoz und nun auch mit dem futuristischen Mercedes-Benz-Museum mehrere höchst einprägsame Baufiguren erfunden hat. Vielmehr sind es die Innenräume, mit denen UN- Studio zu betören weiss. Dies zeigten bereits die Wohnlandschaft des Möbius-Hauses und die Wellness-Unterwelt des Hotels «Castell» in Zuoz. Nun darf man gespannt sein auf die Stuttgarter Museumsräume, auf die 2008 vollendeten Bahnhofskatakomben von Arnheim und den voraussichtlich bis zum Jahr 2010 umgestalteten Parodi- Pier im alten Hafen von Genua.
[ Bis 30. April im DAM in Frankfurt. Katalog: UN-Studio. Entwicklung des Raums. Hrsg. Peter Cachola Schmal. Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt 2006. 128 S., Euro 15.-. ]
Sehnsucht nach Schönheit
Neue Tessiner Architektur - eine Ausstellung in Rom
Gut dreissig Jahre sind vergangen, seit die Zürcher «Tendenzen»-Schau dem erstaunten Publikum von einer Architektur des Aufbegehrens in der italienischsprachigen Schweiz berichtete. Nun wirft eine Ausstellung in Rom einen kritischen Blick auf die Tessiner Baukunst von heute. Vorgestellt werden Gebäude und Projekte von sechs Teams und Einzelkämpfern.
Leicht könnte man die Ausstellung «Architetture di Passaggio» im Istituto Svizzero in Rom als eine von vielen Veranstaltungen zur Tessiner Baukunst seit der legendären Zürcher «Tendenzen»- Schau von 1975 übergehen. Doch anders als ihre Vorgängerinnen skizziert sie nicht die Erfolgsgeschichte der einstigen Kämpfer Botta, Galfetti, Snozzi und Vacchini - allenfalls garniert mit weiteren Namen. Vielmehr wird seit langem wieder ein kritischer Blick riskiert. Dieser gilt nun ganz der jüngeren Szene, wobei sechs Büros mit Fragen nach dem Stand der Tessiner Architektur in einer globalisierten Welt konfrontiert werden.
Überwindung der Enge
Die von Alberto Alessi kuratierte Ausstellung thematisiert Entwicklungen, die ähnlich auch in der Deutschschweiz, in Katalonien oder Vorarlberg festzustellen wären. Denn nach Jahren regionalistischer Selbstgenügsamkeit macht sich aufgrund des Starkults, aber auch dank intensiverem Ideenaustausch und den Möglichkeiten, die der Computer im Entwurf eröffnet, allenthalben ein neuer Internationalismus bemerkbar. Der äussert sich in kubisch abgewinkelten oder organisch fliessenden Bauformen, die neben rigiden Betonkisten immer öfter anzutreffen sind. Deshalb unterscheiden sich die Projekte jener Tessiner Architekten, die aus dem Schatten der grossen regionalen Vorbilder herauszutreten wagten, kaum noch von den Arbeiten ihrer Kollegen anderswo. Zwar fühlen sie sich weiterhin in den Landschaften und Bautraditionen des Tessins verwurzelt: doch von einem Bauen in der Enge wollen sie nicht mehr sprechen. Wie ihre Vorgänger haben die meisten von ihnen an der ETH in Zürich studiert. Während jene aber den einst von Rossi dominierten italienischen Architekturdiskurs auf die eigene Situation übertrugen, sammelten diese ihre Erfahrungen zwischen Sevilla und Tokio. Gleichwohl schlugen nur wenige anderswo Wurzeln: etwa Andrea Bassi in Genf oder Massimo Scheurer und Michele Tadini als Mitglieder von Arassociati in Mailand.
Allerdings unterscheiden sich die von Alessi ausgewählten Teams und Einzelkämpfer von den im Grossraum Locarno ansässigen Vertretern der mittleren und jüngeren Generation wie Arnaboldi, Briccola, Cavadini, den Geschwistern Guidotti oder den Tognola-Brüdern, die die Anliegen der Tendenza weiterzuentwickeln suchen. Deren Eigenheiten - vom kritischen Dialog mit dem Territorium über die Idee, den Ort zu bauen, bis zur Gratwanderung zwischen «poesia e maniera» - sind aber auch den in Rom präsentierten Büros vertraut. Darüber hinaus schätzen auch sie die Ehrlichkeit des Sichtbetons; und auch sie müssen sich oft mit kleinen Aufträgen zufrieden geben, so dass der Villa noch immer eine wichtige Rolle in der Recherche zukommt. Aber ihr Idiom ist geschliffener, internationaler, anonymer geworden - und der realisierte Bau ist ihnen wichtiger als das rigorose Denkmodell.
Bilder und Stimmungen
Kompromisslosigkeit gilt ihnen nicht mehr als höchste Tugend. So haben Durisch & Nolli aus Lugano in Mendrisio ein geschundenes mittelalterliches Steinhaus rehabilitiert und beim Max- Museum in Chiasso den Ort, seine Geschichte und Atmosphäre in das Projekt einbezogen und daraus eine Architektur der Bilder und der Stimmungen entwickelt. Auch Buzzi & Buzzi aus Locarno üben sich im Bauen im Bestand, wenn sie minimalistische Holzkonstruktionen in brüchige Rustico-Mauern integrieren. Doch bei der Planung eines kubistisch abgewinkelten und in die Trockenmauern eingefügten Hauses nähern sie sich einer modischen Formensprache, die auch der Luganese Luca Gazzaniga bei seinen Davoser Entwürfen oder bei der von organischen Öffnungen durchdrungenen Casa Cedrini in Muzzano beherrscht. Gleichzeitig stellt er seine reduzierten Villenquader wie elegante Möbel ins Grüne.
Ganz aus der Landschaft entwickelt ist das neuste Wohnhaus von Giraudi & Wettstein am Monte Brè in Lugano. Dies dank jenem raffinierten Linienspiel, das schon ihren Universitätsbau in Lugano und die mit Cruz & Ortiz konzipierte Basler Bahnhofpasserelle auszeichnete. Ähnlich wichtige Aufträge konnten Scheurer und Tadini von Arassociati mit dem Tiscali-Campus in Cagliari und einer bald vollendeten Wohnbebauung in Zürich-West übernehmen, die stark von ihrem Lehrer Aldo Rossi und den gravitätischen Mailänder Novecento-Palästen Muzios und Portaluppis geprägt ist. Heiterer ist dagegen der Minimalismus von Andrea Bassi. Er stellt in Rom nur seine bunte, mit transluzenten Kunststoffplatten verkleidete Primarschule in Neuenburg zur Diskussion und widmet ihr im Katalogbüchlein ein konkretes architektonisches Gedicht.
Baukünstlerischer Ästhetizismus
All diese Bauten und Projekte sind in der Schau mittels kurzer Videos zugegen, die wie die sechs kleinen, in einem Schuber angebotenen Kataloge von den Büros ebenso individuell wie aufschlussreich gestaltet wurden. Sie machen deutlich, dass sich die neue Tessiner Architektur weder durch formale Ähnlichkeit noch durch ein gemeinsames Programm auszeichnet. Das überrascht nicht, denn schon zur Zeit der Tendenza pflegten die einzelnen Protagonisten ihre eigene Sprache. Nur wurde sie damals durch den gesellschaftspolitisch-kämpferischen Ton übertönt.
Zu Recht spricht Alessi im Zusammenhang mit dem Tessin von «Architetture di Passaggio», von Architekturen des Übergangs zwischen den Kulturen, aber auch von Architekturen in einem Durchgangsland (der Ideen). Dies illustriert er in der Schau mit einem einstündigen Film, der die Fahrt auf der Autobahn von Chiasso bis zum Gotthard zeigt, während aus dem Off die zur Ausstellung geladenen Architekten über ihr Selbstverständnis und die Existenz einer Tessiner Architektur Auskunft geben. Die in ihrer Präsentation weitgehend immaterielle Architekturausstellung bringt die baukünstlerische Interpretation von Identität in einer globalisierten Welt zur Sprache. Sie veranschaulicht aber auch, wie im Tessin das einstmals ethisch begründete Streben nach Einfachheit einer Sehnsucht nach Schönheit und Glamour gewichen ist. Nun darf man gespannt sein, wie die erste an der Akademie von Mendrisio ausgebildete Generation auf diesen baukünstlerischen Ästhetizismus antworten wird.
Rationalistische Unterwelt
Cristián Undurragas neues Kulturzentrum La Moneda in Santiago de Chile
Sie ist ein baukünstlerisches Juwel: die 1780 von Joaquín Toesca (1752-1799) entworfene und vor 200 Jahren als Münzprägeanstalt eröffnete Moneda. Der weisse Palast, der zusammen mit dem eklektizistischen Barrio Civico zum Unesco- Weltkulturerbe ernannt werden soll, gilt als das kostbarste Werk des Frühklassizismus in Lateinamerika und - seit er 1848 zum Präsidentensitz umgebaut worden war - als Symbol der chilenischen Demokratie. Dieser Bau wurde am 11. September 1973 auf Befehl Pinochets bombardiert, und gleichentags schied hier Salvador Allende aus dem Leben. Um ein versöhnliches Zeichen zu setzen, liess Ricardo Lagos nach seinem Amtsantritt im Jahr 2000 die wieder als Präsidentenpalast dienende Moneda für das Volk und die Kultur öffnen. Seither fanden in den beiden Innenhöfen immer wieder Dichterlesungen, Konzerte und Ausstellungen statt.
Um die Politik und die (hier traditionell linksorientierten) Künste in einen noch engeren Dialog zu bringen, beschloss die Regierung Lagos, ein Kulturzentrum zu bauen, und zwar unter der lange vernachlässigten Plaza de la Ciudadanía, dem Platz vor der architektonisch weniger bedeutenden, nach Süden orientierten Rückseite der Moneda. Der Auftrag ging an Cristián Undurraga, einen der bekanntesten chilenischen Architekten der mittleren Generation. Dieser entwarf eine von Bassins und Freiflächen geprägte Platzanlage, unter der er das Centro Cultural Palacio La Moneda (CCPLM) einrichtete. An der Oberfläche tritt das am 26. Januar von Präsident Lagos und Michelle Bachelet eingeweihte, 7000 Quadratmeter grosse Ausstellungs-, Film- und Dokumentationszentrum einzig durch eine Vielzahl gläserner Streifen in Erscheinung, die Licht in das unterirdische Bauwerk bringen.
Beidseits der Wasserflächen wecken zwei abgesenkte Patios am Ost- und am Westrand der Plaza die Neugier der Passanten. Dort betreten sie das unterirdische Reich der Kunst. Durch die von massiven Betonbalken getragene Glasdecke flutet Tageslicht in eine über drei Geschosse sich weitende Halle. Überblick bietet eine umlaufende Galerie, auf die sich Café, Restaurant, Bibliothek und Museumsshop öffnen. Eine breite Rampe mit doppeltem Richtungswechsel führt entlang der blitzartig gezackten, mit unzähligen Bullaugen perforierten und durch Bambus leicht verhüllten Südwand in die Tiefe. Es ist die einzige Extravaganz, die sich Undurraga in dieser lichten, rationalistischen Unterwelt erlaubt. Diese stellt in ihrer klassizistischen Logik und Klarheit gleichsam die Weiterführung der Innenhöfe der ebenfalls dreigeschossigen Moneda unter Tag dar - so dass sie Undurraga zu Recht als «Patio de la Cultura» bezeichnen kann.
Auf dem Mittelgeschoss gewährt die Rampe Zugang zur Cineteca nacional, die aus einem grossen und einem kleinen Kinosaal sowie aus einer Mediathek besteht, bevor man am Grund der mehr als 1000 Quadratmeter messenden, für die Präsentation dreidimensionaler Kunst reservierten Halle ankommt. Hinter einer Glaswand auf der Nordseite befindet sich das Dokumentationszentrum, und durch weite Öffnungen im Osten und im Westen gelangt man in die beiden 600 Quadratmeter grossen Ausstellungssäle, in welchen derzeit eine Übersicht über die präkolumbische Kunst Mexikos zu sehen ist. - Wie die gezackten Wandelemente und das Spiel mit den Perforierungen zeigen, schreckt Undurraga nicht vor modischen Entwurfsideen zurück. Gleichwohl strahlt das CCPLM dank harmonischen Proportionen und materieller Zurückhaltung eine klassische Ruhe aus, von der nicht zuletzt die Exponate profitieren. Die Besucher promenieren unbeschwert auf der Rampe und den Galerien der lichtdurchfluteten, abends spannungsvoll erhellten Halle, in der nie jenes beklemmende Gefühl aufkommt, das man in anderen Anlagen spürt.
Dass Cristián Undurraga ein Meister der subtilen Raum- und Lichtregie ist, hat er bereits mit dem Rathausturm von Las Condes bewiesen. Dessen doppelgeschossiger, von einer wellenartig gebrochenen Decke überdachter Lobby antwortet die Halle des CCPLM mit dem spektakulären Zusammenklang von gezackter Wand und skulpturaler Rampe.
[ Das CCPLM an Plaza de la Ciudadanía ist täglich von 10 bis 21 Uhr geöffnet; die Ausstellung «México. Del cuerpo al cosmos» dauert bis Ende Juli (www.ccplm.cl). ]
Glastürme und Betonvillen
Architektonische Aufbruchstimmung in Santiago de Chile
Chiles Wirtschaftsboom der letzten Jahre spiegelt sich in den Hochhäusern von Las Condes. Doch ausser Glitzerarchitekturen findet man in Santiago de Chile auch interessante neue Bauwerke.
Das lange als erzkonservativ verschriene Chile hat jüngst mit der Wahl von Michelle Bachelet zur ersten Präsidentin eines südamerikanischen Staates der Welt gezeigt, dass es sich seit dem Ende der Pinochet-Diktatur zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Musterland gewandelt hat. Gewiss, in Valparaíso, das mit dem brüchigen Charme seiner bunten, 2003 zum Unesco- Weltkulturerbe ernannten Hangsiedlungen noch alle Züge einer Stadt in einem Schwellenland aufweist, ist die Arbeitslosigkeit noch immer gross. Umso deutlicher spürt man den Boom in seiner Schwesterstadt Viña del Mar, wo neue Apartmenttürme wie Pilze aus dem Boden schiessen. In diese nebelkühle Sommerfrische flieht der sich wieder festigende Mittelstand des 120 Kilometer entfernt in einem Hochtal am Fuss der Anden gelegenen Santiago vor der Hitze. Dank dem Aufschwung der letzten Jahre präsentiert sich Chiles Hauptstadt heute als neue Finanzhochburg Südamerikas, in der koloniale Pracht und postmoderner Glitter zu einem faszinierenden Amalgam verschmelzen.
Wirtschafts- und Bauboom
Die Fussgängerzonen im Zentrum der in den letzten 40 Jahren von zwei auf fast sechs Millionen Einwohner angewachsenen Kapitale sind voll von Kauflustigen und von Zaungästen aus den ärmeren Vierteln. Touristen bewundern die in neuem Glanz erstrahlenden Säulenhallen des einstigen Kongresspalastes, das seit 1848 als Präsidentensitz dienende klassizistische Meisterwerk der Moneda und das 150 Jahre alte, eine französisch angehauchte Plaza dominierende Opernhaus oder flanieren durch den sorgsam renovierten Barrio París-Londres, der mit Bauten des Jugendstils und des Art déco kleinstädtisches Leben ins Herz der Metropole zaubert. Doch in Santiago wird nicht nur restauriert, es wird auch gebaut, wie ein Blick vom südöstlich der Innenstadt gelegenen Hügelpark des Cerro Santa Lucía zeigt. Die frontale Sicht auf das alte Zentrum wird einem halb verwehrt durch Glastürme, zu deren Füssen die Porträtbüsten von Gabriela Mistral, Pablo Neruda oder Vicente Huidobro daran erinnern, dass Chile nicht nur eine Wirtschaftsmacht, sondern auch eine bedeutende Kulturnation ist - auch was die Architektur betrifft. Davon könnte demnächst die 300 Meter hohe Torre bicentenario zeugen, die der chilenische Jungstar Mathias Klotz im Hinblick auf die Unabhängigkeitsfeier 2010 beim Mapocho-Bahnhof im Norden der Innenstadt als Raumnadel aus schwarzem Beton und Stahl errichten möchte. Bereits jetzt demonstrieren zwei Fakultätsgebäude auf dem südwestlich des Zentrums gelegenen Areal der Privatuniversität Diego Portales sein Können.
Obwohl sich in den vergangenen Jahren architektonisch viel getan hat, verbindet man in Europa mit der chilenischen Baukunst allenfalls die Escuela de Valparaíso. Die Exponenten dieser 1952 von Alberto Cruz in Viña del Mar als Ableger der Katholischen Universität gegründeten Architekturschule nahmen schon in den sechziger Jahren mit alternativen Wohnmodellen und dekonstruktivistisch anmutenden Bauten spätere Entwicklungen vorweg. Noch heute spürt man den Geist von Valparaíso in den oft organisch sich windenden Bauten von José Cruz Ovalle. Von ihm stammen Neubauten der Privatuniversität Adolfo Ibáñez sowie die Mensa auf dem Campus der Architekturfakultät der Katholischen Universität in Santiago. Für diese architektonisch engagierte Hochschule realisierte der auch als Theoretiker einflussreiche 39-jährige Alejandro Aravena neben dem historischen Hauptsitz am Alameda-Boulevard ein neues Fakultätsgebäude, dessen mit grossen Klinker-Scheiben verschattete Nordfassade vom Cerro Santa Lucía aus zum Greifen nahe scheint.
Stadt der Zukunft
Weit hinter Aravenas Fakultätsgebäude glänzt vor den Schneeriesen der Anden die Skyline von Las Condes. Sie steht weniger für Chiles architektonische Blüte als vielmehr für den gigantischen Investorenrausch, der die 1901 gegründete Gemeinde in Santiagos wohlhabendem Osten in den letzten Jahren in ein pulsierendes Wirtschaftszentrum mit 250 000 Einwohnern verwandelt und so die architekturgeschichtlich wertvolle Innenstadt etwas vom Baudruck befreit hat. Denn von den zentral gelegenen Ministerien, Banken, Universitäten und Kulturinstituten erreicht man mit der Metro in gut zehn Minuten die gläsernen Kaskaden, Segel oder Pyramiden der Bürotürme von Las Condes. Im Meer all dieser Kommerzarchitektur entdeckt man aber auch Qualitätsbauten wie die Torre Manantiales von Luis Izquierdo und Antonia Lehmann an der vornehmen Avenida Isidora Goyenechea. Mit bald vertikal, bald diagonal gestellten Betonpfeilern verweist ihr Fassadenbild auf die erdbebensichere Konstruktion. Dieses Zusammengehen von Form und Struktur wurde 2004 mit der Aufnahme in die MoMA-Schau «Tall Buildings» belohnt.
Ein Spaziergang durch den neu am Rio Mapocho angelegten Parque de las Américas, an dem das World Trade Center immer weiter expandiert, lässt etwas von der Lebensqualität von Las Condes erahnen, wo man das höchste Pro-Kopf- Einkommen und die niedrigste Arbeitslosenrate Lateinamerikas registriert. Derselbe Eindruck wiederholt sich beim Parque Araucano, neben dem gerade die Turmbauten des von Hellmuth, Obata & Kassabaum (HOK) entworfenen Neubauquartiers Nueva Las Condes vollendet werden. Nachdem an der Plaza de la Palabra bereits vor drei Jahren mit dem Huidobro-Turm von HOK und Corvalán ein banaler Investorenbau eröffnet worden ist, gehen jetzt die beiden 23-stöckigen, nach Mistral und Neruda benannten Bürohäuser von A4 Arquitectos sowie eine Shopping-Mall mit Theater und Konferenzsälen der Vollendung entgegen. Architektonisch relevant ist aber nur die Torre «CorpGroup» von Cristián Boza: ein skulpturaler 26-stöckiger Glasquader mit kantigen Auskerbungen.
Für ein architektonisches Zeichen entschied sich die Gemeinde Las Condes, als sie beschloss, unweit des alten Rathauses, eines nun als Kulturzentrum genutzten Art-déco-Baus von 1942, einen Neubau zu errichten. In der Glitzerwelt der Avenida Apoquindo erscheint der vom Architekten Cristián Undurraga zusammen mit dem Bauingenieur Rafael Gatica konzipierte 17-stöckige Turm wie ein Bote aus einer anderen Welt. Das 2004 vollendete Werk beweist, dass auch im Hochhausbau mehr als nur Oberflächendesign möglich ist. Die Fassade, welche wie diejenige des Manantiales-Turms ihre antiseismische Struktur zur Schau stellt, erinnert mit ihrem x-förmigen, die stützenfreien Geschossplatten tragenden Geflecht aus betonumhüllten Stahlträgern an einen Korb. Dabei ist diese bildhafte Vereinigung von Architektur und Ingenieurtechnik - wie für gute Neubauten in Chile typisch - einem kraftvollen, unmodischen Rationalismus verpflichtet.
Ein gegenüber der Strasse abgesenkter Hof führt einen zu den Wurzeln des Fassadengitters. Ebenerdig bringt die doppelgeschossige Eingangshalle Licht und Raum zum Klingen. Unmittelbar darüber befinden sich der Plenarsaal der Stadtregierung und anschliessend die zwölf Bürogeschosse. Formale Ästhetik, bautechnische Funktionalität, räumliches Raffinement und materielle Einfachheit machen diesen Verwaltungsbau zu einem Markstein der neuen Hochhausarchitektur in Lateinamerika, dem wohl nur Carmen Pinos' Torre Cube im mexikanischen Guadalajara das Wasser reichen kann.
Es sind immer wieder Betonbauten, die seit dem legendären, 1964 unter dem Eindruck von Le Corbusiers La Tourette von Gabriel Guarda und Martín Correa realisierten Benediktinerkloster von Las Condes in Chiles Architektur für Höhepunkte sorgten. Das zeigt sich auch im Wohnbau. So hat Gonzalo Mardones im vergangenen Jahr mit dem ebenso harten wie eleganten, von zwei Penthousewohnungen mit eigenen Swimmingpools bekrönten Edificio Glamis frischen Wind in die schicken Wohnzonen von Las Condes gebracht. Aber auch die vielen neuen Betonvillen, die Cruz Ovalle, Izquierda & Lehmann, Klotz, Mardones oder Undurraga in den Hügeln von Las Condes und der angrenzenden Nobelgemeinde Vitacura errichten konnten, veranschaulichen die in der Architekturszene von Santiago herrschende Aufbruchstimmung.
Weisse Stadt am Mittelmeer
Die moderne Architektur von Tel Aviv in einer Schau in Mendrisio
Auf einem vom schottischen Städteplaner Patrick Geddes entworfenen Strassenraster realisierten Architekten aus halb Europa in den dreissiger Jahren die Weisse Stadt von Tel Aviv. Ihr widmet nun die Galerie der Architekturakademie Mendrisio eine sehenswerte Ausstellung.
Keine andere Stadt der Moderne besitzt so viel Ausstrahlung wie Tel Aviv. Der Grund dafür liegt in der mediterranen Lebenslust ihrer Bewohner, aber auch in ihrer urbanistischen Anlage. Der ondulierende Linienfluss von schattigen Boulevards, pulsierenden Verbindungs- und ruhigen Quartierstrassen bildet ein organisches Muster, in welchem flachgedeckte Mehrfamilienhäuser wie ungezählte Zuckerwürfel aneinander gereiht sind. Nichts erinnert hier an die harten, rationalistischen Stadtmaschinen des Neuen Bauens. Vielmehr handelt es sich bei der 1925 vom schottischen Urbanisten Patrick Geddes entworfenen Gartenstadt um die einfühlsame Weiterführung einer 1908 in den Dünen nördlich von Jaffa erfolgten Neugründung, die bald schon den Namen Tel Aviv erhielt. Anfangs wurde Geddes' Strassenmuster mit Häusern in eklektizistischem oder orientalistischem Stil bebaut. Zu diesen gesellten sich dann seit den frühen dreissiger Jahren all jene modernen Bauten, die Tel Aviv bald schon zur Weissen Stadt machen sollten.
Internationaler Stil
Diese neue Architektur wurde von europäischen Immigranten konzipiert, die in Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und der Schweiz studiert hatten. Im Jahre 1937 zählte man bereits 2600 moderne Bauten, und bis zur Staatsgründung von 1948 entstanden nochmals über 1000 Häuser. Sie werden in Tel Aviv meist mit dem Bauhaus in Verbindung gebracht. Doch abgesehen vom wegweisenden Arieh Sharon, der sich bei seinen Arbeitersiedlungen an die sozialen Ideale des Basler Bauhaus-Direktors Hannes Meyer hielt, waren Tel Avivs Architekten weit stärker von Le Corbusier, Mallet-Stevens oder Erich Mendelsohn beeinflusst. Deshalb werden ihre meist viergeschossigen, oft durch abgerundete Ecken, geschwungene Balkone, pergolabekrönte Dachterrassen oder Pfeilerhallen geprägten Mehrfamilienhäuser inzwischen lieber dem Internationalen Stil zugeordnet.
Diese nur summarisch skizzierte Ausgangslage fasst eine Schau zusammen, die anlässlich der im Sommer 2003 erfolgten Aufnahme der «Weissen Stadt» ins Unesco-Weltkulturerbe erstmals in Tel Aviv zu sehen war und nun - als Europapremiere - in der neuen, vor wenigen Monaten eingeweihten Galerie der Architekturakademie von Mendrisio im Palazzo Canavée gezeigt wird. Die mit Plänen, Fotos, Modellen und Videopräsentationen konventionell gestaltete, bei aller Knappheit aber gut fokussierte Schau empfängt die Besucher mit vier Flugaufnahmen, die Zoltan Kluger zwischen 1937 und 1939 von der schon weitgehend gebauten Stadt machte. Anschliessend blickt die Präsentation zurück und beleuchtet die durch die Einwanderungsschübe aus Osteuropa ausgelöste rasante Stadtentwicklung, die gezielte Planungsarbeiten immer dringlicher machte. Auf die Geschichte des Geddes-Plans folgt eine Bildergalerie, die 98 Architekten mit kurzen Lebensläufen vorstellt, darunter die Le- Corbusier-Schüler Zeev Rechter und Sam Barkai, der Bauhäusler Sharon, die 1934 mit der Planung des zentralen Dizengoff-Platzes betraute Genia Averbouch und der am Technikum Winterthur ausgebildete Zürcher Salomon Liaskowsky. Sie zählten zu den einflussreichsten Baukünstlern der Stadt und waren nicht nur planend, sondern - zumal die Mitglieder der Architektenvereinigung «Chug» - auch theoretisierend tätig. Vom fruchtbaren Architekturklima Tel Avivs in den dreissiger Jahren zeugen auch Auszüge aus drei Nummern der Zeitschrift «Architecture d'aujourd'hui» von 1937 und 1939. Diese brachten neben planerischen Innovationen im britischen Mandatsgebiet Palästina auch Meisterwerke der neuen Architektur wie Barkais Juwel, das Haus Lubin in Tel Binjamin (1937), einem grösseren europäischen Publikum näher.
Einige dieser wichtigen Bauten werden in der Schau besonders hervorgehoben - etwa das 1931 vollendete Kruskal-Haus von Richard Kauffmann, der erste bedeutende moderne Bau in Tel Aviv, das aufgestelzte Engel-Haus von Rechter, das Rubinsky-Haus mit dem dynamischen Fassadenspiel von Lucian Korngold oder das durch seine geschwungene Dachkrone einflussreiche Poliashuk-Haus von Liaskowsky. Damit wagt die Ausstellung jene baukünstlerische Wertung, die im ebenso opulenten wie materialreichen Katalog - einer Überarbeitung des Buchs «Batim min hachol» («Häuser auf Sand») von 1994 - fehlt. Hier geht die Herausgeberin und Ausstellungsgestalterin Nitza Metzger-Szmuk auf die Entstehungsgeschichte, die Stadtplanung von Kauffmann und Geddes, die Herkunft und Ausbildung der Architekten sowie auf die Bautypologien ein, vermeidet aber eine kritische Analyse der theoretischen, ästhetischen und funktionalen Aspekte einzelner Häuser. Nicht einmal die Bedeutung des verwahrlosten, aber im internationalen Vergleich erstrangigen Engel-Hauses am Rothschild Boulevard, mit dem Rechter die anschliessend so erfolgreiche Pilotis-Bauweise gegen die Weisungen der Stadtverwaltung durchsetzte, kommt im Katalog ausführlich zur Sprache.
Standardwerk mit Mängeln
Auch gegenüber denkmalpflegerischen Sachverhalten geben sich Ausstellung und Katalog zugeknöpft. Dabei sind viele Häuser nicht nur vom Verfall, sondern ebenso durch Aufstockungen bedroht. Diese verunstalten die Bauten und beeinträchtigen zudem die harmonisch proportionierten Strassenräume. Aber das wäre wohl Stoff für eine weitere Schau und eine Folgepublikation. Deshalb wird man den vorliegenden Katalog trotz manchen Mängeln doch als Standardwerk bezeichnen. Gleichwohl darf man erfreut zur Kenntnis nehmen, dass sich die Ausstellung dem Begleitbuch gegenüber immer wieder eigene Positionen erlaubt - etwa durch den Verweis auf internationale Vorbilder oder auf Fragen der Innenraumgestaltung. Damit wird aber auch deutlich, wie viel Forschungs- und Interpretationsarbeit hier noch geleistet werden kann und muss.
[ Bis 23. März, jeweils von Mittwoch bis Sonntag (12-19 Uhr) im Akademiegebäude am Viale Canavée, anschliessend in der ETH Lausanne. Katalog: Des maisons sur le sable. Tel Aviv. Mouvement moderne et esprit Bauhaus - Modern Movement and Bauhaus Ideals (franz./engl.). Hrsg. Nitza Metzger-Szmuk. Editions de l'éclat, Paris 2004. 447 S., Fr. 100.- (in der Ausstellung). ]
Eine Stadtkrone am Lago Maggiore
Projekt für ein Kultur- und Kongresszentrum in Ascona
Seit einigen Tagen sind in Ascona die Entwürfe für ein Kultur- und Kongresszentrum ausgestellt. Das hat zu einer Kontroverse um das monumentale Siegerprojekt von Caruso St John geführt.
Neben dem Wettbewerb für ein neues Basler Stadtkasino darf jener für ein Kultur- und Kongresszentrum in Ascona als eines der prestigeträchtigsten Schweizer Architekturereignisse der letzten Jahre gelten. Doch wer in Ascona einen innovativen, den Architekturdiskurs beflügelnden Entscheid erhofft hatte, wird nun enttäuscht. Die hochkarätige Jury, der Stars wie Peter Zumthor, John Pawson und Roger Diener angehörten, kürte jüngst im zweiten Durchgang das Projekt der Londoner Architekten Adam Caruso und Peter St John, denen vor einigen Jahren mit der turmartigen New Art Gallery in Walsall ein vielbeachtetes Meisterwerk gelungen war (NZZ 6. 11. 00). Für Ascona variierten die Engländer die in Walsall erfolgreiche Idee einer Stadtkrone - allerdings mit wenig Überzeugungskraft. Denn anders als die etwas abgetakelte mittelenglische Industriestadt, die durch den weithin sichtbaren Neubau nur gewinnen konnte, ist im Zentrum von Ascona ein solcher Akzent fehl am Platz. Hier würde der massige «Leuchtturm» mit seiner Hülle aus weissem, marmorglänzendem Zement und den acht Meter hohen, teilweise verspiegelten Fenstern nicht nur den städtebaulichen Massstab verfremden, sondern auch die von zwei Kirchtürmen beherrschte Silhouette zerstören. Denkbar wäre ein solches Zeichen höchstens zwischen Hotelviertel und Lido direkt am See.
Schwerfälliger Leuchtturm
Das Siegerprojekt kann zwar mit einem räumlich interessanten Foyer und - über den Büros der Polizei - im ersten Stock des Sockelgeschosses mit einem intelligent konzipierten Museum aufwarten. Dessen Erschliessung erweist sich jedoch als ebenso unbefriedigend wie die Gestaltung des nochmals eine Etage höher gelegenen, an eine provinzielle Mehrzweckhalle erinnernden Auditoriums, das für Kongresse, Konzerte, Theater- und Filmvorführungen zur Verfügung stehen soll. Hier wird ein Bau mit Funktionen überfrachtet, nur um ihm eine aufsehenerregende Höhe zu verleihen. Seine 31,5 Meter hoch aufragende Fassade wird zum Viale Papio hin durch riesige seitliche Kehlen (die als Reverenz an den Tessiner Barock angepriesen werden) optisch schlanker gestaltet, damit sie neben dem nur wenig höheren Turm der benachbarten Kollegiatskirche nicht zu plump wirkt. Dafür wollen Caruso St John das ebenfalls zur Bebauung freigegebene Grundstück westlich des Viale nur mit einem pavillonartigen Tourismushaus und einem an dieser Stelle urbanistisch fehlplacierten Garten nützen.
Wogende Dynamik
Die Jury wollte all diese Mängel ganz offensichtlich nicht sehen. Neben einem weiteren himmelstrebenden, durch schmale, vertikale Fenster gegliederten Monolithen von Peter Märkli (der immerhin ein annehmbares Auditorium verspricht) lag ihr noch ein Vorschlag von Zaha Hadid vor. Nun werden viele sagen: Bitte, nicht schon wieder Hadid. Doch während beim Basler Stadtkasino der siegreiche Hadid-Entwurf dem Projekt von Herzog & de Meuron in mancher Hinsicht unterlegen war, ist ihre Asconeser Arbeit massgeschneidert für diesen ebenso beengten wie delikaten Ort am Rand des Borgo. Hadid erkannte nämlich als Einzige, dass architektonisches Spektakel hier weniger durch eine zeichenhafte Stadtkrone oder einen Leuchtturm angestrebt werden darf als vielmehr durch formale Überwältigung. Dies gelingt ihr, indem sie mit opulenten Volumen den Strassenraum zum Brodeln bringt.
Zaha Hadids baukünstlerische Argumentation lag nicht auf der Linie der minimalistisch- geometrisch ausgerichteten Jury. Dennoch hätte diese die städtebaulichen, räumlichen und funktionalen Qualitäten des Entwurfs erkennen müssen. Integriert sich doch - trotz wogender Dynamik (um nicht zu sagen Hysterie) - kein anderes Projekt so perfekt in den fragmentarischen Kontext des Viale Papio, auch wenn der geschickt auf beide Parzellen verteilte, durch einen geschwungenen Skywalk verbundene Baukörper mitunter an eine Raumstation erinnert. Attraktive Foyers saugen die Besucher hinauf in die westlich des Viale untergebrachten Museumsräume und in das gegenüberliegende Auditorium, das mit Eleganz und Grosszügigkeit zu überzeugen weiss. Bei aller Rhetorik fügt sich der in seiner stärksten Aufwölbung nur 22 Meter hohe Doppelbau diskret in Asconas Weichbild ein.
Wie schwer sich all die andern Architekten mit dem schwierigen Standort und dem überfrachteten Raumprogramm taten, zeigen in der derzeitigen Asconeser Ausstellung fünf zusätzliche in der ersten Runde ausgezeichnete Projekte: zwei Betonskulpturen von Luigi Snozzi, ein falsch placierter gläserner Novecentobau des Tokioter Kultbüros Sanaa, die gekurvten Volumen von Mansilla & Tuñón aus Madrid, die fabrikartigen Baukörper von Rafael Moneo sowie Mario Bottas diskretes, aber städtebaulich präzises Spiel mit Rechteck und Oval.
Da ein Scheitern des für Ascona wichtigen Kultur- und Kongresszentrums bedauerlich wäre, stellt sich die Frage, ob die Gemeinde - entgegen dem Juryentscheid - nicht Zaha Hadids Projekt weiterverfolgen sollte. Mag sein, dass dessen Realisierung den Finanzrahmen von knapp 55 Millionen Franken sprengen würde. Aber es hätte wie kein anderes das Potenzial, Sponsoren zu motivieren - und dereinst auch Besucher anzulocken. Wenn dann noch das zur permanenten Baugrube verkommene Ex-Taverna-Areal am Eingang zum Viale Papio mit einer anspruchsvollen Architektur bebaut und das historische Postgebäude renoviert würde, könnte Asconas derzeit hässlicher «Empfangssalon» zum stolzen Gegenstück der Piazza am See aufsteigen.
[ Die drei Projekte aus der Finalrunde sowie die fünf weiteren prämierten Arbeiten aus der ersten Runde sind noch bis zum 18. Februar täglich zwischen 15 und 19 Uhr in Ascona (Viale Papio 5) zu sehen. ]
Die Welt als Wohnung
Paris würdigt die Designerin und Architektin Charlotte Perriand
Als Gestalterin von Le Corbusiers Stahlrohrmöbeln wurde sie bekannt. Danach schuf Charlotte Perriand (1903-1999) ein breites Œuvre, in welchem sie sich gleichermassen mit dem kostbaren Einzelobjekt wie mit dem Massenwohnungsbau befasste. Das Centre Pompidou in Paris würdigt sie nun als Designerin und sozial engagierte Architektin.
Der Name Charlotte Perriand ist vielen im Zusammenhang mit Le Corbusiers Möbeln ein Begriff; und dennoch wird die Bedeutung ihres Œuvres bis heute unterschätzt. Schon im Alter von 24 Jahren wagte es die 1903 geborene Absolventin der Pariser Ecole de l'Union central des arts décoratifs, mit ihrem Portfolio unter dem Arm beim Meister anzuklopfen. Doch erst der Erfolg ihrer «Bar sous le toit» am Salon d'automne von 1927 liess Le Corbusier aufhorchen. Denn der schwarz gepolsterte «Fauteuil tournant» und ein ausziehbarer Tisch machten sie in Frankreich zur Vordenkerin in Sachen Stahlrohrmöbeln, die zwei Jahre zuvor schon von Marcel Breuer in Deutschland propagiert worden waren. Jetzt sicherte sich der ehrgeizige Schweizer Architekt Perriands Know-how. Im Atelier von Le Corbusier und Pierre Jeanneret betreute die junge Pariserin daraufhin die Entwicklung der legendären «Corbusier-Liege» und des «Fauteuil Grand Confort», welche bereits 1928 dem Salon der Villa La Roche den letzten Schliff verliehen.
Ikonen aus Stahl und Holz
Diese Geschichte bildet den ersten Höhepunkt der grossen Charlotte-Perriand-Schau im Centre Pompidou in Paris, welche gleichermassen die Designerin wie die sozial engagierte Architektin würdigt. Die überreich mit Designobjekten, Modellen, Plänen, Fotos, Dokumenten, ja ganzen Interieurs bestückte und wie eine riesige Wohnung gestaltete Ausstellung fährt nach der Präsentation des biografischen Materials und der bis 1937 im Atelier von Le Corbusier hergestellten Möbel weiter mit Perriands eigenen Forschungen auf dem Gebiet des «Logement minimum», die in einem lowtech-artigen Biwak kulminierten. Während der dreissiger Jahre entfernte sich Perriand aufgrund ihrer Sympathien für die kommunistische Partei mehr und mehr von Le Corbusier, arbeitete aber weiterhin mit Jeanneret zusammen. An ihr klassenkämpferisches Interesse erinnert die wandbildartige Fotomontage «La Grande Misère de Paris», die sie 1936 auf dem Salon des arts ménagers vorstellte. Zudem belegen surrealistische Fotos und organische Sammelobjekte nicht nur ihre Nähe zur künstlerischen Avantgarde, sondern auch ihre Begeisterung für skelettartige Konstruktionen - und dies lange vor Calatrava.
Die Kriegsjahre verbrachte Charlotte Perriand im Fernen Osten, wo sie westliche Designideen vermittelte und östliche Gestaltungsformen in sich aufsaugte. Obwohl sie nach dem Kriegseintritt Japans das Land in Richtung Indochina verliess, hielt ihre Begeisterung für das Inselreich weiter an. Das dokumentieren nicht zuletzt die japanisch inspirierten Werke, die sie in den fünfziger Jahren schuf. Daneben beschäftigte sie sich mit kollektiven Wohnformen und kreierte die gleichermassen funktionalen wie formschönen Zimmereinrichtungen der Studentenhäuser Brasiliens, Mexikos und Tunesiens in der Pariser Cité internationale universitaire.
Geometrie und Organik
Zuvor schon hatte sie den Prototyp einer Einbauküche für die Unité d'habitation in Marseille entworfen. Neue Anregungen gab ihr der Gedankenaustausch mit Jean Prouvé, Fernand Léger und immer wieder mit Pierre Jeanneret. Die Arbeiten, die nun entstanden - konstruktivistisch elegante Regale in starken Farben und nierenförmige Tische aus massivem Holz - zählen zu den Glanzpunkten der Möbelkunst des 20. Jahrhunderts. Sie zeigen die Virtuosität, mit der Perriand zwischen geometrischer und organischer Abstraktion wechselte. Dabei schreckte sie auch vor grossbürgerlichen Inszenierungen nicht zurück, wie ihre mit opulenten Einbaumöbeln aus Palisanderholz ausgestattete brasilianische Bibliothek von 1962 demonstriert. In den zwischen 1967 und 1986 entstandenen Wohnmaschinen im Skiort Les Arcs verschmelzen schliesslich Baukunst und funktionales Design zu einem ganz dem Geist der siebziger Jahre verpflichteten Stil, in dem ihre sozialistischen Visionen vom Massenwohnungsbau eine seltsame Verbindung eingehen mit den fast schon an die Parodien eines Monsieur Hulot erinnernden Vorstellungen vom kleinen Ferienglück.
Sechs Jahre vor ihrem Tod im Oktober 1999 konnte Perriand in der Maison de thé, die sie für die Unesco in Paris gestaltete, ein letztes Mal ihre japanischen Leidenschaften ausleben. Dieses Alterswerk, dem die Kraft der früheren Arbeiten fehlt, bildet den leicht sentimentalen Ausklang der konventionell, aber klar und logisch eingerichteten Schau. Diese vermag ohne viel didaktisches Beiwerk, aber mit stichhaltigen visuellen Argumenten die theoretische Recherche von Charlotte Perriand ebenso zur Geltung zu bringen wie ihre künstlerischen Fähigkeiten und gesellschaftspolitischen Überzeugungen.
[ Bis 27. März. Katalog: Charlotte Perriand. Éditions du Centre Pompidou, Paris 2005. 184 S., Euro 29.90. ]
Embryonale Versteinerungen
Der österreichische Architekt Heinz Tesar in München
Die Bauten des in seiner Recherche betont künstlerisch ausgerichteten Wiener Architekten Heinz Tesar stossen oft auf Kritik oder gar Ablehnung. Nun versucht das Architekturmuseum der TU München mit einer Retrospektive in der Pinakothek der Moderne dieses ebenso vielfältige wie qualitativ heterogene uvre zu deuten.
Der schwarze Kubus im anonymen Wiener Neubauviertel Kagran ist ein Meisterwerk der heutigen Sakralarchitektur. Aussen mit anthrazitfarbenen Chromstahlplatten verkleidet und innen mit hellem Birkensperrholz gefüttert, lebt der Betonkörper vom Spiel des Tageslichts, das durch ungezählte runde «Lichtlochfenster» ins Kircheninnere fällt. Wie in keinem seiner anderen Werke ist es hier Heinz Tesar gelungen, den Raum zum klingen zu bringen. Gleichzeitig scheint die im Geiste Le Corbusiers konzipierte Christus-Kirche von Kagran mit dem früheren Schaffen des in Wien tätigen Architekten zu brechen, obwohl der Bezug zur Kunst weiterhin allgegenwärtig bleibt.
Schon als junger Mann versuchte sich der 1939 in Innsbruck geborene Tesar als freier Künstler, um sich dann in den sechziger Jahren an der Akademie in Wien die Grundlagen der Architektur zu erarbeiten. Damals entstanden die blutroten Plazenta- und Embryobilder, die bis heute Tesars entwerferische Recherche bestimmen. So ist seine städtebaulich bisher wichtigste Realisierung, die Erweiterung des Lagerhausviertels in St. Gallen (1989-2005), kaum ohne die rostrot aquarellierte Skizze eines Forellen-Embryos zu denken. Dieses in der grossen Tesar-Retrospektive in der Münchner Pinakothek der Moderne zwar ausgestellte, im opulenten Katalog aber nicht publizierte Blatt ist offensichtlich den Tesar-Interpreten entgangen. Dabei nimmt es wie keine andere Zeichnung den in einen langgestreckten Körper und einen halbovalen Kopf geteilten Grundriss des an der Vadianstrasse gelegenen Polizei- und Geschäftsgebäudes vorweg, aber auch denjenigen des Bürohauses beim Dresdner Zwinger (1993-99). Doch anders als der formal und urbanistisch missglückte Bau in Dresden erinnert die Ostschweizer Hofrandrekonstruktion mit dem rundtempelartigen, von einem «Säulenmantel» umschlossenen Stirnbau an jene Allüren, die schon die St. Galler Baukunst des Jugendstils auszeichneten.
Biomorphe Formen
Für Tesars Theorie der «Praearchitektur» sind embryonale Grundrisse und biomorphe Formen entscheidend. Solche aus unserem Dasein entwickelten «Homotypen» prägen Tesars Bauten ebenso wie eine immer wieder leicht postmodern angehauchte Fassadensprache. Denn für Tesar, der Architektur als «Versteinerung gesellschaftlicher und individueller Prozesse» versteht, die sich in Schichten überlagern, ist ein gradliniger baukünstlerischer Fortschritt kaum vorstellbar. Die damit verbundene Absage an das Avantgardedenken und an die immer schneller wechselnden Architekturmoden bewirkt zusammen mit den formal und funktional unkonventionellen, oft dem architektonischen Kitsch nahen Entwürfen, dass seine Bauten hierzulande gerne beargwöhnt, wenn nicht sogar abgelehnt werden.
Die Deutung dieser Eigenwilligkeiten bildet nun die Basis der vom Architekturmuseum der TU München zusammengestellten Schau. Sie ist für ein breites Publikum attraktiv, weil sie neben Gemälden und Zeichnungen, die von Beuys, Nitsch und Rainer beeinflusst scheinen, auch anschauliche Modelle sowie grossformatige Fotos (aber keine Pläne) präsentiert und Tesars uvre in drei anschauliche Themenkreise gliedert. Der erste gilt der vom organischen Leben bestimmten künstlerisch-architektonischen Formfindung. Dazu werden Tesars Bauten und Projekte aus dem Bereich der Sakralarchitektur vorgestellt, die - abgesehen von der Kagraner Kirche - stark dem Biomorphismus verpflichtet sind. Darunter finden sich so interessante Lösungen wie die evangelische Kirche in Klosterneuburg (1993-95), Tesars erste Verneigung vor Ronchamp. Nur dass hier die Wandöffnungen zu einheitlichen Fensterquadraten geworden sind und das mit saugnapfartigen Lichtkuppeln besetzte Blechdach - welches das «ausserirdische» Erscheinungsbild des Kunsthauses Graz um zehn Jahre vorwegnahm - sich organisch nach aussen wölbt. Das künstlerisch gedachte Detail kann aber auch ins Peinliche kippen, wie bei den «Herzpfeilern» der 1997 projektierten, aber nicht realisierten Synagoge von Dresden. Ganz ähnlich wie die Kirche von Klosterneuburg und die 2003 entworfene Moschee in der Wiener Huttengasse sollte das als riesige Jakobinermütze geformte Gotteshaus von Dresden von oben durch Bullaugen erhellt werden.
Tektonische Platten
Im zweiten Teil der Schau geben die mit attraktiven Oberlichtsälen aufwartende Sammlung Essl in Klosterneuburg (1999) und das von der Kritik einst viel gelobte kleine Stadttheater Hallein (1993) Einblicke in Tesars Welt der «Klanglichträume». Hier trifft man auch auf einen 2001 vorgelegten Wettbewerbsentwurf für das Kunstmuseum St. Gallen. Dort hätte ein «säulenummantelter» Erweiterungsbau wie ein moderner Tempel mit viel städtebaulichem Einfühlungsvermögen in den Stadtpark eingefügt werden sollen. Ähnlich subtilen Haltungen begegnet man in dem mit «Schichtungen» überschriebenen dritten Ausstellungsbereich, der Tesars urbanistischen Studien gewidmet ist. Mit dem malerisch komponierten, aber in der Volksabstimmung gescheiterten Klösterli-Projekt beim Berner Bärengraben hatte Tesar Anfang der achtziger Jahre einen Hauptbeitrag zur europäischen Postmodernediskussion beigesteuert. Danach begab er sich mit seinem vielschichtigen Entwurf für die Neubebauung des Wiener Nordbahnhofgeländes (1991) vorübergehend auf das Terrain des Rationalismus.
Als Synthese dieser beiden Richtungen darf man das stadtplanerische Konzept für die touristische Erschliessung des einsamen Veneguera- Tals im Südwesten Gran Canarias bezeichnen. Der bald wie ein konstruktives Flachrelief, bald wie eine archaische Siedlung, eine Ruinenstätte oder eine Weltraumstadt anmutende Entwurf aus dem Jahre 2002 sah einen flächendeckenden Cluster von Patiohäusern für 16 000 Touristen vor. Diese vielleicht allzu utopische, dank der überzeugenden Interpretation der vulkanischen Ablagerungen aber perfekt in die Umgebung eingepasste Arbeit könnte eine Alternative zur banalen, immer weitere Landschaften verunstaltenden Tourismusarchitektur auf den Kanarischen Inseln bieten. Hätte sich Tesar weiter mit dieser bedeutenden Aufgabe auseinandersetzen können, wäre er vielleicht sogar seine künstlerischen Obsessionen losgeworden, die seit Jahren schon wie ein unruhiger Traum um die Themen «Kalvarienberg» oder «Embryomuseum» kreisen und so der architektonischen Forschung mehr Energie abziehen als beifügen.
[ Die vom Architekturmuseum der TH München in der Pinakothek der Moderne veranstaltete Ausstellung dauert bis zum 8. Januar. Katalog: Heinz Tesar. Architektur. Hrsg. Winfried Nerdinger. Electa, Mailand 2005. 303 S., Euro 35.-. ]
Südtiroler Delikatessen
Dynamische Architekturszene an Etsch und Eisack
Bilder von Schlössern und idyllischen Landschaften prägen unsere Vorstellungen von Südtirol. Dabei wird übersehen, dass sich das südlich angehauchte Bergland zwischen Etsch und Eisack längst zu einer boomenden Wirtschaftsregion entwickelt hat. Diese überrascht heute nicht nur mit Spitzenweinen, sondern auch mit neuer Architektur.
Seit dem Triumph der Tessiner Tendenza entwickelte sich der zentrale Alpenraum zu einer vielgestaltigen Architekturregion, in der - entgegen den baukünstlerischen Globalisierungstendenzen - die Auseinandersetzung mit der Tradition und dem gebauten Kontext eine zentrale Rolle spielt. Seit einigen Jahren macht nun vermehrt auch Südtirol mit interessanten Bauten auf sich aufmerksam. Auffälliger als die Einzelhäuser sind hier jedoch die geschlossenen Dorfbilder und die kaum zersiedelten Grünzonen. Dies ist nicht zuletzt einem weitsichtigen Planungsgesetz zu verdanken, das seit 1972 mittels strenger Leitpläne das Bauen in der Landschaft regelt.
Architektonischer Aufschwung
Mit dieser erstaunlichen «Architektur des Territoriums» konnte die Qualität der Bauwerke zunächst nicht mithalten. Zwar investiert die seit 1919 zu Italien gehörende, heute rund 470 000 Einwohner zählende Provinz Bozen-Südtirol seit Erlangen des Autonomiestatuts im Jahre 1972 nicht nur in die Infrastruktur, sondern auch in öffentliche Bauten. Diese konnten erstmals in einer vom Bozner Architekten Christoph Mayr Fingerle 1993 herausgegebenen Publikation grösseren Kreisen präsentiert werden. Gleichwohl entstehen in den dicht bebauten Dörfern weiterhin Tourismusbauten in einem bizarren Pseudo-Südtiroler-Stil. Doch daneben trifft man immer häufiger auf Gebäude, die mit ihrer oft eigenwilligen Mischung aus lokalem Idiom und internationalem Ausdruck überraschen.
Erste Beispiele dieser engagierten Architektur begegnen einem schon bald, nachdem man bei Müstair die Schweiz in Richtung Meran verlassen hat. In Mals, das mit seinen alten Türmen einen urbanen Akzent ins weite Gebirgstal setzt, steht an der Bahnhofstrasse ein frühes Hauptwerk der neuen Südtiroler Architektur, das 1970 vollendete, burgartig kompakte Gamperheim des Bozner Altmeisters Helmut Maurer. Ihm antwortet am Bahnhof eine präzise Intervention aus jüngster Zeit: die Vergrösserung der alten Lokremise, welche für die Wartung der neuen Zugkompositionen der wiedereröffneten Vinschgau-Bahn nötig wurde. Sie stammt wie auch die meisten neuen Bahnhofsbauten zwischen Mals und Meran von Walter Dietl. In diesen einfachen Kleinbauten ahnt man bereits den Geist der neuen Südtiroler Architektur, die sich immer wieder durch gestalterische Klarheit und den oft experimentierfreudigen Einsatz von Holz, Stein, Metall oder Glas auszeichnet. Das veranschaulichen auf der Weiterreise neben interessanten Einfamilienhäusern und Schulbauten, die ins satte Gewebe der Dörfer eingepasst wurden, auch die neuen Bauernhöfe von Werner Tscholl bei Latsch, von Stefan Hitthaler in Gargazon und von Peter Plattner in Sinich, aber auch Tourismusbauten wie Arnold Gapps Seilbahnstation St. Martin hoch über Latsch.
Kein Ruhmesblatt sind hingegen die meisten Hotelneubauten, die den Touristen ein verkitschtes Bild von Südtirol vorgaukeln. Eine Ausnahme bildet das Hotel Pergola von Matteo Thun. Dem aus Bozen stammenden Mailänder Designer ist bei Algund - in leicht erhöhter Aussichtslage über dem Meraner Talkessel - ein für die ganze Region wichtiger Hotelbau gelungen, der sich mit seinem Sockelgeschoss aus Naturstein und seinen Aufbauten und Laubenkonstruktionen aus Lärchenholz ebenso diskret wie elegant in die von alten «Pergln» geprägten Rebberge einfügt. Weniger erfreulich ist die derzeit der Vollendung entgegengehende, städtebaulich und architektonisch gleichermassen unbefriedigende Thermenanlage in Meran. Der aus einem kubischen Badegebäude, einem abgewinkelten Stadthotel und einer grossen Tiefgarage bestehende Baukomplex basiert auf dem erstplacierten Wettbewerbsentwurf des jungen Berliner Architektenduos Rüdiger Baumann und Julia Zillich. Wegen konzeptioneller Mängel wurde das Projekt anschliessend von Matteo Thun überarbeitet und damit möglicherweise gar noch verschlechtert.
Besser gelungen ist eine andere touristisch wichtige Anlage: die Umwandlung von Schloss Trauttmansdorff in ein Ausflugsziel mit Tourismus-Museum und botanischem Garten. Dazu musste der über dem Meraner Villenviertel Obermais gelegene, 1850 im Geist des romantischen Historismus erneuerte Herrensitz, in welchem sich Kaiserin Sisi 1870 und 1889 aufgehalten hatte, restauriert und umgebaut werden.
Baukünstlerische Attraktionen
Hier konnten 2001 die jungen Südtiroler Kurt Rauch, Rita Pirpamer und Andreas Grasser vom Wiener Architekturbüro Sofa ein leicht dekonstruktivistisch angehauchtes Restaurant, das wie ein gestrandetes Schiff im Vorgarten des Schlosses liegt, und drei Jahre später aufgrund eines Wettbewerbs auch das Besucherzentrum errichten. Mit seinem auf schrägen Mikadostützen aufgestelzten, schachtelförmigen Volumen wirkt dieses wie ein Verschnitt aus Rem Koolhaas' Villa dall'Ava und Mies van der Rohes Barcelona- Pavillon. Doch die fleischrote und doch floral anmutende Granitverkleidung der Eingangsseite gibt ihm eine sinnliche Objekthaftigkeit, die sich gut mit den zarten Gelbtönen des Schlosses und dem üppigen Grün der Vegetation verträgt. Im Innern empfängt der schöne, hufeisenförmig um einen kleinen Bambus-Hof geführte Bau die Besucher mit Raumsequenzen, die auf das verschlungene Wegsystem des über eine Brücke erreichbaren Parks einstimmen.
Das eigentliche Juwel, mit dem das touristische Meran aufwarten kann, ist jedoch das hoch über dem Tal thronende Schloss Tirol. Dieses wurde aufgrund eines 1998 von Walter Angonese und Markus Scherer erarbeiteten Konzepts bis 2003 zum kulturhistorischen Landesmuseum umgebaut. Das Hauptaugenmerk der Architekten galt dabei dem Bergfried, für dessen völlig ausgehöhltes Inneres sie eine abgehängte Konstruktion aus angerostetem Stahl schufen. Das skulpturale Raumobjekt bildet nun ein ideales Gefäss für die Präsentation der Geschichte Südtirols.
Während sich Angonese und Scherer mit der Typologie der mittelalterlichen Burg auseinandersetzten, dachten Abram & Schnabl jene der ineinander verschachtelten Meraner Altstadtbauten weiter. Nachdem sie schon 1992 mit der Transformation der «Pfarrplatzpassage» eine zeittypische Sanierung im Altstadtgefüge vorgenommen hatten, konnten die beiden Bozner Architekten jüngst eine rund 95 Meter tiefe Parzelle zwischen der historischen Laubengasse und der Freiheitsstrasse neu gestalten. Die durch drei Innenhöfe gegliederte «Kurhauspassage» gleicht mit ihren hintereinander gereihten, gemischt genutzten Bauten einer Stadt in der Stadt. Dabei tritt die neue Architektur nur nach innen und an der stilistisch heterogenen Freiheitsstrasse in Erscheinung, wo sie sich mit einer extravaganten Geste auf ein kleines spätklassizistisches Bankhaus abstützt.
Urbanistische Erneuerung
Weniger spielerisch leicht als die «Kurhauspassage» sind die städtebaulichen Interventionen in Bozen. Dort wurde die Piazza del Tribunale, das neben der Piazza della Vittoria wichtigste Platz- Ensemble der faschistischen Neustadt, nach den Plänen von Stanislao Fierro so umgebaut, dass die Pfeilerhalle des monumentalen Gerichtsgebäudes und die heute dem Finanzamt dienende «Casa Littoria» mit dem 40 Meter langen Duce- Relief wieder zur Geltung kommen. Mit Faschismus-Begeisterung hat das nichts zu tun (obwohl es diese in Bozen leider auch noch gibt). Vielmehr soll der Eingriff dazu dienen, eine dunkle Epoche der heute mehrheitlich Italienisch sprechenden Stadt im kritischen Gedächtnis zu behalten.
Neben Monumentalbauten besitzt Bozen auch rationalistische Meisterwerke aus der Mussolini- Zeit, darunter die Badeanstalt «Lido» und das 1936 vollendete ehemalige GIL-Gebäude. Dieses Architekturdenkmal, das mit seinem roten Turmbau einen Akzent jenseits der Drususbrücke setzt, wurde 2002 von Klaus Kada für die Europäische Akademie (Eurac) mit einem diskreten, dunkeltonigen Glasbau zum Brückenkopf ergänzt. Städtebaulich ebenso präzise gingen die Zürcher Architekten Matthias Bischoff und Roberto Azzola vor, die aufgrund eines 1998 ausgeschriebenen Wettbewerbs die Neubauten der Freien Universität Bozen passgenau ins Altstadtgefüge integrierten. Obwohl von vielen Einwohnern als abweisend beanstandet, fügt sich der von spröder Sachlichkeit und kontextuellem Rationalismus zeugende Baukomplex sensibler in die Häuserfluchten ein als etwa Boris Podreccas kulissenartige Passagenarchitektur hinter dem Hotel Greif am Waltherplatz.
Grosses privates Engagement steht hinter einem Bau, der auch im Ausland viel beachtet wird: die von Walter Angonese 2004 vollendete Kellereianlage des in schöner Aussichtslage über dem Kalterersee gelegenen Weinguts Manincor. Die tief in den sanften Hang eingegrabene «Grottenarchitektur» tritt nur an fünf Stellen mit skulpturalen Bauteilen aus dem Rebberg an die Oberfläche. Damit ordnet sie sich ebenso sensibel wie raffiniert der lieblichen Landschaft und dem barocken Herrenhaus unter, ohne auf die Ausdruckskraft von Form und Material zu verzichten. An diesem aussergewöhnlichsten Bauwerk Südtirols waren neben Angonese auch Rainer Köberl und die erst dreissigjährige Meranerin Silvia Boday beteiligt. Derzeit vollendet diese auf einem winzigen Grundstück im benachbarten Tramin ein leicht dekonstruktivistisch verzogenes Giebelhaus aus Beton, das mit seinem übereck gestellten Dachfenster nicht ohne Ironie auf ein Lebkuchenhaus anspielt. Dass das Bozner Unterland heute zu den architektonisch abwechslungsreichsten Gebieten Südtirols zählt, beweist auch die noch im Bau befindliche Erweiterung des Strandbades am Kalterersee durch die jungen Architekten Marie-Therese Harnoncourt und Ernst Fuchs vom jungen Wiener Büro «the nextENTERprise».
Auf der andern Talseite kann die schnell gewachsene Stadt Leifers mit der spektakulären Erweiterung der katholischen Pfarrkirche aufwarten. Der von Thomas Höller und Georg Klotzner aus Meran in Form einer leicht asymmetrischen, bronzefarben schimmernden Pyramide gestaltete Anbau erscheint wie eine Hommage an Richard Serra. Doch die nur auf den ersten Blick modisch- subjektiv erscheinende Bauplastik resultiert aus einer genauen architektonischen und städtebaulichen Analyse des Ortes. Die beiden Architekten suchten nämlich nach einer Form, welche die Fernwirkung des romanischen Kirchturms nicht beeinträchtigte und die Integrität des neugotischen Kirchenschiffes, das heute als Vorraum und Werktagskirche genutzt wird, wahrte. Deshalb rückten sie den mit Buntmetallschindeln geschuppten Annex, dessen leicht durchhängendes Dach im Längsschnitt entfernt an Le Corbusiers Wallfahrtskirche in Ronchamp erinnert, etwas von der bestehenden Kirche nach Norden ab und bildeten die Verbindungsstelle in Glas aus.
Tritt man nun durch das nördliche Seitenportal des alten Gotteshauses in den neuen, mit warmem Ahornholz ausgekleideten Kirchenraum, so befällt einen kurz ein Schwindelgefühl. Denn die Schrägen der leicht nach innen geneigten Stirnfront und der Decke sowie die perspektivische Weitung der Seitenwände erzeugen eine Atmosphäre des Schwebens und des Schwankens, die durch die sakrale Lichtregie des nur von Westen und oben erhellten Altarbereichs noch verstärkt wird. Dieses aufgrund seiner überzeugenden funktionalen, formalen und materiellen Umsetzung zu Recht mit dem 2004 zum dritten Mal vergebenen Südtiroler Architekturpreis geehrte Meisterwerk verleiht der heutigen Südtiroler Architektur zusammen mit der Kellerei von Manincor und der Transformation von Schloss Tirol ein neues, eigenständiges Gesicht.
Ländliche Interventionen
Der katholischen Kirche sind noch andere architektonisch bemerkenswerte Lösungen zu verdanken. Es handelt sich dabei um Friedhofserweiterungen. Wie die ummauerten Grabstätten, die seit alters die Südtiroler Berglandschaft akzentuieren, neu interpretiert und kompakt vergrössert werden können, machte der Meraner Willy Gutweniger schon 1980 mit dem Bergfriedhof von St. Pankraz bei Lana vor. Eine ebenso schöne Lösung haben jüngst Gerhard Mahlknecht und Heinrich Mutschlechner für den Friedhof in Luttach im Ahrntal gefunden. An der Gelenkstelle zwischen der Zugangsrampe, die dem Nordabhang des Kirchhügels entlangführt, und dem westlich des Gotteshauses terrassenartig abfallenden neuen Gräberfeld placierten sie eine Aufbahrungskapelle aus hellem Sichtbeton, welche die Gesamtanlage räumlich klärt. Der durch die Wand der Urnengräber optisch markant verlängerte Bau gewährt dank den übereck geführten, mit grossen Glasflächen und einer Stahltüre versehenen Öffnung einen Einblick in den Andachtsraum und verleiht so dem sonst hermetisch geschlossenen Volumen etwas Japanisches.
Bis hinauf in die entlegensten Bergtäler Südtirols, wo vor Jahren in Sexten der internationale Architekturpreis «Neues Bauen in den Alpen» ins Leben gerufen wurde, trifft man heute auf interessante Neubauten. Sie zeugen von einem baukünstlerischen Aufbruch, der von der Architekturzeitschrift «turrisbabel» dokumentiert und durch den Architekturpreis Südtirol gefördert wird. Die besten Bauwerke entstehen vor allem dort, wo die Architekten durch den urbanistischen, kulturellen oder baulichen Kontext zu einem kreativen Dialog herausgefordert werden. Noch aber ist das baukünstlerische Potenzial längst nicht ausgeschöpft. So liesse sich das Niveau zweifellos weiter steigern, wenn neben der öffentlichen Hand, die dank Wettbewerben immer öfter gute Bauten realisiert, vermehrt private Bauherren als weltoffene Auftraggeber in Erscheinung treten würden. Doch darf man annehmen, dass die bereits entstandenen Vorzeigebauten den Sinn für gute (und auch touristisch wirksame) neue Architektur weiter fördern werden.
Im Einklang mit der Landschaft
Walter Angoneses Weinkellerei Manincor in Kaltern
Das Zusammenspiel von Wein und Architektur führte in jüngster Zeit zu einer Vielzahl meist ebenso schriller wie funktional fragwürdiger Lösungen. Eine der raren Ausnahmen bildet das vor gut einem Jahr vollendete unterirdische Kellereigebäude des Weinguts Manincor von Angonese, Köberl und Boday am Kalterersee in Südtirol.
Stattliche Dörfer und Weingüter prägen die liebliche Landschaft am Kalterersee in Südtirol. Wer hier baut, sollte Sinn für den Ort und dessen Schönheit haben. Dies war Michael Graf Goëss- Enzenberg, dem Besitzer des barocken Herrensitzes Manincor, bewusst, als er nach einem Architekten Ausschau hielt, der seine alten Weinkeller erweitern sollte. Denn eine zeitgemässe Infrastruktur vom Keller über den Degustationsraum bis hin zum Verkaufsgebäude war immer dringender geworden, seit der Graf, ein ausgebildeter Önologe, aus dem Traubengut des 45 Hektaren grossen Anwesens selber Spitzenweine erzeugt.
Tempel und Schlund
Seinen Architekten fand der architekturinteressierte Bauherr vor sechs Jahren in dem 1961 in Kaltern geborenen und in Venedig ausgebildeten Walter Angonese, der neben bedeutenden Arbeiten in ganz Südtirol auch eine Kellerei im benachbarten Tramin vorweisen konnte. Zusammen mit Walter Köberl und Silvia Boday entwickelte Angonese ein Konzept, das - mit Rücksicht auf die «geliebte Landschaft» - eine (dem Wortsinn des Weinkellers entsprechend) weitgehend unterirdische Anlage vorsah. Im sanft abfallenden Rebberg nordöstlich des Herrenhauses wurde im Tagbau eine mit Spritzbeton befestigten Grube angelegt und darin auf einer Grundfläche von nahezu 3000 Quadratmetern ein L-förmiges Kellereigebäude errichtet. Die Konstruktion von bis zu 18 Metern Höhe und einem Volumen von 30 000 Kubikmetern (oder rund 100 Familienwohnungen) wurde nach ihrer Fertigstellung mit Erde überdeckt. Danach konnte der Rebberg in landschaftsgestalterischer Feinarbeit rekonstruiert werden, so dass seit der Einweihung im April 2004 nur einige architektonische Akzente von starker Ausdruckskraft durch den Boden dringen.
Anders als die Mehrzahl der in jüngster Zeit von Kalifornien bis Slowenien wie Pilze aus dem Boden geschossenen Kellereigebäude, die mit bunten Formen und verglasten Barriques-Showrooms die Weintouristen locken, setzt sich der Neubau von Manincor nicht selbstverliebt in Szene. Gleichwohl ist er von grosser architektonischer und räumlicher Präsenz. Nähert man sich dem Weingut von Süden her, so nimmt man zunächst nur die altehrwürdigen Bauten wahr. Nach der Toreinfahrt erblickt man ein Verkaufsgebäude aus tragendem Holzstabwerk und Glas, das einen bald an Laugiers Urhütte, bald an einen archaischen Tempel denken lässt. Rechts neben dieser Kleinarchitektur fällt eine breite Rampe sanft hinab zum halb überdeckten Betonschlund, der sich im Weinberg öffnet. Die aus angerosteten Stahltoren, grünschimmernden Vitrinen und einem weissen Screen gebildete Eingangsfront, die mitunter den Rahmen für Veranstaltungen bildet, erscheint fast wie die zeitgenössisch interpretierte Szenenwand eines antiken Theaters.
Eine rostig gefasste Treppe durchdringt links diese Wand, um als ansteigender Verbindungsweg durch das unterirdische Gebäude hinaufzuführen in den Weinberg, wo man unter einer von Eric Steinbrecher in Stahl gegossenen Pergola ins Freie tritt. Rechts im Schlund weitet sich hinter den riesigen Schiebetoren hingegen eine doppelgeschossige, durch kalkgraue Betonwände sowie rostfarbene Stiegen und Passerellen orchestrierte Querhalle, die in ihrer Detailsorgfalt an Carlo Scarpa denken lässt. Hier ist alles Raum: Ostwärts blickt man schräg hinauf zum Degustationsraum, nach Westen aber durch eine Glaswand in den von den alten Kellereibauten und neuen Verwaltungsbüros gefassten Patio. Durch die Tür neben dem Patio-Fenster betritt man den unteren Barriques-Keller, der wie der darüber gelegene obere Barriques-Keller durch einen schachtartigen Gang befeuchtet und belüftet wird.
Von hier erreicht man den Anlieferungsraum, zu dem hinauf die Trauben von der Querhalle aus mittels einer Liftanlage befördert werden, um danach - dem Verarbeitungsprozess entsprechend - hinunter in den Gärkeller auf der Eingangsebene und dann noch tiefer hinab in den Pressen- und Tankraum zu gelangen. In der logisch durchdachten Raumabfolge zeigt es sich, dass Angonese die Architektur weniger als kunstvolle Inszenierung denn als funktionale Kunst versteht. Umso grösser ist dann die Überraschung, wenn man sich nach der Durchquerung der Technikräume und der Maschinenhalle plötzlich auf der trichterförmigen Traktoreinfahrt mitten im Rebberg wiederfindet. Die hier schräg gestellten Stützmauern versteht Angonese nicht als modische Spielerei, sondern als «Reaktion auf die Topographie», während die «projizierte Patina» des rostigen Metalls einmal mehr darauf hinweist, dass Architektur durch Spuren des Lebens «besetzbar» sein soll.
Unterseeboot im Weinberg
Vom Pressen- und Tankraum aus kann man aber auch - vorbei am Abfüllkeller - hinaufsteigen in den Degustationsraum, der einem Unterseeboot gleich aus dem Rebberg auftaucht. Wie ein elegantes Refektorium eingerichtet, bildet der durch dynamisch geschnittene Fenster zur Landschaft offene Salon das luftig-helle Gegenstück zur unterirdischen Grottenwelt, in der die chromglänzende Technik vorherrscht. Als Höhepunkt der Promenade architecturale darf dieser Bauteil im Aussenraum mit plastischer Expressivität Präsenz markieren. Gleichzeitig verwandelt die von Glyzinien umrankte Terrasse die Sicht auf die über den Eichenwäldern thronende Leuchtenburg in eine Metapher des Zusammenklangs von Kultur und Natur.
Die kulturelle Neuerfindung einer Stadt
Einweihung des Max-Museo für zeitgenössische Kunst in Chiasso
In den vergangenen Jahren ist die längst mit Como zusammengewachsene Tessiner Grenzstadt Chiasso zu einem Zentrum für Gegenwartskultur im Grossraum Mailand geworden. Nach Tanz, Musik und Fotografie kommen nun mit der Neueröffnung des Max-Museo auch die bildenden Künste und die Architektur zu ihrem Recht.
An der Piazza Elvezia hat man die Wahl: Man kann in einem Stadtbus hinunterfahren ins vornehme Como oder - neu - auf dem Corso San Gottardo flanieren. Denn ein Hauch von Eleganz ist nun auch in Chiasso zu verspüren, seit der erste Teil der jahrzehntelang vom Grenzverkehr verstopften Hauptarterie der Stadt im Sommer zur Fussgängerzone wurde. Zwar streiten die Einwohner noch immer über die Vor- und Nachteile des nach den Plänen von Luca Bellinelli und Dario Bettello gestalteten Strassenraums, der gleichsam das innerstädtische Pendant zu Mario Bottas grünlich sich dem Zoll entgegen schlängelndem Schallschutzdach der Autobahn darstellt. Dennoch hat Chiasso, das lange als hässliches Entlein und als «posto più brutto del Ticino» galt, mit dem vom jungen, kulturinteressierten Bürgermeister Claudio Moro vorangetriebenen Stadtumbau gewonnen. Jetzt erkennt man den italienischen Charakter des im Geist des Klassizismus angelegten Corsos wieder, an dessen bald qualitätvollen, bald abschreckenden Bauten sich die Geschichte der letzten 150 Jahre ablesen lässt.
Nach der Eröffnung der Gotthardbahn wurde Chiasso bald schon zur lärmigen Grenzstadt. Die Gründerzeit sah die Entstehung üppig dekorierter Handelshäuser, in den zwanziger Jahren kündeten Robert Maillarts Magazzini Generali vom Aufbruch in die Moderne, und die dreissiger Jahre protzten mit monumentalen Stadtpalästen und einer Bahnhofshalle, in welcher sich «L'Italia e la Svizzera» von Margherita Oswald-Toppi zärtlich umarmen und Pietro Chiesas Fresko vom bitteren Los der Emigranten kündet. Die Wirtschaftswunderjahre wälzten dann das Ortsbild um: Bankenriesen bedrängten die lombardisch- neobarocke Stadtkirche, und manch altes Haus musste einer Tankstelle oder einem Parkplatz weichen.
Janusköpfige Grenzstadt
Bis in die jüngste Zeit war es die Grenze, die gab und nahm. Sie bestimmte nicht nur Fortschritt und Niedergang, sondern auch den geistigen Horizont. Nach einer dramatischen Strukturkrise sucht nun Chiasso, das vor allem mit Staus und hohen Ozonwerten von sich reden macht, nach seiner Identität. Der Fremde findet diese vielleicht in den widersprüchlichen Bildern von mailändisch anmutenden Hinterhöfen, düsteren Lagerhäusern und glänzenden Granitfassaden, von einer von Palmlilien umschmeichelten Säulenallee hinter den Gleisen oder den übereinander getürmten Häusern und Autobahnbrücken jenseits des Zolls in Ponte Chiasso, die einen ganz kurz ins Hinterland von Genua entführen.
Hier scheint alles zwei Seiten zu haben, sogar das Cinema Teatro. Klein, aber mit grosser kultureller Ausstrahlung, ist dieses architektonische Janusgesicht zum Symbol eines neuen Chiasso geworden, das seine Zukunft in der Gegenwartskultur sieht. Der 1936 von Americo Marazzi errichtete Bau gefällt sich zur Via Dante Alighieri hin in einem monumentalen Neuklassizismus. Die Sachlichkeit des neuen Bauens bestimmt dagegen seine zum Corso San Gottardo gewandte Rückseite mit dem wohl schönsten Murale der Schweiz: einem zwischen Pittura metafisica und Futurismus oszillierenden Werk von Carlo Basilico, das mit Wasser und Häuserfronten den durch den Monte Olimpino verwehrten Blick hinunter nach Como ebenso vorgaukeln will wie die Traumbilder der Filmwelt.
Beinahe wäre Basilicos Meisterwerk zerstört worden. Dem Cinema Teatro drohte nämlich der Abriss. Doch dann konnte das Haus von der Stadt erworben, restauriert und Ende 2001 als Kulturzentrum wiedereröffnet werden. Seither stösst es mit einem anspruchsvollen Programm - Theater, Tanz, Musik und Film - selbst im grossen Mailand bei einem an gegenwärtiger Kunst interessierten Publikum auf Interesse. Das hielt die Spekulanten jedoch nicht davon ab, direkt vor dem zum Signet des Theaters gewordenen Wandbild einen ungestalten Palazzo zu planen. Der Widerstand der Öffentlichkeit führte jedoch dazu, dass man dem Architekten Ivano Gianola den Auftrag zu einem denkmalpflegerisch verträglichen Projekt erteilte, welches dem Murale dank einer auf den Corso ausgerichteten Blickachse den nötigen Resonanzraum lassen wird.
Einen würdigen Nachbarn hat das Cinema Teatro nun an der Via Dante Alighieri mit dem an diesem Wochenende eingeweihten Max-Museo erhalten. Das rund 400 Quadratmeter Ausstellungsfläche bietende Zentrum für die visuelle Kunst der Gegenwart, das in seinen Depots den Nachlass des bedeutenden Grafikers Max Huber (1919-1992) sowie ein Archiv für Videokunst beherbergt, wurde im Auftrag der Stiftung Max Huber-Kono von den Luganeser Architekten Pia Durisch und Giancarlo Nolli erbaut. Die Eröffnungsausstellung ist dem Schaffen Hubers gewidmet. Zu einem späteren Zeitpunkt ist zudem eine Retrospektive von Hubers Schwiegervater, dem japanischen Grafiker Takashi Kono, geplant. Sonst aber soll hier - im Sinne eines «museo aperto» - der zeitgenössische Diskurs auf den Gebieten Grafik, Design, Architektur, Fotografie und Video im Mittelpunkt der von freien Kuratoren eingerichteten Ausstellungen stehen.
Zeichenhafte Baufigur
Es waren Durisch & Nolli, welche die Stiftung auf den jetzigen Standort, ein ehemaliges Garagen-Areal, aufmerksam gemacht hatten. Im Laufe der Planungen gelang es ihnen, den Bürgermeister von der Idee zu überzeugen, die zum Abbruch bestimmte Autoeinstellhalle als Erinnerung an den Genius Loci der ehemaligen Industriezone zu erhalten, in ein kulturelles Mehrzweckgebäude, den «Spazio Officina», umzuwandeln und zudem einen städtischen Aussenraum zu gestalten. Realisiert werden konnte das Ganze für wenig Geld, weil die Architekten auf Einfachheit und preisgünstige Materialien setzten. Obwohl das Museumsgebäude ohne alle Extravaganzen auskommt, hat es mit seinem klaren, einprägsamen Erscheinungsbild zweifellos die Kraft, als kultureller Kristallisationskern zu wirken. Das Ideal, den Ort zu bauen, konnte in diesem Museumsbau überzeugend umgesetzt werden. Denn das für Chiasso und die Tessiner Architektur gleichermassen bedeutenden Werk bildet im einstigen Niemandsland eine zeichenhafte Baufigur, um die herum sich das Theater, der Spazio Officina und die Kulturräume der ehemaligen Calida-Fabrik zu einer «Cittadella della Cultura» verdichten.
Eine vitrinenartige Eingangshalle mit Kasse und Café empfängt den Besucher des minimalistisch konzipierten Museums. Dieses besteht aus einer langen, brückenartigen Konstruktion, bei der die Struktur den Raum und der Raum die Struktur bedingt. Das Obergeschoss mit den drei um einen kleinen, die Orientierung klärenden Lichthof angeordneten Ausstellungsräumen kragt auf der Eingangsseite weit auf den podestartigen, für Freiluftausstellungen konzipierten Vorplatz aus. Nach Süden hin überdacht es hingegen einen über das skulpturale Treppenhaus zugänglichen, doppelgeschossigen Mehrzwecksaal im Soussol, der wie die anderen Ausstellungsräume von seitlichen Oberlichtbändern erhellt wird.
Nach aussen tritt der Neubau als weisser Glaskörper von japanischer Leichtigkeit und Transparenz in Erscheinung. Hinter der aus preisgünstigem Industrieglas gebildeten Aussenhaut öffnet sich eine schmale, nachts erleuchtete Raumhülle, die von den Ausstellungsmachern bespielt werden und so die Botschaft des Hauses in die Stadt hinaustragen kann. Denn gemäss dem von den Architekten vertretenen Motto «vivere l'architettura» soll sich das Gebäude durch die Benutzung stetig verändern und so einen eigenen Charakter gewinnen. - Ganz im Hinblick auf die Nutzung haben Durisch & Nolli auch den Spazio Officina geformt, dessen von Oberlichtern erhellte Halle sich durch schwebende Wände unterteilen lässt. Hier wird die mexikanische Künstlerin Flor Garduño vom 26. November an neue Fotoarbeiten zeigen. Danach finden das Jazzfestival und im Herbst die Biennale del'immagine statt, die zuvor in der Calida-Fabrik durchgeführt wurden. Dort dürfte nun - wie jüngst sogar die italienischen Zeitungen berichteten - ein weiterer Traum des Bürgermeisters Wirklichkeit werden: die Schaffung einer Tanzschule unter Leitung der Kalifornierin Carolyn Carlson. Schon jetzt aber ist das mit seiner nächtlichen Beleuchtung etwas Broadway-Glamour verströmende Max-Museo zum Symbol der kulturellen Neuerfindung der Stadt geworden.
Zukunftsstadt
Daniel Libeskind in St. Gallen
Trotz wachsender Verstädterung herrscht in der Schweiz eine latente Stadtfeindlichkeit. Wenn nun das ETH-Studio Basel in diesen Tagen sein «Städtebauliches Porträt» der Schweiz präsentiert, so dürfte dies für Auseinandersetzungen sorgen. Gleichsam vorweggenommen hat diese Diskussion die Universität St. Gallen, die den Studienanfängern seit 2001 eine «Startwoche» zu einem bestimmten Thema anbietet. Vielleicht angeregt durch das architekturtheoretische Engagement der London School of Economics, wählte sie diesmal das Thema «Stadt der Zukunft» und konnte dazu Daniel Libeskind gewinnen. Er kreierte für die mit ihm in 70 Zwölfergruppen tätigen Studenten 98 blitzförmig gezackte Holztürme. Diese durften die Studenten mit ihren erstaunlich politisch ausgefallenen Forschungsergebnissen zu stadtrelevanten Themen wie Wohnen, Freizeit, Produktion, Kultur, Regierung, Ökologie oder Identität dekorieren und schufen so eine abenteuerliche städtebautheoretische Installation. Damit gelang es Libeskind, eine Vielzahl von künftigen Entscheidungsträgern ganz spielerisch auf die Probleme der Stadt der Zukunft hinzulenken.
[ Eine kleine Dokumentation der anspruchsvollen Aktion ist bis zum 13. November im Kunstmuseum St. Gallen zu sehen. ]