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Hochzeitsmarsch der Höhlenmenschen
Neue Zürcher Zeitung

Raili und Reima Pietilä im Architekturmuseum von Helsinki

Das finnische Architektenpaar Raili und Reima Pietilä belebte die Formensprache der Moderne durch Bezüge auf die Natur. Die Bedeutung ihres Schaffens wird nun im Architekturmuseum Helsinki gewürdigt.

25. April 2008 - Ursula Seibold-Bultmann
Finnisch ist eine ruhige, fallend betonte Sprache mit zahlreichen Doppelkonsonanten und -vokalen, in der die Substantive durch fünfzehn Fälle dekliniert und dabei durch unterschiedlichste Suffixe verlängert werden. Davon liess sich Reima Pietilä (1923–1993) als Architekt inspirieren: «Ich spreche, während ich zeichne – der Rhythmus und die Intonation des Finnischen bestimmen die Bewegung meines Bleistifts», hat er erklärt. Zwar verdanken sich der formale Reichtum und die poetische Vielschichtigkeit der Pietilä-Bauten auf den ersten Blick vor allem ihren Bezügen auf die Natur: auf Gesteinsformen und Organismen, auf den Lichteinfall zwischen Baumstämmen, auf Gebrochenes und Fliessendes, auf Feuer und Schnee. Aber durch die beschriebenen Sprachimpulse kommt ein ganz eigenes Element hinzu.

Grosse Schenkung

Im Jahr 2002 erhielt das Architekturmuseum in Helsinki von der heute 82-jährigen Raili Pietilä und ihrer Tochter das gesamte Archiv ihres Architekturbüros mit rund 30 000 Zeichnungen und anderem Material geschenkt: Anlass genug für eine Ausstellung, wie sie jetzt in diesem Hause stattfindet. Neun Hauptprojekte – vom nicht erhaltenen finnischen Pavillon der Weltausstellung von 1958 in Brüssel über die urbanistischen Vorschläge für Kuwait City (seit 1969) einschliesslich der dort zwischen 1973 und 1982 ausgeführten Regierungsbauten bis hin zu Mäntyniemi, der Residenz der finnischen Staatspräsidenten (1993) – werden ausführlich mit Fotos, Grundrissen, Schnitten, achtzehn Modellen unterschiedlicher Funktion, einem schönen Film und zahlreichen Originalzeichnungen vorgestellt; punktuell beleuchtet werden sieben weniger prominente oder nicht gebaute Entwürfe.

Dank der Schenkung konnte der Kurator Timo Tuomi seine Auswahl aus einer ungleich breiteren und gesicherteren Materialbasis treffen, als sie der 1989 an der ETH Zürich gezeigten Pietilä-Schau zugrunde lag, hat sich dabei aber nicht verzettelt. Während das Schaffen der beiden Architekten damals unter Betonung von Reima Pietiläs Rolle als Architekturtheoretiker in offenen, undogmatischen, experimentellen Zwischenzonen der Moderne verortet wurde, akzentuiert die jetzige Ausstellung – unter anderem mittels grossartiger Entwurfsskizzen – die expressiven Züge in der Arbeit der beiden Finnen als Herausforderung an die moderne Architektur. Wohl aufgrund dieser Blickrichtung kommt die kühle Kirche von Lieksa (1979–84) lediglich im Katalog vor. Das gezeigte Material steht und spricht für sich. Quellen für die Ausdruckskraft der Pietilä-Bauten – etwa der Potsdamer Einstein-Turm von Erich Mendelsohn, der in die Kaleva-Kirche in Tampere (1959–66) eingeflossene Dynamismus der futuristischen Gemälde Umberto Boccionis oder an anderer Stelle sogar die Bauten eines Antonio Gaudí – werden in der Ausstellung nicht ausdrücklich benannt.

Licht ins Dunkel

«Hochzeitsmarsch der Höhlenmenschen» lautete der Titel, unter dem die Pietiläs 1961 ihren Wettbewerbsbeitrag für Dipoli, das Mehrzweck-Studentenzentrum an der Technischen Universität von Helsinki in Espoo, einreichten. Beflügeltes und Schweres bleiben in diesem perfekt ins Gelände eingefügten Bau, der in jede Himmelsrichtung kontrollierte Energie ausstrahlt, in der Schwebe. Über einem Sockel aus wie hingeworfen wirkenden Granitbrocken lagert ein langgezogenes, komplex gegliedertes Fensterband unter einer winklig gebrochenen kupferverkleideten Dachzone. Die schmalen Streifen dieser Verkleidung antworten dort, wo sie an sichtbar belassene Teile der Betonkonstruktion grenzen, präzise auf die rauen Spuren von deren Verschalung. Streng rechtwinklig angelegt, schiebt sich der Verwaltungsflügel des Gebäudes in den frei geformten, im Grundriss an ein tierisches Fossil erinnernden Haupttrakt mit Auditorium und drei kavernenartigen Festsälen, deren geschwungene Betondecken überraschende Lichtkonstellationen ins Dunkel bringen. Dipoli erschöpft sich aber weder bei seiner Vielansichtigkeit noch bei blossen Bildimpulsen; vielmehr bereichert und prägt seine architektonische Gestalt vor allem das räumliche Gedächtnis der Nutzer.

Die mannigfaltigen künstlerischen Möglichkeiten, die im Werk der Pietiläs angelegt sind, lassen sich so schnell nicht ausschöpfen. Es ist zu wünschen, dass die Ausstellung noch an weiteren Orten gezeigt werden kann.

[ Bis 25. Mai. Dem finnischsprachigen Katalog (156 S., € 25.–) soll 2009 eine englische Ausgabe folgen. Bis dahin sei der Symposiumsband «Hikes into Pietilä terrain» (Hrsg. Aino Niskanen, Helsinki 2007, 142 S., ISBN 978-951-98331-2-5) empfohlen. ]

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