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Vom Wachsen und Schrumpfen der Städte
Neue Zürcher Zeitung

Nachdenken über Zentrum und Peripherie - die Raumentwicklung steht vor neuen Herausforderungen

Während in Deutschland über schrumpfende Städte diskutiert wird, boomen hierzulande die Zentren. Das ETH-Studio Basel machte nun aber alpine Regionen aus, die sich immer schneller entvölkern. Obwohl die Schweiz mit Subventionen schon gegen das Schrumpfen kämpfte, als dieses für die Feuilletons noch kein Thema war, wird das kreative Nachdenken über das Verhältnis von Zentrum und Peripherie immer dringender.

Seit einigen Jahren geht in Europa ein Gespenst um, und hinter vorgehaltener Hand flüstert man sich zu, es auch schon in der Schweiz gesichtet zu haben. Es handelt sich um das Gespenst des Schrumpfens. Dieses ist nicht immer leicht zu erkennen, da es viele Verkleidungen trägt: In Ostdeutschland beispielsweise schwebt es über den seit der Wiedervereinigung dramatisch entleerten Städten, in den alten Industriegebieten Frankreichs oder Englands taucht es in Form der strukturellen Arbeitslosigkeit auf. Nicht nur die Masken wechseln häufig, auch die Geschwindigkeit seines Auftauchens variiert. Manchmal rast es - wie in den neuen deutschen Bundesländern - wie ein Wirbelwind über die offene Landschaft, dann wieder bewegt es sich kaum wahrnehmbar, tut aber doch unablässig seine Arbeit.

Urbanes Rollenverständnis

In der Schweiz haben in den letzten Jahren verschiedene Beobachter seine Schatten und Spuren ausgemacht und daraus Empfehlungen abgeleitet. So diagnostizierte das ETH-Studio Basel vor kurzem alpine Brachen und meinte damit grosse Gebiete vornehmlich im Alpenraum, deren wirtschaftlicher und kultureller Fortbestand akut in Frage gestellt sei. Avenir Suisse sorgt sich um die sinkende Wettbewerbsfähigkeit des Werk- und Denkplatzes Schweiz und macht dafür vor allem die übermässige staatliche Regulierung verantwortlich. Gleichzeitig hat der Think-Tank eine Föderalismusdebatte lanciert, die an Grundwerten der schweizerischen Demokratie rüttelt. Auf politischem Parkett läuft momentan gerade eine Debatte um die Rolle der Agglomerationen an, in welchen die Mehrheit der Bevölkerung lebt. Im Zentrum stehen dabei die Etablierung eines neuen Rollenverständnisses für Städte und Agglomerationen und die bessere Berücksichtigung ihrer Anliegen in der Bundespolitik.

All diesen Initiativen ist gemeinsam, dass sie Veränderungen ansprechen, die tief in das Selbstverständnis der Schweiz, ihre politische Organisation und räumliche Entwicklung eingreifen. Dabei geraten auch die in der Verfassung verankerten Ziele der dezentralen Besiedlung und des wirtschaftlichen Ausgleichs ins Visier. Ein Blick über die Grenzen liefert einige Hinweise, wie die Entwicklung ohne diese Ziele hätte verlaufen können. Während in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten die Bevölkerung in den peripheren Gebieten insgesamt gehalten werden konnte, haben sich im französischen Zentralmassiv oder in den italienischen Alpentälern im gleichen Zeitraum ganze Landstriche entleert. Diese Transformationen waren weitgehend wirtschaftlich bedingt. Stehen nun der Schweiz ähnliche Entwicklungen bevor?

Dynamik heisst Veränderung

Wachstum verändert Räume, es sucht sich neue Brennpunkte im Raum, gibt alte, lange etablierte auf. Wesentliche Einsichten in die Mechanik wirtschaftlicher Prozesse verdanken wir Joseph Schumpeter, der diese schon Anfang des letzten Jahrhunderts sehr gut beschrieben hat, ohne sich allerdings mit deren räumlichen Ausprägungen zu beschäftigen. Nach Schumpeter kommt dem innovativen Unternehmer bei der Initiierung wirtschaftlichen Wachstums eine zentrale Rolle zu. Seine technischen und prozessualen Innovationen, seine neuen Produkte stimulieren die wirtschaftliche Entwicklung und bewirken strukturelle und räumliche Veränderungen. Auch die Schweiz hat verschiedentlich ihre Erfahrungen mit den wandernden Brennpunkten des wirtschaftlichen Wachstums gemacht. Denken wir beispielsweise an das Schicksal der Textilindustrie, die in vielen Gebieten eine grosse wirtschaftliche Bedeutung hatte und noch in der Zwischenkriegszeit eine wichtige Exportbranche darstellte, heute allerdings nur mehr einen Schatten ihrer einstigen Grösse darstellt. Ähnliches galt später für die Uhrenbranche und teilweise auch für die Maschinenindustrie, deren neuere Entwicklungen aber belegen, dass Krisen auch Chancen für zukunftsfähige Neuanfänge sein können.

Obwohl sich diese Phänomene seit Beginn der Industrialisierung immer wieder in den Raum einschreiben, waren ihre Auswirkungen auf die Siedlungsstruktur und auf das Landschaftsbild bisher kaum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Dabei reicht schon ein Blick auf das Mittelland, um drastische Veränderungen wahrzunehmen. Industriebrachen in den Städten und in deren Umland erzählen von tiefgreifenden Umwälzungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur. Allein: Die räumliche Nähe zu den städtischen Wachstumspolen lässt diese Krisen nicht als tiefgreifende Erschütterungen spürbar werden.

Verlagerungen und Transformationen im Mittelland machen noch auf einen anderen Punkt aufmerksam: Weil vom anhaltenden Wachstum fast alle profitieren konnten, waren Schrumpfungsprozesse für die Gesellschaft als Ganzes kaum ein Problem - die Anpassungsprozesse betrafen nur einen kleinen Teil der Bevölkerung, und der Staat konnte diese dank Subventionen und anderen Unterstützungsmechanismen sozial verträglich gestalten. Stichworte dazu sind Infrastrukturpolitik, Agrarpolitik, Investitionshilfegesetz oder Tourismusförderung. Sie belegen für die Schweiz ein politisches Engagement gegen das Schrumpfen, lange bevor das Wort überhaupt in Feuilletons und wissenschaftlichen Debatten auftauchte.

Heute scheint sich aber ein Wandel abzuzeichnen. Der Konsens, die wirtschaftlich schwächeren Regionen und Branchen weiterhin zu unterstützen, welcher die Siedlungsrealität der Schweiz von heute erst möglich machte, ist in Frage gestellt. Der Wettbewerb erfolgt immer weniger zwischen Nationalstaaten, sondern zwischen Grossregionen mit innovativen Produktions- und Dienstleistungsangeboten. Damit verbunden ist eine zunehmende Schwächung der traditionellen Politik, aber auch ein Ruf nach politischer Innovation. Weiter werden in Zeiten leerer Kassen der öffentlichen Hand Subventionen immer mehr kritisch hinterfragt, und es mehren sich die empirischen Belege für die bescheidene Wirksamkeit sektoraler Förderungsstrategien.

Wie schwierig der Grundsatz des räumlichen Ausgleichs umzusetzen ist, zeigt sich schon darin, dass die Verhältnisse trotz der Kleinräumigkeit der Schweiz überaus unterschiedlich sind und somit nach differenzierten Vorgehensweisen rufen. Das Investitionshilfegesetz ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel. Dieses Gesetz verfolgt seit den frühen 1970er Jahren die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in Berggebieten und industriellen Krisengebieten. Schon seine statistischen Kenngrössen sind beunruhigend, da sie zeigen, wie hoch der Anteil der Regionen in der Schweiz ist, von denen keine nennenswerten wirtschaftlichen Impulse ausgehen. So fallen heute 66 Prozent der Fläche, 43 Prozent der Gemeinden, 24 Prozent der Einwohner, 19 Prozent der Beschäftigten und 23 Prozent der Unternehmungen im 1. und 2. Sektor unter das Gesetz. Studiert man die Evaluationen zum Gesetz, so sind Zweifel an seiner Wirkung angebracht.

Zunächst fällt auf, wie unterschiedlich sich die Lage in den Gebieten präsentiert, die unter das Gesetz fallen. Neben wachsenden Gegenden gibt es Gegenden mit anhaltenden Schwierigkeiten; jede Region hat ihre eigene Branchenstruktur, ihre Eigenheiten und ihre spezifischen Probleme. So gibt es Gebiete, die, wie z. B. Nidwalden, das Malcantone oder die Valli di Lugano, seit Mitte der achtziger Jahre ein kräftiges demographisches Wachstum von 40 bis über 80 Prozent erfahren haben, während sich andere Alpentäler und alte Industrieregionen wie der Jurabogen und der Kanton Glarus schrittweise entleeren. Auch bei der Arbeitsentwicklung zeigt sich eine ähnliche Zweiteilung: Im Durchschnitt hinken die geförderten Gebiete seit Mitte der achtziger Jahre hinter der restlichen Entwicklung her, es gibt aber auch hier prosperierende Gegenden - sie befinden sich mehrheitlich in unmittelbarer Nähe zu städtischen Zentren und sind stark mit ihnen verflochten. Zugunsten des Investitionshilfegesetzes liesse sich deshalb anführen, es sei gelungen, die fortschreitende Entleerung peripherer, strukturschwacher Gebiete abzubremsen. Gemessen an den eigenen Zielsetzungen konnte das Gesetz allerdings nur bescheidene Erfolge verbuchen.

Was können wir aus diesen Erfahrungen lernen? Die Entwicklung bestätigt die Vermutung, dass die durch wirtschaftliche und technische Innovationen ausgelösten Strukturveränderungen von der Politik letztlich nicht aufgehalten werden können. Eine ähnlich zwiespältige Bilanz der staatlichen Unterstützungsmassnahmen weisen auch andere Bereiche auf: So sind die Beiträge der Agrarpolitik zur Aufrechterhaltung einer dezentralen Besiedlung recht bescheiden, und die Verkehrsinfrastrukturpolitik erweist sich als zweischneidiges Schwert: Wegen des Ausbaus der Autobahnen und Hochleistungsstrassen konnte die Erreichbarkeit der Randregionen zwar beträchtlich erhöht werden. Nur sind Strassen kommunizierende Röhren, die in zwei Richtungen gleichzeitig führen. Ein Blick auf die Pendlerentwicklung macht deutlich, dass mit dem verbesserten Strassennetz nicht primär neue Absatzmärkte für Produkte aus den peripheren Regionen erschlossen worden sind, sondern vor allem Pendler aus immer weiter entfernten Orten mit den Wirtschaftsräumen des Mittellandes verbunden werden.

Veränderte Wettbewerbsbedingungen

Gemäss Artikel 73 der Bundesverfassung sollen Bund und Kantone ein auf Dauer ausgewogenes Verhältnis zwischen der Natur und ihrer Erneuerungsfähigkeit einerseits und ihrer Beanspruchung durch den Menschen anderseits anstreben. Bund und Kantone haben aber noch nie detailliert geklärt, was dieser wegweisende Grundsatz konkret bedeuten könnte und ob nicht Zielkonflikte mit anderen Verfassungsbestimmungen bestehen. Es gibt aber kaum Zweifel, dass wir heute in der Schweiz weit von einer nachhaltigen Entwicklung entfernt sind. Dieses Faktum wird in räumlicher Hinsicht vom Raumentwicklungsbericht 2005 des Bundesamtes für Raumentwicklung klar festgehalten; dort wird auch eingeräumt, dass in verschiedenen Gebieten Handlungsbedarf bestehe. Leider gehen die zurzeit laufenden Reformen aber in eine andere Richtung, so sollen im Raumplanungsgesetz die Landwirtschaftszonen für diverse neue Nutzungen geöffnet werden. Dabei stellt die Trennung von Bauzonen und Nichtbauzonen historisch wohl die wichtigste Errungenschaft der Raumplanung dar, und deren Verwässerung wäre für die Schweiz eine gravierende Fehlentwicklung.

Die wirtschaftliche Entwicklung kann nur dann dauernden Wohlstand generieren, wenn sie nicht auf Kosten von Natur und Landschaft geht. Die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz leidet nämlich nicht unter zu strengen Raumplanungs- und Umweltschutzvorschriften. Das heisst aber nicht, dass es keinen Reformbedarf gibt: Es wäre dringend nötig, die Wirksamkeit und Konsistenz verschiedener Regelungsbereiche zu überprüfen und beispielsweise Widersprüche zwischen Raumplanungs- und Umweltschutzvorschriften zu eliminieren. Auch müssen die Ziele veränderten Fakten angepasst und die Instrumente der Raumplanung angepasst werden. So sollten etwa ökonomische Anreize geschaffen werden für einen sparsameren Umgang mit der in der Schweiz sehr knappen Ressource Boden. Solche Massnahmen sind die Voraussetzung dafür, dass langfristig nicht auch noch die letzten attraktiven Landwirtschaftsflächen im Mittelland verbaut und zersiedelt werden.

Damit ist aber erst eine Stossrichtung einer nachhaltigen Raumentwicklung skizziert. Weitere zentrale Aspekte liegen im Umgang mit der räumlichen Dynamik selbst und der Organisation unseres Landes mit den vielen kleinen Kantonen und Gemeinden. Die OECD hat schon 2002 in ihrem Prüfbericht über die schweizerische Raumentwicklung auf diesbezügliche Defizite hingewiesen, da hierzulande traditionellerweise häufig Kirchturmpolitik das Vorgehen der Verantwortlichen präge. Gemäss OECD dürfe Raumentwicklung sich nicht mehr länger auf Richt- und Nutzungsplanung beschränken, sondern müsse vermehrt mit der Wirtschafts- und Standortförderung koordiniert werden, um attraktive Standortvoraussetzungen für Wirtschaft und Bevölkerung zu schaffen. Das verlange auch, die städtischen Grossregionen als Motoren der Entwicklung - beispielsweise durch bessere Verbindungen im öffentlichen Verkehr - zu stärken und nicht in ihrer Entfaltung zu hindern.

Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass erfolgreiche Raumentwicklung grenzüberschreitend agieren muss. Eine nachhaltige Standortförderung kann nicht auf Kosten der Nachbargemeinde oder des Nachbarkantons gehen. Es sind grossräumigere Ansätze notwendig, welche problem- und fallbezogen die Gemeinde- bzw. die Kantons- und in gewissen Fällen auch die Landesgrenzen überwinden. Diese Notwendigkeit sollte nach dem Fallbeispiel Galmiz eigentlich allen klar geworden sein. Politische Veränderungen in diese Richtung sind bisher aber erst wenige auszumachen, weil die Erhaltung des Status quo beziehungsweise kurzfristige Konkurrenzvorteile immer noch höher gewichtet werden. Bestes Beispiel dafür ist der zunehmende Steuerwettbewerb zwischen Kantonen und Gemeinden, der nur Verlierer generieren wird. Denn ohne Soft Factors wie Bildungswesen oder Kultur sind langfristig keine attraktiven Standorte möglich.

Neue Bilder der Schweiz

Es gilt Abschied zu nehmen vom Traum eines anhaltenden Wirtschaftswachstums in allen Regionen. Die Wirtschaftsgeschichte legt eine andere Betrachtungsweise nahe: Wirtschaftliche Entwicklung umfasst Schrumpfen und Neuanfang. Entziehen kann man sich dieser Logik nicht, aber man kann ihr durch intelligente Anpassungsprozesse begegnen. Schumpeters Idee des innovativen Unternehmers, welcher die Zukunft immer wieder neu gestaltet, kann hier wichtige Anstösse liefern. Innovative Unternehmer sind aber nicht beliebig vermehrbar, und investive Mittel sind keine hinreichenden Voraussetzungen für langfristigen Erfolg. So dürften finanzkräftige Investoren, die an verschiedenen Stellen der Schweiz riesige Tourismuszentren aus dem Boden stampfen wollen, wohl kaum die Probleme ihrer Regionen lösen können. Nachhaltige Entwicklung bedarf nämlich immer auch der Eigeninitiative und der Einbindung der Menschen vor Ort. Erst wenn es gelingt, solche Investitionen mit den Besonderheiten und Wirtschaftskreisläufen eines Tals oder einer Region zu verknüpfen, also die lokale Wirtschaft und Landwirtschaft zu Pfeilern eines umfassenden Konzepts werden zu lassen, kann den strukturellen Schwierigkeiten solcher Gebiete wirksam begegnet werden.

Dahinter steckt eine allgemeine Erkenntnis: Die räumliche Zukunft der Schweiz kann und soll mehr Ideen und unterschiedliche Entwicklungen zulassen. Allgemeine Leitbilder reichen dazu nicht mehr aus. Hier entstehen neue Aufgabenfelder für die Gesellschaft als Ganzes und für die direkt betroffenen Regionen: Planung ist ein kreatives Nachdenken über Zukunft, das wichtige Akteure einzubinden versteht. Für einen erfolgreichen Transformationsprozess braucht es auch die Einsicht, dass Wettbewerb allein keine taugliche Lösung ist. Eine nachhaltige Entwicklung muss auch auf Solidarität in ihren verschiedenen Ausprägungen und besonders zwischen Zentren und Peripherie aufbauen, weil Stadt und Land voneinander abhängig sind und sich gegenseitig stützen können. Städtische Zentren und Lebensformen bedürfen ebenso der Wertschätzung wie ländliche Räume und Siedlungsstrukturen. Ohne diese Einsicht ist eine erfolgreiche Entwicklung des Landes nicht möglich.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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