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Fische im Fokus
Das Ozeaneum in Stralsund und das Müritzeum in Waren
Unter dem Namen «Ozeaneum» wurde jüngst in Stralsund das Ausstellungshaus des Deutschen Meeresmuseums eröffnet. Der Bau von Behnisch Architekten aus Stuttgart fügt sich vorzüglich ins Stadtbild ein. Einen gestalterischen Kontrapunkt setzt das vom Bautyp viel kleinere Müritzeum des Göteborger Architekten Gert Wingårdh im nahe gelegenen Waren.
Wie sollen Architekten für Bauprojekte mit maritimem Bezug eine überzeugende Bildhaftigkeit finden – wo doch etwas weniger Architektonisches als das Meer kaum vorstellbar ist? Nicht alle greifen da auf so fest umrissene Metaphern zurück wie vor gut fünfzehn Jahren Renzo Piano und Peter Chermayeff mit ihrem an ein Containerschiff erinnernden Aquarium in Genua. Im Stuttgarter Architekturbüro Behnisch & Partner begann das Nachdenken über einen Beitrag zum 2001 ausgelobten Wettbewerb für einen grossen Ergänzungsbau des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund mit reinen Funktionsdiagrammen. Gedankliche Bilder für die vier komplex gekurvten, durch ein verglastes Foyer verbundenen Baukörper und für die weisse Stahlblech-Fassade ergaben sich erst später; nur lose lassen sich im Wasser liegende Steine oder windgeblähte Segel assoziieren. Die evokative, aber dennoch abstrakte Formensprache und die bestechende Funktionalität des Entwurfs führten zum einstimmigen Juryentscheid: Vierhundert Mitbewerber, darunter Architekturbüros wie Snøhetta (Oslo) oder Plasma Studio (London), waren aus dem Feld geschlagen. Zur Realisierung übergab Günter Behnisch das Projekt dem Büro seines Sohnes Stefan.
Raum für Wale
Bei jährlich über 600 000 Besuchern platzte das Deutsche Meeresmuseum am alten Standort, dem gotischen Katharinenkloster im Stadtkern Stralsunds, schon lange aus allen Nähten. Diese Tatsache hatte – zusammen mit dem Bemühen der Stadt, vermehrt Touristen anzulocken – zum Plan geführt, das vor allem der musealen Darstellung speziell der nördlichen Meere dienende Ozeaneum als Dépendance an einem separaten Standort im Bereich des gewerblich nicht mehr genutzten Alten Hafens zu errichten. Ein ausgefeiltes Raumprogramm der Museumsleitung bereitete der für jeden Besucher glasklaren und zugleich ganz auf die technischen Belange des Ausstellungs- und Aquarienbetriebs abgestellten Gliederung des Baus den Boden.
Über eine dreissig Meter lange, frei spannende Rolltreppe erreicht man vom Foyer aus die oberste Ebene des seeseitig gelegenen Ausstellungstraktes. Beim Herabgehen erschliessen sich die Themen «Weltmeer», «Ostsee» sowie «Erforschung und Nutzung der Meere» im Rahmen geschickt kontrastierender Raumbilder, die von den Stuttgarter Museumsgestaltern des Ateliers Lohrer konzipiert wurden.
Zurück im Foyer, das schön gerahmte Ausblicke auf Stadt und Meer bietet, gelangt man über Brücken, Stege und Treppen in die beiden stadtseitig gelegenen Aquarienkomplexe «Ostsee» und «Nordsee» mit insgesamt 41 Becken; besonders das 2,6 Millionen Liter Wasser fassende Schwarmfischbassin vermittelt eine Ahnung von ozeanischen Dimensionen. Im vierten Baukörper finden sich dann Nachbildungen von Walen in Originalgrösse, die vor zoologisch korrekter Geräuschkulisse inmitten dunkler Weite bühnenmässig inszeniert sind.
Das Ozeaneum steht in der Pufferzone der Unesco-Welterbestätte Stralsund. Von der Ostsee und der Insel Rügen her gesehen, erhebt sich der 91 000 Kubikmeter grosse Bau direkt vor der mittelalterlichen Stadtsilhouette. Grösse und Form der vier separaten neuen Baukörper sprengen jedoch weder diese noch die Blockstruktur der Umgebung. Allerdings antwortet nicht jedes gestalterische Detail der perfekten Gliederung der Baumassen. So verbindet die Stahlblech-Fassade, deren Elemente von einem Unternehmen der örtlichen Schiffsbau-Industrie vorgeformt wurden, die einzelnen Baukörper zwar flüssig, doch geht stadtseitig der Bezug zwischen den rechteckigen Erdgeschossen der Aquarienkomplexe und ihren gerundeten Obergeschossen optisch nicht auf. Auch die Materialkombinationen im Foyer – Treppenstufen aus braunem Gussstein und Geländer aus Gitterrosten mit schwer wirkenden Naturholz-Handläufen – zeigen, dass es den Architekten nicht an jeder Stelle darauf ankam, ästhetische Funken tanzen zu lassen.
Ausblick ins Süsswasser
Wichtiger ist ein anderer Punkt: Der Neubau sollte möglichst umweltverträglich werden, da das Meeresmuseum nicht zuletzt ökologische Inhalte vermittelt. Als Meeresbiologe weiss sein Direktor Harald Benke, wie bedrohlich sich Umweltgifte im Organismus von Fischen und Meeressäugern anreichern; in freier Wildbahn verendete Robben hat er schon einmal als Sondermüll entsorgen müssen. So hofft er, dass das Ozeaneum nicht nur beim Energiekonzept, sondern auch im Hinblick auf die Baumaterialien für andere Bauherren Standards setzt – beispielsweise in puncto Vermeidung von PVC. Die Baukosten von insgesamt 60 Millionen Euro schliessen die ökologisch bedingten Mehrinvestitionen ein.
Das Ozeaneum spielt zwar hinsichtlich der Qualität der Ausstellungsgestaltung in einer eigenen Liga, ist aber nicht der einzige baulich bemerkenswerte Museums- und Aquarienneubau in Mecklenburg-Vorpommern. In Waren an der Müritz, inmitten der Mecklenburgischen Seenplatte, wurde 2007 das «Natur-Erlebnis-Zentrum» Müritzeum von Gert Wingårdh aus Göteborg eröffnet – der mit seinem Arkitektkontor auch die schwedischen Botschaften in Berlin und Washington gebaut hat. Für Waren entwarf er einen vielansichtigen Bau aus zwei leicht gegeneinander verschobenen, verschieden hohen und zweimal parallel angeschnittenen, nach aussen geneigten Kegelstumpfsegmenten. Mit der wartungsarmen Fassade aus 20 000 Laufmetern verkohlter Lärchenbretter hat der Architekt die lokale Tradition des Teerschwelens aufgegriffen und dabei eine faszinierende Oberfläche geschaffen, welche die Farbe Schwarz zwischen Absorption und Reflexion von Licht thematisiert. Innen findet man unter anderem das grösste Süsswasseraquarium Deutschlands.
Hochzeitsmarsch der Höhlenmenschen
Raili und Reima Pietilä im Architekturmuseum von Helsinki
Das finnische Architektenpaar Raili und Reima Pietilä belebte die Formensprache der Moderne durch Bezüge auf die Natur. Die Bedeutung ihres Schaffens wird nun im Architekturmuseum Helsinki gewürdigt.
Finnisch ist eine ruhige, fallend betonte Sprache mit zahlreichen Doppelkonsonanten und -vokalen, in der die Substantive durch fünfzehn Fälle dekliniert und dabei durch unterschiedlichste Suffixe verlängert werden. Davon liess sich Reima Pietilä (1923–1993) als Architekt inspirieren: «Ich spreche, während ich zeichne – der Rhythmus und die Intonation des Finnischen bestimmen die Bewegung meines Bleistifts», hat er erklärt. Zwar verdanken sich der formale Reichtum und die poetische Vielschichtigkeit der Pietilä-Bauten auf den ersten Blick vor allem ihren Bezügen auf die Natur: auf Gesteinsformen und Organismen, auf den Lichteinfall zwischen Baumstämmen, auf Gebrochenes und Fliessendes, auf Feuer und Schnee. Aber durch die beschriebenen Sprachimpulse kommt ein ganz eigenes Element hinzu.
Grosse Schenkung
Im Jahr 2002 erhielt das Architekturmuseum in Helsinki von der heute 82-jährigen Raili Pietilä und ihrer Tochter das gesamte Archiv ihres Architekturbüros mit rund 30 000 Zeichnungen und anderem Material geschenkt: Anlass genug für eine Ausstellung, wie sie jetzt in diesem Hause stattfindet. Neun Hauptprojekte – vom nicht erhaltenen finnischen Pavillon der Weltausstellung von 1958 in Brüssel über die urbanistischen Vorschläge für Kuwait City (seit 1969) einschliesslich der dort zwischen 1973 und 1982 ausgeführten Regierungsbauten bis hin zu Mäntyniemi, der Residenz der finnischen Staatspräsidenten (1993) – werden ausführlich mit Fotos, Grundrissen, Schnitten, achtzehn Modellen unterschiedlicher Funktion, einem schönen Film und zahlreichen Originalzeichnungen vorgestellt; punktuell beleuchtet werden sieben weniger prominente oder nicht gebaute Entwürfe.
Dank der Schenkung konnte der Kurator Timo Tuomi seine Auswahl aus einer ungleich breiteren und gesicherteren Materialbasis treffen, als sie der 1989 an der ETH Zürich gezeigten Pietilä-Schau zugrunde lag, hat sich dabei aber nicht verzettelt. Während das Schaffen der beiden Architekten damals unter Betonung von Reima Pietiläs Rolle als Architekturtheoretiker in offenen, undogmatischen, experimentellen Zwischenzonen der Moderne verortet wurde, akzentuiert die jetzige Ausstellung – unter anderem mittels grossartiger Entwurfsskizzen – die expressiven Züge in der Arbeit der beiden Finnen als Herausforderung an die moderne Architektur. Wohl aufgrund dieser Blickrichtung kommt die kühle Kirche von Lieksa (1979–84) lediglich im Katalog vor. Das gezeigte Material steht und spricht für sich. Quellen für die Ausdruckskraft der Pietilä-Bauten – etwa der Potsdamer Einstein-Turm von Erich Mendelsohn, der in die Kaleva-Kirche in Tampere (1959–66) eingeflossene Dynamismus der futuristischen Gemälde Umberto Boccionis oder an anderer Stelle sogar die Bauten eines Antonio Gaudí – werden in der Ausstellung nicht ausdrücklich benannt.
Licht ins Dunkel
«Hochzeitsmarsch der Höhlenmenschen» lautete der Titel, unter dem die Pietiläs 1961 ihren Wettbewerbsbeitrag für Dipoli, das Mehrzweck-Studentenzentrum an der Technischen Universität von Helsinki in Espoo, einreichten. Beflügeltes und Schweres bleiben in diesem perfekt ins Gelände eingefügten Bau, der in jede Himmelsrichtung kontrollierte Energie ausstrahlt, in der Schwebe. Über einem Sockel aus wie hingeworfen wirkenden Granitbrocken lagert ein langgezogenes, komplex gegliedertes Fensterband unter einer winklig gebrochenen kupferverkleideten Dachzone. Die schmalen Streifen dieser Verkleidung antworten dort, wo sie an sichtbar belassene Teile der Betonkonstruktion grenzen, präzise auf die rauen Spuren von deren Verschalung. Streng rechtwinklig angelegt, schiebt sich der Verwaltungsflügel des Gebäudes in den frei geformten, im Grundriss an ein tierisches Fossil erinnernden Haupttrakt mit Auditorium und drei kavernenartigen Festsälen, deren geschwungene Betondecken überraschende Lichtkonstellationen ins Dunkel bringen. Dipoli erschöpft sich aber weder bei seiner Vielansichtigkeit noch bei blossen Bildimpulsen; vielmehr bereichert und prägt seine architektonische Gestalt vor allem das räumliche Gedächtnis der Nutzer.
Die mannigfaltigen künstlerischen Möglichkeiten, die im Werk der Pietiläs angelegt sind, lassen sich so schnell nicht ausschöpfen. Es ist zu wünschen, dass die Ausstellung noch an weiteren Orten gezeigt werden kann.
[ Bis 25. Mai. Dem finnischsprachigen Katalog (156 S., € 25.–) soll 2009 eine englische Ausgabe folgen. Bis dahin sei der Symposiumsband «Hikes into Pietilä terrain» (Hrsg. Aino Niskanen, Helsinki 2007, 142 S., ISBN 978-951-98331-2-5) empfohlen. ]
Beim Herzog nur im Frack
In Weimar ist das Werk des Architekten und Kunstreformers Henry van de Velde neu zu besichtigen
Als Industriedesigner und Entwerfer kunsthandwerklicher Gegenstände zählte der Architekt und Kunstreformer Henry van de Velde (1863–1957) in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zur ersten Garde. In Weimar, wo er von 1902 bis 1917 lebte, widmet man sich nun seinem Werk neu.
In Höflingsuniform wollte er nicht auftreten. Das hatte sich Henry van de Velde vor seiner Berufung zum künstlerischen Berater für Handwerk und Industrie im Grossherzogtum Sachsen-Weimar ausbedungen. Und so erschien er selbst zu gesellschaftlichem Anlass bei Hofe nur im Frack. Dem darob irritierten Landesherrn Wilhelm Ernst empfahl der Künstler, sich vorzustellen, er – van de Velde – sei ein offizieller Repräsentant der USA. Modernität in Thüringen? Das war um 1900 eine Geschichte für sich.
Intelligente Wirtschaftsförderung
«Ich fasse die Aufgabe, die Seine Königliche Hoheit mir anvertraut haben, nicht anders auf, als dass ich beitragen soll, den Stil des 20. Jahrhunderts zu gestalten», schrieb Henry van de Velde 1902 an den Herzog. Wie er diese Aufgabe in Thüringen erfüllte, war bisher nur lückenhaft bekannt.
Nun hat Volker Wahl, der Direktor des Hauptstaatsarchivs Weimar, eine Edition der rund 200 einschlägigen Dokumente und Originalberichte vorgelegt und zeigt im eigenen Hause eine begleitende Kabinettsausstellung von rund 40 ausgewählten Text- und Bildquellen. Wahls Buch bringt nicht nur die kunstgeschichtliche Forschung ein wichtiges Stück voran, sondern es macht darüber hinaus dank van de Veldes Schreibtalent auf unerwartet amüsante Weise ein Musterbeispiel intelligenter Wirtschaftsförderung anschaulich.
Des weltgewandten Stardesigners offizielle Aufgabe in Weimar war es, durch Beratung der thüringischen Handwerksbetriebe und Fabriken das ästhetische Niveau von deren Produkten zu heben, um den überregionalen Absatz zu steigern. Er begann seine Tätigkeit mit Inspektionsreisen kreuz und quer durch das Herzogtum und gründete gleich nach seinem Amtsantritt 1902 ein kunstgewerbliches Seminar, das er in wenigen Jahren zur Grossherzoglichen Kunstgewerbeschule – der unmittelbaren Vorgängerinstitution des Bauhauses – weiterentwickelte.
Vernunftgemässe Schönheit
Der erhoffte wirtschaftliche Erfolg seiner Massnahmen blieb nicht aus: Durch eigene Aufträge sowie durch Vermittlungen setzte er zwischen 1902 und 1915 in Thüringen mehrere Millionen Goldmark um. Hinzu kam der künstlerische Gewinn; in Weimar produzierten insbesondere der Kunsttischler Scheidemantel und der Silberschmied Theodor Müller nach van de Veldes Entwürfen Meisterstücke material- und funktionsgerechter Form.
Alles andere als ein Schematiker ohne Sinn für soziale Verhältnisse oder ein elitärer Gestalter, widmete sich van de Velde seiner Beratertätigkeit mit hellwachem Realitätssinn. Den bescheidenen Handwerkern in Tannroda half er, über simple Körbe hinaus auch elegante Korbmöbel herzustellen.
Die Betriebe der alten Töpferstadt Bürgel befreite er durch sein Ideal einer «vernunftgemässen Schönheit» aus der Sackgasse des Historismus, was die Exponate im dortigen kleinen Keramikmuseum dem heutigen Besucher gut vor Augen führen. Und selbst die Pfeifen- und Zigarrenspitzenfabrik in Ruhla bei Eisenach liess sich gern von ihm betreuen.
Mancherorts wusste aber auch er keinen Rat – so in den windgebeutelten Dörfern Kaltennordheim und Empfertshausen, wo künstlerisch nullwertige Reisesouvenirs und Bäderartikel produziert wurden und von wo er rapportierte: «Nun ist die Sorge, die über den Häuptern dieser armen Bevölkerung hängt, schrecklich, und das Schlimmste ist, dass niemand in der Welt ihnen zu helfen vermag . . .»
Möbel, Lampen, Bestecke, Keramiken und Porzellan nach van de Veldes Entwürfen sowie Arbeiten seiner Schüler findet man in Weimar in einem Saal des Bauhaus-Museums. Weitere Objekte kann der Besucher der Goethestadt im Haus «Hohe Pappeln», das der Künstler hier 1908 für sich selber errichtete, und in dem von ihm innenarchitektonisch gestalteten Nietzsche-Archiv bewundern.
Werkkatalog
Als Ergänzung sei eine Besichtigung der Villa Esche im nicht allzu weit entfernten Chemnitz empfohlen, wo die Van-de-Velde-Bestände der städtischen Kunstsammlungen permanent gezeigt werden. Und: Bald wird es für die Beschäftigung mit van de Veldes kunsthandwerklichen Arbeiten ein neues Fundament geben, denn die Kunsthistorikerin Antje Neumann erstellt gegenwärtig unter der Ägide der Klassik-Stiftung Weimar einen kompletten Werkkatalog dieser Gegenstände. Der erste Band, der im Frühjahr 2008 erscheint, hat die Metallarbeiten zum Thema; Verzeichnisse der Möbel, Keramiken und Textilien werden folgen.
[ Bis 28. Dezember im Hauptstaatsarchiv Weimar. Als Begleitpublikation ist der folgende Band erschienen: Volker Wahl: Henry van de Velde in Weimar. Dokumente und Berichte zur Förderung von Kunsthandwerk und Industrie 1902–1915. Böhlau-Verlag, Köln 2007. 532 S., € 44.90. ]
Strasse des Neuen Stils
Die Henry-van-de-Velde-Route in Thüringen und Sachsen
Der belgische Architekt Henry van de Velde starb vor fünfzig Jahren in Zürich. Die Blüte seines Schaffens hatte er in Weimar erlebt, wo er von 1902 bis 1917 lebte und viele wichtige Bauten entwarf.
«Hallo Claus, toll zu sehen, wie es bei Euch weitergeht. Waren die originalen Sockelleisten massiv, aus Bugholz geformt oder schichtverleimt auf Form?», fragte ein Van-de-Velde-Fan neulich auf der Website www.schlosslauterbach.com von Claus Lämmle, dem Besitzer eines bei Zwickau in Sachsen gelegenen Herrenhauses. Seit Lämmle vor zwei Jahren die Restaurierung des Neorenaissance-Gebäudes mit seiner ab 1907 ausgeführten und in erstaunlichem Umfang erhaltenen Innenausstattung von Henry van de Velde in Angriff nahm, kann man das Projekt im Internet virtuell bis ins Detail verfolgen.
Schleier des Vergessens
Warum ist es ausgerechnet in Sachsen und Thüringen so spannend, den Spuren des 1863 in Antwerpen geborenen und vor fünfzig Jahren, am 25. Oktober 1957, in Zürich gestorbenen van de Velde zu folgen – eines in Belgien, Paris, Berlin, den Niederlanden und der Schweiz tätigen Weltmannes, der zu den führenden Gestaltern des Jugendstils und zudem als Kunsttheoretiker zu den beredtesten Wegbereitern der Moderne gehörte? Weil er die Blüte seines Schaffens vor dem Ersten Weltkrieg in Weimar erlebte, wohin er 1902 als künstlerischer Berater des Grossherzogs Wilhelm Ernst zog. Von dieser Position aus sollte er die Produkte von Kunstgewerbe und Kleinindustrie im Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach konkurrenzfähiger machen. Damit hatte er beachtlichen Erfolg; neben seinem Amt bei Hofe führte er aber auch noch ein Privatatelier, wo er zahlreiche öffentliche Bauten, Villen, Denkmäler und innenarchitektonische Arbeiten nicht nur für ferne Auftraggeber, sondern auch für Weimar, für Jena, Gera oder Chemnitz entwarf.
Ausser den zwischen 1904 und 1911 errichteten Weimarer Kunstschulbauten, die man ab 1919 als Heimstatt des Bauhauses und später als Architekturhochschule nutzte, wurden diese Objekte zu DDR-Zeiten überwiegend zweckentfremdet. So verschwand das feudale Palais Dürckheim in Weimar (1912/13) als Stasi-Quartier hinter hohen Mauern, das Haus Schulenburg in Gera (1913/14) beherbergte eine medizinische Fachschule, und die Villa Esche in Chemnitz (1902/03, erweitert 1911) wurde nacheinander durch die sowjetische Stadtkommandantur, die Stasi und die örtliche Handwerkskammer genutzt. Der Verlust von Originalsubstanz, bauliche Veränderungen und die Behinderung des kunstwissenschaftlichen Austausches zwischen Ost und West führten dazu, dass sich ein Schleier des Vergessens über van de Veldes thüringische und sächsische Bauten legte.
Lichtnahe Farben
Heute ist das anders. Im Jahr 2003 hob die Henry-van-de-Velde-Gesellschaft im westfälischen Hagen die «Europäische Van-de-Velde-Route» aus der Taufe, deren Kernstrecke von Brüssel über Löwen, Hagen und Weimar nach Chemnitz führt (www.van-de-velde-route.de). Bald danach stellten die Journalistin Gisela Bauer und die Architektin Astrid Bauer-Mecili aus Chemnitz bei einer Bereisung der Route fest, dass deren sächsisch-thüringischer Abschnitt die grösste Dichte öffentlich zugänglicher, neu restaurierter oder in Restaurierung befindlicher Bauten bietet. Und sie fanden, dieses Potenzial solle man nutzen: Mit Hilfe von Andrea Pötzsch, die in Chemnitz die renovierte Villa Esche als Van-de-Velde-Museum und Begegnungsort für Kultur und Wirtschaft managt, erstellten sie in Kontakt mit den Tourismusverbänden der betroffenen Städte, der Klassik-Stiftung Weimar und weiteren Akteuren einen separaten Flyer über die Van-de-Velde-Route in Sachsen und Thüringen – komplett mit Hotel- und Restaurantempfehlungen.
Federnde Linien neben geometrischen Ornamenten, weisse Schleiflackmöbel und schlichte Korbstühle, vom Neoimpressionismus abgeleitete Farbkonzepte, ein Konzertflügel mit heroisch ausladenden Beinen und ein rotblauer Windfang, in dem man sich fühlt wie in einem überdimensionalen japanischen Schmuckkästchen: Von Weimar bis Chemnitz erschliesst sich van de Veldes ästhetischer Einfallsreichtum auf ebenso abwechslungsreiche Weise wie sein scharfer Sinn für Material und Funktionalität. Im schiffsähnlichen Haus Hohe Pappeln, das er ab 1907 für sich selbst in Weimar baute, erlebt man seinen gestalterischen Eigenwillen sozusagen pur, während er anderswo reichen Bauherren entgegenkam oder die kulturelle Funktion eines Raumes durch betonte formale Disziplin veredelte. Über die helle, in Rotbuchenholz gehaltene Inneneinrichtung des Weimarer Nietzsche-Archivs (1903) schrieb der finnische Architekt Sigurd Frosterus, der kurz für van de Velde arbeitete, begeistert an seine Mutter: «Die Möbel sind mit einem Samt in mattem Rot bezogen, der an die Reflexe der untergehenden Sonne auf den Schneegipfeln der Alpen erinnert . . . Sie sind weder zu leicht noch zu schwer, weder elegant noch lässig . . . Mit einem Wort eine feierliche Einheit; nichts fällt aus dem Rahmen, nichts springt in die Augen, aber auch nichts dürfte weggelassen werden.»
Denkmalpflegerische Optionen
Die stets als Gesamtkunstwerk gedachten Raumschöpfungen van de Veldes lassen sich bei aller Sorgfalt heute nur annähernd wiedergewinnen. Dennoch, man kann dabei weit kommen: so wie der Arzt Volker Kielstein, der 1996 das Haus Schulenburg in seiner Heimatstadt Gera erwarb. Diese wuchtige Backsteinvilla, die van de Velde 1913 für den Textilfabrikanten Paul Schulenburg entwarf, ist heute als Baudenkmal von nationalem Rang aufgelistet. Kielstein und seine Frau haben ihr Ziel, den Originalzustand weitmöglichst wiederherzustellen, zu einem guten Stück schon erreicht – dank akribischen Recherchen, hartnäckiger Suche nach den richtigen Baumaterialien und grosszügiger Förderung aus Landes- und Bundesmitteln sowie durch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz. Die Ausstattung der Beletage samt ergänzten Holzvertäfelungen, nachgewebten Wandbespannungen und Lampen-Repliken ist fast vollständig, und das Haus steht für Ausstellungen offen. Spätestens hier verstehen wir, welch grosse Rolle van de Velde beim Entwurf solcher Bauten den Bewegungsabläufen ihrer Nutzer zumass. Schreiten mehrere Personen auf der repräsentativen mehrläufigen Treppe zwischen der Eingangshalle und der Galerie im ersten Stock auf oder ab, entfaltet sich in drei Dimensionen ein lebendes Ornament.
In Chemnitz hat der Architekt Peter Apfel van de Veldes Villa Körner (1914), heute Sitz seines Büros, anders saniert (www.villa-koerner.com). Das im Krieg zerstörte Dachgeschoss stellte er nur im Äusseren wieder her, während er für das Innere eine neue räumliche und statische Lösung fand. Allein van de Veldes zentrale Diele mit umlaufender Galerie und blauem Oberlicht, von deren Ausstattung fast nichts erhalten war, hat er mit Hilfe fotogeometrischer Verfahren samt Möblierung rekonstruiert – eigentlich wider Willen, wie er sagt, aber mit spürbarer Resonanz in der Stadt. Andernorts hat die Denkmalpflege noch einiges zu tun: Van de Veldes Denkmal für den Unternehmer Ernst Abbe in Jena (1911) soll zwar demnächst restauriert werden; vernachlässigt und durch Hangschub und Pflanzenwuchs bedroht ist hingegen das schön gestaffelte Grabmal Koetschau (1909) auf dem Weimarer Hauptfriedhof.
Wie weiter?
Die Vielseitigkeit von van de Veldes Schaffen begünstigt das, was jede Kulturroute braucht, nämlich Belebung durch Veranstaltungen. In diesem Jahr gab und gibt es eine Reihe kleiner Ausstellungen; so zeigt die Bauhaus-Universität in Weimar unter dem Titel «Vernunftgemässe Schönheit» virtuelle Nachbauten nicht ausgeführter Entwürfe des Meisters (bis 16. November), und die Villa Esche in Chemnitz präsentiert «Henry van de Velde und seine Schüler» als Schöpfer angewandter Kunst (bis 11. November). Solche Projekte verlangen Kooperation. Viele der Akteure sind sich denn auch bewusst, dass kurzsichtige Konkurrenz dem überregionalen Erfolg der Van-de-Velde-Route nicht dient.
Eine goldene Barke über dem Tal
Das neue Besucherzentrum für die Himmelsscheibe von Nebra
Nahe der ostdeutschen Kleinstadt Nebra holten Raubgräber 1999 jene bronzezeitliche Scheibe aus der Erde, die heute als weltweit älteste astronomisch konkrete Darstellung des Sternenhimmels gilt. Soeben wurde unweit des Fundorts das von den Zürchern Holzer Kobler entworfene Besucherzentrum «Arche Nebra» eröffnet.
Wie eine echte Arche liegt der Bau der Zürcher Architekten Barbara Holzer und Tristan Kobler auf halber Hanghöhe quer im waldigen Tal der Unstrut: ein für grosse Kapazitäten gedachtes, fremdes Volumen in der kleinräumigen Flusslandschaft zwischen dem Städtchen Nebra und der ottonischen Kaiserpfalz von Memleben. Statt «Arche Nebra» müsste dieses Besucherzentrum am Rand des Mittelberges, auf dessen Gipfel vor 3600 Jahren die heute weltberühmte bronzene Himmelsscheibe vergraben wurde, dennoch eher «Barke Nebra» heissen. Denn das Gebäude dient nicht wie die Arche Noah einer Rettung der Tierwelt vor einer Sintflut, sondern der unterhaltsamen Präsentation von archäologischem, astronomischem, religionsgeschichtlichem und kriminalistischem Wissen über das sensationelle prähistorische Objekt - und auf diesem ist ausser einem Vollmond, einer Mondsichel sowie dem Siebengestirn der Plejaden auch eine Barke dargestellt, wie man sie aus der Bronzezeit des Nordens als religiöses Symbol kennt. An das Motiv der goldenen Barke wird sich fast jeder, dem die Himmelsscheibe von Nebra vor Augen steht, beim Anblick des betont bildhaften Baus von Holzer Kobler erinnern. Er gliedert sich in drei horizontal übereinandergeschichtete Zonen: einen dunkel verputzten Betonsockel, ein zurückgesetztes verglastes Foyer mit Café im Erdgeschoss und darüber ein sechzig Meter langes, tal- wie hangseitig stark auskragendes balkenartiges Obergeschoss mit einer Verkleidung aus mattgolden eloxierten Aluminiumplatten. Nahe seiner Mitte ist dieser dominante Teil des Baus leicht nach unten eingeknickt und etwas verbreitert. Innen findet man an der Knickstelle ein kleines Planetarium für astro-archäologische Sternenreisen, an das sich talseitig ein schöner Raum für Sonderausstellungen und hangseitig das Treppenhaus mit Blick in den Himmel sowie ein Saal für die Dauerpräsentation anschliessen; dieser wird von der Schmalseite her durch ein goldgelb gefärbtes Panoramafenster belichtet, das den Blick zur Fundstelle der Himmelsscheibe auratisiert. Morphologisch erinnert das Gebäude an das Museum Nieuwland in Lelystad (1994) der Amsterdamer Architekten Benthem Crouwel.
Strahlendes Signal
Fraglos strahlt der Bau von Holzer Kobler die vom Landkreis als Bauherrn und vom Land Sachsen-Anhalt als Geldgeber gewünschte touristische Signalwirkung aus. Zudem ist er im Innern sehr funktional, und die Baukosten von 4,5 Millionen Euro sprengten nicht das Budget. Wären Alternativen denkbar gewesen? Während Holzer Kobler in dem 2004 ausgelobten Architekturwettbewerb den dritten Preis gewannen, gingen der erste und der zweite an Detlef Sacker aus Freiburg im Breisgau sowie an das Dresdner Büro Knerer & Lang. Beide Entwürfe sahen ins Gelände eingetiefte oder unterirdische Bauteile vor und setzten oberirdisch elegant proportionierte Zeichen, wobei Sackers Projekt wegen offener Fragen zur Realisierung der lichtdurchlässigen Sandsteinfassade und ausstellungstechnischer Überlegungen nicht zur Ausführung kam.
Gestalterisch ragten zwei Entwürfe heraus, die aufgrund von Verstössen gegen einzelne Vorgaben nur Sonderpreise erhielten. Die Architekten Bolles & Wilson (Münster) schlugen ein reptilhaft wirkendes, energiegeladenes Gebilde aus gefaltetem Cortenstahl vor, das die Atmosphäre der reichen archäologischen Fundregion um Nebra suggestiv verdichtet; und die Büros ARU und Neutral aus London erdachten einen ebenso kargen wie erhaben wirkenden Architektur- und Landschaftskomplex mit messerscharfen thematischen, geologischen und topografischen Bezügen.
Inszenierte Leerstellen
Die Himmelsscheibe selbst ist in der Arche nicht zu sehen; das Original liegt im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale, welches nach einem Umbau im Mai 2008 wiedereröffnet wird. Was die Architekten für die pro Jahr erhofften dreissig- bis hunderttausend Arche-Besucher zu inszenieren hatten, waren also erstens Informationen über das hier fehlende Hauptobjekt und zweitens die Stimmung an dessen Fundstelle. Für die Dauerpräsentation in der Arche haben Holzer Kobler, die als Ausstellungsgestalter international renommiert sind, zwei kurvig zerschlitzte grosse Sperrholzkörper entworfen. Formal lassen diese den Sichel- und Vollmond auf der Himmelsscheibe anklingen; in ihren Höhlungen vereinen sich 3-D-Animationen, grafische Bilder, Originalobjekte sowie Repliken zu einem kunterbunten Parcours mit verführerischem Appeal besonders für Kinder.
Den Fussmarsch bis zur Fundstelle der Himmelsscheibe sollte man bei einem Besuch keinesfalls auslassen. Die Kölner Landschaftsarchitekten Club L94 haben sie mit einer konvexen Edelstahlscheibe markiert, die als «Himmelsauge» Sonne, Mond und Sterne spiegelt. Immer zur Mittagsstunde fällt auf diesen Punkt der Schatten des dreissig Meter hohen, leicht geneigten und vertikal geschlitzten Aussichtsturms von Holzer Kobler, der auf dem Bergesgipfel die Sichtachsen und Sonnwendpunkte erlebbar macht, mit denen die Astronomen der Bronzezeit hier rechneten. Für Wind und Wetter offen, steigert der innen sonnengelb gestrichene Betonturm für seine Besteiger den Eindruck einer Landschaft, die sich nicht so bequem konsumieren lässt wie die zahllosen Bilder der Himmelsscheibe.
Durch die rote Tür
Mit Stadtumbau gegen den Schrumpfungsprozess in Sachsen-Anhalt
Im ostdeutschen Bundesland Sachsen- Anhalt haben die Städte seit 1990 bis zu einem Viertel ihrer Einwohner verloren. Die von der Stiftung Bauhaus Dessau betreute Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 soll neue Wege zur Bewältigung des derzeit unumkehrbar scheinenden Schrumpfungsprozesses aufzeigen.
Unweit von Magdeburg liegt eine Stadt ohne Mitte. Hier, in Stassfurt, wurden 1852 die ersten Kalischächte der Welt eröffnet. Der Wohlstand, den das anfangs brachte, kam teuer zu stehen: Mitten im Stadtzentrum bildete sich ein bis zu sieben Meter tiefes Senkungsgebiet, dem Hunderte von Wohnhäusern, die Stadtkirche und das Rathaus zum Opfer fielen. Jahrzehntelang lag die riesige Wunde im Stadtgefüge brach, aber nun hat man die Leere und das steigende Grundwasser geschickt genutzt. Von den Berliner Landschaftsarchitekten Häfner und Jimenez liess die Kommune in der Schadenzone einen klar konturierten kleinen See anlegen, an dessen Ufern die Bürger im letzten Sommer das 1200-Jahr-Jubiläum ihrer Stadt feierten. Auch andernorts in Sachsen-Anhalt hellt sich die Stimmung ein wenig auf: Als man etwa jüngst in Weissenfels bei Naumburg die hohen Schornsteine des alten Elektrizitätswerks sprengte, wurde der Abschied vom vertrauten Ortsbild nicht in stiller Wehmut, sondern mit einem zünftigen Grillfest begangen.
Strukturwandel als Chance
Vom Himmel fällt die Festlaune allerdings nicht, sondern sie ist Frucht planvoller Arbeit. Stassfurt und Weissenfels beteiligen sich zusammen mit sechzehn weiteren Städten - darunter auch Halle und Magdeburg - an der 2002 ins Leben gerufenen Internationalen Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt (IBA). Von der Stiftung Bauhaus Dessau und der Landesentwicklungsgesellschaft Saleg getragen, ist diese Schau keine Ausstellung im landläufigen Sinne. Vielmehr geht es um unterschiedlichste urbanistische Pilotprojekte in den Teilnehmerstädten, die einen zukunftsweisenden Stadtumbau unter den Vorzeichen von Abwanderung, demographischem Wandel, De- Industrialisierung und Finanzmangel einleiten sollen. Im Jahr 2010 - am Ende der IBA-Laufzeit - werden die Ergebnisse dieser Vorhaben dann vor Ort zu besichtigen sein.
Leere und Umbruch, so betonen die Organisatoren der IBA, sollten umbewertet werden. Der Strukturwandel müsse positiv als Chance zur Stadtgestaltung statt negativ als lähmende Bedrohung begriffen werden, wobei der Erfindungsreichtum ausnahmslos aller Beteiligten gefragt sei. Für jede Stadt peilt die IBA eine je eigene, auf ortsspezifische Qualitäten zugeschnittene Lösung an. Statt hochglanzgestylter Branding-Visionen eines Stadtmarketings «von oben», an die hier niemand so recht glauben würde, sollen attraktive und zugleich für die Bevölkerung plausible Leitbilder zur Perspektive des jeweiligen Ortes vermittelt werden. Allerdings trägt das IBA-Büro diese fraglos sinnvollen Zielvorstellungen in einer Sprache vor, die nicht überall ins Herz der angesprochenen Bürger treffen dürfte. Um kurz den O-Ton anzuschlagen: «Ästhetische Interventionen schaffen mentale Freiräume und Bildangebote zur Selbstaktivierung.»
Kleiner und klüger
Diese neuen Bildangebote beginnen in Eisleben, dem Geburtsort Martin Luthers, bereits aufzufallen. Hier müssen Privateigentümer den Stadtumbau massgeblich mittragen. Trotz einer «Entdichtung» der Innenstadt durch den punktuellen Abriss verfallener Häuser soll die Gesamtwirkung des alten, von mehr als 700 Baudenkmälern geprägten Stadtbilds erhalten bleiben; die Parole lautet «Kontrollierte kleinteilige Perforation». Um geschlossene Strassenfluchten wiederzugewinnen, wurde nun damit begonnen, brachliegende Grundstücke zu den Trottoirs hin mit halbhohen Mauern und Steinkörben, sogenannten Gabions, abzugrenzen. An manchen Mauern sind rote Holztüren angebracht - Signale dafür, wo Zugang zu neuen Nutzungsmöglichkeiten besteht. Und die Touristen, auf deren Zustrom man so hofft? Statt wie bisher unter dem Eindruck schwarzer Fensterhöhlen durch unbelebte Hintergassen den Weg von einer Luther-Stätte zur nächsten suchen zu müssen, sollen sie künftig auf einem Luther-Pfad vom Besucherzentrum, das derzeit beim Geburtshaus des Reformators von Springer Architekten aus Berlin realisiert wird, zu seinem Sterbehaus spazieren können.
Im westlich von Halle gelegenen Aschersleben, dessen Einwohnerzahl zwischen 1990 und 2005 von 34 152 auf 25 909 schrumpfte, erblickt man auf Abrissflächen am stark befahrenen Innenstadtring als neue Raumkanten begrünte Metallgerüste oder eine Wand aus Drahtkörben, die im Stil einer Assemblage mit sauber geschichteten alten Dachziegeln, Waschbecken oder Klinker gefüllt sind. Im Jahr 2010 soll sich der Ring nicht mehr als graue Durchgangszone, sondern als «Drive-thru-Gallery» präsentieren. Die Stadt ermutigt zudem Umzüge aus den Neubauvierteln der Peripherie zurück in den Stadtkern mit seinen vielen schönen Fachwerkhäusern. Um die Altstadt zu stärken, hat man hier schon vor Beginn der IBA auf qualitätvolles Bauen im Bestand gesetzt: So hat die in Wittenberg und Berlin tätige Architektin Mara Pinardi 2003 das direkt an der Stadtmauer gelegene, ehemals preussische Gefängnis in ein Stadtarchiv und stimmungsträchtiges Kriminalmuseum verwandelt.
Manch einer wird sich fragen, ob all die Massnahmen in den schrumpfenden Städten nicht bloss Tropfen auf den heissen Stein sind. Doch wo immer mehr öffentliche Einrichtungen schliessen, Tausende von Wohnungen auf Dauer leer stehen, der Rückbau überdimensionierter Leitungsnetze ansteht und Hoffnungen auf einen Wirtschaftsaufschwung schwinden, geht es zuallererst darum, der Entmutigung und Passivität etwas entgegenzusetzen. Die IBA gibt den beteiligten Städten kein Geld, aber neues Selbstbewusstsein. Sie bietet fachliche Hilfen beim Finden und Präzisieren urbanistischer Strategien sowie - auf dem Wege jährlicher Evaluierungen - eine Erfolgskontrolle. Sie berät bei der Beantragung von Fördermitteln, sie ermöglicht Vergleiche der Städte untereinander, sie gibt Publikationen heraus und veranstaltet Kongresse zu einschlägigen Themen wie etwa der Migration, bei denen sich internationale Horizonte öffnen.
Gegen alte Automatismen
Und noch etwas kommt hinzu. Wenn etwa Halle mittels Aktionen des örtlichen Thalia-Theaters an Leerstellen seiner als DDR-Mustermetropole angelegten Neustadt deren soziokulturelles Profil gegenüber der historischen Altstadt stärkt und so ein Gleichgewicht zwischen beiden Stadthälften herzustellen sucht oder wenn Dessau darauf zielt, mit Hilfe von Bürger-Patenschaften die Pflege stark vergrösserter Landschaftsflächen in der Stadt zu ermöglichen, dann konkretisieren sich dank praktischen Erfahrungen die Punkte, wo alte Automatismen einer auf Wachstum gerichteten Planungskultur versagen. Zwar haben solche Erfahrungen bisher noch nicht zu verwaltungsrechtlichen Anpassungen geführt, doch gibt es dank der IBA jetzt eine Arbeitsgruppe, die das Vorgehen der einzelnen Landesministerien beim Stadtumbau besser zu koordinieren sucht.
Es bleibt anzumerken, dass die Grundidee der IBA weniger neu ist, als sie zunächst scheinen mag. Denn das Konzept einer stabil im Genius Loci verankerten Stadtgestaltung etwa wurde schon von dem lebensklugen schottischen Stadtplaner Patrick Geddes (1854-1932) entwickelt, aus dessen Pragmatismus und Beobachtungsgabe sich auch sonst noch allerhand lernen liesse.
Blick vorwärts, Blick rückwärts
Ein Architektursommer in Dresden
Als Begleitung zum Achthundertjahrjubiläum Dresdens, das in diesem Jahr gefeiert wird, findet hier zum zweiten Mal ein Architektursommer statt. Mehr als 150 Ausstellungen und andere Veranstaltungen und Foren vermitteln dabei Einblicke in das gegenwärtige Baugeschehen der Stadt sowie in die Geschichte der Dresdner Architektur des 20. Jahrhunderts.
Dresden steht im Ruf einer konservativen Architekturstadt. Und das nicht erst, seit die kriegszerstörte Barockbebauung des Neumarkts um die Frauenkirche rekonstruiert wird: Schon die Betriebszentrale des Konsumvereins «Vorwärts», die der Architekt Kurt Bärbig 1927-30 in der Fabrikstrasse errichtete, stand mit ihrer modernen Formensprache im örtlichen Baugeschehen fast einzig da. Dem Image des Rückwärtsgewandten setzen die zwölf jungen Architekten und Designer, die den jetzigen Architektursommer organisiert haben, ein breites Diskussionsfeld mit zahlreichen Ortsterminen entgegen.
Kristallformen
Man braucht Kondition, um manche der Angebote wahrzunehmen. So rotieren zum Beispiel die thematischen Teilabschnitte der vom Denkmalamt erarbeiteten und in ihren zentralen Bereichen im Kulturrathaus gezeigten Ausstellung zur Dresdner Architektur zwischen 1900 und 1970 in monatlichem Wechsel bis Ende September zwischen sechs weit auseinander liegenden Schauplätzen im Stadtgebiet - mit dem Effekt, dass man auf dem Weg von Ort zu Ort die enormen Brüche in Dresdens urbanem Gefüge unmittelbar erlebt. Einige der Gebäude, in denen die Schautafeln der Ausstellung Station machen, lohnen auch für sich den Besuch - so etwa der UFA-Kristallpalast in der St. Petersburger Strasse, ein 1997 von dem Wiener Architekturbüro Coop Himmelb(l)au errichteter dekonstruktivistischer Kinokomplex mit kristallin umhülltem Foyer und spitzer Betonnase. Er erscheint derzeit in neuem Licht, weil er sich formal mit dem im Bau befindlichen Erweiterungstrakt des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr von Daniel Libeskind berührt.
Dieses Projekt, das bis 2008 realisiert sein soll, wird bis zum 25. Juni in einer technisch unbefriedigenden Ausstellung ohne Begleitpublikation in provisorischen Räumen hinter dem Bauplatz vorgestellt. Beim Altbau des Museums handelt es sich um das einstige Arsenalhauptgebäude der Albertstadt, Deutschlands um 1880 modernste Militärstadtanlage. Libeskinds Eingriff ist von plakativer Symbolkraft: Aus dem langgezogenen Neorenaissance-Riegel von 1875 will er asymmetrisch hinter dem Mittelrisaliten einen hohen, keilförmigen Baukörper hervorragen lassen, der an einen überdimensionalen Geschosssplitter ebenso erinnert wie an den Bug eines auf ein Riff gelaufenen Kriegsschiffs. Von der gläsernen, durch Screen-Elemente aus Aluminium verschatteten Keilspitze soll sich ein Blick zurück auf die im Krieg tödlich getroffene Innenstadt öffnen.
Maske und Gesicht
Die städtebauliche Schmerzzone, die aus den Zerstörungen von 1945 und den nachfolgenden Abrissen resultiert, wird im Architektursommer durch verschiedene Führungen thematisiert - so etwa zur Situation am Neumarkt, wo als Kulisse um die wiederhergestellte Frauenkirche die Rekonstruktionen der barocken Bürgerhäuser inzwischen weit fortgeschritten sind. Derzeit zeigen bedruckte Planen vor den Baugerüsten, wo den Betonrohbauten als Maske eine Nachbildung der alten Fassade vorgesetzt wird und wo Häuser mit angepasster Kubatur und Dachform ein gemässigt modernes Gesicht erhalten.
Bei den Zeugnissen der Nachkriegsmoderne stellen sich ganz andere Probleme. Weder der Kulturpalast von 1962-69 noch die Prager Strasse, die ab 1963 als Fussgänger-Magistrale zwischen Hauptbahnhof und Altstadt nach dem Vorbild der Lijnbaan im ebenfalls kriegszerstörten Rotterdam errichtet wurde, stehen bis heute unter Denkmalschutz. Zwar soll der Kulturpalast entgegen früheren Plänen nun doch erhalten und der gewaltige Wohnriegel der Prager Strasse saniert werden; aber ob dem Warenhaus Centrum der Architekten Ferenc Simon und Ivan Fokvari (1973-78), dessen Wabenfassade das Nordende des Boulevards prägt, ein Total- oder nur ein Teilabriss bevorsteht, wird gegenwärtig gerade erst entschieden. Durch Um- und Neubauten hat die Prager Strasse in letzter Zeit bereits viel von ihrem originalen Charakter verloren.
Proportionsfragen
Am Südende der Prager Strasse, direkt gegenüber dem Hauptbahnhof, ist inzwischen der städtebauliche Entwurf der Kölner Architekten Mronz und Kottmaier von 1993, der eine Reihe von fünf nebeneinander gesetzten Wohnhaus- Kuben vorsah, verunklärt worden. In Anlehnung an das Kugelhaus, das 1928 in Dresden bei der Schau «Die technische Stadt» zu bestaunen war, hat der Architekt Siegbert Langner von Hatzfeld zwei dieser Kuben als Geschäftsbauten realisiert und mit einem Treppenhaus zusammengefasst, das eine Kugelform antäuscht. Zu den Proportionen des gegenüberliegenden tortenstückförmigen, soeben eröffneten Geschäftshauses «Prager Spitze» sowie zur räumlichen Wucht der Nachkriegsmoderne in der Prager Strasse ergibt sich ein ungewollt skurriler Bezug.
Aber der Architektursommer zeigt auch Wege zur geklärten Form. So haben Thomas Müller und Ivan Reimann - die Architekten des neuen Flügels am Auswärtigen Amt in Berlin - mit dem sogenannten Lukasareal an der Reichenbachstrasse südlich des Hauptbahnhofs 2004 ein gestalterisch stringentes und ohne öde Nebenwirkungen beruhigtes Wohnquartier realisiert, das von den Zürcher Landschaftsarchitekten Kienast Vogt & Partner mit Witz und Poesie begrünt worden ist. Man sieht: Ein Sommertag in Dresden braucht sich nicht unbedingt barock zu gestalten.
Ein Pfeiler zu wenig
Neue Architektur in der Welterbestätte von Edinburg
Neubauvorhaben in oder direkt neben Weltkulturerbestätten müssen hohen Ansprüchen genügen. Wo diese nicht erfüllt werden, droht der Entzug des Welterbestatus. Im letzten Jahr hat die Unesco Richtlinien für ein erwünschtes Zusammenspiel zwischen Alt und Neu publiziert. Sie helfen, die Baupraxis im schottischen Edinburg zu bewerten.
Morgens eine steinerne Sphinx im Nebel, mittags goldenes Streiflicht in tiefen Gassenschluchten und abends die Erinnerung an Leerie, den von Robert Louis Stevenson in «A Child's Garden of Verse» (1885) so sehnsüchtig herbeigewünschten Gaslaternen-Anzünder: In Edinburg spielen Helligkeit und Dunkelheit mit den starken Farben der schottischen Geschichte. Dazwischen spannt sich eine Zone räumlicher Rätsel und Verwirrungen; manche Häuser haben auf der Vorderseite vier und auf der Rückseite zehn Stockwerke, andere sind unten von Osten und oben von Westen erschlossen. Wohin die unzähligen Treppen führen, ist nie ganz vorhersehbar. Hinauf durch enge Winkel, hinab in gerader Flucht: Laut dem Dichter Hugh MacDiarmid (1892-1978) gleicht Edinburg dem Traum eines irren Gottes.
Im Auge der Welt
So verschachtelt im Detail, so klar gegliedert ist die Stadt jedoch im Grossen. Ihr Kern besteht aus zwei Teilen - der seit dem Mittelalter gewachsenen Old Town, die sich auf hohem Bergrücken entlang der berühmten Royal Mile vom Schloss hinab zum Palast von Holyroodhouse zieht, sowie der seit 1767 nach Plänen von James Craig und anderen Architekten nördlich und parallel der Old Town angelegten New Town, welche dem Zeitalter der schottischen Aufklärung das strenge klassizistische Gesicht gab. Die beiden Stadthälften sind durch das Waverley Valley voneinander getrennt: Wie ein verlorener Drachenflügel schimmert dort unten das riesige gläserne Faltdach des viktorianischen Bahnhofs neben den schönen Princes Street Gardens.
1995 wurden Old und New Town in die Liste der Welterbestätten aufgenommen. Laut der Unesco ist es vor allem das Doppelgesicht der Stadt, das sie so kostbar macht: der Gegensatz zwischen der schattig zerklüfteten Old Town mit dem Schloss als Gipfelpunkt einer verwegenen Skyline und der strikt nach einheitlichen Kriterien geplanten New Town, wo man sich entlang schnurgerader Perspektiven über grosszügig bemessene Strassen und Plätze bewegt. Anders gesagt, geht es hier um Kontraste zwischen den himmelhohen Vertikalen der Altstadt und den langen Horizontalen der Neustadt, zwischen der Rauheit unregelmässig gesetzter Fassaden aus dem 16. und 17. Jahrhundert und der Ebenmässigkeit klassizistischer Strassenfronten, zwischen nördlichen Spitzbögen und antikischen Palmetten, zwischen einfallsreichem Pragmatismus und philosophisch begründeter Rationalität. Überall in der Stadt öffnen sich dabei phantastische Sichtachsen - hier auf den fernen Meereshorizont, dort aus der Tiefe zur Höhe oder von kühnen Brücken hinab.
Windige Höhe
Edinburgs Welterbestätte ist rund viereinhalb Quadratkilometer gross. Von den knapp 4500 aussen grau patinierten und innen oft strahlend farbigen Bauten, die in ihr stehen, sind über drei Viertel denkmalgeschützt; man denkt zum Beispiel an die Kathedrale von St. Giles oder an die von Robert Adam 1791 entworfenen Wohnhäuser am Charlotte Square mit ihrem zarten linearen Baudekor. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar einige herbe Abrissverluste, doch in der Folge herrschte eine Politik strikten Konservierens ohne viel Spielraum für Neues. Heute bläst ein anderer Wind: So verwandelt etwa Norman Foster die türmchenbekrönte, von David Bryce und anderen Baumeistern seit 1872 erbaute ehemalige Royal Infirmary im grünen Südzipfel der Welterbestätte in ein mit Glasquadern und elfstöckigen Hochhäusern verdichtetes Wohn- und Geschäftsviertel namens Quartermile, wobei er einen der denkmalgeschützten Altbauten abreissen will. Wegen des erwarteten Effekts der Hochhäuser auf die Skyline mahnte vor kurzem der Internationale Rat für Denkmalpflege (Icomos) die Verantwortung an, welche der Welterbestatus der Stadt auferlegt.
Vor welchem Hintergrund strebt Fosters Masterplan gen Himmel? Nachdem die Konservativen 1987 zum dritten Mal in Folge die britischen Parlamentswahlen gewonnen hatten, sah sich die von der Labour Party dominierte Edinburger Stadtregierung zu einer Fülle marktorientierter Massnahmen gedrängt und nahm intensive Kontakte zum Privatsektor auf. Heute zählt die Stadt - seit je schon die Kapitale schottischen Geldes und Rechtswesens - zu den sechs grössten Finanzzentren in Europa. Mit dem 56 Hektaren grossen Büroviertel «Edinburgh Park» nahe dem Flughafen, für das der amerikanische Architekt Richard Meier 1989 den ersten Masterplan lieferte, antworteten Stadtväter und Investoren auf den Raumbedarf der grossen Banken und Versicherungen. Zum jüngsten Boom Edinburgs trugen aber auch Medizin und Biotechnologie, der Bildungssektor sowie der Tourismus bei, der im Jahr 4,5 Millionen Besucher bringt.
Zentraler Schandfleck
Erfolg zieht an: Seit 1991 ist die Einwohnerzahl von knapp 419 000 auf rund 457 000 gestiegen. In Erwartung weiteren Wachstums werden nun die früher industriell geprägten Hafenviertel Granton und Leith an der Küste des Firth of Forth regeneriert - allein in Granton auf 140 Hektaren. Zwar liegen diese Areale ausserhalb der Welterbestätte, aber Letztere kann sich dem enormen Entwicklungsdruck nicht entziehen. Klar wird das schon an dem verdorbenen Blick von der zentralen Princes Street zum Schloss. Westlich von ihm schieben sich zwei pompös gestylte Büropaläste des Finanzviertels «The Exchange» ins Bild: das Standard Life House (Architekten: Michael Laird Partnership, 1996) und die Clydesdale Plaza (von Cochrane McGregor, 1998/2000), die bereits in der «Schandfleck»-Rubrik der Zeitschrift «Architectural Review» figurierte.
Hier rächt sich das Fehlen von Pufferzonen um die Welterbestätte, von deren Grenze die Exchange wie ein Keil ausgespart ist. Terry Farrell - der Verfasser des Masterplans für dieses neue Stück Edinburg, den man etwa als Architekten des Flughafenbahnhofs von Kowloon in Hongkong kennt - wurde 2004 zum künstlerischen Berater oder «Design Champion» der Stadt bestellt. Bis man mehr darüber weiss, wie er auf das gute halbe Dutzend derzeit in der Welterbestätte hängiger Grossprojekte reagieren wird, rufen die zahlreichen auf deren Gebiet schon errichteten Neubauten vernehmlich nach Reaktionen der internationalen Öffentlichkeit.
Zunächst: Was fordert die Unesco von neuer Architektur im Welterbe-Kontext? Genau fixiert ist das erst seit der im Mai 2005 unter Beteiligung von Icomos in Wien veranstalteten Konferenz «Welterbe und zeitgenössische Architektur». Ihre als Wiener Memorandum publizierten Ergebnisse wurden kurz darauf vom Welterbe- Komitee der Unesco offiziell angenommen. Der Schlüsselbegriff des Dokuments lautet «historische Stadtlandschaft». Zu deren Erhalt werden integrative Vorgehensweisen gefordert, welche zeitgenössische Architektur im Rahmen nachhaltiger Stadtentwicklung in den jeweils gegebenen historischen, räumlichen, visuellen, ökonomischen, technischen, topographischen sowie botanischen Zusammenhängen verankern; dabei sollen auch Verkehrsprobleme, Details des öffentlichen Raums, Grünflächen und so weiter in den Blick rücken. Zugleich verlangt das Memorandum, neue Architektur habe wirtschaftliches Wachstum und soziale Veränderungen zu erleichtern - könne sie doch den betroffenen Städten erhebliche Wettbewerbsvorteile bringen.
Beschränkte Formensprache
Zurück in Edinburg, steht man vor dem ungeschlachten schwarzgelben Bürogebäude mit benachbartem Kino-Komplex und Hotel, das Allan Murray Architects 1998-2002 am oberen Ende des Leith Walk im Ostteil der New Town placierten. Unter dem visuellen Gewicht des Ensembles versucht sich die einbezogene Kirchenfassade von 1846 wie ein schwacher Schatten viktorianischen Selbstbewusstseins im abfallenden Terrain zu halten. Wo hier der Wettbewerbsvorteil durch neue Architektur zu suchen sein soll, ist schwer auszumachen, kennt die Welt doch schon Tausende ähnlich gearteter Flaggschiffe der Freizeit- und Dienstleistungsgesellschaft. Aus dem Hinterausgang des gegenüberliegenden St.-James-Einkaufszentrums (1964-1970) geflüchtet, finden wir uns im Multrees Walk wieder, einer Shoppingzeile mit Luxusangebot zwischen der neuen Busstation und dem Nobelkaufhaus Harvey Nichols. Für das 2002 eröffnete exklusive, aber gesichtslose Ensemble zeichnen Comprehensive Design Architects (CDA) verantwortlich.
Allan Murray und CDA zählen zu den örtlichen Architekturbüros, die sich grosse Teile des Kuchens prominenter Innenstadt-Aufträge teilen. Zusammen haben die beiden Firmen soeben Pläne für einen voluminösen Wohn-, Hotel- und Geschäftskomplex in der finanziellen Grössenordnung von 180 Millionen Pfund am unteren Abschnitt der Royal Mile vorgestellt. Murray geniesst überdies die Unterstützung der Stadt für ein Projekt im oberen Teil der Meile, welches die weitgehende Demolierung eines denkmalgeschützten früheren Verwaltungsgebäudes von RMJM (1968) schräg gegenüber der Nationalbibliothek verlangt, und plant einen weiteren Bau in nächster Nähe des Universitäts-Hauptgebäudes von Robert Adam und William Playfair (1789-1831). CDA ihrerseits haben unter anderem das einer Shopping-Mall verwandte Hauptquartier der Zeitung «The Scotsman» (1999) entworfen, das - überragt von den Felsen der Salisbury Crags - direkt an die Welterbestätte grenzt.
Droht durch die rege Bau- und Planungstätigkeit weniger grosser Büros an exponierten Stellen in Old und New Town am Ende eine Verflachung des von der Unesco so hoch bewerteten Kontrastes zwischen beiden Stadthälften? Eine solche Gefahr sei nicht auszuschliessen, meint David McDonald, Direktor der gemeinnützigen Cockburn Association, die sich der Pflege des Stadtbildes widmet. Keinen Kommentar zur selben Frage gibt es bei der Edinburgh City Centre Management Company (ECCM) - einer Firma, welche von der Stadt, dem Privatsektor und mittelbar auch der schottischen Regierung finanziert wird. Sie koordiniert die Belange aller, die in der Innenstadt Geschäftsinteressen verfolgen. Das Hauptinstrument dabei ist der Aktionsplan «Inspiring Action», der etwa die Fläche der Welterbestätte abdeckt. Trotz Problemen - etwa mit dem überbordenden Individualverkehr - setzt das Papier auf den Ausbau des Einzelhandels. Gordon Reid, der CEO von ECCM, veranschlagt die in der Innenstadt bis 2015 zusätzlich zum bestehenden Angebot geplanten Verkaufsflächen auf gut 50 000 Quadratmeter.
Aber wo in der Welterbestätte ist Platz für Projekte dieser Grösse? Erstens diskutiert die Firma Network Rail mit der Stadt, den Hauptbahnhof mit einem Shoppingcenter zu um- oder überbauen; zumindest mit seinem das Stadtbild prägenden Glasdach von 1874 wäre es dann vermutlich vorbei. Und zweitens soll die Haupteinkaufsstrasse Princes Street, die mitten durch das Herz des Welterbes führt, in den nächsten zehn Jahren für über 500 Millionen Pfund baulich ins globale 21. Jahrhundert katapultiert werden. Zum Vergleich: Die für das Wohl der Welterbestätte zuständige, von der Stadt und der staatlichen Denkmalpflege Historic Scotland getragene Organisation Edinburgh World Heritage (EWH) vergab im Finanzjahr 2004/05 an Eigentümer von Baudenkmalen Zuschüsse von insgesamt 1,071 Millionen Pfund. Es bleibt zu fragen, wie wirksam der von der Unesco verlangte und 2005 von EWH vorgelegte Management-Plan für die Welterbestätte im Verhältnis zum Aktionsplan von ECCM und zu den wirtschaftlichen Prioritäten der Stadtregierung werden kann.
Welle oder Boot
Viele Besucher wollen aber auch anspruchsvolle Gegenwartsarchitektur sehen und besichtigen das 2004 eröffnete Parlamentsgebäude des katalanischen Architekten Enric Miralles, seiner Witwe Benedetta Tagliabue und des örtlichen Büros RMJM. Zu entdecken ist hier eine vordringlich poetische Komposition aus Granit, Schiefer, Holz, Aluminium, Stahl und Sichtbeton. In hyperkomplexer Vieldeutigkeit verflechten sich Wellen-, Augen-, Blatt- oder Bootsmotive mit Anklängen an geologische Formationen, die Treppengiebel der Old Town und die schottische Fahne. Als Ort politischer Arbeit und Mitsprache wirkt der Bau belebend, ohne dass die Aussenfassaden oder die Raumsequenzen im Innern sämtlich überzeugen könnten. Dennoch: Miralles hat hier Muster der historischen Stadtlandschaft erkannt, aufgenommen und in ein neues Idiom übersetzt. Und genau dieses Denkniveau lassen fast alle anderen Grossprojekte in Edinburg so stark vermissen, sieht man von dem nur teilweise missglückten Neubau des Museum of Scotland von Benson & Forsyth (1998) einmal ab.
Im Kleinen wird man eher fündig. In der westlich ans Parlament anschliessenden Holyrood North Site - einem ehemaligen Brauereigelände, das der Masterplaner John Hope seit 1993 nach den historischen Vorgaben der Old Town durch rechtwinklig von der Royal Mile abzweigende enge Gassen erschloss - markiert das Wohnhaus Canongate Nr. 112 des Architekten Richard Murphy (1998) mit seinem gezackt auskragenden hölzernen Dachgeschoss den Eingang zur Crichton Close. Hier steht die von Malcolm Fraser Architects entworfene Scottish Poetry Library (1999). Sie mutet wie die moderne und vergrösserte Variante eines aufgeklappten Standes auf den Buchmessen alter Zeiten an: Ein schwarzer Metallrahmen ist kombiniert mit schlichten Holzverkleidungen, einer gemauerten alten Rückwand unter schräg abfallendem Oberlichtstreifen, einem vorkragenden leichten Pultdach - und im Innern finden wir eine helle, informelle Umgebung.
Vernachlässigte Baukunst
Malcolm Fraser und der von Vorbildern wie Carlo Scarpa und Glenn Murcutt inspirierte Richard Murphy zählen derzeit zu den interessantesten Edinburger Architekten; Murphys versteckte Wohnbauten in der Dublin Street Lane der New Town (1998) sowie seine weissen, turm- und burgartigen Häuser auf dem steilen Areal zwischen Tron Square und Cowgate in der Old Town (2001-2006) lohnen die Suche für jene, die hinter die allbekannten Fassaden der Innenstadt vordringen wollen. Gut eingepasst in das bergige Stadtbild ist aber auch die Moschee, die Basil al-Bayati 1998 knapp südlich der Welterbestätte errichtete. Und wer verspielte Bauten mag, sollte den Kindergarten (2001) in der Old Assembly Close an der Royal Mile aufsuchen: Hier hatte Allan Murray Glück mit seinem jungen Projektarchitekten Steven McGillivray.
Insgesamt scheint es, als müsse sich die Baukunst in Edinburg heute mit ein paar kleineren Projekten begnügen. Entgegen den Leitlinien des Wiener Memorandums bekommt die Welterbestätte immer mehr mittelmässige und auswechselbare Grossbauten mit toten Oberflächen, dürftig gegliederten Volumina und überdimensionierten Glaspartien verpasst, deren Anspruch auf Kontextualität bei der Traufhöhe und den vorgehängten Sandsteinfassaden endet. Der vorherrschende Typus des Architekturwettbewerbs ist hier zum Schaden des Welterbes nicht der offene und internationale, sondern jener, zu dem Investoren eine begrenzte Zahl von Büros einladen. Und diesen fehlt oft die künstlerische Kompetenz im Umgang mit Formen, Licht, Materialien, Symbolen sowie dem visuellen und intellektuellen Inspirationspotenzial der Stadt.
Schon der altrömische Autor Vitruv, auf den sich die Architekten der New Town stützten, nannte Stabilität, Zweckmässigkeit und Schönheit als Grundpfeiler der Architektur. Es würde helfen, sich alle drei zu merken. Edinburgs Stadtlandschaft ist hochempfindlich, doch Norman Fosters Bauprojekt in der Quartermile bildet nicht ihre massivste Bedrohung. Die Unesco wäre gut beraten, in den nächsten Jahren das Gesamtbild scharf zu beobachten und sich nicht durch ein Einzelproblem am Rande der Welterbestätte von den viel riskanteren Vorhaben in deren Zentrum ablenken zu lassen.
Baukünstlerische Perlen in Schutt und Asche?
Leipzigs wertvolle Gründerzeithäuser zwischen Abriss und Aufwertung
Ostdeutschland verfügt über einen imposanten Bestand an Wohnbauten der Gründerzeit. Der Bevölkerungsrückgang und die Abwanderung aus den Städten nach Westdeutschland oder auf die grüne Wiese haben jedoch zu dramatischen Wohnungsleerständen geführt. Vielerorts kommt es zu Hausabrissen. Die Situation in Leipzig veranschaulicht das Spannungsfeld, in dem die Gründerzeit-Denkmale stehen oder fallen.
Jedes Mal, wenn der kleine Nikolaus Pevsner am Anfang des vorigen Jahrhunderts das prachtvolle Treppenhaus seines Leipziger Elternhauses in der Schwägrichenstrasse 11 hinablief, passierte er auf dem Weg ins Vestibül ein warm getöntes Wandgemälde. Dargestellt war darauf eine weibliche Personifikation der Architektur - den Zirkel in der rechten, ein Tempelmodell in der linken Hand. Offensichtlich zeitigte das Bild Wirkung, denn aus dem Knaben wurde später einer der bedeutendsten Architekturhistoriker Grossbritanniens; aus Deutschland hatte er vor den Nationalsozialisten fliehen müssen. Das 1894-96 von dem sächsischen Hofbaumeister Otto Brückwald erbaute Stadtpalais, wo Pevsner als Sohn eines Pelzhändlers in einer 270 Quadratmeter grossen Mietwohnung mit sieben Wohnzimmern aufwuchs, zeigt sich seit seiner Sanierung vor drei Jahren in neuem Glanz: Zwar sind die Wohnungsgrundrisse verkleinert, aber im restaurierten Eingangsbereich des Hauses mit seinen dorischen Säulen, rot marmorierten Pilastern, fein profilierten Stuckleisten und dem Deckenspiegel mit gemaltem Himmelsausblick wähnt man sich in Leipzigs goldensten Zeiten.
Glanz des Geglückten
Die Stadt bietet eine stolze Reihe solcher sanierter Prachtbauten. Im Haus Käthe-Kollwitz- Strasse 115 - einer ziegelroten Neorenaissancevilla, die der Architekt Max Pommer 1885 für den Lexikonverleger Herrmann J. Meyer errichtete - hat seit kurzem ein Wirtschaftsklub seinen Sitz. Bei der von privater Hand getragenen Renovierung wurde die historistische Ausmalung der Eingangshalle und des Treppenhauses komplett freigelegt: zarte Groteskenmalereien nach italienischem Vorbild, Porträtmedaillons, Fruchtgehänge, Greifen, Wandbilder mit griechischen Tempeln und einer Ansicht der Wartburg inmitten deutschen Eichenlaubs. Das Eckgebäude Waldstrasse 62 (Architekt: G. Muschner, 1891) setzt andere Akzente; hier stehen wir in einem hoheitsvollen Mietshaus mit Neorokoko-Ausstattung, wo gleich vier gemalte Allegorien der Malerei und Architektur in den Gewölbekappen des Vestibüls blumig vom kulturellen Ehrgeiz der Bauherrschaft künden. Einen Einblick in die erstaunlich umfangreichen Funde und die herausragende Qualität gründerzeitlicher Dekorationsmalerei in der Messestadt vermittelt das Buch «Leipzig. Dekorative Wandmalerei in Bürgerhäusern» (Herausgeber: Landesamt für Denkmalpflege Sachsen, Verlag: Edition Leipzig, 2000).
Dem Verfall entgingen aber nicht nur Prunk- und Ausnahmeobjekte. In den letzten fünfzehn Jahren sind vier Fünftel von Leipzigs berühmtem Bestand spätklassizistischer und gründerzeitlicher Wohnhäuser saniert worden, von denen mehr als 10 000 unter Denkmalschutz stehen. Ganze Strassenzüge im vornehmen Waldstrassen- und Bachviertel sind heute fast völlig erneuert, während ein geschlossenes Fassadenensemble wie das der Harnackstrasse zeigt, dass auch im bescheideneren Osten der Stadt eine Menge geschehen ist. Die Kommune versucht mit zahlreichen Initiativen, einer Abwanderung in die Einfamilienhaussiedlungen des Umlandes gegenzusteuern. So können zum Beispiel Eigentümer von Altbauten bei Sanierungen kostenlos eine bis zu fünfstündige Beratung von Architekten erhalten. Dieses Angebot ergänzt das vom Amt für Stadterneuerung betreute Selbstnutzer-Programm, das es privaten Interessenten und insbesondere jungen Familien erleichtert, sich zum Erwerb von Altbauten zusammenzutun. Darüber hinaus soll die Zahl innerstädtischer Baulücken, die vielfach noch aus dem Zweiten Weltkrieg herrühren, mittels des Vermarktungsangebots «Mut zur Lücke» sowie eines Stadthäuser-Programms verringert werden, das an ausgewählten Standorten die Wiederherstellung klarer Blockränder bezweckt.
Schatten des Verfalls
Trotz dem bisher Erreichten hat Leipzig aber gegenwärtig in puncto Gründerzeit eine schlechte Presse. Man liest von Verfall und einer Perforation des Stadtgefüges, vom Abbruch geschützter Baudenkmale und von heftigen Bürgerprotesten. Noch sind nach Angaben der Stadt etwa 2500 gründerzeitliche Wohnhäuser unsaniert; 500 bis 800 davon haben, so unterstreichen die örtlichen Denkmalpfleger, eine besondere städtebauliche oder kulturgeschichtliche Bedeutung. Der Grad ihrer Gefährdung ist zwar unterschiedlich, aber stellenweise sieht es vor Ort böse aus. Betrachten wir das herrschaftliche Eckhaus Goldschmidtstrasse 31: Im Dach hat es gebrannt, und der üppige Fassadenschmuck mit seinen manieristischen Details bröckelt so, dass ein überdeckter Plankengang das Trottoir vor dem Haus schützt. Aber ein auffälliges Maklerschild lässt noch Hoffnung für den Bau keimen, zumal sich auch das Amt für Denkmalpflege aktiv um den Verkauf solcher Bijous des Fin de Siècle mit ihren oft gut erhaltenen Ausstattungselementen bemüht. Nebenbei bemerkt: Um die Handlungsspielräume aller Beteiligten einschätzen zu können, muss man den Effekt der bestehenden Besitzverhältnisse mitbedenken; rund 900 der bisher unsanierten Häuser aus dem 19. Jahrhundert werden von der stadteigenen Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft (LWB) verwaltet.
Jüngst hat die Stadt ein neues Sicherungsprogramm für herausragende Gründerzeitbauten eingeleitet. Im Stadterneuerungshaushalt können für die Sanierung von Gebäudehüllen derzeit etwa 2,37 Millionen Euro und für Einzelsicherungsmassnahmen rund 1,05 Millionen Euro bereitgestellt werden. Das ist zwar besser als nichts, aber die Probleme sind riesig: Bei knapp 500 000 Einwohnern im Jahr 2004 standen in Leipzig rund 50 000 Wohnungen leer. Es ist nicht sehr gemütlich, in einem zu drei Vierteln unbewohnten Häuserblock zu leben, wo Angst vor Vandalismus und anderen Straftaten das ohnehin schon melancholische Tableau trübt - und von betriebswirtschaftlichen Lasten hat man da noch gar nicht geredet. Selbst Fachleute, die für die Gründerzeitsubstanz kämpfen, lehnen deshalb nicht jeden Abriss ab: «Es hiesse die Augen vor der Realität verschliessen, wollte man in der heutigen Situation die Erhaltung des Gesamtbestandes fordern», schrieb der Leipziger Architekturhistoriker Arnold Bartetzky 2003 in der «Kunstchronik», dem Organ des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker. Aber: Es fehle inzwischen unübersehbar an gutem Willen gegenüber denkmalpflegerischen Belangen. In einer Zeit, in der Rekonstruktionen verlorener Baudenkmale zunehmend als legitim betrachtet würden, gehe der Respekt vor den noch stehenden Originalbauten sträflich verloren.
Erinnerung an eine Strasse
Realismus oder Respektlosigkeit? Wer da als politischer Akteur richtig steuern will, braucht nebst weitsichtigem Unterscheidungsvermögen ein Gespür für die Tücken, die zwischen Ideal und Wirklichkeit lauern. Leipzigs Stadtentwicklungsplan aus dem Jahr 2000 enthält eine klare Zonierung des Baubestandes nach begründbaren Prioritäten. An erster Stelle soll die Gründerzeitsubstanz in der Innenstadt sowie im Waldstrassen- und Bachviertel erhalten werden; dorthin sind unter anderem rund 37 Millionen Euro aus dem Bund-Länder-Programm «Städtebaulicher Denkmalschutz» geflossen. Besondere Förderung geniessen daneben vierzehn förmlich festgelegte Sanierungsgebiete, zu denen die beliebten Stadtteile Gohlis und Innerer Süden zurzeit noch ebenso gehören wie die mit grossen Leerständen kämpfenden Quartiere Kleinzschocher, Plagwitz, Lindenau oder Neuschönefeld. Hier bewegen wir uns in den früheren Arbeitervierteln des Leipziger Westens und Ostens, wo heute besonders Förderprogramme der Europäischen Union wie URBAN II und «Die soziale Stadt» zum Einsatz kommen. Abrisse schliesst das nicht aus; so ist etwa die Bebauung der Kuhturmstrasse in Lindenau um das Jahr 2000 fast ganz verschwunden.
Substanzbewahrung in ausgewiesenen Bereichen und Ausdünnung in zusammenhängenden Zonen statt in Form chaotischer Breschenbildung: Auf dem Papier sehe das besser aus als in der Praxis, sagt der Rechtsanwalt Wolfram Günther. Er ist einer der drei Sprecher des Stadtforums Leipzig, in dem sich Fachleute und andere engagierte Bürger 2004 zum Schutz von Stadtbild und Baudenkmalen zusammengeschlossen haben. In der Bibliothek des Hauses der Demokratie im Stadtteil Connewitz erläutert Günther die Situation an der Wurzener Strasse im Leipziger Osten, wo die Stadt nur eine Strassenseite - auf Kosten der anderen - erhalten will. Aber man hat die Rechnung ohne die Hauseigentümer gemacht: Einige Bauten an eigentlich zum Abriss vorgesehenen Strecken seien, so Günther, inzwischen saniert. Da bleibt kaum anderes übrig, als Bäume in schon geschlagene Lücken zu pflanzen.
Grüner Mantel
Das Perforationsproblem wird dadurch verschärft, dass man in Ostdeutschland mit Hausabrissen zu Fördergeld kommen kann - genauer gesagt, zu 60 (bis Ende 2004 waren es noch 70) Euro pro Quadratmeter abgerissene Wohnfläche. Es heisst, dass es vor diesem gewinnversprechenden Hintergrund sogar zu Häuserkäufen zwecks Abbruch gekommen sei. Damit wären wir bei dem von 2002 bis 2009 laufenden Programm «Stadtumbau Ost», für das insgesamt 2,5 Milliarden Euro Bundes- und Ländermittel angesetzt sind. Das Geld ist je zur Hälfte für Abrisse und für Aufwertungsmassnahmen vorgesehen, wobei Letztere im Gegensatz zu Ersteren zu einem Drittel auch von den meist wenig zahlungskräftigen Kommunen finanziert werden müssen. Deshalb - und auf Druck der unter Finanzproblemen leidenden grossen Wohnungsgesellschaften - wird derzeit der Löwenanteil der Mittel einseitig für Abrisse bewilligt. Dafür kritisiert nicht zuletzt der Leipziger Stadtbaurat Engelbert Lütke Daldrup scharf die sächsische Landesregierung: Beim Stadtumbau Ost bestünde nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn gezielt Aufwertungsmittel zur Sicherung erhaltenswerter Gründerzeithäuser eingesetzt werden könnten.
Gerade Leipzig spielte schon in den neunziger Jahren eine Vorreiterrolle darin, sich auf Schrumpfung einzustellen. Rückbau sollte dabei nicht nur Abriss, sondern mindestens auch Begrünung heissen. Gelungen ist eine solche auf dem Gelände des früheren Eilenburger Bahnhofs, das zu einem langgezogenen Park umgestaltet worden ist. Hier rollen heute die Inline-Skater, und in den angrenzenden Strassen sind fast alle Häuser saniert: Die Aufwertung durch Grün hat gegriffen. Aber anderswo?
Baudenkmale als Verkehrsopfer
Obwohl die Stadt sich um eine Zwischennutzung und Begrünung von Baulücken bemüht, breiten sich auf leeren Grundstücken ausser Unkraut vor allem parkende Autos aus, und zu Gewerbezwecken siedeln sich hier deutlich weniger Biergärten als Gebrauchtwagenhändler an. Wo in den letzten Jahren grössere Abrissflächen entstanden, weht dem Besucher dann nur allzu oft die Ödnis platter Grünflächen und kahler Giebelwände entgegen. - Besonders unattraktiv wird das Stadtbild da, wo der Strassenverkehr urbane Qualitäten besiegt. Leipzig verfügt über ein radiales System überwiegend vierspuriger Hauptverkehrsstrassen, das nun auch tangential ausgebaut wird. Zudem wirft die Fussballweltmeisterschaft von 2006 ihre verkehrspolitischen Schatten voraus: Zwei der Strassen, in denen es jüngst zu Abrissen von Kulturdenkmalen kam, führen in Richtung Zentralstadion. In der Jahnallee fiel im Mai 2005 die «Kleine Funkenburg», ein spätklassizistisches Wohnhaus. Zuvor war bereits der südliche Teil der nahe gelegenen Friedrich-Ebert-Strasse auf einem guten halben Kilometer von 17 auf 29 Meter verbreitert worden, wobei sich die Fahrbahn hinter der nächsten grösseren Kreuzung schon wieder verengt. Die Massnahme verschlang ausser 2,4 Millionen Euro drei Gründerzeithäuser, darunter die Wohn- und Wirkungsstätte der bedeutenden jüdischen Frauenrechtlerin Henriette Goldschmidt (1825-1920). Als Bestandteil einer Stiftung hätte dieses Haus bestimmungsgemäss «für alle Zeiten» der Frauenbewegung dienen sollen.
400 denkmalgeschützte Wohnbauten, so schätzt das Stadtforum, sind akut vom Abriss bedroht - darunter das historistische Märchenschloss in der Friedrich-Ebert-Strasse 81, eine Tour de Force des dekorverliebten Architekten Robert Röthig. Dass hier schon auf den ersten Blick die Wände zu wackeln scheinen, mag daran liegen, dass der Abriss von Baudenkmalen leichter durchsetzbar ist, wenn die Besitzer sie rechtzeitig verlottern lassen. Wachsamkeit - das ist in Leipzig denn auch eine wichtige Tugend all derer, die für ein schlüssiges Stadtgefüge und den Erhalt architektonischer Überraschungsmomente kämpfen. Sie tun das auf sächsisch pfiffige Weise: So kümmert sich der Verein «HausHalten e. V.» in Absprache mit den Eigentümern unter der Parole «Hauswächter» um eine bauliche Sicherung und eine Zwischennutzung leerstehender Altbauten, ohne für diese Nutzung dann mehr als die Nebenkosten zahlen zu müssen.
Was tun?
Beim Schutz von Gründerzeitbauten geht es ausser um städtebauliche Zusammenhänge um den Erhalt eines phantastischen visuellen Reichtums - was jeder merkt, der einmal versucht, die Fassade auch nur eines einzigen Hauses mit all ihren Details korrekt zu beschreiben. Hinzu kommen in Leipzig härtere Fakten: Im Gegensatz zu anderen ostdeutschen Städten ist hier statt weiterer Schrumpfung seit etwa fünf Jahren eine leichte Bevölkerungszunahme zu beobachten, so dass vorsichtige Prognosen für 2010 eine Einwohnerzahl von 514 000 und für 2025 von 528 000 möglich scheinen lassen. Es gilt also, auch neuen Wohnungsbedarf in Rechnung zu stellen und mit Abrissen doppelt vorsichtig zu sein. Doch ginge es der Politik ernsthaft um eine Weiter- oder Wiederbelebung der ostdeutschen Innenstädte, wären finanzielle Instrumente wie die sogenannte Eigenheimzulage und die Pendlerpauschale schon längst so umgestaltet worden, dass das Bauen auf der grünen Wiese gegenüber dem Wohnen in Altbauten an Attraktivität verloren hätte. Ausserdem: Zur Verbesserung der Wohnqualität in den Städten müsste eine konsequente Verkehrsberuhigung erfolgen. Nicht zufällig stehen von Leipzig bis Chemnitz und Cottbus in erster Linie die stadtbildprägenden Eckhäuser und Ausfallstrassen leer - und wo an Letzteren die Bebauung wegen Leerstandes fällt, greift der Lärm auf die Nebenstrassen über, so dass sich üble Dominoeffekte voraussehen lassen.
Ostdeutschland braucht dringend lebenswerte Städte mit ausdrucksstarken Strukturen und unverwechselbaren Baudenkmalen als Standortfaktoren. Wer sie haben möchte, darf weder schematisch denken noch automatisch handeln. Das gilt für all jene Entscheidungsträger, die zu überdenken vergessen, wo ein weiterer Ausbau der mittlerweile ja überwiegend guten Verkehrsinfrastruktur auf Kosten der Denkmallandschaft tatsächlich noch nötig ist. Ebenso gilt es für Gründerzeit-Fans, die zwecks Rückbesiedlung der Altbauviertel am liebsten sämtliche ostdeutschen Plattenbauten abreissen würden - gegen den Willen der Menschen, die dort in ihrem sozialen Umfeld verankert sind und deren politische Vertreter in den Stadtparlamenten mitarbeiten. Aber es gilt auch für alle anderen, denn wer mit seinem Auto ins Leipziger Zentrum fährt, trägt jedes Mal ein bisschen zu Lärm, Schadstoffbelastung und Leerständen in den seitlichen Häuserblocks bei. Wer sich von den Eigenheim-Bildern der Bausparkassen gefangen nehmen lässt, wird kaum daran denken, seinen Sparvertrag für die Sanierung einer Stadtwohnung zu verwenden. Und wer beim Einkauf ohne jeden Lieferservice auskommen will, macht sich vom Vorort mit seinen Carports abhängig. Man muss wissen, was man will; jedem steht es offen, nach seinen Möglichkeiten zu guten Stadtbildern beizutragen.
[ Vom 26. November bis 29. Januar 2006 wird in der Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig die Ausstellung «Schrumpfende Städte. Handlungskonzepte» ]
Grüne Schlange
Das Umweltbundesamt von Sauerbruch Hutton in Dessau
Das deutsche Umweltbundesamt ist von Berlin nach Dessau umgezogen: Der dortige Neubau des für seine farbstarken und technisch schlüssigen Entwürfe bekannten Berliner Architekturbüros Sauerbruch Hutton konnte vor wenigen Tagen offiziell eröffnet werden. Er setzt ein klares Zeichen auf dem Gebiet der Verwaltungsarchitektur.
Ein programmatisches Modellprojekt, aber auch und vor allem ein attraktiver Bau: Beim neuen Umweltbundesamt (UBA), das - optisch etwas beeinträchtigt durch die örtliche Verkehrsführung - fast direkt am Dessauer Hauptbahnhof steht, verbindet sich umweltorientiertes Bauen mit ästhetischem Schwung. Die systematische Berücksichtigung eines möglichst breiten Spektrums ökologischer Kriterien war schon im Wettbewerb für dieses Grossprojekt gefordert. Dieser wurde 1998 von Sauerbruch Hutton aus Berlin gewonnen. Wie die Architekten betonen, reizte es sie, aus technisch-ökologischen Lösungen künstlerisches Kapital zu schlagen. So bestimmt etwa die besondere Dicke der vierstöckigen, mit Zellulose gedämmten Aussenfassade aus Lärchenholz und Glas die dreidimensionale Spannung ihres musikalischen Farbmusters. Dieses entfaltet sich - jeweils mit dem Umfeld des Gebäudes korrespondierend und über mehr als dreissig Tonstufen an- und abschwellend - in horizontalen Reihen unterschiedlich breiter Rechteckfelder zwischen Krapprot und Indischgelb, Orange, Himmelblau, Hellgrün und Citron.
Naturbilder
Wie eine vitale Schlange legt sich der Hauptkörper des Baus mit Büros für 800 Mitarbeiter um ein zum Eingang hin zackenreich verglastes Foyer - das sogenannte Forum - sowie um das anschliessende begrünte, gekurvt in die Länge gezogene Atrium. Hier reflektieren Wasserbecken und farbige Glasbruchflächen am Boden das Himmelslicht, das durch das gläserne Sheddach einfällt; vor allem aber erschliessen in dieser Innenzone drei Brückenanlagen mit eingehängten Treppen die einzelnen Stockwerke, während die Fassaden mit leichter Abwandlung auf das Gebäudeäussere antworten. In den Randbereichen von Forum und Atrium verteilt sich eine kleine Familie aus sechs niedrigen und etwas stumpf wirkenden Sichtbetonkörpern oder «Felsen», in denen Hörsaal, Rezeption und andere Sonderfunktionen untergebracht sind.
Als Teil der wohl grössten Umweltbibliothek Europas verbindet ein wellenförmig aufgipfelnder Zwischentrakt die grosse Büro-Schlange mit einem Freihandmagazin, das in die erhaltene Ziegelschale eines kaiserzeitlichen Fabrikgebäudes eingesetzt ist; separat steht dem Ensemble ein leichthändig gestalteter neuer Restaurant-Pavillon gegenüber. Der insgesamt 40 000 Quadratmeter grosse UBA-Komplex liegt auf einer dekontaminierten Industriebrache, deren Geschichte zugleich auf ein Idealbild der Natur verweist: Von hier aus fuhr früher die Eisenbahn ins Wörlitzer Gartenreich, einen der heitersten Landschaftsparks des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Das kleine Empfangsgebäude des früheren Bahnhofs wird nun vom UBA mit genutzt.
Die Langlebigkeit der Baumaterialien, ihre Transportwege, ihr Schadstoffgehalt, aber auch die Frage ihrer allfälligen umweltgerechten Entsorgung - all das wurde bei der Planung des UBA bedacht. Am deutlichsten wird das Ökoprofil des Baus aber beim Blick auf den Energiebedarf. Ein Fünftel der insgesamt benötigten Energie stammt aus erneuerbaren Quellen; signalisiert wird das durch die Photovoltaikanlage auf dem Glasdach des Forums. Der Bedarf an Heizwärme liegt bei 38,5 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr und unterschreitet damit die geltende Energiesparverordnung um mehr als dreissig Prozent. Als technisch avanciertestes Element des Projekts übernimmt ein fünf Kilometer langes Erdkanalnetz je nach Jahreszeit die Vorwärmung oder Vorkühlung der Zuluft für das zentrale, weitgehend natürliche Lüftungssystem. Zudem wird Heizenergie mit Hilfe des Atriums eingespart, das als Wärmepuffer und Sonnenfalle wirkt; für Kühlung sorgen hier bei warmem Wetter unter anderem Lüftungsklappen im Glasdach.
Ökologisches Profil
Das ökologische Konzept für den Bau sei ursprünglich weiter gegangen als im Endergebnis, sagt Matthias Sauerbruch. Aber das schmälert nicht das Verdienst der Architekten - haben sie doch zusammen mit einer ebenfalls flexiblen Bauherrschaft gezeigt, wie nachhaltiges Bauen bei einem öffentlich finanzierten Projekt dieser Grössenordnung auf mehrheitsfähige Weise realisierbar ist. Da interessieren die Kosten: 1650 Euro pro Quadratmeter einschliesslich Sanierung der Altbauten, 68,3 Millionen Euro insgesamt. Für eine durch Farben und kontrastierende Materialtexturen so ansprechende und räumlich so stimulierende Arbeitsumgebung ist das nicht zu viel, zumal sich in fünfzig Jahren die im Vergleich zu konventionellen Bauten höheren Anfangsinvestitionen durch eingesparte Betriebskosten amortisiert haben können. Wer künftig das Bauhaus von Walter Gropius in Dessau besucht, sollte das UBA nicht links liegen lassen.
Eleganz der Nachkriegsmoderne
Schweinfurt feiert den Architekten Erich Schelling
Nüchtern gerastert, farblich dezent und von einfachen Baukörpern bestimmt: Die deutsche Architektur nach 1945 zielte auf Bescheidenheit. Ganze Stadtbilder wurden damals von Architekten geprägt, deren Individualität statt aus grossen Gesten aus Merkmalen wie der Proportionierung, der Konstruktion oder der Qualität der Bauausführung spricht und deren Namen eher im Hintergrund blieben. Das badische Karlsruhe etwa verdankt sein heutiges Gesicht viel weniger dem prominenten Egon Eiermann, der an der dortigen Hochschule lehrte und dessen 100. Geburtstag deshalb jüngst von einer Ausstellung in der Städtischen Galerie markiert wurde (NZZ 21. 9. 04), als vielmehr dem im gleichen Jahr geborenen Erich Schelling (1904-1986). Kurz nach seinem 100. Geburtstag wird nun Schellings Schaffen vom Museum Georg Schäfer in Schweinfurt in einer von Wilfried Wang kuratierten Schau vorgestellt, die anhand von Plänen, Fotografien, Originalzeichnungen und drei Modellen einen gerafften Überblick über 25 Projekte bietet.
Schellings wichtigstes Werk bleibt die Karlsruher Schwarzwaldhalle (1953) mit ihrem konstruktiv kühnen sattelförmigen Hängedach und ihrer schlank strukturierten Fassade. Aber auch das Theater der Stadt Schweinfurt (1961-66) mit seinen zur Horizontale hin orientierten polyedrischen Formen beweist Schellings Sinn für dezente Eleganz und perfekte lineare Detaillierung. Mit dem Schweinfurter Industriellen Georg Schäfer durch den Wiederaufbau von dessen Kugellagerwerk verbunden, plante der Architekt 1959 ein spannungsvoll und leicht in die Landschaft gestelltes Museum für Schäfers herausragende Kunstsammlung, das jedoch - anders als der jetzige Bau von Volker Staab (1998-2000) - nicht zur Ausführung kam. Stattdessen löste Schelling als Verfasser des Generalbebauungsplans für das Kernforschungszentrum Karlsruhe (1955-86) und als Architekt des Hochflussreaktors und Instituts Max von Laue / Paul Langevin in Grenoble (1968-70) zwei der technisch und planerisch aktuellsten Bauaufgaben seiner Zeit.
Die risikofreudigen Wettbewerbsbeiträge des Architekten zeigen, dass es ihm über die gebaute Architektur hinaus stets auch um architektonisches Vordenken ging. Eine Würdigung wichtiger Entwürfe von nicht realisierten Projekten ist denn auch Anliegen der 1992 begründeten Erich-Schelling-Architekturstiftung in Karlsruhe, die alle zwei Jahre ihre mit insgesamt 30 000 Euro dotierten Preise für Architektur und Architekturtheorie verleiht. Unter den bisherigen Preisträgern finden sich Zaha Hadid, Peter Zumthor und Kazuyo Sejima. Der Theoriepreis ging unter anderem an Stanislaus von Moos, nicht zuletzt für Verdienste um die Zeitschrift «archithese» (1998); 2004 erhielt ihn der Soziologe Manuel Castells für seine Analysen aktueller Wandlungsprozesse in den Städten.
[ Bis 3. April. Als Katalog dient die 1994 von der Erich-Schelling-Architekturstiftung edierte Werkmonographie. Euro 29.-. ]
Insel im Datenstrom
Die Bibliothek als Medienzentrum - ein Neubau von Herzog & de Meuron in Cottbus
Statt wie früher mit strengen Geometrien zu arbeiten, erkunden die Basler Architekten Herzog & de Meuron heute vermehrt die organische Form. Im ostdeutschen Cottbus kann heute Montag ihr Informations-, Kommunikations- und Medienzentrum (IKMZ) der Brandenburgischen Technischen Universität eröffnet werden.
Der Weg nach Cottbus führt durch eine endlose Ebene, wo alles Sichtbare unvermittelt aufeinander stösst; einsam stehen Birkenstämme vor Kiefernwäldern, und Krähenschwärme fliegen in hartem Licht. Erst am Rande der Stadt ändert sich das Bild. Hier, in Branitz, schuf Hermann Fürst von Pückler-Muskau ab 1844 einen Landschaftspark mit schwingend pittoresken Konturen. Durch das soeben vollendete Informations-, Kommunikations- und Medienzentrum (IKMZ) von Herzog & de Meuron kann man sich an beide Natureindrücke erinnern lassen: Scharfe Kontraste bestimmen das Erscheinungsbild des Baus ebenso wie ausgeprägt malerische Elemente. Im Gebäudeinnern etwa spiegelt sich das in Parallelstreifen gelegte heftige Gelb, Hellgrün, Magenta, Zinnober und Dunkelblau der Kautschuk-Bodenbeläge in den Decken aus Streckmetall und in den silbrigen Türen der Lifts; so entstehen Seen aus Farbe, die sich bei jeder Bewegung des Betrachters ausdehnen oder zusammenziehen, um sich schliesslich in nichts aufzulösen.
Kühle Buchstaben
Die Bauaufgabe verfremdet landschaftliche Bezüge und macht sie zugleich aktuell. Im Kern handelt es sich beim IKMZ um eine Universitätsbibliothek, deren technische Ausstattung neuesten Anforderungen gerecht werden soll und der deshalb gleichrangig drei weitere Bereiche angegliedert sind: das Universitätsrechenzentrum, ein Kompetenzknotenpunkt für neue Medien sowie die Verwaltungsdatenverarbeitung der Universität. In dieser von Zugangskanälen und Datenhighways durchzogenen Arbeits- und Informationsumgebung mit rund 600 vernetzten Lese-, Lern- und Katalogplätzen sind Notebook, Wireless und WAP-Handy ebenso zu Hause wie Bücher und Zeitschriften. Die meisten davon haben knallbunte Einbände, da die in Cottbus angebotenen Studienrichtungen in erster Linie technisch-naturwissenschaftlich ausgerichtet sind und kaum graue Altbestände mit sich bringen.
Von aussen präsentiert sich das IKMZ, das dem 1969 errichteten Hauptgebäude der Universität mit seinem orangeblauen sozialistischen Fassadenfresko direkt gegenüberliegt, bei einer Gesamthöhe von 32 Metern als schimmernde Grisaille. Der fliessend gekurvte Grundriss mit vier unterschiedlich grossen Ausbuchtungen lässt zunächst an eine Amöbe oder an die Standfläche einer Vase von Alvar Aalto denken. Er erwuchs aber vor allem aus urbanistischen Überlegungen. Einladend öffnet sich die Form nach Westen zum übrigen Universitätsgelände - wenn auch diese Geste darunter leidet, dass der Bau durch die gefährliche Karl-Marx-Strasse vom Campus abgeschnitten ist und hier nichts zur nötigen Verkehrsberuhigung geschieht. Kommt man von Süden aus dem Stadtzentrum, wirkt das IKMZ wie ein turmartiges Wegzeichen. Nach Norden hin schwillt die Bauform zu zwei stabilen Bastionen an; einzig im Osten nimmt sie Energie in sich zurück. Die bedruckte gläserne Aussenhaut der zweischaligen Fassade spielt mit den ebenfalls bedruckten Glaspartien der inneren Gebäudehülle sowie mit deren glatten Betonteilen so zusammen, dass sich ein halbabstraktes Muster aus weissen Punkten ergibt. Dieses lässt Buchstaben aus verschiedenen Schriften der Welt anklingen und erinnert gleichzeitig von weitem an Raureif oder Eisblumen.
Betritt man das Gebäude, taut diese Motivkette gleichsam auf. Beim Blick von innen nach aussen wird das Punktmuster auf der Fassade zum Regenschleier - ein Eindruck, der sich verstärken wird, sobald der von der Landschaftsarchitektin Gisela Altmann (Cottbus) in Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron geplante kleine Park um das IKMZ fertig angelegt ist. Zugleich erinnert uns der Blick durch den gepunkteten Raster daran, dass Bücher ebenso wie neue Medien die Welt stets nur indirekt vermitteln: Bei dieser Brechung des Augenscheins verbünden sich Buchstaben mit Pixeln. Trotzdem wird sich hier niemand in Alphabeten oder virtuellen Bildwelten verlieren. Denn der Farbklang im Gebäudeinnern dürfte jeden Träumer ähnlich wie ein unsanftes akustisches Wecksignal treffen. Die Maximalkontraste des Bodenbelags zwischen Primär- und Sekundärfarben, die sich auf den Deckenstützen fortsetzen, werden dabei von weissen Wänden und dem weissen Schleiflack der Ausleih- und Informationstheken zurückgeworfen.
Da jede der neun Bodenplatten des Gebäudes anders geschnitten ist und sich dadurch von Ebene zu Ebene in Höhe wie Fläche vollkommen unterschiedliche Raumsituationen ergeben, orientiert man sich in erster Linie an drei starken Vertikalakzenten, die durch alle Stockwerke reichen: einem grünen und einem magentafarbenen Service-Kern auf kreisrundem Grundriss sowie einer Wendeltreppe mit massiver Brüstung, die - von oben betrachtet - zu einem psychedelisch anmutenden Farbwirbel mutiert. Zahlreiche spiralförmige Kronleuchter in hohen Raumabschnitten geben dem Interieur eine noble Note selbst dort, wo grauer Nadelfilz die am Rand angesiedelten Lesebereiche abtönt.
Die Kosten für den Neubau und die Landschaftsarchitektur betrugen rund 29 Millionen Euro. Während der langen Planungsgeschichte wurde die Konzeption des Gebäudes dabei mehrfach einschneidend verändert. Zum Wettbewerb von 1993 hatten Herzog & de Meuron noch Pläne für einen quaderförmigen Bau mit drei hochragenden rechteckigen Lichtschächten eingereicht. Die vom Bauherrn geforderte Verringerung der Hauptnutzfläche führte 1998/99 zur kompletten Neuplanung. Weitere Finanzengpässe hatten zur Folge, dass im jetzigen Bau eine als fünfte Geschossebene geplante Galerie ebenso wegfiel wie ein runder Lichthof in den obersten beiden Stockwerken und dass eines der beiden Untergeschosse sich heute statt in der Baugrube unter einer Anschüttung verbirgt. Der Geldmangel zeigt sich mitunter aber auch im Detail.
Stachel der Utopie
Trotz allen Widrigkeiten haben die Hauptbeteiligten - in vorderster Reihe die Projektarchitektin Christine Binswanger von Herzog & de Meuron sowie die Bibliotheksdirektorin Annette Warnatz - Bahnbrechendes geleistet. Durch das IKMZ wird der Bautyp Bibliothek formal und symbolisch neu definiert. Mit dem fast uneingeschränkten Vorherrschen visueller Reize über taktile Qualitäten und mit der Gegenläufigkeit zwischen äusserer Hülle und innerem Kolorit spiegelt der Bau Züge der multimedialen Gegenwart. Gleichzeitig setzt er dem zentralen psychologischen und intellektuellen Problem des digitalen Zeitalters - der Zerstreuung - eine zielgenau berechnete Spannung zwischen Lakonik und Überschwang sowie das Gewicht seiner Naturmetaphern entgegen. So wird das IKMZ zweifellos dem gerecht, was der Philosoph Karsten Harries in seinem Buch «The Ethical Function of Architecture» (1998) fordert: «Die Baukunst muss das Utopische zumindest stückweise erhalten.» Notwendigerweise, so fügt er hinzu, hinterlasse jedes in diesem Sinne gelungene Werk im Betrachter gleich einem Stachel den Wunsch nach einer besseren Welt.
[ Technische Angaben zum Bau findet man in der Zeitschrift «Bibliothek. Forschung und Praxis» (Bd. 27, 2003, Nr. 1/2, S. 69-71) sowie im Internet (www.ub.tu-cottbus.de/ikmz). ]
Im Bauhaus-Terrain
Das städtebauliche Projekt «Neues Bauen am Horn» in Weimar
Als 1992 die letzten russischen Truppen aus Weimar abzogen, stellte sich die Frage nach der künftigen Nutzung der Militärareale. Auf einem davon, direkt östlich des Ilmparks, entsteht nach einem Bebauungsplan der Schweizer Architekten Diener & Diener und Luigi Snozzi sowie von Adolf Krischanitz aus Wien ein neues Stadtquartier.
Ein imposanter Kasernenbau aus den 1850er Jahren, halb Burg, halb Neorenaissancepalast, krönt den Höhenzug oberhalb des Weimarer Residenzschlosses; der Architekt, Carl Ferdinand Streichhan, war ein Schüler Gottfried Sempers. Direkt südlich des früheren Militärgebiets, zu dem Streichhans Kaserne gehörte, steht das 1923 nach Plänen von Georg Muche errichtete Haus am Horn als einziges realisiertes Gebäude der einst hier geplanten Bauhaus-Siedlung, und ganz in der Nähe lockt Goethes Gartenhaus. Kein Zweifel: Das rund 10 Hektaren grosse Projektareal mit Blick über die Stadt ist eines der schönsten und architekturhistorisch vielstimmigsten in Weimar.
Alt und neu
Die Konversion des brachen Militärgeländes gewann unter Leitung der staatlichen Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen (LEG), der Stadt Weimar und der dortigen Bauhaus-Universität 1996/97 bei einer internationalen Planungswerkstatt Konturen. Das Basler Architekturbüro Diener & Diener wurde mit der Gestaltung des Exerzierplatzes vor der Streichhan-Kaserne betraut, dessen Fläche es mittels dreier T-förmiger Neubauten straffen und in das Gefüge des benachbarten Altbestands einbinden wollte; Luigi Snozzi aus Locarno entwarf eine Betonmauer am Hang als Sockel für diesen Teil des Areals; und der Wiener Adolf Krischanitz lieferte einen Bebauungsplan für dessen Südhälfte, wo nun eine energisch strukturierte Wohnsiedlung entsteht. Die Parzellen liess Krischanitz nach einem Modulsystem so schneiden, dass ihr Muster einer Klaviertastatur ähnelt. Je nach Breite müssen die Passerellen bis auf beide seitlichen Grenzen oder bis auf ihre Ost- bzw. Nordgrenze bebaut werden. Nur auf den grössten Feldern dürfen Häuser mit allseitigem Abstand stehen. Damit sich eine schlüssige Staffelung der Baukörper im durchfliessenden Grünraum ergibt, sind möglichst einfache kubische Volumina mit Flachdächern obligatorisch.
Die Realisierung des Projekts zog Kompromisse nach sich. Snozzis Mauer wurde stark coupiert, und es fehlt ihr noch das geplante Turmhaus neben der heute von der Musikhochschule genutzten Streichhan-Kaserne. Diener & Diener mussten aufgrund von Marktkräften ihr Konzept dreier kleinerer T-Bauten auf zwei grössere umstellen, von denen erst einer - ein Pflegeheim - steht; die Ausführung des Projekts durch die Stuttgarter Architekten Schwarz und Jacobi verwässert Roger Dieners Entwurf ebenso wie die von ihm nicht gewünschte Domestizierung des Exerzierplatzes durch parkende Autos. Krischanitz ist am zufriedensten: Sein strenges Regelwerk für die Siedlung hat ein einheitliches Gesamtbild bewirkt und inspirierte gleichzeitig die besten der beteiligten Architekten - so etwa Max Dudler (Berlin/Zürich) - zu interessanten Hausvarianten mit perforierten Hüllen, Atrien, innen liegenden Terrassen oder freistehenden Ateliers. Nicht alle der Neubauten erreichen allerdings solches ästhetisches Niveau. Angesichts dessen hat die LEG inzwischen neun Architekten - darunter Roger Diener und Adolf Krischanitz sowie Peter Märkli aus Zürich, Hermann Czech aus Wien, Giorgio Grassi aus Mailand und Tony Fretton aus London - mit Musterplanungen für Häuser auf noch freien Parzellen beauftragt.
Da einzelne dieser als Anreiz für Bauherren gedachten Pläne Mehrfamilienhäuser vorsehen, ist zu hoffen, dass sie auch eine etwas grössere soziale Vielfalt im Quartier begünstigen werden. An diesem Punkt wäre zu fragen, ob eine neue Wohnsiedlung ausgerechnet in Ostdeutschland sinnvoll ist, wo ganzen Gründerzeit-Strassen der Abriss droht. Die Antwort ist positiv, wenn es wie hier um die Heilung einer städtischen Brache geht. Zudem sind die ostdeutschen Städte heute derart dünn bevölkert, dass sich viele der geisterhaften Altbauviertel nicht annähernd wiederbeleben lassen: Der Wunsch nach einem neuen Haus klingt da anders als weiter im Westen.
Weiterführen der Tradition
Wichtig ist schliesslich die baukünstlerische Ausstrahlung, die regional von dem Projekt auszugehen verspricht. Doch liegt im Verweis der Planungsvorgaben auf die Formideale des Bauhauses nicht die Gefahr eines verkappten Historismus? Der Weimarer Architekt Andreas Reich spricht lieber vom schöpferischen Fortführen der Ortstradition; sein eigenes Haus am Horn ist spannungsvoll über die Diagonale erschlossen und besticht durch eine Innentreppe mit präzis placierten Cortenstahl-Brüstungen. Dem Büro Gildehaus Reich bot das Gelände aber auch Raum für die Kunst des Bauens im Bestand: Mit einem minimalistischen Holzeinbau haben die Architekten die alte Gewehrkammer neben der Streichhan-Kaserne in ein Studentenheim umgewandelt und erhielten dafür den Thüringer Architekturpreis 2001.
Kontakt und Broschüre mit Musterplanungen: LEG Thüringen http://www.uni-weimar.de/horn.
Grün oder grau?
Chancen und Hemmnisse des ökologischen Bauens
Noch vor dreissig Jahren wurden Ökohäuser kaum ernst genommen: Zu erheiternd wirkte ihr Erscheinungsbild, und zu schlecht fielen die Kostenrechnungen aus. Heute sind Niedrigenergiekonzepte und grüne Wolkenkratzer zwar marktfähig, aber das Nachhaltigkeitspotenzial in Architektur und Städtebau ist noch nicht ausgeschöpft.
Erste Frage: Was trägt die Architektur zum Treibhauseffekt bei? In den Industrieländern werden bis zu 50 Prozent aller CO2-Emissionen von der gebauten und im Bau befindlichen Umwelt verursacht. Die Zahl schwankt je nach nationaler Situation, wobei zum Beispiel Transportwege noch nicht überall eingerechnet sind. Zweite Frage: Wie viel Litern Rohöl entspricht ein jährlicher Heizenergieverbrauch von 55,55 Kilowattstunden pro Quadratmeter? Leicht zu merken: rund 5,5. Dritte Frage: Ist das ein guter Wert? In der Schweiz und Deutschland unterschreiten ihn ausser Passivhäusern nur Mehrfamilienhäuser mit Niedrigenergie-Standard; Altbauten verschlingen das Drei- bis Fünffache, was ihre Wärmedämmung zur ökologisch wichtigsten Bauaufgabe der Gegenwart macht. Aber auch hinsichtlich einer für das 21. Jahrhundert vorhergesagten Erderwärmung von 2 bis 6 Grad ist der Bausektor in Umweltfragen mehr als nur ein bisschen gefordert.
High Tech, Low Tech
Wer andere vom nachhaltigen Bauen überzeugen will, muss Zahlen parat haben. Denn blosses Reden über allgemeine Ökoideale beschwört bei Bauherren, Nutzern und Politikern statt produktiver Neugier meist unweigerlich den Gedanken an alte Holzlatten, Hühnerdraht und krumme Wände herauf - Vorstellungen, die noch den ersten experimentellen Ökobauten von Bruce Goff, dem frühen Frank Gehry oder Paolo Soleri verhaftet sind. Man kann dann zwar mit dem Verweis auf umweltbewusste Virtuosen der High-Tech-Architektur wie Norman Foster oder Ken Yeang kontern. Doch auch hier ist Zahlenkenntnis geboten: Fosters 298 Meter hohe Commerzbank-Zentrale in Frankfurt am Main (1997), die - nicht ganz zu Recht angesichts der Leistungen Yeangs in Südostasien - als erstes grünes Bürohochhaus der Welt gilt, wurde auf einen Gesamtenergieverbrauch von 185 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr hin geplant, während der vom britischen Movement for Innovation (M4I) für Büros empfohlene Richtwert im Jahr 2001 bei 100 Kilowattstunden lag.
Nachhaltiges Bauen verlangt Umsicht und Schwung. In Fachkreisen wird erzählt, dass ein deutscher Solararchitekt jüngst den Auftrag zum Bau eines Ökohauses ablehnte, weil die Bauherrin von dort aus täglich vierzig Kilometer mit ihrem Wagen zur Arbeit pendeln wollte. Amsterdam zeigt ebenfalls Flagge: Unter Beteiligung des Architekten Kees Christiaanse ist hier aus einer Industriebrache das autofreie GWL-Viertel mit 600 Wohneinheiten geworden. Fragen der Verkehrsanbindung und Energieeffizienz sind beim grünen Bauen aber bei weitem nicht alles. Wie viel Wasser verbraucht ein Gebäude? Lässt es sich umweltschonend reinigen und warten? Welche Schadstoffe setzt es frei? Wie beeinflusst es das Mikroklima? Sind die Baustoffe nachwachsend, rezyklierbar oder selber schon rezykliert, gesundheitsverträglich und regional verfügbar? Und wie lang ist ihre Lebensdauer? Solche Fragen sind kniffliger, als man denkt. Während etwa Edelstahl, als Fensterblech verwendet, im Vergleich etwa zu Titanzinkblech die lokale Umwelt am wenigsten belastet, spricht die gesamthafte Ökobilanz gegen seine Verwendung zu diesem Zweck.
Dass das Gute in der Ökoarchitektur nicht automatisch auch das Schöne nach sich zieht, ist ein üblicher Einwand gegen die Änderung alter Baugewohnheiten. Zweifellos: Anforderungen der Umwelt können mit ästhetischen Idealen kollidieren. Anderseits schaffen gerade sie aber auch Raum für neue Formideen. Die Zeiten kühner Hässlichkeit sind heute passé: Ökologisch orientierte Bauherren haben nicht nur die Wahl zwischen glitzerndem High Tech und so schwerelos naturnahen Bauten wie denen des Australiers Glenn Murcutt - dem Gewinner des Pritzker- Preises 2002 -, sondern sie bekommen überdies einen immer breiteren Mittelweg geboten. Ein schönes Beispiel für die Verbindung von ökologischem Anspruch mit stringenter Formensprache ist die 1998 von Baumschlager & Eberle vollendete Öko-Hauptschule in Mäder, Vorarlberg. Es handelt sich dabei um einen kompakten Kubus mit schimmernder Doppelhaut aus Holz und Glas, die im Sommer dank der von unten aufsteigenden natürlichen Luftströmung Wärme abführt und im Winter Solargewinne optimiert.
In der Schweiz steht unter anderem das Architekturbüro Metron (Brugg) für gestalterisch zeitgemässe grüne Projekte. Die Looren-Siedlung in Affoltern am Albis (1997-99), Bestandteil des Programms EC 2000 für nachhaltiges Bauen, ist in Holzskelettbauweise errichtet, bietet die Option für Solarkollektoren auf den Dächern und verfügt über Pumpen, die warmes Solewasser aus 180 Metern Tiefe zum Heizen nutzbar machen. Aber auch an städtebaulich extrem exponierter Stelle sind Umweltkriterien heute mehrheitsfähig: Direkt neben dem Big Ben in London demonstrieren die dunklen Abluftschlote von Portcullis House, dem neuen Bürogebäude der britischen Parlamentarier von Michael Hopkins, selbstbewusst die Dynamik natürlicher Belüftung.
Kunst der Vermittlung
Grüne Optionen sind erschwinglich geworden. So betrugen die Baukosten für ein Fünf-Zimmer-Reihenhaus in der Affoltermer Siedlung von Metron 300 000 Franken - und Jacques Ferrier baute 1998/99 in La Tour-de-Salvagny bei Lyon im Auftrag der Firma «Total Energie» Werkhallen und Büros mit insgesamt 2200 Quadratmeter Nettogeschossfläche für 1,242 Millionen Euro, wobei die vom Bauherrn produzierten photovoltaischen Solarzellen zum Einsatz kamen. Gegen meist höhere Anfangsinvestitionen lassen sich langfristig günstigere Betriebskosten aufrechnen. Mit natürlichen Ventilationssystemen zum Beispiel kann man 20 bis 60 Prozent Energiekosten sparen. Am Einzelfall gezeigt: Den rund 8 Prozent Investitionsmehrkosten für das Gymnasium Léonard-de-Vinci in Calais von den Architekten Isabelle Colas und Fernand Soupey (1996-1998), das als grünes Pilotprojekt mit haustechnischen Besonderheiten wie einer Kraft- Wärme-Kopplungs-Anlage und einem eigenen Windrad ausgestattet ist, stehen 25 bis 30 Prozent niedrigere Energie- und Wasserkosten als in konventionellen Schulbauten gegenüber.
Dennoch: Das Interesse an nachhaltiger Architektur lahmt. Eine jüngst von der deutschen Bundesarchitektenkammer veranstaltete Tagung zum Thema «Umwelt bauen» in Dessau zog nur drei Dutzend Teilnehmer an, in Wettbewerbsausschreibungen gehören Umweltkriterien noch immer nicht automatisch zum Standard, und selbst Juroren von Architekturpreisen vergessen sie häufig. Was hemmt das Ökobewusstsein? Erstens mangelnde Übersicht. So sollten etwa die vielen Bewertungsinstrumente für grünes Bauen - das Schweizer Minergie-Label, der britische Breeam- und der holländische DCBA-Katalog, das französische HQE-Konzept, die Systeme Escale, Equer und so weiter - zwecks grösserer Einprägsamkeit zügig koordiniert werden. Zweitens wirkt das grüne Thema polarisierend, so dass manch grösseres Projekt nur schon wegen mangelnder Kompromissfähigkeit der Akteure demotivierende Schwierigkeiten macht. Und drittens krankt die Vermittlung. Wenn nicht alle Beteiligten - in der Politik, in der Bauindustrie, unter Investoren - die grösseren ökologischen Zusammenhänge begreifen, wird sich kaum etwas bewegen. Also müssen Architekten und Stadtplaner statt blosser Vorzüge ihrer eigenen Projekte auch die übergeordneten Gesichtspunkte erläutern können - mit präzisen Worten, guten Grafiken und vor allem mit Freude am interdisziplinären Horizont.
Literatur: D. Gauzin-Müller, Nachhaltigkeit in Architektur und Städtebau, Basel 2002; P. F. Smith, Architecture in a Climate of Change, Oxford 2001; Thermic Programme of the European Union. Hrsg. A Green Vitruvius, London 1999.
Raum für Spiele und Poeten
Schauplatz Magdeburg
Die Stadt als Experimentierfeld für farbige Architektur
Die Farbe in Architektur und urbanem Raum wurde lange eher vernachlässigt. Nun wird aber ihre emotionale, raumgliedernde, rhythmisierende Wirkung wieder vermehrt diskutiert. Magdeburg ist eine Stadt, wo auffällig bemalte Neubauten an eine bedeutende Tradition farbigen Bauens anknüpfen und den Vergleich mit ihr herausfordern.
«Architektur ist gefrorene Musik, aber in Magdeburg taut's» - so spottete der Architekt Hans Poelzig (1869-1936) über die Aktivitäten seines Kollegen Bruno Taut als Stadtbaurat der heutigen Kapitale Sachsen-Anhalts. Taut, damals noch glühender Expressionist, hatte im Moment seines Amtsantritts im Jahre 1921 eine derart mitreissende Kampagne zur Umgestaltung der Stadt Ottos des Grossen lanciert, dass es Bürgern und Experten den Atem verschlug: Das graue Magdeburg wurde im Handumdrehen bunt - und wie! Die kubistisch bemalte öffentliche Uhr am damaligen Kaiser-Wilhelm-Platz, koloristisch verschönte Wasserpumpen und zehn avantgardistische Kioske im Stadtgebiet bildeten nur die Pünktchen auf dem i; Taut und sein enger Mitarbeiter Carl Krayl liessen ganze Strassenzüge anstreichen, egal ob es dabei um ihre eigenen Siedlungsprojekte, um Gründerzeithäuser oder um einen so ehrwürdigen Bau wie das Rathaus ging.
Heute zeigt sich in Magdeburg der langfristige Wert dieser kühnen Initiative, die im Anschluss an Tauts Weggang nach Berlin im Jahre 1924 von seinen Nachfolgern in beruhigter Weise fortgeführt wurde. Nicht allein, dass inzwischen die ursprünglichen Farbkonzepte der im Stadtbild wesentlichen Wohnsiedlungen aus den zwanziger Jahren schrittweise wiederhergestellt werden: Durch Neubauten wie die 2001 eröffnete Experimentelle Fabrik des Berliner Architekturbüros Sauerbruch & Hutton und die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität von Peter Kulka aus Köln kommt das Thema «Farbe im städtischen Raum» auch unter aktuellen Vorzeichen wieder zum Tragen. Ein zusammenhängendes Farbkonzept für die Stadt gibt es dabei allerdings nicht, liegt doch für eine von Friedensreich Hundertwasser entworfene Zitadelle in der Nordwestecke des Domplatzes ebenfalls schon die Baugenehmigung vor.
Kolorit der zwanziger Jahre
Ob Hundertwasser dem «Haus zum farbigen Hexensabbat» nacheiferte, das Carl Krayl 1921 in einer entfernt an Paul Klee erinnernden Zeichnung heraufbeschwor? Krayl, ein Visionär im echten Sinne des Wortes, notierte gleichzeitig die passende Einsicht: «Bauen ist Lachen ist Weinen.» Wer in Magdeburg dem Kolorit der zwanziger Jahre nachspürt, kann dabei nicht zuletzt Kriterien zur Beurteilung der Farbigkeit heutiger Bauten gewinnen. Fangen wir an in der knapp 900 Häuser umfassenden Gartenstadtkolonie Reform, für die Taut von 1913 bis 1933 als Architekt waltete und wo Krayl selbst wohnte. Wegen Mangels an Baumaterialien in der DDR sind hier in aussergewöhnlichem Umfang Originalputze und Reste der ursprünglichen Bemalung erhalten. Farbe - häufig ein warmes Gelb oder Ocker, Ochsenblutrot und Blau - unterstützte die räumliche Staffelung der Bauten in den Strassen, setzte Stirn- und Seitenwände der meist zweistöckigen Häuser voneinander ab und schuf Kontraste zwischen gegenüberliegenden Strassenseiten: links ruhig, rechts lebhafter oder umgekehrt. Allein für die Haustüren sind 21 verschiedene Farbschemata dokumentiert.
Lebendiges Licht
Faszinierend ist in der Siedlung Reform das Fehlen jeglicher Starre in den Fassadenentwürfen. So gab es geometrische Farbflächen, die Fensteröffnungen miteinander verbanden und freundlich an die Malerei des holländischen Stijl erinnerten, gewitzt eingesetzte Klinkerbänder und fein differenzierte Oberflächenstrukturen im Putz, die das Licht auf den Wänden lebendig machten. Einzelne Häuser sind inzwischen von dem Architekten Winfried Brenne, der auch die Sanierung der Gartenstadt Falkenberg in Treptow und anderer Berliner Siedlungen Tauts betreut hat, renoviert worden. Aber das meiste bleibt noch ungetan: Die Wohnbaugenossenschaft als Eigentümerin hat kaum Geld (in Magdeburg stehen 30 000 Wohnungen leer), und die zuständige Denkmalschutzbehörde kann pro Jahr lediglich 70 000 Euro Zuschüsse für die gesamte Stadt vergeben. Da wäre das bisher in keiner Weise engagierte Land Sachsen-Anhalt gefordert - trotz Finanznot, geht es hier doch um das grösste Flächendenkmal von Taut in Deutschland und somit um ein Ensemble von nationaler Bedeutung.
Doch wagen wir uns weiter in die Otto-Richter- Strasse, wo Carl Krayl 1921/22 zwei Zeilen mehrgeschossiger Gründerzeithäuser mit schreiend bunter Palette in ein Paradies für spielende Kinder und robuste Poeten verwandelte. Frisch renoviert, präsentiert sich hier die westliche Strassenseite in Himmels- und Höllenfarben, von Türkisblau und Ultramarin bis Schwefelgelb und Blutrot. Das Kolorit der einst mit riesigen Blitzen bemalten Fassade am gegenüberliegenden Haus Nr. 2 konnte noch nicht wiederhergestellt werden, doch bezeugen alte Fotos eindeutig seine wilde Ausdrucksstärke. Mit dadaistischer Lust an der Provokation hatte Krayl den Stadtraum hier in ein begehbares Bild verwandelt - ganz im Sinne von Kurt Schwitters, dem Vater der architektonischen Assemblage. Um das Neue zu schaffen - so Schwitters 1922 in der von Taut herausgegebenen Zeitschrift «Frühlicht» -, bleibe der Architektur «infolge der Schwerfälligkeit des Materials, mit dem man Häuser baut, nichts anderes übrig, als stets wieder das Alte zu verwenden und einzubeziehen in den Entwurf». Krayls wonnevolle Übertünchung kaiserzeitlichen Mittelmasses dürfte er sich aber wohl kaum haben träumen lassen.
Klarer, einheitlicher und lichter wurden die Farbkonzepte für die grossen Magdeburger Wohnbauprojekte im weiteren Verlauf der zwanziger Jahre. In der teilsanierten Hermann-Beims- Siedlung (1926-29, Planung: Konrad Rühl u. a.) schaffen horizontale Farbbänder zwischen den Fenstern der flach gedeckten Häuserblocks zugleich Abwechslung und perspektivische Orientierung; schwarz sind diese Bänder in den späteren Partien der Angersiedlung (1926-33), goldgelb dort die Fensterrahmen, schwarz und rot die Sockel der Bauten sowie ihre Attikageschosse, so dass auf den sonst hell getönten Fassaden die Farben der Weimarer Republik erstrahlen. Besonders schön renoviert ist die etwas später begonnene Siedlung Cracau (1929-38) von Johannes Göderitz, Krayl und Paul Wahlmann. Hier dominieren Weiss und Grau, wobei die Volumina der Blocks in den teilweise geschwungenen Strassenzügen durch Details in Ocker, Gelb, Grün und Englischrot ihren optischen Halt finden.
Schöpferische Einfühlung
Die Rekonstruktion komplexer Farbfassungen am Bau zählt zu den schwierigsten Aufgaben der Denkmalpflege. Kritik an Einzelpunkten ist deshalb immer möglich. Aber sie sollte nicht überdecken, welch inspirierende Wirkung von solchen Massnahmen ausgehen kann - schöpferische Einfühlung in die historischen Vorgaben vorausgesetzt. Peter Kulka hat für die 1997 fertig gestellte Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Magdeburgs Farbtradition reduzierend interpretiert. Die schwarz verklinkerten quaderförmigen Baukörper erhielten Stirnflächen in Rot und Blau, auf die im Foyer eine zitronengelbe und eine laubfroschgrüne Wand antworten. Doch das Auge gleitet an den glatten Farbzonen ab, und die weissen Flure und Seminarräume mit ihren grauen Türen und blauen Böden wirken steril. Dass es bei gelungenen Farbkonzepten nicht nur um Disziplin, sondern immer auch ums Spielerische geht, macht die Experimentelle Fabrik von Sauerbruch & Hutton deutlich. Wie ein landender Teppich wellt sich die breit gestreifte Wand- Dach-Konstruktion in Pink, Orange und Silbergrau über die gläsernen Stirnseiten dieses Applikationsforschungszentrums am Rande des Universitätscampus: Mode- und Signalfarben, die im zweistöckigen Foyer durch komplementäre Klänge aus Rot und Grün abgelöst werden. Im Zusammenwirken mit Gelb und Grau modulieren diese wunderbar griffig die plastischen Formen von Treppe und Galerie. Auf Taut antwortet hier die Grammatik der Farbenlehre von Josef Albers - experimentell aktualisiert, genau wie es dem genius loci entspricht.
[Informationen zum Thema bietet die Broschüre «Architektouren durch Sachsen-Anhalt», die von der dortigen Architektenkammer (Tel. 0049-0391-536110 oder info@ak-Isa.de) bezogen werden kann.]
Wohnen im neuen Stil
Henry van de Velde in Weimar und Chemnitz
1902 wurde der belgische Architekt Henry van de Velde zum künstlerischen Berater für Industrie und Kunsthandwerk im Grossherzogtum Weimar ernannt. Zugleich erhielt er seinen ersten Bauauftrag in Deutschland: Für den Textilfabrikanten Herbert Esche entwarf er eine Villa in Chemnitz. Diese sowie van de Veldes eigenes Wohnhaus in Weimar sind jüngst restauriert worden und nun öffentlich zugänglich.
Dass der Schriftsteller Max von Münchhausen das Mobiliar für seine Weimarer Wohnung 1903 bei dem gefeierten Jugendstilgestalter Henry van de Velde bestellte, hatte nicht nur künstlerische Gründe. Mittels des Auftrags versuchte er offenbar auch Friedrich Nietzsches Schwester Elisabeth günstig zu stimmen - wollte er sie doch dazu bringen, ihm die Herausgabe einer Schriftenreihe des Nietzsche-Archivs zu erlauben, das sie in der Goethestadt angesiedelt hatte. Trotz oder wegen Elisabeths Nähe zu van de Velde, der nicht zuletzt dank ihrer Vermittlung nach Weimar gekommen war und gleich darauf das Nietzsche-Archiv innenarchitektonisch gestaltet hatte, brachte der Schachzug Münchhausen nichts ausser einer schönen Ausstattung für sieben Zimmer. Fast komplett erhalten, konnte sie seit 1999 durch die Stiftung Weimarer Klassik angekauft werden. Knapp die Hälfte der Stücke sind seit Anfang Juni dieses Jahres in der Repräsentationsetage des Hauses Hohe Pappeln zu sehen, das van de Velde 1907/08 für sich selber in Weimar baute und dessen ursprüngliche Möblierung verschollen ist - bis auf das Speisezimmer-Ensemble, das sich heute im Museum Bellerive in Zürich befindet.
Die etwas schwerfällige äussere Gestalt des Hauses, die an ein umgedrehtes Schiff erinnert, lässt sich am besten mit Blick auf die funktionale Aufteilung des Innern verstehen. Ein japonisierend gestalteter Windfang und ein dunkel gehaltenes Vestibül geben im Parterre den Auftakt zu einer vielgestaltigen Raumfolge aus Wohndiele mit elegantem weissem Treppenhaus, Salon, Speise- und Arbeitszimmer. Seit Anfang der neunziger Jahre wurde der Bau, der damals der Evangelischen Landeskirche von Thüringen gehörte und nach einem Besitzerwechsel nun durch die Stiftung Weimarer Klassik angemietet ist, vollständig renoviert - nach Farbbefunden, aber teilweise im Widerspruch zu historischen Fotografien und den Raumbeschreibungen in van de Veldes Memoiren. Den Münchhausen'schen Möbeln sieht man an, dass sie für eine andere Umgebung entworfen waren; doch in Ermangelung der Gemälde von Signac, Seurat, van Gogh und Renoir, die einst im Hause Hohe Pappeln hingen, lässt sich dessen frühere Ausstrahlung heute ohnehin nur andeuten.
Reist man von Weimar aus auf der «Europäischen Van-de-Velde-Route» nach Osten - die Website www.van-de-velde-route.de weist den Weg -, so wird man zunächst in Jena das Ernst- Abbe-Denkmal (1909-11) betrachten und dann in Gera einen Blick auf das Haus Schulenburg (1913-14) werfen. Hauptziel aber wird die prächtige Villa Esche in Chemnitz sein, die 1998-2001 von einem Tochterunternehmen der Stadt mit grösstem wissenschaftlichem und finanziellem Einsatz renoviert wurde. Heute dient das ab 1902 entstandene Gesamtkunstwerk, für das van de Velde ausser der architektonischen Hülle auch die vollständige Ausstattung schuf, als Museum sowie als Tagungs- und Veranstaltungszentrum. Das museale Konzept setzt dabei komplementäre Akzente: Musiksalon und Speisezimmer im Erdgeschoss wurden mit den überwiegend erhaltenen Originalmöbeln sowie mittels nachgewebter Stoffe, Lampenkopien und rekonstruierter Stuckaturen so weit wie möglich dem Urzustand angenähert, während in drei Räumen der ersten Etage die wichtigsten Werke van de Veldes aus dem Bestand der Kunstsammlungen Chemnitz als Einzelstücke präsentiert werden.
Ein ausgezeichnetes, unlängst im Birkhäuser- Verlag erschienenes Buch gibt genaue Auskunft über die Restaurierung und heutige Ausstattung sowie über die bewegte Geschichte der Villa Esche. Nach 1945 Sitz der sowjetischen Militärkommandantur und später zeitweise vom DDR- Ministerium für Staatssicherheit genutzt, hatte der Bau starke Schäden erlitten, die durch mehrjährigen Leerstand nach 1989 noch verschlimmert wurden. Die inzwischen erfolgte weitgehende Neuanfertigung der wandfesten Ausstattung und der Textilien findet ihre Rechtfertigung nicht nur in den umfassenden historischen Fotodokumentationen des Baus und der guten Befundungssituation, sondern auch darin, dass so zumindest ansatzweise das belebende Zusammenwirken von Räumen, Volumina, Farben und fein geschwungenen Linien begreifbar wird, um das es dem Architekten stets ging.
Neue Bewegung ist inzwischen auch in die Van-de-Velde-Grundlagenforschung gekommen. Seit 2001 entsteht unter dem Dach der Stiftung Weimarer Klassik ein vollständiges Werkverzeichnis seiner innenarchitektonischen und kunstgewerblichen Arbeiten. Probleme bereiten - wie bei der Erstellung von jedem Œuvrekatalog - Dokumente und Objekte, die den Forschern noch nicht bekannt sind. Im Fall von van de Velde handelt es sich vor allem um Möbel, Textilien, Tapeten, Keramik- und Metallarbeiten, Lampen, Schmuck sowie Werbegrafik, die in nächster Zeit, so hofft man, ans Tageslicht kommen werden.
[Das Haus Hohe Pappeln in Weimar ist dienstags bis sonntags (13-18 Uhr) geöffnet, die Villa Esche in Chemnitz jeweils am Mittwoch sowie von Freitag bis Sonntag (10-18 Uhr). - Kontaktperson betreffend das Werkverzeichnis van de Velde: Brigitte Reuter, Tel. 0049 3643 545 954. - Publikation zur Villa Esche: Henry van de Veldes Villa Esche in Chemnitz. Hrsg. Katharina Metz, Tilo Richter und Priska Schmückle von Minckwitz. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 152 S., Fr. 51.-.]
Kontrast als Antrieb
Leipzigs Industriedenkmäler als Herausforderung
Im Jahre 1989 gab es in Leipzig noch 120 000 Industriearbeitsplätze; heute liegt die Zahl bei rund 14 000. Entsprechend dramatisch sind die Leerstände in den Industriebauten der Stadt, die zu beträchtlichem Teil unter Denkmalschutz stehen. Lassen sie sich retten? Architekten und Investoren stehen hier vor einer wirtschaftlichen, ästhetischen und urbanistischen Herausforderung von faszinierenden Dimensionen.
Wer sich für Leipzig interessiert, darf auf Belohnung zählen. So im Stadtteil Gohlis, wo man mit etwas Glück vom Trottoir weg eingeladen wird, die Villa von Adolf Bleichert (1845-1901) anzusehen - einem der grossen Fabrikanten der deutschen Gründerzeit, der seine Drahtseilbahnen bis nach Japan exportierte und dessen Firma unter seinen Nachfolgern in den dreissiger Jahren nicht nur die Säntis- und die Zugspitzbahn, sondern auch ein zweisitziges Elektro- Cabriolet baute. An Pförtnerloge, Stuck und Marmorfeldern vorbei gelangt man ins einstige Schlafzimmer des Hauses, wo die Wellenformen der alten Einbauschränke bis heute den Blick beherrschen. So also träumte Hilda Bleichert vom irdischen Glück? Aus ist der Traum in dem Moment, in dem man den Balkon betritt. Gegenüber liegt das, was von der Fabrik ihres Mannes noch übrig ist: leere Werkhallen, zersplittertes Fensterglas und abgebrochene Schneegitter, die über lose Regenrinnen ragen. Der verbaute Innenhof lässt eine neue industrielle Nutzung schwer vorstellen. Vermietet ist nur das frühere Direktionsgebäude: Büros neben der nicht ungefährlichen Brache, die - für Leipzig typisch - mitten in einem Wohngebiet liegt.
Sichtbare Geschichte
Was spricht für den Erhalt des kaiserzeitlichen Ensembles - in einer Stadt, wo 760 000 Quadratmeter Gewerbe- und Büroraum leer stehen? Erstens die Prägnanz der von bekannten Leipziger Architekten wie Max Bösenberg und Richard Welz errichteten Gebäude, zweitens die Bedeutung der Firma Adolf Bleichert & Co. für die Geschichte von Wirtschaft und Technik. Gründete sich doch Leipzigs Ruf als Industriestadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur auf die graphischen Gewerbebetriebe, die den grossen Buchverlagen wie Reclam oder Seemann zuarbeiteten, sondern ebenso auf den Maschinenbau, für den es vor Ort gute Voraussetzungen gab. So profitierte Bleichert unmittelbar vom Braunkohlentagebau des Südleipziger Raumes, und eine Erfindung wie die der sogenannten Automatkupplung für Drahtseilbahnen durch seinen Schwager Karl Streitzig erwies obendrein den innovatorischen Elan sächsischer Ingenieure. Die Redaktoren des «Gohlis-Forums», das vom dortigen Bürgerverein herausgegeben wird, betonen das dritte und wichtigste Argument für eine Erhaltung der Fabrik: Während mehr als hundert Jahren hat sie - 1946 zu einer sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) und später zum volkseigenen Betrieb (VEB) umgewandelt - dem gesamten Stadtviertel Gesicht und soziale Identität gegeben. Risse man die Bauten ab, verlöre das Viertel die sichtbare Verankerung in seiner Geschichte.
Schräg gegenüber dem Bleichert-Areal, an der Ecke Virchow- und Benedixstrasse, ist ein kleineres Stück historischen Bodens inzwischen gesichert. Das sauber gegliederte und mit Zierelementen wie dem Haupte Merkurs belebte Jugendstilgebäude der ehemaligen Aromafabrik Oehme & Baier (1912, Architekt: Paul Augustin), die noch zu DDR-Zeiten als «VEB Aromatic» ganz Gohlis mit dem Geruch künstlicher Vanille beglückte, wurde in den Jahren 1998 bis 2000 zusammen mit einem älteren Ostflügel zum Wohn- und Pflegeheim umgebaut. Ein schöner, obwohl bescheidener Erfolg - doch meistert Leipzig auch Aufgaben völlig anderen Umfangs. So ist es im Südwesten der Stadt geglückt, mit den früheren Buntgarnwerken an der Nonnenstrasse (Architekten: Ottomar Jummel 1878/79; Pfeifer & Franke bzw. Händel & Franke 1889-1922) eines der grössten Industriedenkmäler Deutschlands instand zu setzen. 5,5 Hektaren Grundstücksfläche, 435 000 Kubikmeter umbauter Raum vor der Umnutzung, 19 535 Quadratmeter Nettogeschossfläche nach der Sanierung allein in einem der vier gewaltigen, vier- bis fünfgeschossigen Hochbauten am Ufer der Weissen Elster: Die Zahlen sprechen für sich. Steht man in stolzer Höhe auf der Brücke, die den Hochbau Süd auf der Ebene des dritten Geschosses über den Fluss hinweg mit dem Hochbau West verbindet und die als umschlossener Raum heute in eine exklusive Wohn-Arbeits-Einheit integriert ist, sieht man Leipzigs Innenstadt ganz klein am Horizont.
Unternehmerische Visionen
Im Stadtteil Plagwitz, an dessen Ostrand die Buntgarnwerke liegen, ist man stolz auf den Genius Loci: Um uns herum liegt das älteste planmässig konzipierte Industrieviertel Deutschlands. Der Leipziger Rechtsanwalt Karl Heine begann hier Anfang der 1850er Jahre mit dem systematischen Erwerb geeigneter Grundstücke, legte ein Strassen- und Schienennetz an und koordinierte die Ansiedlung einander ergänzender Industriebranchen. Der 1873 eröffnete Bahnhof Plagwitz-Lindenau war der erste Industriebahnhof Europas - aber damit nicht genug, begann doch Heine überdies mit dem Aushub des nach ihm benannten Kanals, der Leipzig über die Saale und die Elbe mit dem Hamburger Hafen verbinden sollte. Obwohl das Projekt schliesslich stecken blieb, leisteten die verwirklichten Abschnitte gute Dienste für den lokalen Gütertransport - ganz abgesehen davon, dass im Leipzig des 19. Jahrhunderts jeweils am Wochenende die Dampfschiffe «Columbus» und «Neptun» zu Ausflugsfahrten auf dem braungrauen Kanal einluden. Hundert Jahre später rauchte und russte Plagwitz immer noch, nunmehr als eines der grössten Industrieareale der DDR.
Und heute? Durch Schaffung günstiger Rahmenbedingungen - dazu gehören ein niedriger Gewerbesteuersatz und die Bereitstellung von Wirtschaftslotsen, die interessierte Investoren durch die Behördenschleusen dirigieren - ist die Stadt Leipzig dabei, den unternehmerischen Schwung der Vergangenheit in neue Formen überzuleiten. Die Buntgarnwerke mit ihren plakativen, von hellen Putzbändern gegliederten Backsteinfassaden sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich das architektonische Flair der Dampfmaschinenzeit heute auszahlen kann - handelt es sich hier doch um ein Fabrikschloss, dessen Türme, Kuppeln und Wappenschilder schon von Anfang an kaum auf die wahre Zweckbestimmung des von Stahlstützen- und Stahlbetonkonstruktionen geprägten Innern schliessen liessen. Unter dem Namen «Elster-Park» firmierend, eignet sich die Anlage nun bestens als Hülle für schicke Lofts, als Heimstatt für eine venezianische Gondel und als Schutzraum für wurzelseitig beheizte Palmenbäume. Einen Teil der Wohnungen kann man schon für eine Woche mieten; das Angebot kommt besonders bei Geschäftsreisenden gut an. Läden sowie eine Post- und eine Bankfiliale machen das Ensemble, das unter anderem durch die Architekturbüros Link sowie Fuchshuber & Partner, Leipzig, geplant und umgebaut wurde, zum kompletten Quartier.
Ganz anders steht das sogenannte Stelzenhaus da, das neben der Weissenfelser Brücke den östlichen Bogen des Karl-Heine-Kanals überragt: ein architektonischer Solitär von kompromisslos strengem Erscheinungsbild, der 1937-39 von dem Architekten Hermann Böttcher als Erweiterungsbau der Verzinkerei Grohmann & Frosch errichtet wurde. Seine Lage und seine Gestalt erklären sich durch die Platznot, die zur Bauzeit auf dem Grundstück herrschte: Rüstungsaufträge werden das Verlangen nach neuem Raum bedingt haben. Auf Dutzenden von wuchtigen, einen Meter dicken Betonstützen ist das Stelzenhaus über die Kanalböschung gesetzt; selbst der Gleiskopf in seiner Mitte, der das Be- und Entladen von Güterwaggons direkt im Gebäude ermöglichte, steht weit über diese Böschung vor und verlangte beim Bau eine entsprechend robuste statische Lösung. Östlich der langen, von einem Oberlicht bekrönten ehemaligen Produktionshalle neben dem Gleiskopf schliesst sich eine ebenfalls auf Stelzen gesetzte offene Plattform an, die ursprünglich zu Lagerzwecken diente.
Echtheit statt schöner Schein
«Beim Bauen in Plagwitz muss es um die Tiefe historischer Erinnerung gehen - um Authentizität also und nicht um Hochglanzbilder», sagt Gunnar Volkmann, dessen Architekturbüro Weis & Volkmann Ende 2000 mit der Planung für Umbau und Sanierung des Stelzenhauses begann und nun ebenso wie der Bauherr - die Gesellschaft SKS Projektentwicklung - hier seinen Hauptsitz hat. 15 000 Tonnen Zinkstaub, deren Druck manche der mächtigen Betonstelzen schon beschädigt hatte, mussten vor Beginn der Bauarbeiten unter dem Gebäude weggeräumt werden. Das dauerte rund eineinhalb Jahre und verschlang einschliesslich vollständiger Dekontaminierung 1,5 Millionen Mark, die fast zur Gänze aus Fördergeldern flossen. Die heutige Gestalt - in diesen Tagen wird der Umbau abgeschlossen - ist auf Mischnutzung angelegt: ein Fünftel Wohnungen, drei Fünftel Büros, ein Fünftel Gastronomie. Sämtliche Einheiten sind bereits vergeben. Die Baukosten betrugen insgesamt rund 3,5 Millionen Euro; Fördermittel kamen unter anderem vom Land Sachsen und von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.
Der erfolgreiche Umbau des Stelzenhauses verdankt sich nicht zuletzt der Flexibilität der städtischen Denkmalschutzbehörde. Diese genehmigte zum Beispiel eine Vergrösserung der Fenster im Nordflügel, wodurch die heutige Wohnnutzung erst attraktiv wurde; ebenso erlaubte sie das Einfügen eines gläsernen Kastens zwischen die Stelzen unter der Lagerplattform, der nun ein rund 250 Quadratmeter grosses Restaurant beherbergt. Und auch die neuen Büros in der einstigen Produktionshalle erhielten ein Untergeschoss aus Glas, durch das die Lichtreflexe von der Kanaloberfläche spielen. Aus ästhetischen und ökologischen Gründen verwendeten die Architekten beim Umbau Fundstücke vom Grundstück: So gleitet in ihrem eigenen Büro die ehemalige Feuerleiter aus dem Gleiskopf vor dem Aktenregal hin und her, und eine rostige Metalltür aus dem Keller verschliesst den Sitzungsraum. Der Dielenboden aus rohem Holz und das Restaurant im langgestreckten Glaskasten lassen den Bau im weiteren Umkreis der Tate Modern von Herzog & de Meuron verorten: Volkmann, der unter anderem an der ETH in Zürich studiert hat, schätzt die neue Schweizer Architektur.
Ruf nach Orientierungsgrössen
Ebenso schätzt Volkmann das inspirierende Umfeld in Plagwitz: ein Ort voller Brüche, wo Leere und Fülle ineinander greifen. «Zugang zum Nebelraum» versprechen raue Buchstaben auf einer rosa Schuppentür inmitten von Rost und Resten. Hundert Meter weiter liegt ein Baudenkmal ersten Ranges - die Konsumzentrale (1929-33) von Fritz Höger. Dass Högers Entwurf für diesen grossen Verwaltungs-, Lager- und Produktionsbau bei den Direktoren der Konsumgenossenschaft so gut ankam, hatte mit Karl Heines Vision der direkten Kanalroute nach Hamburg zu tun. Linienführung und Details - die Bullaugenfenster im Lagertrakt, die dem Schiffsbau entlehnten Treppengeländer - machen den Bau zum gestrandeten Ozeandampfer. Das bis zur Decke mit türkisblauen Wandfliesen ausgekleidete Haupttreppenhaus gaukelt dem Besucher einen Blick auf die Südsee vor, während die Klinkermuster entlang der Nebentreppe an Högers legendäres Chilehaus in Hamburg erinnern. In den Fenstern der Strassenfassade sind seine spektakulären Schüsselscheiben und in den Chefzimmern seine Wurzelholzpaneele erhalten, an den Türen seine Klinken und im kleinen Festsaal die originale Telefonzelle samt braunlederner Schalldämpfung: eine Zeitreise, für die es noch ein paar Tickets gibt. Sie sehen aus wie Mietverträge.
Im Jahr 2000 war das im Bombenkrieg nur wenig beschädigte Plagwitz ein externes Expo- Projekt. Die einzelnen Sanierungsmassnahmen sind in ein umfassendes planerisches Konzept für das Viertel eingebettet. So existiert bereits ein Stadtteilpark sowie ein Fahrradweg am Kanal (wer will, kann hier vom Velo auf das Tretboot umsteigen). Hinzu kommt eine dichte Ausschilderung von industriegeschichtlich Sehenswertem. Von der Konsumzentrale führt diese «Route Plagwitz» zum Beispiel zur einstigen Maschinenfabrik Unruh & Liebig in der Naumburger Strasse 28, die 1896 vom Architekten Robert Röthig erbaut wurde. Heute ist sie ein Gewerbehof mit Raum für mehr als 50 Vertriebsbüros und Kleinunternehmer, deren Palette vom Graphikdesigner bis zum Klavierstimmer reicht. Will man die Qualität der Plagwitzer Sanierungen im Überblick werten, so kann man von einem baukünstlerischen Anspruch nur beim Stelzenhaus sprechen. Andere Projekte sind sauber und funktional, stellenweise aber auch hart und schematisch gelöst; die schicke Lifestyle-Ästhetik bei Lofts, wie man sie im Hochbau West der Buntgarnwerke findet, punktet in ihrer eigenen Kategorie.
Aufwertung durch neue Architektur
Was sich Norbert Baron - Leiter der Abteilung Denkmalpflege im Amt für Bauordnung der Stadt - für Leipzig am meisten wünscht? «Erstklassige neue Architektur.» Und warum sagt das ausgerechnet ein Denkmalpfleger? Weil gute zeitgenössische Bauten die Energien ungeordneter Umfelder bündeln. Weil sie visuelle Kontraste schaffen, die der Mustervielfalt kaiserzeitlicher Backsteinwände und dem Schwung schlanker Jugendstilranken einen Halt in der Gegenwart geben. Und last, not least, weil sie Anreize dafür bieten können, das Bauen im Bestand - also Sanierungen, Umbauten, Ergänzungen - mit mehr Phantasie und geistigem Aufwand zu betreiben, als es an vielen deutschen Architekturfakultäten gelehrt werde. Übrigens, für Industriedenkmäler brauche es eine breitere Nutzungspalette: Bloss teure Lofts und Kleingewerbe und Tangoschulen, das reiche nicht angesichts der vielfältigen Probleme, vor denen man steht. Der Mitteldeutsche Rundfunk ging schon mit gutem Beispiel voran: Seine Zentrale befindet sich seit 1992 im alten Schlachthof in der Kantstrasse.
Leipzig mit seinen Leerstellen, seinen verlassenen Fabrikstrassen und sozialen Verwerfungen ist eine Stadt, wo die Zwischenräume zwischen den Inseln kommerzieller Normalität so weit klaffen, dass sie nicht wie sonst in Westeuropa aus der Wahrnehmung ausgeblendet werden können. Das bietet die Chance der Langsamkeit und des Nachdenkens über eine urbanistische Haltung, die nostalgische Architekturkopien und kulissenhafte Historisierung nicht nötig hat. Als mögliche Grundlage solcher Reflexion wäre ein so hellsichtiges Buch wie «The City of Collective Memory» von Christine Boyer (1996) zu nennen. Wer will, der kann sich durch Leipzig und seine Industriedenkmäler zum Entwurf federnder Bögen zwischen Vergangenheit und Zukunft anregen lassen.
[Kontakte: Amt für Bauordnung und Denkmalpflege der Stadt Leipzig, Tel. 0049 341-1235101; Wirtschaftslotsen im Amt für Wirtschaftsförderung der Stadt, Tel. 0049 341-1235885, E-Mail: wirtschaft@leipzig.de.
Dr. Ursula Seibold-Bultmann ist Kunsthistorikerin und Publizistin in Erfurt.]
Spirituell geprägter Urbanismus
Ein Buch über den Städteplaner Patrick Geddes
Der schottische Natur- und Gesellschaftswissenschafter Sir Patrick Geddes (1854-1932) zählt zu den einflussreichsten Städteplanern der frühen Moderne. Heute beruft man sich gerne dann auf ihn, wenn von Regionalismus oder von der Bedeutung historischer Stadtzentren gesprochen wird. Eine Monographie des Architekturhistorikers Volker M. Welter gibt Auskunft über Geddes' interdisziplinäre und zugleich von spirituellen Interessen geprägte urbanistische Ideale.
Ein Polyp, ein Riesenkrake - das sei London, schrieb Geddes 1915 in der Abhandlung «Cities in Evolution». Zwar tönt der Vergleich nicht neu, findet er sich doch schon im 18. Jahrhundert beim Schriftsteller Horace Walpole. Neu war aber der brisante Hintergrund von Geddes' zoologischer Metaphorik: Er hatte unter anderem bei Thomas Huxley Biologie studiert - jenem Forscher, der entscheidend zum öffentlichen Durchbruch der Theorien Charles Darwins beitrug. Neu war vor allem aber auch der von Geddes und anderen Pionieren der Stadtplanung unternommene Versuch, die dunklen Tentakel zeitgenössischer Metropolen mit Hilfe analytischer Systematik unter Kontrolle zu bringen. Geddes, zunächst Botanik-Professor in Dundee und später kurz Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität Bombay, konzipierte zu diesem Zweck seine international wandernde «Cities and Town Planning Exhibition»; zugleich zeigten seine denkmalpflegerischen Eingriffe in der Altstadt von Edinburg sowie im Londoner Stadtteil Chelsea, wie seine Vorstellungen praktisch realisierbar waren.
Naturgesetz und Symbol
Mit Planungsvorschlägen für zahlreiche Städte zwischen Tel Aviv, dem indischen Pinjaur und dem schottischen Dunfermline befasst, verbreitete der rastlose Gelehrte seine Ideen zu gerne mündlich oder in Aufsätzen und Berichten, als dass er sein Gedankengebäude in einem Grundlagenwerk hätte darstellen mögen. Volker Welter legt daher in seinem Buch legitimerweise den Schwerpunkt darauf, aus Geddes' verstreuten Publikationen deren theoretische Basis herauszufiltern und anschliessend ins Umfeld verwandter Zeitphänomene einzuordnen. Das geschieht auf solide und übersichtliche Weise - angefangen bei dem Konzept der Region, welches Geddes aus Arbeiten des französischen Botanikers Charles Flahault ableitete, und bei der vom Soziologen Frédéric Le Play geborgten Begriffstriade «lieu - travail - famille», die dem Schotten in den Übersetzungen «place - work - folk» bzw. «environment - function - organism» zur Untersuchung menschlichen Einwirkens auf die Lebenswelt diente. Wo Geddes hingegen meint, dass eine Stadt nur dann in eine neue Phase ihrer Entwicklung eintreten könne, wenn sie dabei einer allgemein gültigen Evolution von Städten als solcher folge, bezieht er sich auf das «biogenetische Grundgesetz», das der Zoologe Ernst Haeckel in Jena postulierte.
Aber Geddes' stets nach symmetrischer Organisation strebendes Denken, das er in komplexen grafischen Schemata fixierte, erschöpfte sich keineswegs bei den Naturwissenschaften. Unter anderem die griechische Polis und Platos «Republik» schwebten ihm vor, als er sein Ideal städtischer Kultur entwarf. Vier Klassen miteinander kooperierender Bürger - die sogenannten «sozialen Typen» - müssen laut ihm danach streben, von der Ebene blosser Handlungen und der Aufnahme sowie Wiedergabe von Tatsachen über das Reich der Gedanken bzw. Träume zum Niveau sinnstiftender Taten vorzudringen und so ihre Stadt («town») zur wahren «city» zu machen. Als deren Kern fordert er eine Akropolis mit kulturellen Institutionen - ein Gedanke, der auf Bruno Tauts «Stadtkrone» vorausweist. Geddes' spirituelle Interessen kulminierten in der nicht realisierten Vision eines Bahai-Tempels, der in der indischen Stadt Allahabad der Lehre vom Weltfrieden und von der Einheit aller Religionen Ausdruck verleihen sollte. Man darf vermuten, dass sein Glaube an die Notwendigkeit metaphysisch orientierter Stadtzentren nicht zuletzt deshalb so folgenarm blieb, weil er keine über das Zeittypische hinausgehende Form für die entsprechenden Gebäude und Gärten finden konnte.
Sehen als Denkhilfe
Mit dem, was in Welters Buch erfasst und dargelegt ist, ergeben sich nur wenige Probleme; dass das Thema dennoch nicht ganz aufblüht, liegt eher an den Auslassungen. So wird etwa trotz den einschlägigen Hinweisen von Christine Boyer («The City of Collective Memory», 1994) nicht näher untersucht, inwiefern Geddes' Wirken von der Komplementarität verbaler Argumentation und visueller Reize getragen wurde. Schade - denn die schwindelerregende Multiperspektivität seines Denkens kam nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass er dem Publikum unterschiedlichste optische statt nur gedankliche Blickwinkel auf den Gegenstand «Stadt» eröffnete. In dem von ihm eingerichteten Outlook Tower in Edinburg, wo eine Camera obscura und ein Teleskop dem Besucher Einzelheiten aus dem Stadtpanorama nahe brachten und wo auf fünf Stockwerken örtlich begrenztes Wissen mittels einer Plethora von Bildern, Diagrammen, Karten und Globen schrittweise zu weltumspannendem Umfang erweitert wurde, eröffnete eine Überfülle visueller Kontraste und Analogien die Möglichkeit zu unerwarteten Gedankenverbindungen zwischen Fächern wie Geographie, Geschichte und Astronomie. Zur Verarbeitung des Gesehenen gab es, wie auch bei Welter erwähnt, eine Meditationszelle.
Mit Hilfe einer enzyklopädischen Kriterienpalette, die Geddes zur Untersuchung der Ist- Situation vor urbanistischen Eingriffen diente und über die man bei ihm selber nachlesen sollte, lassen sich einseitig orientierte Städteplaner und Investoren erfahrungsgemäss noch heute rasch einmal in Verlegenheit bringen. An dieser Stelle kann ansetzen, wer Geddes in die Gegenwart wirken lassen will.
[Volker M. Welter: Biopolis. Patrick Geddes and the City of Life. MIT Press, Cambridge, Mass., 2002. 328 S., $ 39.95.]
Einladung in neue Bauten
Tag der Architektur in Deutschland
Am Wochenende des 29. und 30. Juni findet in fast allen deutschen Bundesländern der diesjährige Tag der Architektur statt. Der Öffentlichkeit wird dann die Möglichkeit zum Besuch ausgewiesener Beispiele zeitgenössischer Architektur geboten, die in der Regel während der letzten drei bis fünf Jahre errichtet wurden - 2001 waren das bundesweit fast 1300 Objekte in 540 Orten. Bei der Besichtigung besteht die Chance zum Gespräch mit Architekten, Bauherren, Stadtplanern, Landschafts- und Innenarchitekten. Vertreten sind alle Bauaufgaben vom Einfamilienhaus über Kirche, Altersheim, Verwaltungsbau, Industrieanlage und Kulturzentrum bis hin zu Sanierungsobjekten und Umnutzungen. Der Tag der Architektur wurde von einer Eröffnungsveranstaltung eingeleitet, die am 27. Juni in Senftenberg in der brandenburgischen Lausitz stattfand. Dieses Ereignis soll den Blick auf die Internationale Bauausstellung Fürst-Pückler-Land (IBA) richten, die von 2000 bis 2010 in der Region stattfindet. Es geht dabei um die Umgestaltung und Rekultivierung der dortigen Landschaft nach dem Ende des Braunkohletagebaus. Thematische Schwerpunkte liegen bei neuen Wegenetzen, regenerativer Energieerzeugung, dem Umgang mit Industriemonumenten und dem Siedlungsbau. Länderübergreifend bearbeitet wird das Projekt «Deutsch-polnisches Stadtzentrum Guben-Gubin». Die ersten der 22 IBA-Einzelprojekte konnten im Mai dieses Jahres eingeweiht werden. Dazu zählen eine zur Touristenattraktion umgewandelte Förderbrücke in Lichterfeld, temporäre Kunstinstallationen in der Landschaft bei Fürstlich Drehna sowie Land- Art-Objekte in der Umgebung von Pritzen.
[Über die IBA informiert www.iba-see.de und über den Tag der Architektur www.bundesarchitektenkammer.de.]
Haus aus Stroh
Ein architektonisches Experiment in London
In den USA bauten Architekten wie Bruce Goff, Frank Gehry und Michael Reynolds schon vor Jahrzehnten mit Materialien, aus denen sonst nur die Hütten der Ärmsten bestehen. Mit dem ökologisch durchdachten „Straw House“ in London zeigen Sarah Wigglesworth und Jeremy Till, wie kostengünstige und rezyklierte Baustoffe heute für einen experimentellen Bau in einer westlichen Grossstadt genutzt werden können.
Kurz nach dem Verlassen des Londoner Bahnhofs King's Cross in Richtung Norden - auf der Fahrt nach Cambridge, Newcastle oder Schottland - erblickt man linker Hand direkt am Bahndamm eine Hausfassade aus grauen Sandsäcken. Will sich da jemand vor Hochwasser schützen? Offenbar nicht, denn erstens gibt es in der Nähe weder Fluss noch Meer, und zweitens ist das Gebäude hochgeständert auf Gabions, Metallgitterkörben also, die hier mit Brocken wiederverwendeten Altbetons und nicht - wie bei der Dominus Winery von Herzog & de Meuron im Napa Valley (1996-98) - mit dunkelgrünem Basalt gefüllt sind. Vom Zug aus sieht man jedoch weder dieses Detail noch die Fensterrahmen aus alten Eisenbahnschwellen, sondern höchstens noch einen schlanken Turm mit kanzelartigem Ausguck.
Tisch und Bett
Von nahem betrachtet, ist das Gebäude grösser als erwartet: An den parallel zur Bahn gelegenen Flügel, der zwei Architekturbüros beherbergt, schliessen sich im rechten Winkel ein langgezogener, auf Stahlstützen aufgeständerter Wohntrakt mit ansteigendem Grasdach sowie ein kompakter Schlafzimmer-Annex mit einer Ummantelung aus Wellblech und transparentem Kunststoff an. Letzterer gibt den Blick auf die Strohballen frei, aus denen hier die Wände bestehen (im Zimmer selbst ist das Stroh verputzt). Wendet man sich von diesem ländlich anmutenden Anbau nach Osten zurück, so reibt man sich erneut die Augen: Die zweistöckige Rückwand des Büroflügels ist mit einer gepolsterten Glasfasermatte verkleidet. Derweilen schwankt das ganze Ensemble unmerklich vor sich hin, denn die durch den Bahnverkehr verursachten Vibrationen werden von Metallfedern unter sämtlichen Stützen des Wohntraktes sowie unter dem Stahlrahmen des Büroflügels gedämpft (hier verbergen sich die Federn in den Gabions, die aus feuerpolizeilichen Gründen mit Betonkernen verstärkt sind). Zum akustischen Schutz gegen den Lärm der vielen Schnellzüge tragen die Sandsäcke bei.
Als Wigglesworth und Till damit anfingen, das Gebäude in eigener Bauherrschaft und zur eigenen Nutzung zu entwerfen, gingen sie vom Anblick ihres Esstisches aus. Architekturfans werden da vielleicht an die interaktive Installation „Indigestion“ denken, welche die New Yorker Architekten Diller & Scofidio 1997 publizierten und in der der Blick auf eine festlich gedeckte Tafel zum Minikrimi wird. Aber Wigglesworth und Till geht es nicht um das unheilschwangere Knistern des Film noir, sondern um lebensvolle Alltäglichkeit: Statt mit Designerbesteck und schön gefalteten Damastservietten rechnen sie mit beweglichen Häufchen aus liegen gelassenem Kleingeld, Schlüsseln und Postwurfsendungen neben Kaffeetassen, die halb leer auf Arbeitsunterlagen balancieren. Mit anderen Worten: Ihr Entwurf für das Straw House war in erster Linie ein Aktionsplan, der sich gegen alles richtete, was ihnen in der Gegenwartsarchitektur als gefrorene Verfeinerung oder verfestigte Ideologie erscheint.
Grüne Ideen
Mit Gusto unterläuft das ästhetische Programm herrschende Erwartungen jeder Art. Das beginnt bei den widerborstigen Kombinationen ökologisch korrekter Materialien mit industriellen Billigprodukten (zum Beispiel Stroh und gewellten Kunststoffplatten) und endet bei der Verbindung einer spannungsvoll geometrischen Formensprache - wie jener der aus Zedernholz und Glas komponierten Südwand des Wohntraktes - mit einer provozierend rauen Detailbehandlung vor allem in den Interieurs. Manche Besucher sehen dennoch Bezüge zur Moderne, insbesondere zu Le Corbusier: einmal in den Pilotis, die den Baukörper nach oben stemmen, dann im offenen Plan, der im Wohntrakt zur Anwendung gekommen ist, oder in den „Façades libres“ und schliesslich im Dachgarten. Doch dürfte sich der Meister mehr als wundern, wenn er vom beabsichtigten Verrotten der Sandsäcke an der Ostfassade wüsste (deren Inhalt, eine Mischung aus Sand und Zement, soll sich mit der Zeit durch die eindringende Feuchtigkeit verfestigen). Das Straw House ist - man kann und soll es nicht anders sagen - hybrid.
In die Ökobilanz eines Baus müssen verschiedenste Grössen eingehen: beispielsweise die für seine Herstellung und seinen Betrieb erforderliche Energiemenge, die Transportwege, die Lebensdauer der einzelnen Komponenten, deren Wiederverwendbarkeit oder auch der Beitrag, den ihr Einsatz zum Abbau der Müllberge leisten kann. Mit geradezu didaktischer Klarheit verdeutlichen Wigglesworth und Till all diese Aspekte durch ihren Bau - eine Tatsache, die sich ihrer Lehrtätigkeit an der Architekturfakultät der Universität Sheffield verdanken mag. Was die Temperaturregelung betrifft, so erfolgt diese mittels sowohl traditioneller als auch moderner Techniken. Während zum Beispiel Solarenergie das Warmwasser aufheizt, ist die vertikal belüftete Speisekammer als kühler Kegel aus geweissten Ziegeln konzipiert, der den Wohnsaal durchstösst und den halb offenen Küchenbereich abgrenzt. Dabei wurden die Architekten von einem mit nordafrikanischen Bauten vertrauten Maurer unterstützt.
Bücherturm und Holzofen
Der Turm - sein Treppenhaus beherbergt die Bibliothek - dient der Belüftung und Kühlung des Gebäudes. Warm gehalten wird dieses im Winter vor allem durch die Strohballen, die - eingefügt ins Holzfachwerk - die Wände der Schlafzimmer und die Nordwand des Wohntraktes bilden. In den USA hat man mit Stroh als Baumaterial schon Erfahrungen gesammelt, in einem feuchtmilden Klima wie dem englischen hingegen noch nicht. So wird das Straw House zum Forschungsobjekt, bei dem vom Energieverbrauch bis zur Haltbarkeit der Wände alles systematisch beobachtet werden soll. Und die Finanzen? Teuer waren Haus und Büro für ihre Grösse nicht: Die Baukosten betrugen rund 550 000 Pfund, was 1200 Pfund pro Quadratmeter entspricht. Das nötige Darlehen kam von einer Bausparkasse, die ausschliesslich ökologische Projekte finanziert. Auch die Planungsbehörde machte kaum Probleme; allein die Versicherung verlangt aus Furcht vor Feuer eine erhöhte Prämie. Vielleicht liegt das mit am Holzöfchen im Wohnzimmer. Verlässt man das Haus, denkt man dennoch: Wer wagt, gewinnt.
Israels Bauten der Moderne
Architekturfotos von Günther Förg in Weimar
Tel Aviv, Haifa und Jerusalem waren in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts Laboratorien der modernen Architektur. Über 130 Architekten, die vor ihrer Emigration aus Europa am Bauhaus in Weimar oder Dessau sowie in Berlin, Brüssel, Paris, Wien und Rom studiert hatten, bauten ganze Strassenzüge in einer den örtlichen Bedingungen angepassten Variante des internationalen Stils. Viele Hunderte dieser Bauten sind erhalten, wenn auch grösstenteils in entstelltem Zustand. Ihren Erbauern galt die Formensprache der Moderne als hoffnungsvolles Zeichen neuen Anfangs, das die Immigranten zugleich mit ihren europäischen Wurzeln verband.
Die Stiftung Weimarer Klassik zeigt derzeit im Schillermuseum die Ergebnisse einer Fotokampagne, die den Künstler Günther Förg im letzten Sommer zu den weiss verputzten Betonbauten dieser Zeit in Tel Aviv sowie zu ihren steinverkleideten Gegenstücken in Jerusalem führte. Im ersten Teil der Schau vermitteln extrem vergrösserte Schwarzweissbilder von Genia Averbouchs kraftvoll dynamisierten Fassaden am Zina Dizengoff Square (1934-49) sowie von Bauten wie Carl Rubins Haus Hadar (1938) oder Salomon Liaskowskis und Jacov Ornsteins frisch renoviertem Apartmentgebäude Recanati-Saporta (1936) dem Betrachter das Gefühl, selbst in Tel Avivs Strassen zu stehen. Ein Stockwerk höher wird Förgs schnelle, serielle, mehr Nähe als Übersicht suchende Arbeitsweise durch doppelreihige Collagen von je zweimal sechs kleineren Fotos dokumentiert.
Leider lässt in der Ausstellung die Beschriftung der Exponate zu wünschen übrig; und der Katalog ist zweifellos als Kunstbuch sehr attraktiv, aber - der Gattung entsprechend - ohne grosse architekturhistorische Ansprüche. Zwei einführende Essays skizzieren summarisch die Bauhaus- Moderne in Israel. Darüber hinaus reichte es jedoch nicht einmal für einen Verweis auf die wichtigsten israelischen Publikationen oder auf Irmel Kamp-Bandaus vorbildliches Buch «Tel Aviv. Neues Bauen 1930-39» (Tübingen 1994). Doch ein Fotobuch mit Kunstanspruch kann wohl auch nicht der Ort sein, wo die Weite des geistigen Horizonts gewürdigt wird, über den die grössten der beteiligten Architekten geboten. Man denkt hier vor allem an Erich Mendelsohn, der über sein Hadassah-Krankenhaus (1934-39) auf dem Mount Scopus in Jerusalem schrieb: «Keiner wird enttäuscht sein, der den Bau im Lichte der monumentalen Strenge und Klarheit der grössten spirituellen Schöpfungen sieht, die dieser Teil der Welt hervorgebracht hat - der Bibel, des Neuen Testaments, des Korans.»
[Bis 14. April in Weimar und ab November 2002 im Tel Aviv Museum of Art. Katalog: Günther Förg Photographs. Bauhaus Tel Aviv - Jerusalem (englisch, deutsch, hebräisch). Hrsg. Politischer Club Colonia. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern-Ruit 2002. 208 S., 182 Abb., Fr. 61.- (Euro 20.- in der Ausstellung).]
Neue Trends in Russlands Architektur
Eine Ausstellung im RIBA in London
Was bedeuten die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die Russland während der letzten zehn Jahre erlebt hat, für das dortige Bauen? Vor allem die neue Investorenarchitektur in Moskau prägt das Bild, das man sich im Westen gemeinhin von der jetzigen Situation macht. Eine kleine Überblicksschau im Londoner Royal Institute of British Architects (RIBA) bietet genauere Informationen.
Vorgestellt werden die Arbeiten von zehn russischen Architekturbüros, die 2001 bei der jährlichen Architektur- und Designausstellung «Arch Moskau» ausgewählt wurden. Hinzu kommen Projekte aus dem Moskauer Büro des Londoner Architekten Will Alsop sowie eine Präsentation der wohl unfreiwillig figural wirkenden neuen britischen Botschaft in Moskau (1993 bis 2000) von Ahrends Burton & Koralek (mit Modell). Weitere Ausblicke richten sich auf die postmoderne Umgestaltung von Nischni Nowgorod (früher Gorki), wo der Stadtbaumeister Alexandr Charitonow von 1993 bis 1999 auf flamboyante Weise schul- und stilbildend wirkte, und auf den durch Fehlrenovierung fast ebenso sehr wie durch weiteren Verfall bedrohten heutigen Zustand von Schlüsselbauten der russischen Moderne, darunter Moissej Ginsburgs Narkomfin-Block (1928-30) in Moskau.
Das auf Schautafeln präsentierte Foto- und Planmaterial verdeutlicht vor allem eines: stilistische Heterogenität. Michail Filippow erträumt in poetischen Zeichnungen ein neues Moskau in den Formen der italienischen Renaissance, während anderswo - teilweise mit Anklängen ans westliche Hightech - die Tradition sowjetischer Ingenieursarchitektur weitergeführt wird. Vergleichsweise markant geschieht dies etwa durch das Architekturbüro Timur Baschkajew und seine aus dem staatlichen Institut Aeroprojekt hervorgegangenen Mitarbeiter, die unter anderem Villen in der Form pilzartiger Raumkapseln entwerfen. Manche Bauten, die dem fremden Betrachter zunächst wenig aussagekräftig scheinen, ergeben einen Sinn, wenn man den Präsentationstext des Architekturstudios Lyslow beim Wort nimmt und sie als Versuche versteht, das umgebende Lebenschaos auf realistische Weise einzudämmen.
Gleichzeitig allerdings fällt einem ein Gedicht ein, das El Lissitzky 1926 in der Zeitschrift der Architektengruppe Asnowa veröffentlichte und das mit den Zeilen endet: «Der Mensch ist das Mass des Schneiders. / Aber Architektur messt an Architektur.» Der Weg zu solcher Höhe wird im Katalog gewiesen, wo gerade auch von russischer Seite nach konzeptueller Klarheit und künstlerischem Mut gerufen wird. Wie die Konstruktivisten und Formalisten in den zwanziger Jahren gezeigt haben, ist beides in Russland in visionärem Masse möglich. Deshalb verfolgt man mit Spannung, wohin die jetzige Entwicklung geht.
[Die Ausstellung im RIBA am Portland Place 66 in London dauert bis zum 6. April. Katalog: Time for Change. Recent Developments in Russian Architecture (englisch-russisch). RIBA, London 2002. 35 S. (mit Abb. und Kontaktadressen), £ 5.-. Die siebte «Arch Moskau» findet vom 14. bis zum 18. Mai statt; Informationen unter http://www.expopark.ru.]