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Profil

Geboren in Meran Südtirol. Studium der Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Wien, Studium der Architekturgeschichte an der Columbia University in the City of New York. Forschungsstipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Kritiken und Essays zu Kunst und Architektur in „Neue Zürcher Zeitung“ und „Die Presse“ (Spectrum) u.a.

Lehrtätigkeit

1999 – 2003 Technische Universität Wien, Institut für Städtebau und Raumplanung
2006 Bauhaus Universität Weimar, Institut für Geschichte und Theorie der Architektur
2002 – 2012 Institut für Kunst und Architektur der Akademie der bildenden Künste Wien

Mitgliedschaften

FEMtech Frauen in Forschung und Technologie
Literar Mechana
ÖGfA Österreichische Gesellschaft für Architektur

Publikationen

(Auswahl)
Anna Mahler. Bildhauerin Musikerin Kosmopolitin
Molden Verlag, Wien 2023

Vom Tanz des Geistes unter den Wörtern, in: Walter Bohatsch, Typojis – Einige neue Zeichen, Hermann Schmidt Verlag, Mainz 2017, S. 22-28

Die Biologie des Bauens, in: Natascha Meuser (Hrsg.), Architektur und Zoologie, DOM Publishers, Berlin 2017, S. 140-150

Raum und Gestaltung – Space and Design, Birkhäuser Verlag Basel, Basel 2016

Die Kunst der Vielgestalt – Artful Variety, Haymon Verlag, Innsbruck 2015

Material und Atmosphäre, in: Irmgard Frank. Raum denken - Thinking Space, Niggli Verlag, Sulgen, Zürich 2011, S. 113-124

Über Städtebau oder Methodisches zur sinnlichen Praxis,
in: East Central Europe/L'Europe du Centre-Est. „Urban History in East Central Europe“. In cooperation with the Center for Urban History of East Central Europe. A refereed international journal of the social sciences and humanities with a focus on the region „between the Baltic and the Adriatic“, hostet by the
European University Budapest, Vol. 33, Parts I-II, 2006, p. 305-311

Die vierte Dimension. Anmerkungen zu Architektur, Raum und Wahrnehmung der Moderne, in: Antje Lehn, Erhard Kinzelbach, Gabriele Reiterer, Nasrine Seraji (Hg.), Review III, Yearbook of the Institute for Art and Architecture, Academy of Fine Arts Vienna 2005, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2006

Über Schönheit und Form,
in: Rüdiger Lainer (Hg.), Brazilian Conditions, Springer Verlag Wien, New York
2006, S. 24-30

Metamorphosen oder Spuren der Erinnerung,
in: aut. Architektur und Tirol (Hrsg.), Konversationen. Hans Gangoly Architekt,
Verlag Anton Pustet, Salzburg 2006, S. 36-46

Bauen allein ist nicht genug. Architekten Gärtner/Neururer, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2005

Imagines et loci. The City as an Essay,
in: Boris Biletic (Ed.), Nova Istria, 3, Pula 2005, S. 10-18

Against Discipline. A call to maintain anarchy,
in: Review III, Yearbook of the Institute for Art and Architecture, Academy of
Fine Arts Vienna 2005, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2005, S. 118-122

Wahrnehmung – Raum – Empfindung. Anmerkungen zu Camillo Sittes Städtebau, in: Klaus Semsroth, Kari Jormakka, Bernhard Langer (Hg.), Kunst des Städtebaus. Neue Perspektiven auf Camillo Sitte, Böhlau Verlag, Wien-Köln-Weimar 2005, S. 225-239

Rückwärts in die Zukunft. Zur Genese des „modernen“ Städtebaus bei Rudolf von Eitelberger und Camillo Sitte, in: Wolfgang Kos, Christian Rapp (Hg.), Alt Wien. Die Stadt, die niemals war, Czernin Verlag, Wien 2004, S. 173-182

Der gelbe Fisch oder die Ästhetik in der Architektur,
in: Barbara Feller, Maria Welzig (Hg.), An der Klippe. Herwig Illmaier, Architekt
1957-2001, Verlag HDA, Graz 2003, S. 36-44

AugenSinn. Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2003

Architektur von 1890 – 1918,
in: Hermann Fillitz, Wieland Schmied (Hg.), Geschichte der Bildenden Kunst in
Österreich, Bd. VI. 20. Jahrhundert. Prestel Verlag, München 2002, S. 417-428

Rudolf Wäger. Die Poetik der Schlichtheit,
in: „one- hundred houses for one-hundred european architects of the xx
century / cento case per cento architetti europei del xx secolo, Triennale di
Milano 2001, S. 226-230

Erschienen auch in:
Gennaro Postiglione (Hrsg.), Hundert Häuser für hundert europäische Architekten des zwanzigsten Jahrhunderts, Taschen Verlag, Köln 2004

Veranstaltungen

Internationale Vortragstätigkeit und Podiumsteilnahmen

Auszeichnungen

1999 – 2001 DOC Programm der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
2000 Theodor Körner Förderpreis der Republik Österreich 2000

Wettbewerbe

Jurorin in zahlreichen Architekturwettbewerben

Karte

Artikel

20. Oktober 2018 Spectrum

Wie baut man „alpin“?

Von der Faszination alter Bauernstuben, der Gleichgültigkeit im Umgang mit der Landschaft und einer Gegenwart, in der alles besser werden soll: die Alpen zwischen Massentourismus,Sünden der Vergangenheit und neuem Nachhaltigkeitsbedürfnis.

In den 1970er-Jahren poppte im Tiroler Raum eine schräge Idee auf. Teile alter Bauernhäuser, meist die getäfelten Stuben, wurden abgetragen und in neu erbaute Villen oder Hotels implantiert. Ein Stück bäuerliche Geschichte im Haus galt als stylish. Auch der Vater war einmal in Sachen Bauernstuben unterwegs. Mit einem Transporter fuhr er das Teil aus dem Zillertal über den Brennerpass von Nord- nach Südtirol. Für seinen Freund, den Architekten.

Der Architekt war viel bei uns zu Gast. Er rauchte Pfeife, sprach über Le Corbusier und dessen Proportionssystem, den Modulor. Die Stube baute er dann in sein eigenes Haus in Meran ein. Dieses war ein Bauwerk von charmanter Modernität, die mich damals begeisterte. Eingangs rechterhand lag ein großes Wohnzimmer mit riesiger Glasfront und Blick in einen üppig wuchernden Garten. Stahlrohrmöbel verströmten den Geist neuen Bauens. Linkerhand vom Eingang führte eine Holztür in die Welt bäuerlicher Geschichte, eben in das alte Stübl.

Die seltsame Grille der Bauernstuben fiel nicht zufällig in die Zeit der größten Ignoranz gegenüber traditionellen alpinen Welten. Sie spiegelte eine zerrissene, ausgefranste Identität von bäuerlicher Landschaft und Kultur. Im Bauernstubenphänomen begegneten einander eine an Ironie grenzende Inszenatorik und gleichzeitige Sehnsucht nach echter regionaler Identität.

Jener freimütige Umgang mit dem bäuerlichen Erbe war eine kurze, aber heftige zeitgeistige Erscheinung. Manieristische Gesten waren allerdings im alpinen Raum nichts Neues. Die überzeichnete Romantisierung bäuerlicher Geschichte trat durch die Jahrhunderte immer wieder bizarr in Erscheinung. Und ab den 1970er-Jahren glichen die bäuerlich-rustikalisierten Neubauten in den Dörfern der Tiroler Täler grinsenden, mit roten Balkongeranien verzierten Fratzen. Die brennenden Lieben, so hieß die Scharlachlichtnelke am Balkon umgangssprachlich, überzeichneten eine potemkinsche alpine Welt. In jenen Dekaden des 20. Jahrhunderts begann der endgültige Ausverkauf von alpiner Landschaft und Kultur. Er stoppte erst eine Sekunde vor dem Kollaps. Dabei hatte einst alles vielversprechend begonnen.

Im frühen 19. Jahrhundert zeichnete sich in Europa eine Neubewertung ab. Ein vormals ideal konstruiertes Bild der Natur trat in den Hintergrund. Landschaft wurde malerisch und sinnlich erlebbar. Diese „Entdeckung“ des Gefühls für die Natur wurde zum Fundament einer ganzen reformistischen Bewegung. Sie stellte sich gegen die entmenschlichenden Folgen der Industrialisierung. Der rasenden Geschwindigkeit des technokratischen Fortschritts wurde zivilisationskritisch die unberührte Reinheit der Natur gegenübergestellt.

England lag damit vorne, da hier die Industrialisierung bereits sehr früh einsetzte. Eine neue Kunst feierte Gefühl und Sinnlichkeit. William Turners atmosphärische Bilder waren Oden an die Leidenschaft. Natur boomte. Country life und country stylewurden zu geflügelten Worten. Das Konzept des englischen Landschaftsgartens spiegelte die befreite Natur.

Auf dem Kontinent war man vorsichtiger und distanzierter. Zwischen Mensch und Landschaft lagen noch unsichtbare Grenzen. Die Berge waren eine Art Kulisse, von der latent Gefahr dräute. Die alpinen Grandhotels des 19. Jahrhunderts waren in die Natur versetzte, abgezirkelt urbane Mikrokosmen. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Alpen schließlich immer populärer. Die Natur wurde Gefühlsquelle und Inspiration. Zunehmend erschloss eine breitere Schicht die als gesund und heilsam erachtete Kraft der Berge.

Durch die stampfende Maschine, nämlich die neue Eisenbahn, hielt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine weitere Veränderung Einzug. Die technische Transportneuerung produzierte eine gewaltige raum-zeitliche Veränderung: Durch die Geschwindigkeit der Eisenbahn wurde Landschaft anders als früher wahrgenommen. Nun zeigte die durch Bewegung bereicherte Szenerie nicht mehr das Ganze, sondern die Abfolge.

Dieser Blick, nämlich das Panorama, ist ein Schlüsselbegriff für die Wahrnehmung des 19. Jahrhunderts. Er war ein Ergebnis der Eisenbahn. Dem neuen Transportmittel folgte die große infrastrukturelle Erschließung der alpinen Räume. Den Beginn der touristischen Entwicklung Tirols etwa markierte die Errichtung der Brenner- und Pustertalstrecken durch die k.k. Südbahngesellschaft in den Jahren 1867 bis 1871. Die neuen Bahnstrecken erschlossen landschaftlich reizvolle Regionen wie das Hochpustertal und die Dolomitengebiete. Dann ging es Schlag auf Schlag. Theodor Christomannos, ein Cousin des Griechischlehrers von Kaiserin Elisabeth, gründete 1890 den „Verein für Alpenhotels“. Das war der Auftakt der Tiroler alpinen Grandhotellerie.

Eine weitere wichtige Voraussetzung zur touristischen Erschließung der Berge steuerten die neuen Seilschwebebahnen bei. 1908 zählte die Kohlerer Bahn bei Bozen neben dem Wetterhornaufzug in der Schweiz zu den ersten Seilbahnbauten der Welt. Vier Jahre später baute der Wiener Architekt Gustav von Birkenstaedt unter Mitarbeit des jungen Franz Baumann die Südtiroler Vigiljochbahn, eine hohe technische Herausforderung, die im Wesentlichen über trial and error bewältigt wurde.

Während sich der Tourismus in den Alpen bis zum Ersten Weltkrieg noch in überschaubaren Dimensionen abspielte, wurde die Zwischenkriegszeit zur expansiven Epoche. Eine neue Sport- und Freizeitgeneration trat auf den Plan. Der Adel hatte abgedankt. Die bürgerliche Gesellschaft erkor den Sport und die Berge zu ihrem Schauplatz. Eine ebenfalls neue Unternehmerschicht prägte den Tourismus. Die Hoteliers agierten fortschrittlich und innovativ. Die herausragende klassische Architekturmoderne in Tirol ist nicht zuletzt dem Innovationsgeist jener Bauherren zu verdanken. In jenen Jahren bestimmte ein expansives und noch ausgewogenes Feld die Erschließung der Alpen.

Der Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg öffnete die Schleusen zum alpinen Massentourismus. Die Folgen eines mangelnden Bewusstseins für den Umgang mit Landschaft und Natur sind problematische Erbgüter aus jenen Dekaden. Der Fernsehmehrteiler „Piefke-Saga“ aus den 1990ern ironisierte die Befindlichkeiten. Die fiktive Figur des deutschen Industriellen Karl-Friedrich Sattmann verbeißt sich darin gemeinsam mit dem Bürgermeister einer Tiroler Gemeinde in ein profitgieriges Unternehmensprojekt. Am Ende gelangt das Abwasser der Produktionsanlage im fatalen Kreislauf über die Schneekanonen in das Grundwasser des Dorfes und verseucht die Bewohner. Nur allzu ähnlich war die Geschichte Felix Mitterers der Realität. Ökonomische Interessen ohne Rücksicht auf Verluste prägten jene Zeit ungebremsten Aufschwungs.

Ein neues Bewusstsein für die sensible Balance von Natur, Landschaft und Tourismus entstand vor allem durch die Krise der Tourismusindustrie in den späten 1980ern. Sie führte zum Umdenken und zu neuen Konzeptionen. Ablesen lässt sich ein neues und nachhaltiges Bewusstsein an der Architektur. Peter Zumthor etwa setzte mit der Therme in Vals 1996 neue regionale Standards. In der archaischen Landschaft Graubündens entstand mit dem Bau ein wagemutiges und ikonisches Projekt der Moderne.

Das neue Bauen in den Alpen spiegelte ein Gleichgewicht von Mensch und Natur. Qualität ersetzte zunehmend die Quantität. Protagonisten sind, um nur einige wenige zu nennen, Mario Botta, Gion Caminada, Rainer Köberl, Valerio Olgiati und Peter Märkli. Zu den Höhepunkten im hochalpinen Bauen, technologisch gereift, formal beeindruckend, gehört auch Andrea Deplazes' futuristische neue Monte-Rosa-Hütte in den Walliser Alpen. Während beim Bau der alten Monte-Rosa-Hütte noch die Maulesel die Lasten der Bauteile über den Gletscher trugen, lief der Bau der neuen Hütte über eine lückenlose Logistikkette aus Schienen, Straßen und, im letzten Streckenteil, über den Gletscher, per Helikopter. In Südtirol wiederum hat jüngst die kupferummantelte Schwarzensteinhütte der Architekten Stifter+Bachmann eine neue Dimension des Bauens im hochalpinen Raum eröffnet.

Und wo steht der Alpentourismus heute? Der Band „Alpenreisen“, herausgegeben von Kurt Luger und Franz Rest, geht der Befindlichkeit der alpinen Bergwelt nach. Als „Ort des guten Lebens“, die Wortwahl ist der neueren Soziologie entnommen, wolle man sich das Land der Berge bewahren. Raumtransformationen, Trends, Veränderungen, Kontexte, Ökologie, Nachhaltigkeit sind die Themen, die sich im Lebensraum Alpen stellen. Experten aus einem schillernden Reigen von Disziplinen kommen dabei zu Wort. Der beeindruckende Band wird der komplexen Lage und der vielfältigen Sachverhalte gerecht. „Alpenreisen“ ist, und wird es wohl lange bleiben, das gültige Standardwerk zur Welt des alpinen Raumes.

Die Frage nach einem angemessenen Umgang mit alpinen Landschaften ist Gegenstand anhaltender Verhandlungen. Die Architektur ist dabei gleichsam eine Metapher. Ging es vormals eher um einen entsprechenden Stil, stehen gegenwärtig Technologie, Transformationen, kulturelle und ökologische Verträglichkeit im Vordergrund. Formalästhetische Fragen sind komplexen Kontexten und Metamorphosen sozialen und geopolitischen Wandels gewichen.

Die alpine Landschaft bildet seit je herausfordernde Bedingungen. Weitab von urbanen Zentren definieren dörfliche Strukturen oder Einzellagen, regionale, gesellschaftliche und soziokulturelle Faktoren den Handlungsspielraum. Konstruierte Landschaft, kulturelle Befindlichkeit, technologische und ökologische Bedingungen, die Überformung bäuerlicher Kultur in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft sind die problematischen Themen. So wie sich neue Wege im Tourismusmanagement abzeichnen, wie Nachhaltigkeit und wertschätzender gedeihlicher Umgang mit dem Erbe der Kulturlandschaft gepflegt werden können, werden sich plausible Antworten finden lassen.

Zurück zu den Bauernstuben: Die prominenteste Bezugsquelle für die bäuerlichen Versatzstücke waren die Walder-Brüder aus dem Osttiroler Villgratental. Sie betrieben einen florierenden Handel mit alten Stuben. Die schwatzten sie den Bauern ab, boten Ersatz mit Resopal und verkauften gegen hohe Summen.

In den 1980er-Jahren dann gerieten sie in die Schlagzeilen. Freilich nicht mit den Stuben. Die Walder-Brüder waren die wohl berühmtesten Wilderer des 20. Jahrhunderts. Pius fand einen gewaltsamen Tod durch den Jäger Johann Schett. Durch einen Schuss in den Hinterkopf niedergestreckt. Was hätte Ludwig Ganghofer, der große Alpendramatiker, zu all dem gesagt? „Alle Torheit ist ein Umweg zur Klugheit“, schrieb er 1885. Möge dies für die Zukunft der Alpen gelten.

27. Februar 2016 Spectrum

Ich gestalte, also bin ich

Wer auf Architektur und Gestaltung baut, erzeugt, erntet und verbreitet mehr Wert. Über das Verhältnis von Architektur und Unternehmertum.

Blühende Geometrie“ nannte Ralph Waldo Emerson die Kunst des Bauens. Wohl unbestritten ist Architektur neben ihrer Anmut von hoher ethischer und gesellschaftlicher Relevanz: Gestaltete Räume prägen unser Handeln und Sein. Aber wird diese Bedeutung von Architektur und Gestaltung gewürdigt und vor allem genutzt? Gibt es eineUnternehmenskultur, die auf diesen Mehrwert baut? Welchen Nutzen können Architektur und Gestaltung einem Unternehmen bringen?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte der wichtigste Weg zum neuen Bauen über die Architekturen der Industrie. Walter Gropius' Bau des Fagus-Werks in Alfeld an der Leine im Jahre 1911 schrieb Architekturgeschichte. Zwei Jahre davor ließ die deutsche Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, kurz: AEG, eine Turbinenhalle in Berlin-Moabit errichten, die zur Inkunabel moderner Architektur avancierte.

Ein weiteres Beispiel der Verbindung von Unternehmenskultur, Architektur und Gestaltung ist jenes der norditalienischen Firma Olivetti. Die berühmten Schreibmaschinen stammten aus einem kulturell hoch ambitionierten Unternehmen. Die erste Fabrik war ein großer Backsteinbau. Der Firmengründer, Camillo Olivetti, begann 1908 mit der Herstellung der ersten Schreibmaschinen in Italien. Sein Sohn Adriano Olivetti lernte nach dem Ingenieurstudium in Turin die neuesten Produktionsformen und das Management in den Vereinigten Staaten kennen. Er modernisierte das Unternehmen im Jahr seines Firmeneintritts, 1926, von Grund auf. Für ein neues Fabrikgebäude beauftragte Olivetti zwei junge Architekten des Razionalismo, Luigi Figini und Gino Pollini. Die Gestaltung spiegelte den neuen Geist des Unternehmens. Transparenz durch Glas entsprach der offenen und freien Atmosphäre. Nach den verkrusteten Feudalstrukturen des alten Italiens bildete die Haltung der Unternehmensführung eine atemberaubende Neuerung. Noch heute wirkt das Gebäude harmonisch, licht und erhaben. In den Dreißigerjahren wurden in der Umgebung des Geländes Sozial- und Wohnbauten errichtet, und wiederum entwarfen Figini und Pollini ein modernes Wohnviertel.

Adriano Olivetti war humanistisch gebildet und sozialreformatorisch ambitioniert. Den Menschen wollte er erhebend behandeln. Sein Ethos bewies er auch durch seine politische, antifaschistische Haltung. Nach einer kurzzeitigen Verhaftung floh er 1944 in die Schweiz. Im selben Jahr veröffentlichte er eine Schrift mit sozialutopischen Gedanken; 1946 gründete er die Zeitschrift „Comunità“ und den gleichnamigen Verlag, in dem er eine hochstehende geistige und künstlerische Autorenschaft versammelte. Die Fabrik in Ivrea, einer kleinen Stadt zwischen Turin und Aosta, entwickelte sich zum internationalen Unternehmen. Mario Bellini, Designer und Architekt, erzählte später: „Als ich zu Olivetti ging und dort meine erste Maschine entwarf, erhielt ich dafür 1964 gleich den zweiten Compasso d'Oro. Und das, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte von Maschinendesign.“

Die Geschichte der Allianz von Architektur, Gestaltung und Unternehmertum ließe sich weiter fortsetzen. Die beiden Welten scheinen einander dialektisch zu beflügeln. So entsteht ein Schauplatz wechselseitiger kreativer Explosionen, der Innovationenmöglich macht.

Der österreichische Nationalökonom undVater der Innovationsforschung Joseph Alois Schumpeter wies in seiner 1912 veröffentlichten Wirtschaftstheorie dem künstlerischen Prinzip einen hohen Rang zu. Innovationen als „Durchsetzung neuer Kombinationen“ sind nach Schumpeter „die überragenden Tatsachen in der Wirtschaftsgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft“. Wirtschaftliche Entwicklung begriff Schumpeter als durch Innovationen ausgelöste Übergangsprozesse zwischen jeweils stationären Kreisläufen. Dabei baue jede ökonomische Entwicklung auf einem Prozess der schöpferischen oder kreativen Zerstörung auf. Durch die Zerstörung von alten Strukturen werden die Produktionsfaktoren immer wieder neu geordnet. Zerstörung ist also notwendig, damit Neuordnung stattfinden kann. Auslöser für die schöpferische Zerstörung sind Innovationen, die von den Unternehmern vorangetrieben werden, mit dem Ziel, sich auf dem Markt durchsetzen zu können.

Damit schließt sich der Kreislauf von der Wesensart der Wirtschaft hin zum verwandten Wesen der Kunst. Bei beiden handelt es sich um schöpferische und kreative Welten. Schumpeters Theorie und dessen Kreativitätsprinzip wird im Übrigen gegenwärtig wieder höchstes Interesse entgegengebracht. Die Aktualität seiner Theorie liegt auch in der Anerkennung der Rolle des Individuums begründet. Schumpeter sah den Unternehmer als ein kreativ-schöpferisches Individuum im wirtschaftlichen Prozess. Kunst und unternehmerische Innovation sind also in ihrer Wesensart weitaus verwandter als weithin geglaubt. Ja mehr noch, es gibt eine gleichsam innere Verwandtschaft zwischen Entrepreneurship und künstlerischen, kreativen Welten.

Große Innovationsschübe jeglicher Art entstehen mit Vorliebe auf dem Nährboden kreativen Denkens. Die Grundlage von Innovation ist stets der Effekt einer Schnittmenge verschiedenster Hintergründe und Bereiche. Ideen aus einem Gebiet finden ihren fruchtbaren Niederschlag in einem scheinbar vollkommen artfremden Feld und bewirken auf diesem eine zündende Neuerung. In diesem Zusammenhang prägte sich auch der Begriff der Cultural Entrepreneurship. Deren Merkmale sind „die Nähe zum kreativen Schaffensprozess in der Kunst, ein künstlerisch geprägtes innovatives Denken und Handeln, eine kulturprägende Haltung und ein ebenso kulturprägendes unternehmerisches Gebaren“.

Mehrwert, Wertschöpfung und Nachhaltigkeit sind Schlagworte unserer Zeit. Der allgemeine Wunsch einer Umkehr vom rein materialistischen Denken hin zu einem bewussteren und den Menschen wertschätzenden Umgang wird viel beschworen. Unsere Gesellschaft braucht dazu definitiv ein nachhaltiges unternehmerisches Gebaren – und dazu braucht sie auch die Welt der Kunst. Somit ist die unternehmerische Affinität zu Kunst und Architektur, bewusst oder unbewusst, weit mehr als eine kultursinnige Geste. Und wer auf Architektur und Gestaltung baut, erzeugt, erntet und verbreitet definitiv mehr Wert.

27. März 2010 Spectrum

Der Zweck und sein Apostel

Das Wiener Café Museum wird seinen unglückseligen Loos-Nachbau in diesen Tagen endlich wieder los. Im Original gibt's Loos dafür anderswo: am Semmering. Ein Ausflug zum Looshaus auf dem Kreuzberg.

Mit der Errichtung der Südbahnstrecke um die Mitte des 19. Jahrhunderts brach in der Wiener Gesellschaft das Semmeringfieber aus. Reichenau, Raxgebiet und die umliegenden Orte wurden zu bevorzugten Aufenthaltsorten von Adel und vermögendem Bürgertum. Bereits 1911 fertigte Adolf Loos einen Entwurf für ein Projekt am Semmering an: Der Plan für einen Internatsbau für Eugenie Schwarzwald, die Grande Dame der Reformpädagogik, wurde nie umgesetzt. Aus dem Jahre 1913 stammt ein Entwurf für ein Hotel am Semmering. 1928 bot sich eine weitere Möglichkeit: Der Wiener Fabrikant Paul Khuner übertrug Adolf Loos die Planung für den Bau eines Landhauses am Semmering. Loos errichtete das Haus in Hanglage mit atemberaubendem Blick auf die umliegenden Bergmassive.

In enger Zusammenarbeit mit Heinrich Kulka griff er am Kreuzberg, auf 900 Meter Höhe, teils auf die traditionelle Bauweise in den Bergen zurück: ein Unterbau aus Bruchstein, braun gebeizte Blockwände und ein zinkblechgedecktes Pfettendach. Denn die überlieferten „Formen“ seien „der urväterweisheit geronnene substanz“, so Loos in seinen Schriften. So zurückhaltend die Hülle, umso radikaler organisierte der Architekt den Raum. Loos konnte im Landhaus Khuner seine Vorstellung der Offenheit räumlicher Dispositionen verwirklichen. Das Zentrum des Hauses bildet eine große, längsförmige Halle, die über zwei Stockwerke, mit einer Fensterfront talwärts, ausgerichtet ist. Die weiteren Räume werden über eine umlaufende Galerie erschlossen.

Loos entwarf die gesamte Innenausstattung des Landhauses. Große Teile des Interieurs sind noch belassen, nahezu alle Räume befinden sich in weitgehendem Originalzustand. Die Einbauten zeugen von einer kultivierten und verfeinerten Funktionsauffassung. Im Haus Khuner zeigt sich Loos' Hingabe an die hochstehende Handwerklichkeit, die Farbe und die Faszination für das ausgeklügelte Detail. Die Stäbe des Galeriegeländers sind ebenso wie die Heizkörper rot lackiert. Zartes Blau bestimmt das kirschholzgetäfelte Schlaf- und Wohnzimmer der Tochter. Das einstige Refugium des Hausherrn verfügt noch über das originale Badezimmer und schlichte Loossche Lampen.

Die Individualität des Loosschen Geistes, auch dessen Selbstständigkeit innerhalb der Moderne, ist oft auf Ursprung und Genese befragt worden. Ein Blick auf Loos' Quellen ist nicht nur in diesem Zusammenhang von Interesse. Die Geschichte der Loosschen Vorbilder ist eine Geschichte für sich, da Loos sich selbst und seine Ideen nur allzu gerne als genuin präsentierte. Doch auch Loos griff auf etliche – und mitunter sehr außergewöhnliche – Vorbilder zurück. So ist der berühmte Raumplan, die Aufhebung der Geschoße und damit die beliebige Erweiterung des Grundrisses in die Höhe, für viele seiner Bauten charakteristisch, mit Sicherheit vom Konzept des englischen Landhauses inspiriert. Wer an jene hallenartigen Entrees und Galerien denkt, erkennt darin nicht unschwer eine Quelle dieser räumlichen Überlegung wieder.

Eine weitere Inspiration für Loos' Gedankenwelt liegt versteckter. Bekanntlich hielt sich der junge Loos 1892 bis 1896 in den Vereinigten Staaten auf. In den Ideen der Kreise um Louis H. Sullivan wurzelte nicht nur seine Begeisterung für viele nationalromantisch-kulturtheoretischen Gedanken, sondern auch seine berühmte Ornamentkritik, die immer wieder missverstanden wurde. Das Ornament sei für die Architektur wichtig, meinte Louis H. Sullivan, es solle aber aus dem organischen Prinzip von Form und Funktion erwachsen. Ornament sei das Ergebnis einer architektonischen Logik und dürfe keinesfalls als purer Schmuck gestaltet werden und niemals aufgesetzt erscheinen. Sullivans Worte „Form follows function“ standen ursprünglich in einem komplexen kulturtheoretischen Zusammenhang und wurden später von der Moderne auf eine technoide Bedeutung reduziert. Viel radikaler waren jedoch die Aussagen John Wellborn Roots zum Ornament. Jener verwendete erstmals die Formulierung des „architectural crime“, des „architektonischen Verbrechens“, wie später auch Adolf Loos.

Loos' Ideenwelt entstammte noch einer Quelle, die von der Loosforschung nie berücksichtigt wurde. Loos kam während seiner amerikanischen Zeit mit der Welt der Shaker in Verbindung. Die Shaker waren eine Sekte, die, einst von England ausgewandert, in den Staaten eigene Gemeinden bildete. Obwohl sich die Sekte mit ihrer extremen Lebensform von der Außenwelt abschottete, waren die Shaker ökonomisch sehr erfolgreich. Mit ihren Möbeln und Gebrauchsgegenständen erwarben sie sich den Ruf der Meisterschaft. Die Möbel der Shaker waren schlicht und funktional im Entwurf, in der Ausführung von höchster Qualität. Das Gestaltungsdenken der Shaker entsprang einem strengen, religiösen Funktionalismus. Jeder überflüssige Zierrat musste vermieden werden, Reduktion und Einfachheit wurden zum obersten Prinzip erhoben. Der sogenannte Shaker-Funktionalismus faszinierte damals die Kreise um Root und Sullivan im selben Maße, wie die Lebensform der Sekte als abstoßend empfunden wurde.

Quellen berichten von Berührungen Loos' mit den Shakern, ja angeblich habe er bei ihnen das Maurerhandwerk erlernt. Abgesehen von seiner hohen Affinität zum soliden Handwerk, zur Schlichtheit und Funktionalität von Möbeln und Gebrauchsgegenständen, die auch in seinen Entwürfen zum Ausdruck kommen, deckte sich das extreme, puristische Denken der Sekte durchaus auch mit Loos' Persönlichkeitsstruktur. In Loos' Texten finden sich Passagen, die auf eine Affinität zu dieser Haltung hinweisen. So meinte er, das Ornament habe seinen „Zusammenhang mit der Weltordnung“ verloren.

Loos' Forderung nach Reduktion, Einfachheit, Authentizität entsprang einer puristischen Haltung, die auch orthodoxe Züge trug. Karl Kraus nannte ihn nicht umsonst den „Zweckmäßigkeitsapostel“. Was Loos jedoch bei allen Extremen auszeichnete, war die unvergleichliche Fähigkeit, das Wesentliche, den Kern einer gestalterischen Aufgabe zu erkennen und sie ästhetisch auf höchstem Niveau zu lösen.

Auch das Haus Khuner atmet ein tiefes Verständnis für die spezifische gestalterische Aufgabe, die Sensibilität für die Rahmenbedingungen und die ästhetische Meisterschaft im Entwurf.

Die jüdische Familie Khuner konnte ihr Landhaus nur wenige Jahre genießen. Noch vor dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland emigrierte sie nach Amerika. Das Haus wurde beschlagnahmt. Während der Kriegsjahre bewohnten Soldaten der Wehrmacht die Landvilla. Im Jahr 1959 erwarb eine niederösterreichische Wirtin das Haus. Kaum jemand interessierte sich damals für den Bau. So wurde schließlich aus dem Landhaus Khuner der Alpengasthof Kreuzberg. Später kümmerte sich das Denkmalamt um Adolf Loos' einziges realisiertes Semmeringprojekt. In Zusammenarbeit mit den neuen Besitzern wurden schließlich kleine Veränderungen zur Umwandlung in eine Pension und einen Gastbetrieb vorgenommen. Das Ergebnis dieser sanften Metamorphose ist durchaus gelungen.

9. Oktober 2009 Der Standard

Architektur und nationale Mythen

Architektur auf dem Balkan, insbesondere Rekonstruktionen, sind nicht nur architektonisch brisant. Sie werden auch zu ethnischen und religiösen Propagandazwecken missbraucht.

Dass gebauter Raum ein kulturelles Gedächtnis verkörpere und für das Individuum Erinnerung dauerhaft abrufbar mache, ist eine alte und beständige Vorstellung. Vor allem Städte sind für die Konstruktion von Erinnerungsräumen bedeutsam, sie funktionieren gewissermaßen als Gedächtniskarten. Die gezielte Verräumlichung des Gedächtnisses bildet umgekehrt eine subtile und machtvolle Kraft im Umgang mit der Vergangenheit.

Aus diesem Grunde zählt auch die Aufladung von Bauten mit Erinnerung und kulturellem Gedächtnis zu den meiststrapazierten Themen der Architektur. Das Überdauern eines Bauwerks wird mit dem Überleben des kulturellen Erbes und mit Kontinuität eines Systems gleichgesetzt. Dieses Denken misst der Erhaltung architektonischer Substanz unverhältnismäßige Bedeutung zu. Wenn das einst mit Bedeutung aufgeladene Bauwerk nicht mehr vorhanden ist, entsteht die Idee der Rekonstruktion. Der exzessive Höhepunkt dieses Gedankens ist die freie Nachgestaltung historischer Bauten. Vor allem in den südlichen Ländern der Region Südosteuropa sind Rekonstruktionen ein heikles Thema.

„Balkanology“ im AZW

Im Architekturzentrum Wien wird sich die Ausstellung Balkanology mit Aspekten ungesteuerter architektonischer und städtebaulicher Entwicklungen als Abbild turbokapitalistischer, neoliberaler Wirtschaftsprinzipien befassen und neuere, innovative Lösungen in den Blick nehmen. Ohne das Thema der Rekonstruktionspraxis und deren Hintergründe zu berühren, ist ein Verständnis der Planungen in den südlichen Ländern Südosteuropas aber kaum möglich.

Sie enthüllen eine tiefwurzelnde ethnisch-nationale Problematik, die in Architektur und Städtebau ihren Ausdruck findet. Auch manche urbanistische Handlungen in den Hauptstädten werden über das Wissen um die ethnische, nationale Geschichte und Gegenwart verständlicher. Vor allem in Zeiten der Finanzkrise tritt dieser Aspekt verstärkt zutage.

In der mazedonischen Hauptstadt Skopje wurden jüngst mehrere Bauvorhaben begonnen. Das alte Stadttheater aus der Zeit des Königreichs Jugoslawien wird am Hauptplatz wieder aufgebaut. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine klassische Rekonstruktion des alten Theaters, sondern um ein symbolisches Spiel mit der Hülle.

Die Fassade des Gebäudes wird originalgetreu gestaltet, innen wird es neu ausgestattet. Auch der Maßstab ist nicht ganz getreu, das neue „alte“ Theater wird wesentlich größer ausfallen als das einstige Bauwerk. Das spektakulärste Projekt dieser Art ist eine orthodoxe Kirche in historischer Manier des vierzehnten Jahrhunderts mitten auf dem Hauptplatz von Skopje.

Der Entwurf ist eine willkürliche, fantasievolle Interpretation des einstigen Bauwerks. An dieser Stelle stand einst eine Moschee, für die albanische Bevölkerung von Skopje ist diese Tatsache befremdlich. Eine gewisse Absurdität liegt weiters darin, dass diese Bauvorhaben im Wettbewerbsverfahren entschieden wurden. Nicht zufällig ist der Hauptplatz von Skopje Schauplatz dieser Bauvorhaben.

Dessen große prominente Bauten verkörperten im frühen 20. Jahrhundert eine neue politische, ökonomische und kulturelle Bedeutung der Stadt. Dazu gehörte das Gebäude der Nationalbank, das Stadttheater und der Offiziersklub. Die alte Brücke über den Fluss Vardar verband diese Symbole urbaner Macht zu einem eindrucksvollen Ganzen. Es war die Zeit des Königreichs Jugoslawien und der kulturellen Vorherrschaft Serbiens. Dieses alte Skopje, das heute von großen Teilen der Bevölkerung in der Überlieferung wehmütig beschworen wird, orientierte sich nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft, wie viele andere Städte Südosteuropas, kulturell zunehmend an Europa.

Wurzeln in der Vergangenheit

Die aktuellen, von Regierungsseite beschlossenen, architektonischen Projekte Skopjes kommunizieren eine eindeutige Botschaft. Es sind gezielte Rückgriffe auf eine konstruierte nationale Identität, deren Wurzel in der Vergangenheit liegt. Darüber hinaus beschwört der kulturpolitische Kurs der ultranationalistischen Regierung mit den Rekonstruktionen ein sehr einseitiges Geschichtsbild.

Diese alte und hartnäckig weitergereichte Interpretation der Geschichte betrachtet den Beginn der einstigen Osmanenherrschaft als radikale Unterbrechung einer vormals kulturell hochstehenden Entwicklung, die sich mit Europa im Einklang befand. Die Folge dieser Unterbrechung, das „türkische Joch“, war nach dieser Diktion kulturelle Regression und Barbarisierung.

Dieses mit nationalen Mythen aufgeladene Geschichtsbild wurde in den südosteuropäischen Ländern ab dem 18. Jahrhundert im Ringen um nationale Emanzipation beschworen und ist teils noch heute aufrecht. Die architektonischen Rekonstruktionen beschwören diese europäische Identität.

Eine paradoxe Umkehrung spielt sich indes in der Hauptstadt des Nachbarlandes Bulgarien ab. Auch Bulgariens nationale Mythen beschworen stets die Wurzeln der europäischen Identität. Dort ist sie baulich überreich vorhanden. Die Altstadt Sofias ist eine architektonische Schwester Wiens. Sofia wurde im 19. Jahrhundert als neue Hauptstadt im Fürstentum Bulgarien zur Gänze von Architekten der österreichisch-ungarischen Monarchie erbaut. Sie nahmen sich nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft die Residenzstadt Wien zum gestalterischen Vorbild.

Während nun in Skopje baulich rekonstruiert wird, entging das tatsächlich vorhandene europäische Erbe in Sofia vor einem Jahr nur um Haaresbreite der Zerstörung. Einem großen Teil der historischen Innenstadt Sofias drohte im Herbst 2008 zugunsten eines Investorenprojektes der Abriss. Im letzten Moment wurde die Zerstörung der Altstadt Sofias vereitelt. In der Folge möchte die Regierung Bulgariens mit einem städtebaulichen Vorhaben nun großmaßstäblich aufholen.

Intelligente Umgestaltungen

Dominique Perrault hat sich in einem Wettbewerb zur Planung eines neuen Stadtteils gegen prominente internationale Konkurrenz wie Zaha Hadid, Norman Foster, Massimiliano Fuksas durchgesetzt. Das Projekt sieht ein großangelegtes zweites Zentrum Sofias östlich der Altstadt vor. In Anbetracht des überdimensionierten Vorhabens sind die kritischen Stimmen berechtigt. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob Sofia ein neues Zentrum braucht. Intelligente Umgestaltungen, Umnutzungen, kluge Interventionen in der Altstadt oder Regulationen könnten im Sinne urbanistischer Regeneration mehr bringen als spektakuläre Großprojekte und Staraufgebote.

In Mazedonien herrscht dagegen ein ausgeprägtes Bewusstsein der jüngeren Architektengeneration. Im April protestierten Studenten der Architekturfakultät gegen die Rekonstruktionen am Hauptplatz, die Aneignung des öffentlichen Raumes und gegen die Zerstörung der Stadt. Die Kundgebung artete zu einer gewalttätigen Manifestation ethnisch-politischer Glaubenssätze aus und endete blutig.

Aggressive Suche

Dieser Vorfall spiegelt einen zentralen Faktor der Situation der Länder Südosteuropas wider; eine aggressive Suche nach nationaler und religiöser Identität, die sich auch der Architektur bedient. Architektur und Städtebau dienen dabei als Träger ethnisch-religiöser Botschaften. Planungsvorhaben werden benutzt, um populistische Botschaften zu vermitteln. Sie erzeugen ein explosives Amalgam, dem sinnvolle Planungen eher nachgereiht werden.

Das Thema besitzt über die gemeinsame kulturhistorische Geschichte hinaus auch eine europäische Dimension. Denn die Geschichte Europas ist eine Geschichte der Städtevielfalt. Die europäischen Städte sind nicht nur lebendiges Erbe, sondern Lebensräume, Schauplätze und Potenziale der Zukunft. Ein bewusster, achtsamer Umgang ist angesagt.

[ Gabriele Reiterer, Architektur- und Stadtwissenschafterin, forschte 2008-2009 im Rahmen des Projektes „Europa urban“ zu Städten in Südosteuropa. ]

28. Februar 2009 Spectrum

Die Biologie des Bauens

Wie Charles Darwin die Baukunst beeinflusste: Hinweise auf eine Evolutionstheorie der Architektur.

Wer denkt an Architektur, wenn der Name Charles Darwin fällt? Darwins Jubiläumsjahr kann aber kaum ohne einen Blick in die faszinierende Verflechtung seiner Denkmodelle mit den Künsten vergehen. Der indirekte Einfluss von Darwins Werk auf die Theorie der Baukunst war immens. So exotisch diese Verbindung scheint, so prägend und bahnbrechend war sie seinerzeit, ja ohne Darwins Werk wäre die Baukunst des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts, wie wir sie kennen, kaum denkbar. Vor allem in Wien fand diese Gedankenhybridisierung aus Naturwissenschaft und Bautheorie ihre prominente Umsetzung.

Den Auftakt für einen Wandel, der in der Folge auch die Gedanken zur Architektur betraf, bildeten die neuen Forschungen der Biologie. Étienne Geoffroy Saint-Hilaire hatte bereits 1795 festgestellt, dass Species „nur Ausartungen eines und des nämlichen Typus“ seien. Georges Cuvier legte kurz darauf neue, vergleichende anatomische Einteilungen und Ordnungen vor. Diese neuen anatomisch-biologische Klassifikationen veränderten in einem entscheidenden Punkt jede bislang herrschende Systematik: Sie setzten die Bedeutung der Funktion des Organs an die erste Stelle. Die endgültige Zäsur brachte aber das Werk von Charles Darwin. Darwins Annahme sah vor, dass „Arten einer Veränderung unterliegen und dass die jetzigen Lebensformen durch wirkliche Zeugung aus anderen früher vorhandenen Formen hervorgegangen sind“. Die Entwicklungsgeschichte der Organismen wurde ab jetzt nicht mehr beschreibend, sondern erklärend begriffen.

Weit über den Kreis der Darwinisten hinaus bahnte sich die neue Art, zu denken und zu ordnen, ihren Weg in andere Bereiche. Auch die Stilentwicklung und Ästhetik in den Künsten wurden unter veränderten Vorzeichen beleuchtet. Neue Klassifikationen wurden auch hier aufgestellt. Der bedeutendste Vertreter der neuen Richtung war der Architekt Gottfried Semper. Semper legte seinen Gedanken zur Architektur die neue Systematik und Ordnung der Natur zugrunde.

Gottfried Semper schuf sowohl ein gebautes als auch ein theoretisch bahnbrechendes Werk. Dabei glich die Karriere des bedeutendsten Architekten des 19. Jahrhunderts insgesamt der Fahrt einer Hochschaubahn. Nachdem er in sehr jungen Jahren bereits europaweit großen Erfolg und einen Höhepunkt seiner Laufbahn als Kunsttheoretiker, Akademieprofessor und Hofarchitekt im sächsischen Dresden erreicht hatte, fiel er durch die politischen Umstände in Ungnade. Nach Ausbruch des Maiaufstandes 1849, auf dessen Seite er sich gestellt hatte, drohten ihm Verhaftung und Gefängnisaufenthalt, ein Schicksal, dem er sich nur durch rasche Flucht entziehen konnte.

Der gefallene Hofarchitekt gelangte über Paris nach London. In den folgenden harten und auftragsarmen Jahren legte er das Fundament zu seinem theoretischen Hauptwerk. Es kulminierte 1860 bis 1863 im mehrbändigen Werk „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik“, eine Schrift, die zum einflussreichsten theoretischen Werk der Baukunst des 19.Jahrhunderts avancieren sollte. Gleichzeitig war „Der Stil“ auch das von Architekten am wenigsten gelesene, aber darüber noch später.

Gottfried Semper entwickelte seine Gedanken zur Architektur parallel zu den neuen Ordnungen der Natur. Seinem theoretischen Werk legte er ein evolutionsgeschichliches, funktionsmorphologisches Gerüst zugrunde. Damit schuf er einen vollkommen neuen Denkansatz der Entwicklung der Baukunst. Seine vergleichenden Systeme und seine Suche nach Urformen in der Architektur hatte er in enger Anlehnung an die neuen vergleichenden Anatomien erarbeitet. Semper erklärte, man müsse wie in der Naturwissenschaft auch die Entwicklung der Architektur, die Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung der Baustile in ein ordnendes System fassen. Vereinfacht ausgedrückt: Er begründete eine Evolutionstheorie der Architektur.

Laut Semper hatte sich die Baukunst aus der textilen Kunst entwickelt. Den historischen Ursprung des Bauens sah er in einem strukturierenden Gerüst, das eine textile Umhüllung besaß. Die Beobachtung einer einfachen karibischen Hütte auf der Londoner Weltausstellung war für ihn eine Bestätigung dieser Urform der Architektur. Die Hütte bestand aus einem einfachen Gerüst, war mit Flechtwerk versehen und mit Stoffen umhüllt. Durch das Prinzip des „Stoffwechsels“, diesen Begriff hatte er von den Forschungen des holländischen Physiologen Jacob Moleschott entlehnt, hätten die ursprünglichsten Formen sich ihren Weg gebahnt, so argumentierte Semper. Aus der textilen Hülle wurde schließlich die steinerne Wand der Architektur. Die Ornamentik sei demnach nichts anderes als ein symbolisches, „versteinertes“ textiles Muster. Aus der einfachen Technik des Wandbereitens, dem Urprinzip des Bekleidens, entstand nach Semper in einer Metamorphose alles weitere, es rückte einfach in eine höhere Stufe, ein Urtypus wechselte in einen anderen Stoff.

Eine höchste kreative und gewagte Theorie, eine kühne Neubetrachtung der Entwicklung der Baukunst. Gottfried Semper hatte in einer Ideenhybridisation ein naturwissenschaftliches Denkmodell in die Architektur übertragen. „Der Stil“ und „Die vier Elemente der Baukunst“ von 1851 waren in jedem Atelier zu finden. Sempers Schriften waren Nachschlagwerk und Bibel der schaffenden Architekten.

Vor allem in Wien fiel Sempers Credo auf fruchtbaren Boden. Freilich handelte es sich reihenweise um produktive, kreative Missverständnisse. Denn wenige Architekten hatten den „Stil“ gelesen. Zu Recht. Tatsächlich ist die Hunderte Seiten umfassende Schrift zwar in ihrer grundlegenden Denkleistung faszinierend, aber in der Darstellung eher mühselig, mit Stoffmengen überfrachtet, abschnittsweise recht konfus. Trotzdem prägte Sempers biologistische Systematik der Baukunst das ausgehende Jahrhundert.

Die Kernaussage der Semperschen Theorie konnte in wenige knappe Sätze gefasst werden. Vor allem war dieser Kern höchst bildhaft vorstellbar, und als solcher wurde erauch rezipiert. Die Architekten verfuhren mit der Idee einer biologistischen Entwicklung des Bauens höchst frei undbildhaft inspiriert. Siebot dem breiten Feldder neuen konstruktivenMöglichkeiten viel Raum und verführte vor allem in der Wiener Rezeption zum reizvollen und eloquenten gestalterischen Spiel. Otto Wagner, Max Fabiani oder Josef Ple?nik reizten den Umgang mit Hülle und Kern des Bauwerks bis zum Höhepunkt. Die ornamentierte, geschmückte Fassade wurde zum unverzichtbaren Ausdruck jedes Bauwerks.

Materialien und Verzierungen wurden als „Stoffe“, als verfeinerte Hülle metaphorisch beschworen. Der Kern des Bauwerks wurde theatralisch bekleidet. Bei Otto Wagners Prachtbauten an der Wienzeile war es die exzessive Verwendung von Majolika, bei Max Fabianis Geschäftsbau für Portois & Fix im dritten Wiener Bezirk waren es kühle, farbige Fliesen, mit denen er die Fassade gestaltete.

Die Fassadenkunst des 19.Jahrhunderts begründete mit der Geschichte der Entwicklung des Wandbereitens ihre sinnlich-spielerische Ausdrucksform. In seiner ausgeronnenen Variante erschien das Ornament später als massenproduzierter, aus dem Musterkatalog entnommener Zement- oder Gipsguss, der auf den Fassaden gründerzeitlicher Zinspaläste angebracht wurde. Zwischen diesem oberflächlichen Verfahren und jenen schmückenden Ideen lagen Welten. Denn der Ursprung des Gestaltungsgedankens war durchdacht. Kunstgewerbe, Ornamentik, Geschichtsbezug, evolutionistische Ordnungen waren wesentliche Grundlagen der historistischen Baukunst. Die zugrunde liegende Systematik war der neuen Wissenschaft der Natur entnommen.

Gottfried Semper selbst war zwischenzeitlich längst wieder zu Ruhm gelangt. Für die großen Ringstraßenplanungen war er 1871 nach Wien gezogen. In der zwangsbeglückenden, problematischen Verbindung mit Karl Hasenauer, der ihm nicht ansatzweise das Wasser reichen konnte, waren Burgtheater und Museen entstanden. Sempers Kaiserforum, die große imperiale Geste, wurde nie vollendet. Dem Lauf der Geschichte verdanken wir die asymmetrische, halbseitige Stadtsituation.

An die Habsburgermetropole sollte sich Semper ausschließlich schlechte Erinnerungen, einen „Blick zurück im Zorn“ bewahren. 1876 hatte er hier völlig entnervt das Handtuch geworfen. In seinen Briefen schrieb er von der rutschigen Spiegelglätte und zerstörerischen Intriganz des Wiener Parketts, das ihm schwer zu schaffen machte. Der letzte Band des „Stils“ sollte nie erscheinen.

Sempers evolutionistische Theorie wies scheinbar janusköpfig zurück und vorwärts zugleich. Sein System versöhnte vordergründig Historismus und Moderne, besaß Potenzial zur stetigen evolutionären Weiterentwicklung des Bauens. In der Praxis sah es anders aus. Sempers Lehre war einer Architektur des Steines und der Fassade vorbehalten. Die neue Transparenz der Eisenkonstruktionen fand in seinen Augen keine Gnade. Die frühe Moderne bewegte sich jedoch von der Umhüllung weg und begann, die Außenmauer zu lösen, trennte das Band zur versteinerten Welt der Väter. Die großen kulturhistorischen Systeme und Klassifikationen, die Ratio der Geschichte war in ihren Augen obsolet geworden.

Die evolutionistischen Geschichtsmodelle hatten ihre Gültigkeit verloren. Semper wurde als Materialist gescholten. Auf das rationale Denken folgte im letzten Abschnitt des Jahrhunderts eine Umkehr. Die verdrängten Mächte loderten empor. Auf die positivistische Naturlehre folgte nun, allgemein gesprochen, eine neue Irrationalität. Seele, Stimmung und Gefühl begannen sich wieder als geistig-künstlerische Instanzen zu behaupten.

Die Architektur reagierte seismografisch auf die neuen Werte. Nicht die objektive, sondern die subjektive, nicht die logische, die allgemeine Auffassung der Dinge, sondern ihre gefühlsmäßige, besondere, persönliche wurde zum neuen Leitspruch ausgerufen.

Ein „warmes Fühlen in den kalten Mauern“, so Josef Maria Olbrich über sein Haus der Wiener Secession, entließ endgültig die Ratio der geschichtsbewussten Zeit. Die Grundlagen eines anderen Bauens begannen sich zu formen. Seelenwerte galten als deren Organisatoren, das künstlerische Schaffen aus den Tiefen des Ichs wurde zu einem neuen Leitmotiv der Zeit.

[ Unser Bild ist dem Band „Analogien – Moderne Architektur und Tierwelt“ von Alejandro Bahamón und Patricia Pérez entnommen, der in der Deutschen Verlags-Anstalt, München, erschienen ist (Aus dem Spanischen von Laila G. Neubert-Mader. 192 S., brosch., € 30,80). ]

26. Juli 2008 Der Standard

Die verlorene Geschichte Skopjes

Die mazedonische Hauptstadt Skopje ist eine unvergleichliche urbanistische Melange, aber auch der Versuch einer sozialutopischen Planstadt.

Im Juni blühen in Skopje die Linden. Die ganze Stadt ist vom intensiven Duft erfüllt, den sie verströmen. Unter einem der riesigen schattenspendenden Bäume liegt das Straßencafé des Hotel Bristol, eines der wenigen übriggebliebenen Bauten des einstigen Skopje.

Am späten Nachmittag des 25. Juli 1963 kündigte Radio Skopje einen sommerlich heißen Folgetag an. Wenige Stunden später stand die Stadt nicht mehr. Im Morgengrauen des 26. Juli zerstörte ein zwanzig Sekunden dauerndes Erdbeben die mazedonische Hauptstadt. Fast alle wichtigen Gebäude fielen in Trümmer, mehr als tausend Tote wurden gezählt. Weitgehend unversehrt blieb der osmanische Teil, die Altstadt Skopjes am linken Ufer des Flusses Vardar.

Bereits wenige Tage nach dem Beben wurde der Bau einer neuen Stadt beschlossen. Marschall Tito sprach von der Notwendigkeit internationaler Unterstützung und Solidarität, die Skopje nun erhalten sollte. Trotz politischer Spannungen in der härtesten Zeit des Kalten Krieges wurde ein internationales Vorhaben über alle politischen Grenzen hinweg initiiert. Die Vereinten Nationen schrieben einen Wettbewerb für die Erbauung einer neuen Stadt aus. Eine Gruppe handverlesener internationaler Architekten und Stadtplaner, darunter der Italiener Luigi Piccinato und der Niederländer Jacob Bakema, wurde zur Teilnahme geladen. Der japanische Architekt Kenzo Tange setzte sich mit seinem Entwurf des Masterplans mehrheitlich durch.

Allerdings wurden als „zweite“ Gewinner, neben Tange auch Radovan Miscevic und Fedor Wenzler vom kroatischen Institut für Städtebau ausgezeichnet. Schließlich planten Teams japanischer, mazedonischer, kroatischer, griechischer und polnischer Architekten die in drei Zonen geteilte neue Stadt. Innerhalb weniger Monate wurde die mazedonische Hauptstadt zum internationalen Symbol, zum einzigartigen historischen Beispiel für internationale Solidarität und zum Zentrum einer urbanistischen Debatte zur Idealstadt. Die Augen der Welt waren auf Mazedonien gerichtet. Am 12. Februar 1965 erschien zu den Planungen in Skopje ein ausführlicher Bericht in der New York Times. Nachdem Teile der Planstadt über die Jahre errichtet worden sind, geriet die Bautätigkeit aus politischen Gründen Anfang der Achtzigerjahre ins Stocken, um schließlich ganz zu enden.

Eine geteilte Stadt

Wer nach Skopje kommt, erlebt die unvergleichliche Schichtung einer geteilten Stadt. Rechts des Flusses ragen die Wohntürme in die Höhe, ein Bürogebäude gleicht einem Raumschiff aus skulpturalem Beton, daneben liegt das Postgebäude wie ein umgedrehter versteinerter Krake. Auf der linken Seite des Flusses wurden die Kulturbauten des neuen Skopje erbaut. Die Oper, nach einem Entwurf slowenischer Architekten aus dem Jahre 1968, gleicht einer weißen scharfkantigen Skulptur, ein ausgreifender geometrisch-kristalliner Bau, dessen außergewöhnliche Raumfluchten Überraschungen bergen.

Vom Hauptplatz im neuen Teil der Stadt führt die Kameni most, die alte symbolträchtige Brücke über den Fluss Vardar, in die Altstadt Skopjes. Die orientalisch geprägte Stadt, die Carsija, ist voller verwinkelter Gassen, kleiner eingeschoßiger Häuser, reizvoller kleiner Plätze mit plätschernden Brunnen, beschirmt von mächtigen alten Bäumen. Hier wird die außergewöhnliche räumliche Qualität der orientalischen Städte spürbar. In der Carsija liegen die Moscheen, Hamam, die alten Karawansereien und noch existierenden einstigen Handwerkergassen.

Nicht selten steigen im Sommer die Temperaturen in Skopje auf mehr als vierzig Grad. Die Stadt gleicht in diesen Tagen einem Glutkessel, nur die Morgen- und Abendstunden sind erträglich. Um der Hitze zu entfliehen, reicht ein kurzer Weg. Die Stadtviertel an den Hängen des Vodno, des Berges bei Skopje, sind paradiesisch grün.

Die Stadt kippt hier wie ein Vexierbild plötzlich in eine üppige Kulturlandschaft mit Weingärten und Gemüsefeldern, in ein duftendes paradiesisches Land mit fruchtbarem Boden. Die Planstadt scheint weit entfernt. In den Abendstunden herrscht hier angenehme Kühle, der Blick auf die dunstige Stadt ist einzigartig. In der Nacht schwirren unzählige Glühwürmchen durch die Luft, am Wegrand sind Schildkröten anzutreffen.

Kampf um die Unabhängigkeit

Nach mehr als einem Jahrzehnt der Unabhängigkeit kämpft das kleine Mazedonien mit wirtschaftlichen Problemen. Die Probleme der ethnischen Diversität wiegen beträchtlich. Auch wenn es im Alltag ein Nebeneinander gibt, ist der Glaube an ein Miteinander kaum vorhanden. Die Südseite und die Nordseite des Vardar sind in Skopje Symbole einer getrennten Gesellschaft. Die ethnischen Grenzlinien sind messerscharf, die gebaute Stadt ist davon geprägt.

Insgesamt ist ein höchst eigenwilliges Geschichtsbild der Stadt und ihrer Identität im Bewusstsein vieler Bewohner verankert. So kursieren mündlich überlieferte Versionen der jüngeren Geschichte Skopjes, die mit den Fakten nicht viel gemein haben. Erzählt wird die Geschichte des schrecklichen Erdbebens und eines japanischen Stadtplaners, Tange, der kam und die Stadt nach dem Beben ein zweites Mal zerstörte. Die kaum zugänglichen, völlig lückenhaften Archive Skopjes tun ein Übriges, die Erinnerung zu verwischen.

Vor allem aber zirkuliert in der mazedonischen Hauptstadt das Gespenst der architektonischen Rekonstruktionen. Der Wiederaufbau einiger prominenter Gebäude des „alten“ Skopje wird debattiert. Auch ein Wettbewerb für den Bau einer Kirche in der Manier des 14. Jahrhunderts am Hauptplatz Skopjes wurde ausgeschrieben. Die Idee, die alte Stadt in Teilen wiederauferstehen zu lassen, entstammt einem nicht unproblematischen nationalistischen Gedanken.

Urbanistische Melange

Identität ist das Schlagwort, Identitätsfindung der Wunsch. Bedauerlicherweise werden bei dieser Suche bereits vorhandene interessante Potenziale dieser ungewöhnlichen Stadt wenig erkannt und gewürdigt. Die mazedonische Hauptstadt ist eine unvergleichliche urbanistische Melange aus verschiedenen Zeiten und Welten. Skopje ist ein Manifest, ein Versuch einer sozialutopischen Planstadt in der Begegnung mit osmanischem Erbe.

Skopjes Erdbeben war tragisch und mit immensem Leid verbunden. Skopje mag damals einen Teil der Geschichte verloren haben, und gleichzeitig hat es auch gewonnen. Mit gebührendem Abstand betrachtet, ist aus genau dieser Situation jene besondere urbane Identität Skopjes erwachsen. Skopje zählt zur heterogensten, zur vielleicht auratischsten Stadt des südlichen Balkans. Die Faszination der Stadt liegt in den Schichtungen, dem Aufeinanderprallen urbaner Welten, wie sie verschiedener und konträrer nicht sein könnten. Das abstrakte urbane Gebilde, das Kenzo Tange gemeinsam mit anderen Architekten als neue Stadt bereitstellte und das nur zum Teil realisiert wurde, spiegelt jene Absurdität, die allen Städten vom Reißbrett eigen ist.

Tanges Idee von Skopje lagen jene ambitionierten gesellschaftsutopischen Visionen der Sechzigerjahre zugrunde, die nicht selten unsanft landeten. Planstädte haben sich von jeher nur sehr bedingt umsetzen lassen. Städte besitzen schlichtweg ein ausgeprägtes Eigenleben und lassen sich genauso wenig steuern wie die Menschen, die sie bewohnen.

In Skopje hat sich das städtische Leben mit einer gewissen Unbekümmertheit über alles Planhafte, Zerrissene, Zerstörte und Verlorene hinweggesetzt. An vielen Stellen überwuchert die Vegetation die monumentalen Betongebilde, die großangelegten Vorplätze sind zu wilden, üppigen, grünen Inseln gewachsen. Ivan Mirkovski, ein junger mazedonischer Architekt, fand im Jahr 2006 im hintersten Speicher des Stadtmuseums von Skopje Kenzo Tanges Modell, mit dem der Japaner den Wettbewerb für den Masterplan gewonnen hatte. Es war in vier Teile zerlegt und verstaubte vergessen und unbeachtet in einem Eck des Depots.

Mirkovski hat 2008 eine Initiative ins Leben gerufen. Alljährlich bildet das „Forum Skopje“ eine Plattform für einen interdisziplinären architektonischen und städtebaulichen Diskurs zu Gegenwart und Zukunft Skopjes. Dies ist nicht nur für die Bewohner der Stadt von Bedeutung. Auch aus unserer Sicht ist wenig Wissen um die „neuen“ europäischen Städte vorhanden. Die urbanen Zentren Südosteuropas sind vielfach noch eine Terra incognita, die es in ihrer Vielfalt, Faszination und in ihren Potenzialen zu entdecken gilt. Ein Verständnis für ihre Geschichte und Gegenwart, so ist zu hoffen, kann mit den Boden für zukünftige konstruktive Möglichkeiten bereiten.

[ Gabriele Reiterer, Architektur- und Stadtwissenschafterin, forscht im Rahmen des interdisziplinären Projektes „Europa urban. Die Stadt lesen“ zu südosteuropäischen Städten. ]

19. März 2005 Spectrum

Die Welt und ihre Fugen

Vor kurzem wurde sie wieder entdeckt: seine kleine Wiener „Wohnmaschine“ aus den Zwanzigerjahren. Doch wer war überhaupt ihr Schöpfer, dieser Anton Brenner? Plädoyer für einen Vergessenen.

Auf dem Foto wirkt er wach, trotzig, ein wenig gequält. Eine Haltung wie auf dem Sprung, als hätte er sich eben nur für wenige Sekunden auf dem Stuhl niedergelassen. Hinter ihm lehnt die Ehefrau, neben ihm drängen sich zwei Kinder. Die Fotografie der Familie Brenner wurde in genau jener Wiener Wohnung aufgenommen, deren kürzliche Entdeckung den Protagonisten dieser Geschichte - nämlich Anton Brenner - nun wieder der Vergessenheit entreißt.

Anton Brenner ist ein Phänomen: jenes der seltsamen Dynamik der Geschichtsschreibung, die in scheinbarer Willkür Existenzen einfach schluckt oder verborgen hält, um sie manchmal Jahrzehnte oder Jahrhunderte später wieder freizugeben, wie der Gletscher seine Toten.

Anton Brenner war Architekt. Seine Biografie liest sich wie eine schillernde und gleichzeitig sehr unausgewogene Geschichte, seine Stationen waren erfolgsgekrönt, um dann doch wieder tragisch zu enden. Das Architekturstudium begleiteten frühe Wohnbaustudien im „Roten Wien“. Es folgte die Mitarbeit am Hochbauamt in Frankfurt bei Ernst May, einem der wichtigsten Zentren der Moderne. Den glanzvollen Höhepunkt der Architektenlaufbahn von Anton Brenner bildete seine Berufung an das Bauhaus in Dessau im Jahre 1929.

1896 in Wien geboren und aufgewachsen, war Brenners erste traumatische Erfahrung, wie die einer ganzen Generation, der Erste Weltkrieg. 1920 traf der Kriegsheimkehrer auf eine vollkommen veränderte Welt. In Österreich war nicht viel geblieben, wie es war, in diesem Österreich, „das nur noch als ein ungewisser, grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie auf der Karte Europas dämmerte“, so Stefan Zweig in seiner „Welt von Gestern“.

Brenner begann sein Studium an der Wiener Kunstgewerbeschule, zuerst bei Oskar Strnad und Josef Frank, später setzte er es an der Akademie der bildenden Künste bei Peter Behrens und schließlich Clemens Holzmeister fort. Über Josef Frank kam Brenner bald mit der Siedlungsbewegung in Berührung, eine Begegnung, die entscheidend für seine Architektenlaufbahn wurde. Die Experimente und Forschungen auf dem Gebiet des Wohnbaus prägten jene Jahre. Kostengünstig bauen, effizient planen und wohnen waren die Themen der „sozialen Frage“, die zum Ethos der Architekten avancierte.

Heinickegasse, Ecke Rauchfangkehrergasse, 15. Wiener Gemeindebezirk. Nichts scheint besonders auffällig an dem Bau aus den Zwanzigerjahren, der auf einem Eckgrundstück errichtet wurde. Von außen wirkt er kubisch, massig, mit schmuckloser Fassade. Eine kleine Treppe führt zur Eingangstüre hinauf, im Stiegenhaus stellt sich ein Gefühl der Kleinteiligkeit, ja Enge ein. Bereits hier befindet sich alles penibel genau an seinem Platz. Wer die Wohnungstüre im zweiten Stock öffnet und den Fuß über die Schwelle setzt, glaubt im ersten Moment seinen Augen nicht zu trauen. Was sich hier präsentiert, ist eine ausgeklügelte kleine Wohnmaschine im Geist der Zwanzigerjah-re. Puppenstubenhafte 38 Quadratmeter sind es genau, auf denen hier vier Personen lebten. Jeder Vorgang, jede Geste dieses Wohnens wurde vom Architekten des Hauses, nämlich Anton Brenner, durchdacht und entsprechend festgelegt. So galt die erste Handlung beim Betreten der Wohnung dem Ablegen des Hutes in das obere Fach des „Kleiderablageschranks“, der gleichzeitig „als Trennungswand von Vorraum und Besenkammer mit einem unteren Fach für Überschuhe“ diente. Seitlich befanden sich „Stock- und Schirmständer“. Im nächsten Raum gab es Klappbetten für die Kinder mit entsprechend einschwenkbaren Nachttischchen. Der winzige Raum des WCs funktionierte gleichzeitig als Dusche. Weiters verfügte die Wohnung über einen supermodernen zentralen Müllschlucker und vor allem jede Menge Einbaumöbel. Jeder Zentimeter in jedem Raum war bis ins Kleinste durchdacht und funktional geplant. Vor allem auch jener Arbeitsraum, der später durch Margarethe Schütte-Lihotzky eine aufsehenerregende Neukonzeption erfahren sollte: Hier, in der kleinen Küche der Wohnung in der Rauchfangkehrergasse, waren diese Gedanken bereits angelegt.

Die Hülle dieses Wohnetuis bildeten die Nischen und Einbauschränke. Brenners genialste „Erfindung“ war eine Auflösung der Mittelmauern bei gegeneinander versetzten Wohnungen in Pfeiler und Träger. Durch eine versetzte Anordnung der die Wohnung abgrenzenden Füllwände entstanden Nischen, also zusätzlicher Raum, den Brenner für Möbeleinbauten nutzte. Das Tragwerk bestand - völlig unüblich für einen Gemeindewohnbau jener Zeit - aus einem Stahlbetonskelett.

Wie war dieses Projekt zustande gekommen? Der junge Anton Brenner hatte bereits während seiner Studienzeit an der Akademie der bildenden Künste auf sich aufmerksam gemacht. Noch als Student nahm er an einem von der Stadt Wien ausgeschriebenen Wettbewerb für einen Wohnbau teil. Als ein wichtiger Punkt des Wettbewerbsprogramms waren zweckmäßige Grundrisslösungen gefordert. Als die Preisträger bekannt wurden, machte Brenner seinem Ärger in einem Artikel im „Wiener Tagblatt“ Luft. Denn der erste und zweite Preis wiesen seinem Ermessen nach in keiner Weise die verlangte Innovation und Qualität auf, ja Brenner bezeichnete sie als die mit Abstand schlechtesten Beiträge. Im intriganten und korrupten Wien schien dies der klare Fall eines geschobenen Wettbewerbs zu sein. Die Folge war eine beträchtliche mediale Aufmerksamkeit, in deren Zentrum Brenner und nolens volens auch sein eigener Wettbewerbsbeitrag rückten.

Seinen nächsten Wettbewerb, diesmal für die Berliner Zeitschrift „Bauwelt“, konnte er für sich entscheiden. Brenner reüssierte mit einer Fülle von Ideen, mittels Einbaumöbel „Volkswohnungsgrundrisse“ kostengünstig und raumökonomisch zu gestalten.

Mit diesem Erfolg in der Tasche meldete sich Brenner beim Wiener Stadtrat Siegel, seines Zeichens Baureferent, zur Sprechstunde an. Was nun folgte, beschreibt Brenner in seiner ungedruckten Autobiografie mit großem Pathos: Alsbald folgte ein Auftrag der Stadt Wien für einen Wohnbau mit eingebauten Möbeln. Anton Brenner fertigte innerhalb weniger Stunden einen Entwurf und zeichnete binnen vier Tagen den ganzen Plan des Hauses im Maßstab 1:200. Und dann trat, wie immer wieder in Brenners Leben, eine dramatische Wende ein. Alles schien sich plötzlich gegen Brenner zu verschwören. Tatsächlich dürfte er neben seinem schwierigen Charakter auch dem Wiener Intrigantentum zum Opfer gefallen sein. Während seine Grundrisse und Ausstattungen der Kleinstwohnungstypen in Berlin publiziert wurden und dort größte Anerkennung fanden, wurde deren erstmalige Umsetzung in Wien, in der Rauchfangkehrergasse, mehr als behindert.

Plötzlich tauchten Zweifel an der Urheberschaft des Architekten auf. In der Folge entbrannte ein heftiger Streit um die „Urheberrechte“ der Grundrisse und einiger „Erfindungen“ Brenners, der schließlich sogar in einen Rechtsstreit mündete. Für Brenner waren die Folgen mehr als problematisch. Das in Bau befindliche Haus sollte nun innen nicht mehr, wie ursprünglich geplant, von ihm ausgestattet werden. Schließlich gelang ihm ein genialer Handstreich. In einer Wiener Ausstellung über den „neuzeitlichen Haushalt“ brachte er ein perfektes Modell einer Wohnung im Maßstab 1:10 unter und präsentierte es vor großem Publikum. Mit der Ankündigung, er werde selbst in dieser Wohnung wohnen, pries er unaufhaltsam deren Vorzüge - und nahm seine Zuhörerschaft samt Stadtrat im Sturme. Sofort wurde ihm die Ausstattung einer Musterwohnung zugesagt.

Nach ihrer Fertigstellung 1925 durfte die Wohnung von Anton Brenner, die kleine Wohnmaschine, auch öffentlich besichtigt werden. Das Publikum kam in Scharen. Die Wohnung schaffte es sogar bis auf das Titelblatt der „Kronen Zeitung“. Wenig rühmlich, treffsicher genug, empfing das Wienerherz, wie oft, die neue Sache mit skeptischer Distanz: „Doch wird durch die Maschine kaum, die Not man übertauchen, denn was man hier erspart an Raum, wird man am Steinhof brauchen“, dichtete ein Anonymus. Von der ganzen Sache am meisten beeindruckt zeigten sich die Sowjets, die sogar eine eigene Delegation zur Besichtigung nach Wien sandten.

Im Frühjahr 1929 trat Brenner eine Lehrverpflichtung am Bauhaus in Dessau an. Hier schien er ein kongeniales Umfeld gefunden zu haben. Aber wie so oft drohten Neid und Intrige. Diesmal war es Hannes Meyer, der Direktor, der gemeinsam mit Ludwig Hilberseimer hinter dem Rücken von Brenner einen „geschobenen“ Wettbewerb plante. Die Konsequenzen waren fürchterlich. „Mit einem Schlage war alles zunichte“, notierte Brenner in seinen Memoiren. Er kündigte stante pede. Es folgte eine weitere Episode am Frankfurter Stadtbauamt. Brenner sah sich aber rasch wieder benutzt und witterte Neid und Missgunst allerorten. So ging auch diese Episode einem eher unrühmlichen Ende entgegen. Brenner reichte Klage gegen Ernst May ein und kehrte nach Wien zurück, wo er sich am Bau der Werkbundsiedlung beteiligte.

In Österreich plante Brenner noch einige Bauten. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine Berufung nach Kharagpur in Indien. Sein Name geriet jedoch trotz unbestrittener Leistungen auf dem Gebiete des Wohn- und Siedlungsbaues in Vergessenheit. Anton Brenner - der Verkannte, der Unglückliche? Warum besitzt sein Name nicht mehr die Präsenz eines Josef Frank oder Adolf Loos? War es seine unbequeme bis schwierige Art, die ihn zum allzu sperrigen Subjekt der Geschichtsschreibung degradierte?

Anton Brenner wollte die Welt verbessern, er wollte Ordnung und System. Seine ausgeklügelten Rationalisierungsideen jagten die Bewohner seiner Häuser durch ein fließbandähnliches Wohnregister, in dem jeder Handgriff vom Morgen bis zum Abend geordnet war. Da gab es kein Entrinnen. Und wenn - nur einmal - das Nachttischchen des Klappbetts seinen Haken verfehlte, dann drohte in Brenners teilpatentiertem System die Welt aus ihren Fugen zu geraten. Trotz alledem ist sein Beitrag zum menschenwürdigen Wohnen bis heute in vieler Hinsicht ein faszinierendes und unvergleichliches Experiment.

Die spektakuläre kleine Wiener Wohnmaschine wurde vor kurzem durch einen Zufall wieder entdeckt. Dem Umstand, dass Brenner selbst diese Wohnung bezogen hatte und Jahrzehnte mit seiner Familie dort wohnte, ist es zu verdanken, dass der Prototyp dieser Kleinstwohnung bis heute im Ansatz erhalten ist. Der Wiener Verein „Zeitraum“ hat mit Unterstützung des Bundesdenkmalamtes und der Kulturabteilung der Stadt Wien die behutsame Renovierung der Wohnung in der Rauchfangkehrergasse durchgeführt. Dieser Initiative ist es zu danken, dass das kleine Juwel erhalten bleibt. Ab Herbst wird die Wohnung als Museum öffentlich zugänglich sein.

[ Nähere Informationen beim Verein „Zeitraum“ unter Tel. 01/895-72-65. ]

15. September 2004 zuschnitt

Die Kunst der Fuge

Wenn Geräusche in unsere Ohren dringen, geschieht naturwissenschaftlich mechanistisch betrachtet folgendes: Eine Schallquelle sendet Energieimpulse an Moleküle – genau genommen Luftmoleküle –, die sie an unser Trommelfell weiterleiten. Die Ohrmuscheln verstärken bestimmte Frequenzen. Sobald der Ton am Ende des Gehörkanals auf das Trommelfell trifft, werden die Druckwellen in mechanische Bewegungen übertragen und laufen über das Mittelohr zu den Gehörknöchelchen. In welcher Qualität die jeweiligen Schallquellen ihr Ziel erreichen, ist eine Frage der Akustik. Sie ist ein Thema, das sehr weit zurückverfolgt werden kann. Die Akustik gehört zu den ältesten Zweigen der Physik und entwickelte sich vermutlich aus musikalischen Untersuchungen, die Pythagoras vor über 2500 Jahren betrieb. Sobald Menschen zusammenkamen, um Musik, Theater oder Vorträge zu hören, musste räumlich die Akustik bedacht sein. Vitruv berichtet von großen Vasen, die innerhalb der Sitzreihen der Amphitheater aufgestellt wurden, um bestimmte Klänge zu verstärken. Die Masken der Schauspieler hatten in diesem Zusammenhang eine sehr bedeutende Funktion. Sie dienten als eine Art Megaphon und sorgten für eine effektive Anpassung der Stimme an den umgebenden Raum. Die Maske verstärkte zwar nicht die Stimme, erhöhte aber die Schallabstrahlung. Seit dem 19. Jahrhundert ist die Akustik zu einer wissenschaftlichen Disziplin avanciert. Damals wurde vor allem der Versuch unternommen, die Erforschung der Sinneswahrnehmungen auf eine empirische Basis zu stellen. Eine neue Körperkonzeption bestimmte diese Absicht. Es war jene Zeit, in der die Naturwissenschaft mit dem Anspruch der Messbarkeit das Phänomen der Wahrnehmung untersuchen und wissenschaftlich begründen wollte. Die Folge war eine intensive Auseinandersetzung mit sinnesphysiologischen Themen. Auch die Architektur zeigte sich von diesem Paradigmenwechsel beeinflusst.

Die Raumakustik ist ein wesentliches Moment der Raumerfahrung und damit der Architektur, oder sollte es zumindest sein. Trotzdem ist die bewusste Auseinandersetzung mit der Dimension der Raumakustik ein stark vernachlässigtes Thema. Das Erzeugen guter Raumakustik hat mit Planung und sehr viel mit Intuition zu tun. Es gibt wunderbare Beispiele gebauter Räume für Musik, die technisch nicht unbedingt bis ins letzte Detail begründbar sind. Die magische Welt der Klänge braucht ein sensibles elastisches Gefäß für die Töne, das einmal sich öffnen, dehnen und dann gleichzeitig ein fein austarierter Träger der Schwingungen sein soll.

Diehlgasse, fünfter Wiener Gemeindebezirk
Hier ist die Stadt rau und brüchig. Es ist keine schöne, im ästhetischen Sinne ansprechende Gegend. Und doch ist es ein ungemein reizvoller Teil der Stadt, der in seiner Heterogenität Charme besitzt.

Hier hat ein Bau aus den sechziger Jahren eine weitgehende Entkernung, Umgestaltung und außergewöhnliche Neunutzung erfahren. Die Architekten lichtblau.wagner haben ein Projekt umgesetzt, in dem der Aspekt der Sinne im Vordergrund steht. Ein unspektakulärer, aber bei näherem Blick sehr solide geplanter Gewerbebau diente ursprünglich als Verwaltungs und Produktionsstätte einer Stahlfirma, die hier eine Verzinkerei betrieb. Danach wurden in den Räumlichkeiten Nähmaschinen repariert. Das viergeschossige Haus verfügt über eine geräumige Halle mit Oberlicht, die, hofseitig gelegen, als ehemaliger Produktionsraum diente. Genau dieser Raum sollte zum zentralen Ort der künftigen Nutzer werden und sich zu einem Zentrum der Musik entwickeln. Das Klangforum Wien, ein in den 1980er Jahren gegründetes Orchester mit Schwerpunkt auf Stücken der Moderne, war von der alten Halle auf Anhieb begeistert. Dieser Eindruck führte schließlich zur Entscheidung, einen Großteil des Hauses sowohl als Verwaltungszentrale also auch als Produktionsstätte zu nutzen. Die „Produkte“, die in diesen Räumen erzeugt werden, sind im Unterschied zu den Vornutzern rein immaterieller Natur: Es sind Töne und Klänge. Deshalb war beim Umbau des Hauses die Halle der sensibelste Planungsteil. Die ehemalige Werkstätte sollte zum idealen Probe und Aufnahmeraum für das Klangforum umgewandelt werden und eine optimale Akustik erhalten.

lichtblau.wagner haben mit der Halle aus verschiedenen Gründen eine schwierige Situation vorgefunden. Das tonnenförmige Gewölbe mit Oberlichten besitzt zwar eine hohe ästhetische Qualität und gute Lichtverhältnisse, erwies sich jedoch im Sinne der Raumakustik als mittleres Desaster. Gute akustische Ergebnisse haben vor allem mit Oberflächen und Strukturen zu tun, d.h. ein Gewölbe muss in jedem Falle „gebrochen“ werden. Deshalb wurde die Hallenkonstruktion unsichtbar verändert. Die Bogenträger wurden seitlich verstärkt, die Oberlichten mit neuen Schallschutzfenstern versehen.

Der neue Fußboden ist auf den ersten Blick eher unauffällig. Nichts lässt auf seine wichtige und besondere Funktion schließen. Mit nackten Füßen eröffnet sich ein subtiles sinnliches Erlebnis. Weich, sanft, wie ein schmeichelnder und doch elastischer Untergrund schwingt, kaum merkbar, der gesamte Boden. Über die Fußsohlen läuft eine vibrierende, feine Spannung durch den gesamten Körper. Der Boden ist aus weichem Fichtenholz. Ideal wäre eigentlich Tanne – Rigatanne – gewesen, meint Andreas Lichtblau. Aus diesem Holz werden Geigen gebaut. Es ist die Dichte und Regelmäßigkeit des Holzes, auf die es ankommt. Unter dem neuen Boden befindet sich der alte Asphaltbelag. Über die Wärmedämmung, Fußbodenheizung und das Luftvolumen wurde der Holzschwingboden als einfacher Schiffboden verlegt. Das Luftvolumen in Kombination mit dem Material Holz fungiert als Klangkörper. Die eigentliche Kunst liegt aber in der Fuge. Eine breite umlaufende Fuge hält an allen vier Seiten einen Abstand des Bodens zur Mauer. Diese bedämpften Randbereiche absorbieren die Tiefentöne. Das Holz ist geölt, gewachst und dadurch idealerweise offenporig.

Die Akustik ist ein wiederkehrendes Thema von lichtblau.wagner. Bereits im Sonntagsmessraum des Pfarrzentrums Podersdorf (1999 – 2002), das ebenso wie die Räume für das Klangforum Wien in Zusammenarbeit mit Akustikern entstand, wurden Grenzen ausgelotet. In Podersdorf verabschiedeten sich die Spezialisten bereits in der Planungsphase, weil sie an das Ergebnis nicht glauben konnten. Die Kirche wurde ein voller Erfolg. Obwohl einige Mitglieder der Gemeinde ästhetische Vorbehalte bezüglich des Erscheinungsbildes äußerten, gibt es in einem Punkt vollkommene Einigkeit. Es ist die unvergleichliche Akustik des Raumes. Auf subtile Weise verstärkt sie den Gemeinschaftssinn und lässt mit dem gemeinsamen Gesang ein verbindendes Moment entstehen.

In der Diehlgasse ermöglichte nicht zuletzt die persönliche Beziehung von lichtblau.wagner zum Bauherrn und Besitzer das feine und in vieler Hinsicht sehr bereichernde Nutzungskonzept. Übrigens – im Erdgeschoss wird ein Lokal eröffnen und diesen Teil der Stadt, diesen urbanen Mikrokosmos, um eine weitere sinnliche Nuance verfeinern.

27. Mai 2004 Der Standard

Hommage an Margareten

Die herbe Schönheit zeigt sich erst auf den zweiten Blick. Dass sich hier vor fast zweihundert Jahren ein Zentrum blühender Tuchproduktion befand, kann sich heute wohl kaum mehr jemand vorstellen.

Der Charakter des Bezirks Margareten ist spröde, ja fast karg - dann wieder atmosphärisch und packend. Mit Brachen und bezaubernden Inseln. Wer der Fadesse gutbürgerlicher Wohnbezirke entkommen möchte, ist mit Margareten gut beraten. Wien ist hier auf spezielle Art kosmopolitisch und international.


Wohnbauexperimente

In der multiethnischen Welt von Margareten geschieht eine Menge an außergewöhnlichen Aktivitäten in der Kunst und vor allem der Architektur. Wo anders könnte ein Projekt wie „making it/sprache der straße“ stattfinden, das die Stadtforschung auf ungewöhnliche Weise unterstützt?

Ein neuer Rad- und Fußweg, die Kulturzeile-Wienzeile, ist eine weitere Innovation, ebenso die Umgestaltung der Wiedner Hauptstraße durch ARTEC Architekten. Eine der Wiener Grätzeltouren eröffnet die mikrokosmische Welt dieses Teils der Stadt. Die Tour Margareten der Architekturtage rückt den Wohnbau in den Vordergrund; hier hat sich in den letzten Jahren im Bezirk viel getan.

Am Hundsturm ragt ein Wohnbau (ARTEC) bis fast in den Himmel und macht seinem Namen alle Ehre. Der Fertigteilproduzent Mischek zeichnet als Bauträger auch einige Straßen weiter verantwortlich.


Hängende Gärten

Frei nach Semiramis' mystischer Gartenwelt ist nach der Planung von Rüdiger Lainer, ARTEC, s&s architekten in der Wiedner Hauptstraße, Schusswallgasse und Hollgasse ein neuer Wohnblock entstanden, der auch besichtigt werden kann. Die „Raumgeschichten“ der Architekturtage zeigen in Margareten vor allem die Auseinandersetzung mit dem Kleinen und Großen, dem Einzelnen und dem Kontext, der Architektur und der Metropole.

Das dreidimensionale Artefakt Stadt besteht aus Architekturräumen, Nischen, Atmosphären - aus Orten die wir mögen oder auch nicht. Vertrautheiten ebenso wie Brüchigkeiten gehören dazu. Gehen Sie hin, es zahlt sich aus.

1. November 2002 Neue Zürcher Zeitung

Urbanologen und Datensammler

Neuere Tendenzen im Städtebau

Kaum ein Phänomen greift in seiner Differenziertheit und Komplexität derart über die Grenzen der Disziplinen hinweg und berührt direkt die Lebenszusammenhänge des Individuums wie die Stadt, ihre Entstehung und ihre Planung. Die Versuche, der Urbanität analytisch zu Leibe zu rücken, sind alt. Besonders der sogenannt wissenschaftliche Zugang zur Stadt hat im 20. Jahrhundert die moderne Bewegung stark beschäftigt, vor allem in den Niederlanden. Die empirischen Stadtanalysen, die Cornelis van Eesteren und Van Lohuizen ab den zwanziger und dreissiger Jahren durchführten, gelten als wichtige interdisziplinäre städtebauliche Beiträge und begründeten eine Tradition forschungsorientierter Auseinandersetzung, die sich bis in die Gegenwart auswirkt. So ist die architektonische Debatte in den Niederlanden weniger eng gefasst und weniger objektbezogen, dafür stärker in den Kontext der städtebaulichen Rahmenbedingungen eingebunden als anderswo. Die Faszination liegt dabei in der Synthese von Pragmatismus und Utopie und der daraus entstehenden produktiven Spannung.

Eine wichtige Tendenz der gegenwärtigen Städtebaudebatte nähert sich der Stadt über den forschungsbegleitenden Entwurf. Theorie und Praxis setzen dabei vor allem auf die rationalisierende Erfassung von Daten, auf deren Akkumulation und Verarbeitung. Winy Maas von MVRDV, einer der prominenten Vertreter dieser Richtung, spricht in diesem Zusammenhang von «Datascapes», mit Hilfe deren wichtige, auch verborgene Schwerpunkte städtebaulicher Fragen enthüllt werden sollen. Diese Form der Forschung und des Umgangs mit Daten generiert schliesslich Strukturen, die zur Grundlage computergenerierter Entwurfsmodelle werden.

Der Systemgedanke im Städtebau, wie er hier vorliegt, kennzeichnet eine grundsätzliche Position, die in anderer Form auch im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder auftauchte. Ihm liegt der Anspruch zugrunde, ein heterogenes System bzw. ein komplexes Gefüge ganzheitlich zu erfassen. Dabei erweisen sich die angewendeten Prinzipien allerdings meist als diffus und die beigezogenen Modelle oft als reichlich inkonsistent. Der heute forcierte digitale Umgang mit urbanen Phänomenen, dem in letzter Konsequenz auch der Entwurf überantwortet wird, bietet zwar ein gewisses Potenzial, das vor allem in der Erfassung verschiedener Fakten liegt. Aber der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit von applikablen Systemen hat auch seine Gültigkeitsgrenzen. Diese beginnen genau dort, wo die Materialisierbarkeit und die rationale Erfassbarkeit enden und die Unberechenbarkeit des Phänomens Stadt einsetzt. Hier stellt sich auch die Frage, ob auf dieser abstrakten, vermeintlich wissenschaftlichen Ebene tatsächlich - wie versprochen - Strategien erkannt und Lösungen zur Bewältigung hoch differenzierter urbaner Situationen gefunden werden können. Die Überantwortung von Verantwortung an ein systemisches Prinzip klammert implizit gewisse wichtige Momente der Stadt aus.

Genau diese Unberechenbarkeit und die Bedeutsamkeit immaterieller Ebenen, die ein rational nicht erfassbares Moment im Städtebau darstellen, haben immer wieder andere Wissenschaften formuliert. Der Soziologie und in jüngerer Zeit vor allem den Kulturwissenschaften sind wichtige Beiträge zum Phänomen Urbanität zu verdanken. Die klassische französische Soziologie, vor allem Maurice Halbwachs, stellte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Stadt und ihrer vertrauten Typologien für den Menschen fest. In seinem Werk über «das kollektive Gedächtnis» behandelt Halbwachs die Bedeutung der räumlichen Bilder im kollektiven Gedächtnis und die immateriellen Aspekte der Stadt im Sinne eines «vertrauten Dekors». Der Satz «Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt» beschreibt das dialektische Prinzip des Menschen mit seinem gebauten Umraum und erkennt die Bedeutungsebenen der «lautlosen kulturellen Bestandteile» der Stadt an.

In jüngster Zeit hat der Soziologe Ulrich Beck mit der These der Individualisierung allerdings eine wesentliche gesellschaftliche Veränderung geortet. Deren Auswirkungen im Urbanismus bedeuten, dass die Stadt «nun nicht mehr identisch ist mit der räumlichen Manifestation einer Gemeinschaft, die eine klare - vorzugsweise hierarchische - Struktur besitzt». Diese Ansicht vertritt zumindest der holländische Architekturtheoretiker Bart Lootsma, der sich mit dem wichtigen Thema der Individualisierung und ihren Konsequenzen im städtebaulichen und architektonischen Kontext befasst. Demnach lässt die Gestalt und Struktur der Stadt keine Rückschlüsse mehr auf die «Struktur einer Gesellschaft» zu. Deshalb schlägt er vor, das Wort Stadt durch den Begriff «urbanisiertes Gebiet» zu ersetzen. Ist damit die Bedeutungs- und Identifikationsebene der Stadt und ihrer Bewohner obsolet geworden? Lootsma nennt die Individualisierung ein «implizites, heimliches Movens des architektonischen Diskurses». Dabei bedingen sich Individualisierung und Globalisierung wechselseitig. Für die Stadt bedeute diese Entwicklung die Auflösung traditioneller urbaner Typologien und das Ende der wechselwirksamen Beziehung der physischen Stadtgestalt und gesellschaftlichen Struktur.

Bedauerlicherweise wird Städtebau noch immer vielerorts allzu eng gesehen. Wenige Ausbildungsstätten entsprechen in ihrem Lehrangebot der heterogensten aller «wissenschaftlichen» und planerischen Disziplinen. Ein grosses Desideratum der Stadtforschung wäre ein stärkerer Zusammenschluss verschiedener Wissenschaftszweige. Die Zukunft liegt hier ganz klar in interdisziplinären Arbeitsgemeinschaften, denn noch immer driften die Disziplinen auseinander. Dabei wären synergetische Ansätze mehr denn je gefragt. Das sensible, komplexe Thema Stadt verlangt nach ebensolchen vielfältigen Auseinandersetzungen. Denn dieses «dreidimensionale Artefakt», wie André Corboz das Phänomen Stadt genannt hat, birgt viel. «Cities have emotions», hat Raoul Bunschoten geschrieben. Städtebauliche Forschung speist sich im Idealfall aus interdisziplinärem Denken und pragmatischem Handeln, Mut zur Utopie - und Poetik.

9. August 2002 Neue Zürcher Zeitung

Trouvaillen in Tirol

Ein Führer zur neuen Architektur

Bis vor wenigen Jahren stand Tirol noch im architektonischen Schatten seines westlichen Nachbarn Vorarlberg. Doch nun liegt ein Architekturführer vor, ein gelungener, sorgfältig recherchierter und gestalteter Band, der über 260 Projekte dokumentiert und aufbereitet sowie auf rund 240 weitere Bauten verweist. «Bauen in Tirol seit 1980» konzentriert sich dabei vorwiegend auf die mittlere und jüngere Generation von Architekten und bestätigt eine Tatsache, die längst kein Geheimnis mehr ist: Tirol ist mittlerweile eine architektonisch äusserst interessante und anspruchsvolle Gegend. Dafür verantwortlich ist eine Architekturszene, die vorhandene Bezüge kultiviert und weiterentwickelt hat. Von einer regionalen architektonischen Identität kann aber trotzdem nicht gesprochen werden. Charakteristisch für die Architekturlandschaft im westlichsten Teil Österreichs ist vielmehr deren Vielfalt. Die heterogenen Positionen bewegen sich dabei auf hohem Niveau, das durch die Innsbrucker Bauten von Zaha Hadid, Ben van Berkel, Dominique Perrault und Riegler Riewe noch gestützt wird.

Für das seit einigen Jahren immer stärker in Erscheinung tretende neue architektonische Bewusstsein gibt es mehrere Gründe. So hat sich - unterstützt durch die Aktivitäten des Architekturforums Tirol - ein fruchtbares Spannungsfeld von Regionalismus und Internationalität entwickelt, in dem die Akzeptanz moderner Baukunst gerade auch bei den Auftraggebern gewachsen ist. Erwähnt seien etwa die Aufträge der Supermarktkette M-Preis, die ihre Neubauten von Tiroler Architekten wie Wolfgang Pöschl, Rainer Köberl, Helmut Reitter, aber auch von Dominique Perrault errichten liess.


[Bauen in Tirol seit 1980. Hrsg. Architekturforum Tirol. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2002. S. 336, Fr. 44.50.]

15. März 2002 zuschnitt

La leggerezza del benessere

Als räumliche und delikate Ergänzung des bereits bestehenden italienischen Esslokals »solo pasta« wurde letztes Jahr das »solo vino« in Innsbruck eröffnet. Zwei Zugänge verbinden die beiden gastlichen Lokale. Der lange schmale Raum des »solo vino« ist mit Regalwänden umgeben, die das große Weinsortiment zur Geltung bringen. Boden, Tische und Regale sind aus dem unbehandelten Holz der Kupfereiche gefertigt. Der Faktor Zeit wird die rohen Oberflächen bald mit einer Patina überziehen. Einzig an der Decke wurden MDF Platten verwendet. Die Stühle sind nach dem Entwurf (1926) des Schweizer Architekten Max E. Häfeli ausgeführt.

Innsbruck hat ein außergewöhnliches Lokal erhalten. Kürzlich hat hier eine Ergänzung des ein Jahr jungen italienischen Esslokals solo pasta eröffnet. Die Genese des neuen, anliegenden solo vino vollzog sich sozusagen unter den allerbesten Voraussetzungen. Ein gereifter architekturkonvertierter Bauherr, dessen erstes Lokal von sofortigem und anhaltendem Erfolg gekrönt war, sowie die kongeniale Zusammenarbeit mit einem Architektenteam mit ausgeprägten italophilen Affinitäten haben ein gastronomisch-architektonisches Gesamtkunstwerk entstehen lassen. Lag dem älteren solo pasta noch manch gastronomisch bedingter Vernunftgedanke zugrunde, entstand das danebenliegende kleine Weinlokal mit viel Lust und Freude. Das ist mehr als spürbar.

Die Architekten Thomas Giner und Erich Wucherer reüssierten bereits beim Speiselokal - einem schmalen durch die ganze Gebäudetiefe laufenden Raum mit zwei gegenüber liegenden Eingängen. Der Schankbereich liegt in der Mitte, er bildet das Gelenk für beide Lokalräume. Das solo vino verfügt zwar über einen eigenen Eingang, ist jedoch mit dem Esslokal über zwei Zugänge räumlich verbunden.

Auch im solo vino fand das graubraune, schlammfarbige Holz der seltenen Kupfereiche Verwendung, es bestimmt die Atmosphäre in hohem Ausmaß. Der schmale Raum ist mit Regalwänden förmlich ausgekleidet. Hier lagert die Essenz des Lokals, Weine aus sämtlichen Regionen Italiens, deren Angebot studiert und im Sortiments- und Preisvergleich auf kleinen Täfelchen selbst ausgesucht werden kann. Ebenfalls aus unbehandeltem Holz sind die langen Tische und der Boden. Die rohe, unbehandelte, edel-asketische Kupfereiche erweckt gleichzeitig die Empfindung von Dichte und Leichtigkeit, von Masse und Zurückhaltung. Dem unbehandelten Holz werden die Jahrewie vielen Weinen im solo vino- ausgezeichnet bekommen. Die Patina wird es noch verschönern. Als Kontrast wurde die Decke aus dem industriellen Produkt MDF gefertigt. Für die Holzarbeiten verantwortlich zeichnet der Innsbrucker Tischler Gerhard Höckner. Die Stühle sind Entwürfe aus 1926 von Max E. Häfeli, einem Schweizer Architekten der Klassischen Moderne. Das Licht, darunter Pendelleuchten aus gerostetem Stahl, wurde speziell für dieses Lokal in Zusammenarbeit mit Halotech entwickelt.

Der unprätentiöse Umgang mit dem Raum und das feine Gespür für Form und Material verbindet sich hier mit viel passione, eben jener ganz einfachen und gleichzeitig so schwer beschreibbaren irdischen Sinnlichkeit. Diese gelungene Symbiose ist dem solo vino ebenso eigen wie dem solo pasta. Hier trifft in Abwandlung zu: Auf alles ist Bedacht genommen und die Selbstverständlichkeit wirkt befreiend.

16. Februar 2002 Neue Zürcher Zeitung

Die neue Stadt

Ausstellung über neue urbanistische Tendenzen in Wien

Die Befindlichkeit des Individuums, der Raum, die Medien und veränderte urbane Strukturen bilden nur eine schmale Auswahl des schier unerschöpflichen Themas Stadt. Immer wieder neue Fragestellungen befassen sich mit der Vielschichtigkeit dieser Thematik. In den letzten Jahren war vor allem Rem Koolhaas' «Harvard Project» Vorzeigemodell einer transdisziplinären, progressiven, aber auch teilweise umstrittenen urbanistischen Forschung.

Als experimentelles, analytisches Treibhaus in Sachen Städtebauforschung kann das holländische Berlage-Institut gelten. Unter der Leitung von Bart Lootsma, Winy Maas, dem Soziologen Ulrich Beck und anderen sind in mehreren, von «Thesisgruppen» betreuten Forschungsprojekten neue Überlegungen und Analysen zum Thema Stadt entstanden. Zurzeit sind die durchaus interessanten Ergebnisse in einer Ausstellung im Heiligenkreuzerhof in Wien zu sehen. Die Methodik der urbanen Forschung erfährt in der Ausstellung «Urban Research: The Individual and Density» eine Neudefinition. So befasst sich der österreichische Architekt Peter Trummer mit dem Zusammenhang von Medien, Mobilität und urbanen Strukturen, die er am Beispiel des australischen Hinterlandes untersucht. Das Thema der vertikalen Stadt greift das Projekt der Gruppe um Winy Maas auf. In «3 D City» werden Stadtfunktionen erforscht - bis hin zum etwas ungewöhnlichen Vorschlag, Schweine in Zukunft in Hochhäusern zu halten (NZZ 24. 4. 01).

Die Gruppe um Bart Lootsma widmet sich dem Thema der Individualisierung, die sie als zentralen Faktor in Architektur, Urbanismus und Stadtplanung ortet. Das Phänomen der Individualisierung zählt, laut Ulrich Beck, neben jenem der Globalisierung und mit diesem in Wechselwirkung verbunden, zu «den bedeutsamsten Veränderungen, die während der letzten Jahrzehnte in den Gesellschaften der westlichen Welt vonstatten gegangen sind - eine Veränderung, die sich in absehbarer Zukunft noch deutlicher herauskristallisieren dürfte» (Lootsma). Dass bei den Forschungsprojekten nicht die Frage einer praxisbezogenen Anwendbarkeit im Vordergrund stand, sondern Analysen und Überlegungen, Gedanken und Experimente, lässt die Ergebnisse zu visuellen Inspirationen werden. Die unkonventionellen Ansätze und Zugänge sind vielleicht die ersten Antworten auf Problemstellungen, die mit alten, möglicherweise verjährten Forschungsmethoden nicht mehr bewältigbar sind. Einen vergleichenden und stark divergierenden Querschnitt neuer Forschungstendenzen im Städtebau bot ein begleitendes Symposium im Architekturzentrum Wien mit Vorträgen von Sanford Kwinter, Marcel Meili, Winy Maas, Bart Lootsma und Stefano de Boeri.

21. Oktober 2000 Neue Zürcher Zeitung

Wie werden wir wohnen?

„Future Vision Housing“ in Linz

Die Haltung der Moderne zum Urbanismus und zum Wohnen war von einem programmatischen «Funktionsreduktionismus» geprägt. Das diesjährige Thema der 1998 von Herbert Lachmayr, dem Kurator der Linzer Ausstellung Work & Culture, initiierten Wettbewerbsreihe «Future Vision Housing» versucht nun gerade in umgekehrter Richtung - also vom Funktionsansatz ausgehend - möglichst breite und unkonventionelle Lösungskonzepte aufzuzeigen. Eine lose thematische Vorgabe bildete dabei «die Wohnung für das Existenzminimum», die schon 1929 von den CIAM diskutiert wurde. Heute, in einer sich durch technologische Entwicklung und Globalisierung rapide verändernden Welt, stellt sich die Frage nach dem zukünftigen Wohnen erneut mit Vehemenz. Die Aufgaben und Ansprüche an die Architektur sind durch die rasante Entwicklung einem Veränderungsprozess ausgesetzt. Der Ausgangspunkt des vom Architekturforum Oberösterreich und dem Art & Tek Institute, einem Forschungsinstitut der Universität für Gestaltung in Linz, weltweit für Architekten unter 35 Jahren ausgeschriebenen Ideenwettbewerbs war ein «erweiterter Architekturbegriff», der neue Strategien und Konzepte zum Thema fördern soll. Aus den 360 eingereichten Arbeiten, deren Grenzen zwischen Realität und Utopie durchaus fliessend waren, wählte eine Jury die Preisträger aus. Der erste Preis ging an das österreichische Team Esslbauer, Horner, Tarcsay und Hinterreitner. Die Projekte sind im OK Centrum für Gegenwartskunst in Linz zu sehen.


[Bis 29. Oktober im OK Centrum für Gegenwartskunst Linz.]

18. September 2000 Neue Zürcher Zeitung

Gebaute Museumsreform

Eine Ausstellung in Wien

Der erste Museumsbau an der Wiener Ringstrasse wurde zu einem Vorbild für nachfolgende Kunstgewerbemuseen in Europa. Zwischen 1868 und 1871 errichtete Heinrich von Ferstl zusammen mit Rudolf von Eitelberger das k. k. Museum für Kunst und Industrie. Nach dessen provisorischer Unterbringung in der Hofburg war der anfängliche Plan einer Verbindung des Kunstgewerbemuseums mit den Hofmuseen an prominenter Lage gescheitert. Das Haus entstand am Stubentor, einem ehemaligen Exerzierplatz und zukünftigen Stadterweiterungsgebiet.

Beim verwirklichten Plan handelte es sich um Ferstls zweiten Entwurf. Das Museum stand von Anbeginn an unter zweckorientierter Prämisse. Die Produkte angewandter Kunst wurden nicht nur ausgestellt, sondern mit deren Herstellung und Gebrauch in Verbindung gebracht. Die Dreieinigkeit von Kunst, Wissenschaft und Industrie bestimmte - ganz im Sinne der Semper'schen Reformen - das Wiener Kunstgewerbemuseum. Die Architektur trug dem neuen künstlerischen Utilitarismus Rechnung. Ferstl kombinierte Renaissance-Elemente mit einer Glas-Eisen-Konstruktion. Die angrenzende Kunstgewerbeschule, ebenfalls von Ferstl ausgeführt, stellte die Pädagogik als Teil der Museumsreform des 19. Jahrhunderts ins Zentrum und spiegelte den Wiener Kulturliberalismus der zweiten Jahrhunderthälfte.

Die von Rainald Franz betreute, sorgfältig gestaltete Schau im Wiener Museum für angewandte Kunst (MAK) dokumentiert die Baugeschichte des Wiener Kunstgewerbemuseums. Allerdings wäre für diesen im Kontext der Museumsarchitektur so wichtigen Bau ein grösserer Ausstellungsrahmen wünschenswert gewesen: So hätte das MAK seiner eigenen architektonisch-konzeptuellen historischen Vorreiterrolle mehr Bedeutung beimessen können.


[Die Ausstellung im MAK dauert bis zum 29. Oktober. ]

10. August 2000 Neue Zürcher Zeitung

Vom Kunstgewerbe zur Baukunst

Der Architekt Oswald Haerdtl in einer Wiener Ausstellung

Seit seiner Teilnahme an der Wiener Werkbundsiedlung und dem Bau des Pariser Weltausstellungspavillons zählte Oswald Haerdtl (1899-1959) zu Österreichs Architektenprominenz. Nach dem Krieg feierte man die raffinierte Innenraumgestaltung seiner Bauten. Eine Ausstellung im Wiener Ringturm widmet sich nun dem lange Zeit fast vergessenen Architekten und Designer.

Wien im Jahr 1950: Am Kohlmarkt, an prominenter Adresse, eröffnet das «Arabia-Espresso», das sofort zum Stadtgespräch wird: Mit seiner Umgestaltung des Erdgeschosses eines Gründerzeithauses in ein Café leitete der Architekt Oswald Haerdtl (1899-1959) eine Zäsur in der Geschichte des österreichischen Kaffeehauses ein: Italienische Eleganz, Flair und eine neue Form- und Farbenwelt belebten seither das graue Nachkriegs-Wien, denn Haerdtl zeichnete für die gesamte Ausstattung bis hin zu den Speisekarten, zum Geschirr und zur Kleidung des Personals verantwortlich.

1899 in Wien geboren, besuchte Haerdtl die Graphische Lehranstalt und absolvierte eine Tischlerlehre. Seit 1916 studierte er bei Kolo Moser an der Wiener Kunstgewerbeschule Malerei und schliesslich Architektur bei Oskar Strnad. Gleichzeitig hörte er Vorlesungen bei Josef Frank, mit dem er bald freundschaftlich verbunden war. Die Lehrzeit bei Strnad und Frank, den für ihre gestalterische Freiheit bekannten «Humanisten» der Wiener Moderne, bildete Haerdtls künstlerische Grundlage. Architektur und Formgebung wurden anhand der jeweiligen Aufgabenstellung definiert. Strnads Credo der Individualisierung und Josef Hoffmanns ästhetizistischer «Gestaltungswille» fielen bei Haerdtl auf fruchtbaren Boden. Der junge Architekt entwickelte seine Sprache aus dieser Verschiedenheit der Einflüsse, die er mit einer ihm eigenen Leichtigkeit annahm und umsetzte: Weder ein Theoriegerüst noch ein orthodoxes Moderneprogramm leiteten sein Schaffen.

Mit der Teilnahme an der Wiener Werkbundsiedlung unter der Leitung von Josef Frank positionierte sich Haerdtl 1932 innerhalb der österreichischen Architektenprominenz. In den Jahren 1935 und 1937 gestaltete er in Brüssel und Paris die Ausstellungspavillons der österreichischen Republik. In Paris präsentierte er ein Gebäude mit einem effektvollen, schaufensterartigen Kopfbau, in dem eine riesige Fotomontage von drei Alpenstrassen das Publikum beeindruckte. Der in mehrere Bereiche gegliederte Pavillon beherbergte - auf Haerdtls Vorschlag - auch eine «Kaffee-Konditorei», die «in amüsanter Art das Ausstellungsgut hochqualifizierten österreichischen Kunstgewerbes aufnehmen» sollte. Mit der Dramaturgie des Pariser Pavillons begründete Haerdtl wohl auch das auf Weltausstellungen inzwischen fragwürdig gewordene Image von Österreich als heiterem Land der Berge. Seine Inszenierungskünste waren unübertroffen. Mehrfach wurde Haerdtl denn auch für seinen äusserst medienwirksamen Bau ausgezeichnet.

Haerdtls Schaffen fusste tief in der handwerklichen Kultur. Mit Josef Hoffmann verband ihn ab etwa 1930 eine Büro- und Arbeitsgemeinschaft. Dabei wahrte er stets Distanz zum L'art pour l'art der Wiener Werkstätte. Mit Leichtigkeit schlug er Brücken vom Kunstgewerbe der Jahrhundertwende zum Industriedesign. Er selbst verkörperte das Neue und gab sich kühl, dynamisch und motorbegeistert. Haerdtls enge Beziehungen zu Italien hatten nicht zuletzt biographische Gründe, arbeitete doch seine Frau Carmela unter anderem als Kostümbildnerin an der Scala. In Mailand holte er sich Anregungen für seine Entwürfe. Doch es war auch umgekehrt: Gio Ponti, der mit ihm und seiner Frau befreundet war, hatte bereits in den dreissiger Jahren seine Begeisterung über die Innenausstattungen von Frank, Strnad und Haerdtl ausgedrückt.

Die Kriegsjahre verbrachte Haerdtl in Wien, wo er bereits seit 1935 an der Kunstgewerbeschule als Nachfolger Strnads eine Professur innehatte. Ab 1938 leitete er die Fachklasse für gewerblichen und industriellen Entwurf, die er später in «industrielle Formgebung» umbenannte. Zu den Nationalsozialisten verhielt sich Haerdtl indifferent bis ablehnend. Er zählt zu den wenigen österreichischen Architekten, die auch in dieser dunklen Zeit kontinuierlich modern arbeiteten. Nach dem Krieg kam Bauten wie dem Messepavillon Felten & Guilleaume eine wichtige Vorbildfunktion zu. Während sich die Architektur des Werkbundmitglieds und CIAM-Vertreters formal sachlich orientierte, spiegelte die raffinierte Innenraumgestaltung seiner Bauten den Geist der fünfziger Jahre. Sein Schaffen brachte mit der Vereinigung von Kunstgewerbe und Design konträre Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts zur gesamtkünstlerischen Symbiose: Noch immer besitzen seine Ringstrassencafés - etwa das Café Prückel - Gültigkeit; und der ehemalige Milchpavillon Volksgarten ist heute wieder Treffpunkt der jungen Wiener Szene.

Des nahezu vergessenen Architekten und Designers nimmt sich nun eine Ausstellung im Wiener Ringturm an. Die von Adolph Stiller gestaltete Schau und die Begleitpublikation, die das erste umfassende Verzeichnis von Haerdtls Werk enthält, erfüllen ein Desiderat der österreichischen Architekturgeschichtsschreibung. Die lückenhafte Historiographie der Wiener Moderne hat damit einen wichtigen Beitrag erhalten. Die Schau präsentiert erstmals Bestände aus dem im Besitz des Architektur-Zentrums Wien befindlichen Nachlass. Zusätzlich zur Präsentation der Hauptprojekte bietet eine Bilddatenbank eine Vielzahl weitere Dokumente.


( Die Ausstellung im Wiener Ringturm dauert bis zum 1. September. Katalog: Oswald Haerdtl. Architekt und Designer. 1899-1959. Hrsg. Adolph Stiller. Verlag Anton Pustet, Salzburg 2000. 285 S., Fr. 81.- (S 620.- in der Ausstellung). ]

17. Januar 2000 Neue Zürcher Zeitung

Endlose Utopien

Das ungebaute Wien - Projekte aus zwei Jahrhunderten

Eine Ausstellung im Historischen Museum der Stadt Wien präsentiert nicht realisierte Projekte des 19. und 20. Jahrhunderts für Österreichs Hauptstadt. Trotz einer Fülle von Exponaten, die vom frühen Stadterweiterungsprojekt über Entwürfe für das Kaiserforum und verschiedene Museen bis hin zur Uno-City reichen, ist das Ergebnis inhaltlich nicht wirklich überzeugend.

Die Donaumetropole sähe ganz anders aus, wären alle städtebaulichen Projekte realisiert worden. Diese Erkenntnis ist auf viele Orte übertragbar, denn schubladisierte Entwürfe gab es in jeder grösseren Stadt und zu allen Zeiten. Ungebaute Konzepte für die österreichische Hauptstadt aus der Zeit von 1800 bis heute werden nun im Historischen Museum der Stadt Wien vorgestellt. Mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bahnte sich in der Hauptstadt des Kaiserreichs ein grosser Strukturwandel an. Der Vormärz brachte den Übergang von der Manufaktur zur Fabrik. Mit diesen Veränderungen zerbrach das ständisch geordnete Sozialsystem, an dessen Stelle die aufkeimende Industriegesellschaft trat. Die Umwälzungen der industriellen Revolution waren grundlegend und betrafen nahezu alle Bereiche. «Ausbruch aus dem Mittelalter» nennt daher die Schau jenen frühen Zeitabschnitt, in dem in Wien Grundlagen für die späteren städtischen Erweiterungsprojekte gelegt wurden.


Ringstrasse und Rotes Wien

Den offiziellen Beginn der städtebaulichen Planungen markierte 1857 das Handschreiben Kaiser Franz Josefs I., das die «Erweiterung der innern Stadt» sowie die «Verbindung derselben mit den Vorstädten» mit Bedacht auf «die Regulierung und Verschönerung» der Residenz anordnete. Diese Phase bezeichnet die Ausstellung wortspielerisch als «Ringen um die ideale Ringstrasse» und präsentiert unter anderem eine Auswahl der 85 im Rahmen einer internationalen Konkurrenz eingereichten Projekte. Die aufkeimende Städtebaudiskussion als Folge der veränderten Anforderungen an die Stadt findet hingegen kaum Erwähnung.

Die Wiener Prachtstrasse wurde schliesslich, wie Schorske schreibt, zum «Amboss für zwei Vorkämpfer des modernen Städtebaus, Camillo Sitte und Otto Wagner». Während Wagners Stadtplanung mit ihrer funktionalen Orientierung an Verkehr, Technik und Transport das «Verhüllen» hinter der Geschichte kritisierte, befasste sich Sitte vor allem mit Fragen von Raum und Wahrnehmung. Sittes «Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen» zählte zu den erfolgreichsten urbanistischen Publikationen jener Zeit. Um so bedauerlicher ist es, dass der Wiener Städtebautheoretiker, der sich für Kontinuität, Kontext und Organizität einsetzte, in der Schau über eine Erwähnung nicht hinauskommt.

Die Zeit um die Jahrhundertwende und das frühe 20. Jahrhundert werden unter einem sehr vereinfachenden Blickwinkel dargestellt. Gerade im städtebaulichen Zusammenhang erscheint das immer wieder beschworene Bild von Modernisten contra Traditionalisten als eher fragwürdig. Die weiteren Abschnitte der Schau berühren im Eiltempo Aspekte der ungebauten Stadt des 20. Jahrhunderts. Auf Wagners «unbegrenzte Grossstadt» folgen Projekte des Roten Wien, zusammengefasst unter dem Thema «modernisierte Traditionalität». Von den Plänen des Ständestaats und Hitlers für die Donaumetropole über die Ideen der Nachkriegszeit bis hin zu Hans Holleins Guggenheim-Projekt von 1994 reichen die vorgestellten Entwürfe. Doch die Kommentare dazu sind grossteils knapp, ja beschränken sich auf die Grundinformationen.


Verpasste Selbstbeschränkung

Die Gliederung der Ausstellung in 13 Zeitabschnitte erweist sich als problematisch. Kurze einleitende Textinformationen zu den einzelnen Kapiteln bilden die einzige Verbindungsklammer der umfangreichen Schau mit ihren oft anspruchsvollen Exponaten. Das Motto des Was-wäre- Wenn zieht sich als kraftloser Argumentationsstrang durch die Schau. Im kompilatorischen Kontext geht manch ungewöhnliches und interessantes Projekt nahezu unter. So etwa Adolf Loos' Plan für Wien aus dem Jahre 1909 oder die architektonische Auseinandersetzung mit dem Hochhaus als Thema der klassischen Moderne.

Ganz allgemein wäre weniger mehr gewesen. Die Beschränkung auf einen kürzeren Zeitabschnitt hätte die Möglichkeit geboten, auf kritische Positionen und auf das Thema Metropole vor dem Hintergrund der jeweiligen Epoche einzugehen. Die Vorstellung der Kuratoren, die ungebauten Projekte würden insbesondere «den zur Zeit ihrer Entstehung präsenten Diskurs städtebaulicher und architektonischer Probleme reflektieren», könnte einen Kern des Themas treffen. Ihn wirklich zu berühren ist aber der Wiener Ausstellung nicht gelungen. Immerhin wird die Ausstellung aber von einem umfangreichen Katalog begleitet, der die einzelnen Projekte zusammenfassend dokumentiert.


[ Bis zum 20. Februar im Historischen Museum der Stadt Wien. - Katalog: Das ungebaute Wien. 1800 bis 2000. Projekte für die Metropole. Hrsg. Historisches Museum der Stadt Wien, Wien 1999. 526 S., S 420.-. ]

7. Januar 2000 Neue Zürcher Zeitung

Mehr als nur Kisten

Eine Architekturausstellung in Dornbirn

Als Architekturlandschaft nimmt Vorarlberg seit geraumer Zeit eine Spitzenposition unter Österreichs Bundesländern ein. Seit November 1999 besitzt nun auch Vorarlberg - wie alle anderen Bundesländer - ein Architekturinstitut. Diese Institution mit Sitz in Dornbirn will die theoretische Auseinandersetzung im Architektur- und Planungsbereich «forschend, vermittelnd und fördernd» unterstützen. - Die Eröffnungsausstellung des Vorarlberger Architekturinstituts befasst sich, wie könnte es anders sein, mit Architektur in Vorarlberg. Die «Momentaufnahme der Baukultur» findet dabei in Form einer inszenierten, symbolisch-metaphorischen Aufbereitung statt. Sie bündelt verschiedenste Bedeutungsebenen und strebt nach einer kritischen, manchmal fast ironisierenden Präsentation von Phänomenen.

Zur Diskussion gestellt wird damit indirekt auch die Gültigkeit der Position, die Vorarlberg in den siebziger und achtziger Jahren mit einer neuen soziokulturellen, kulturpolitischen und ästhetischen Standortbestimmung zum Thema Baukunst erreichte. Architektur in Vorarlberg ist seitdem gleichgesetzt mit aussergewöhnlichen Verbindungen von Tradition und Innovation, Reflexion und Pragmatismus. Bewusster Umgang mit den Ressourcen zeichnet die Architektur ebenso aus wie formalästhetisches Niveau. Dass die rege Bautätigkeit, die ausgeprägte Neigung der Vorarlberger zum Einfamilienhaus und die Konzentration auf Ressourcenmanagement aber auch ihre Schattenseiten haben, versucht die Schau zu vermitteln. So werden etwa die Probleme der Zersiedelung und der hier besonders ausgeprägten Einfamilienhauskultur, aber auch die Sackgassen der «Kistenarchitektur» sowie ein auf ökonomische Fakten ausgerichteter Pragmatismus kritisch thematisiert.


[ Die Ausstellung «Über das Glück, in Vorarlberg zu wohnen. Momentaufnahme einer Baukultur» im Vorarlberger Architekturinstitut in Dornbirn dauert bis zum 30. Januar und wird von einem Katalogheft begleitet. ]

14. August 1999 Neue Zürcher Zeitung

Prachtbauten für die Donaumetropole

Der Architekt Carl König im Jüdischen Museum Wien

«Er war der Besten einer», urteilte Max Fabiani 1915 über seinen ehemaligen Lehrer. Tatsächlich zählte Carl König (1841-1915) zu den grossen späthistoristischen Architekten Wiens. Seine Bauten prägten das Gesicht der Donaumetropole. Fünf Jahrzehnte lehrte König am Wiener Polytechnikum, der «Ersten Schule der Monarchie». Zu seinen Schülern zählten spätere Protagonisten der internationalen Moderne wie Josef Frank, Oskar Strnad, Clemens Holzmeister, Rudolph Schindler, Richard Neutra und Friedrich Kiesler.

Die zeitgenössische Literatur nannte König noch in der Reihe der grossen Ringstrassenarchitekten. Mit seinen Bauten, fast alle zwischen 1882 und 1909 entstanden, galt König als «Wiederbeleber» und Protagonist des speziellen Wiener Barocks. Königs Auftraggeber entstammten vielfach, wie er selbst, dem vermögenden, assimilierten Judentum. Die Prachtbauten, von denen er etliche in der Metropole Wien baute, repräsentierten den Wohlstand einer Schicht, die an kulturelle und gesellschaftliche Codes des Adels anzuschliessen trachtete. Königs neobarocke Wohnpaläste wurden denn auch zum Vorbild für Miethäuser der Jahrhundertwende in Europa.

Nach dem Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien begann Königs fünfzigjährige Lehrtätigkeit am Wiener Polytechnikum, zuerst als Assistent Heinrich Ferstels, einige Jahre später als Professor, Dekan und schliesslich Rektor. Mit der Person Königs als Lehrer war eine eigenartige und faszinierende Widersprüchlichkeit verbunden. Als Bewahrer der «alten Grundlagen der Architektur» war er strikt und huldigte dem Glauben an die Geschichtlichkeit, im Gegensatz zu der frühen Bewegung der Moderne, die einem betonten Individualismus Platz einzuräumen begann. Seine Schüler jedoch waren von König fasziniert. Frank, Strnad, Oskar Sobotka und andere betonten später immer wieder die Bedeutung der von König vermittelten klassischen Grundlagen für ihre Suche nach einer eigenen Sprache.

Dass Carl König und sein architektonisches Erbe fast vollständig dem Vergessen anheimfielen, hat wohl mehrere Gründe. Zum einen galt König als Antipode Otto Wagners und damit als Vertreter einer konservativen Richtung in der Architektur. Damit war die historiographische Position Königs besiegelt. Auch besann sich ein Teil der Moderne - auf Selbstgründung eingeschworen - nicht mehr auf jene Herkunft, die noch dem Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts verhaftet war. Das Jüdische Museum Wien zeigt nun erstmals eine umfassende Werkdokumentation des historistischen Architekten. Begleitet wird die Ausstellung von einer monographischen Studie zu Carl Königs Leben und Werk, die einen wichtigen Beitrag zu einer differenzierteren Betrachtung der Entwicklung der österreichischen Moderne bildet.

Publikationen

2005

Bauen allein ist nicht genug
Gärtner - Neururer

Landschaft ist keine Gegebenheit der Natur, Region ein kulturelles und politisches Phänomen. Obwohl sich der alte Gegensatz von Stadt und Land zunehmend auflöst, findet Bauen abseits der Städte immer noch unter besonderen Rahmenbedingungen statt. Vor allem hier ist jedoch Architektur als integraler Bestandteil
Hrsg: Christoph Gärtner, Dietmar Neururer
Autor: Gabriele Reiterer, Brigitte Kepplinger
Verlag: Verlag Anton Pustet

2003

AugenSinn
Zu Raum und Wahrnehmung in Camillo Sittes Städtebau

Camillo Sittes 1889 erschienenes Buch Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen „wirkte wie eine Initialladung auf eine vorbereitete Mine; der Erfolg war ein ungeheurer – überall wurde das Thema aufgegriffen“, schreibt der Otto Wagner-Schüler Leopold Bauer 1923. Diese Würdigung ist insofern
Autor: Gabriele Reiterer
Verlag: Verlag Anton Pustet