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Ein Genie der Baukunst
Neue Zürcher Zeitung

Francesco Borrominis Leben und Werk

Der am 27. September 1599 in Bissone am Luganersee geborene Francesco Borromini brach nach seinem Studium in Mailand als Zwanzigjähriger auf nach Rom. San Carlino, Borrominis Erstlingswerk, begründete seinen Ruhm als exzentrischer Architekt. Seine baukünstlerische Originalität prägte das Werk einiger der grössten Meister des Spätbarocks von Guarini und Juvarra in Turin bis Hawksmoor in England.

25. September 1999 - Joseph Connors
Borrominis Leben begann und endete am Wasser. Geboren wurde er am 27. September 1599 in Bissone am Luganersee, und 1667 nahm er sich in einem Haus mit Blick auf den Tiber das Leben. Seine Eltern entstammten einem weitverzweigten Geschlecht von Steinmetzen, das erfolgreich in der Fremde tätig war. Steinmetzen und Architekten aus dem Gebiet rund um den Luganersee arbeiteten auf jeder grösseren Baustelle zwischen Palermo und St. Petersburg. So waren die Tencala Hofkünstler und Architekten in Wien, die Santini liessen sich in Prag und die Longhena in Venedig nieder. Zwei Onkel Borrominis bauten in Mähren Burgen und Kirchen. Viele Familien schickten ihre Sprösslinge nach Rom: etwa die Fontana aus Melide oder die Mola aus Coldrerio.

Borromini behauptete, sein Vater sei Architekt im Dienste der Visconti in Mailand gewesen. Jüngste Forschungen lassen allerdings vermuten, dass «il Bissone», wie sein Vater genannt wurde, wohl eher als Wasserbautechniker in der Villa von Lainate bei Mailand tätig war. Schon als Neunjähriger wurde auch der junge Borromini nach Mailand geschickt, wo er wahrscheinlich eine Ausbildung als Bildhauer erhielt. Borromini hiess eigentlich Francesco Castelli. Doch in den Archiven der Fabbrica del Duomo werden mehrere Francesco Castelli erwähnt; die Identifikation von Borromini ist deshalb schwierig. Bestimmt hat der Jüngling alles in sich aufgesogen, was Mailand einem angehenden Architekten zu bieten hatte: die gotischen Formen der Kathedrale ebenso wie die perspektivischen Konstruktionen Bramantes und die Schöpfungen Pellegrino Tibaldis, der als Architekt Carlo Borromeos den Mailändern die Neuerungen Michelangelos vermittelt hatte. Borromini studierte auch den altehrwürdigen Bau von San Lorenzo Maggiore, der schon Leonardo beschäftigt hatte und der schliesslich in Bramantes Plan für St. Peter eingeflossen war.

Als Zwanzigjähriger brach Borromini 1619 nach Rom auf. Er fand Arbeit bei seinem aus Capolago am Luganersee stammenden Verwandten Carlo Maderno. Als präziser und einfallsreicher Zeichner wurde Borromini Madernos rechte Hand. Zusammen mit Bernini arbeitete er am Baldachin von St. Peter und am Palazzo Barberini. Anfänglich verband die beiden Jünglinge eine Freundschaft, bis «l'amore si convertisse in grandissimo odio». Nach dem Tod Madernos wurde Bernini 1629 Architekt von St. Peter. Doch bat er den mit allen Belangen der Architektur vertrauten Borromini, als sein Mitarbeiter zu bleiben. Zunächst arbeiteten sie gut zusammen. Bernini lernte von Borromini viel über Architektur, und Borromini erhaschte einiges von der Phantasie des Bildhauers. Ernüchterung machte sich jedoch bei ihm breit, als er entdeckte, dass Bernini ihm geschuldetes Geld abzweigte. Die Saat einer erbitterten Rivalität war hiermit gestreut.

RÖMISCHE AUFTRAGGEBER

Am Hofe Urbans VIII. traf Borromini Künstler, Intellektuelle und Wissenschafter, darunter Pietro da Cortona und den flämischen Bildhauer François Duquesnoy, mit dem er verschiedene Altäre schuf. Ebensowichtig waren seine Kontakte zu Adligen und hohen Prälaten. Diese sollten zu seinen anregendsten Auftraggebern werden. Ein junger Graf aus den Marken, Ambrogio Carpegna, gab jenen Bau in Auftrag, der Borrominis grossartigster Palast werden sollte: den Palazzo Carpegna bei der Fontana di Trevi. Ambrogio verstarb jung, doch sein Bruder, Kardinal Ulderico Carpegna, Bischof von Gubbio, folgte als treuer Auftraggeber und liess den heutigen Sitz der Accademia di San Luca zu Ende bauen. Für Orazio Falconieri aus Florenz vollendete Borromini den Palazzo Falconieri in der Via Giulia am Tiber, der Borrominis wunderbarste Decken besitzt. Kardinal Ascanio Filomarino bestellte nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Neapel bei Borromini und den Bildhauern Bolgi und Duquesnoy einen Marmoraltar für seine Familienkapelle in SS. Apostoli in Neapel.

Ein Oratorianer aus Brisighella in den Marken, Virgilio Spada, wurde Borrominis verlässlichster und verständnisvollster Auftraggeber. Begeistert vom Einfallsreichtum, der aus den Zeichnungen Borrominis sprach, verschaffte Spada dem Tessiner den Bauauftrag am Oratorio dei Filippini, an dem zuvor Paolo Maruscelli tätig gewesen war. Schliesslich avancierte Spada zum mächtigen Verwalter der architektonischen Projekte der Päpste Innozenz X. und Alexander VII. und setzte sich in seinem neuen Amt vehement für Borrominis Sache ein. Spada erkannte als erster die Wichtigkeit, Borrominis Werke zu publizieren. Er schrieb eine umfangreiche Geschichte des Oratorio und der Casa dei Filippini und erläuterte die Hauptpunkte des Entwurfs sowie die Funktion jedes Raumes. Es handelte sich dabei um eine der ersten Architekturmonographien überhaupt. Erst 1725, nach dem Tode Spadas, wurde das Manuskript in einer «Opus Architectonicum» betitelten Prachtausgabe veröffentlicht.

Borromini knüpfte auch mit Auftraggebern aus der iberischen Welt Kontakte. Der Beichtvater Kardinal Francesco Barberinis, Padre Juan de la Anunciación, war spanischer Trinitarier, Mitglied eines im Mittelalter gestifteten Ordens zum Freikauf von Christen, die von den Muslimen gefangengehalten wurden. Juan de la Anunciación war arm, hegte aber für seinen Orden grosse Ambitionen und plante eine Kirche, welche nach Möglichkeit prächtiger als der Tempel Salomons sein sollte. Die bewusste Verbindung aus Strenge und Erhabenheit hätte manch anderen Architekten irritiert, doch Borromini wusste, wie diesen Wünschen entsprochen werden konnte. Als grossartiges Ergebnis entstand Borrominis erste Kirche, San Carlo alle Quattro Fontane.

In den 1630er Jahren begann sich der Marchese di Castel Rodrigo - ein portugiesischer Adliger, der Botschafter des spanischen Königs am Heiligen Stuhl war - für Borromini zu interessieren und stiftete eine riesige Summe für die Vollendung der Fassade von San Carlino. Desgleichen beauftragte er ihn mit dem Bau einer Familienkapelle in Lissabon. Doch dann liess die internationale Politik diesen wichtigen Auftraggeber von der Bühne verschwinden: 1640 lehnte sich Portugal gegen die spanische Krone auf, um nach langen Kämpfen die Unabhängigkeit zu erreichen. Castel Rodrigo blieb Spanien gegenüber loyal, doch hielt man es nicht für opportun, ihn weiterhin als Botschafter in Rom zu lassen. Er wurde 1640 abberufen und starb 1651 vergrämt in Madrid. Die Kapelle in Lissabon war teilweise verschifft worden und befand sich offenbar in halbfertigem Zustand, wurde aber gleichwohl von Reisenden gerühmt. Sie überstand 1755 das Erdbeben, ging aber im 19. Jahrhundert verloren, als die sie beherbergende Kirche zu den Cortes, dem portugiesischen Parlament, umgebaut wurde.

ARCHITEKTURBEGEISTERTE PÄPSTE

Borromini arbeitete unter drei Päpsten: Urban VIII. Barberini (1623-44), Innozenz X. Pamphilj (1644-55) und Alexander VII. Chigi (1655-67). Von den dreien stand der architekturbegeisterte Innozenz X. dem Tessiner am nächsten. Teils aus politischen, teils aus künstlerischen Gründen distanzierte sich Innozenz von Bernini, dem Favoriten seines Vorgängers. Während der von ihm angeordneten Untersuchung des Baus von Berninis desaströsen Glockentürmen für St. Peter, die deren Abbruch nach sich zog, sagte Borromini gegen Bernini aus. So wurden aus den einstigen Freunden erbitterte Feinde.

Der wichtigste Auftrag, den Innozenz an Borromini erteilte, war der Umbau von San Giovanni in Laterano. Anders als bei St. Peter sollte hier die alte Basilika so weit als möglich erhalten werden: «senza alterare la pianta, senza muovere mura, e senza scomponimento del tutto». Innozenz X. hatte als Kardinal ein kleines Haus an der Piazza Navona bewohnt, doch während seines langen Pontifikats vereinnahmte er grosse Teile der Piazza für Palast, Galerie, Familienkirche und zugehöriges Kollegium. Die Piazza Navona wurde so zum «Forum Pamphilium», einer dynastischen Platzanlage, die sogar die der Farnese übertraf. Borromini war am Entwurf des Palastes beteiligt und konnte schliesslich bei der Gestaltung der Pamphilj-Galerie selbständig agieren. Weiter erfand er für Sant'Agnese eine dynamische, von zwei Glockentürmen flankierte Fassade, die während Generationen nordeuropäische Architekten beeinflussen sollte.

GROSSE VORBILDER

Obwohl Borromini aus dem lombardischen Kulturbereich stammte, sind seine Bauten römisch. Sie wurzeln im Studium der Antike und in der Tradition der Renaissancemeister, die bereits vor ihm die Ruinen untersucht hatten. In Sant'Ivo alla Sapienza, der Kirche der römischen Universität, errichtete er eine in sechs Konchen ausgreifende Kuppel. Hier ahmte er die grossen Rotunden der Spätantike an der Via Appia nach, die schon Peruzzi gezeichnet hatte. Borrominis sich muschelförmig konvex und konkav wölbende Kuppeln - «di difficile fattura», wie die Bauarbeiter klagten - sind der Architektur der «Betonrevolution» des ersten und zweiten Jahrhunderts, insbesondere der Villa Hadriana, entlehnt.

Neben der Antike verehrte Borromini die Meister der Renaissance, insbesondere Bramante, Raffael und Michelangelo sowie Palladio. Man braucht nur an der Oberfläche von Borrominis Bauten zu kratzen, um Anspielungen auf Raffaels Villa Madama, Palladios Kirchen und Paläste, vor allem jedoch auf Michelangelo zu finden. Borrominis erste Kirche, San Carlino, kann als miniaturisierte Peterskirche aufgefasst werden. Viele seiner ornamentalen Details verdankt Borromini dem Studium Michelangelos. Er hielt Michelangelo aber auch als Vorbild imaginativen Mutes hoch: «Pregoli a ricordarsi, quando tal volta li paia, ch'io m'allontassi da i communi disegni, di quello, che diceva Michel'Angelo Prencipe degl'Architetti, che, chi segue altri, non li va mai inanzi, et io al certo non mi sarei posto a questa professione col fine di esser solo copista, benche sappia che nell'inventar cose nuove non si puo ricever il frutto della fatica se non tardi, sicome non lo ricevette l'istesso Michel'Angelo . . .»

DER SCHATTEN BERNINIS

Unter Alexander VII. kühlte sich die Begeisterung für einfallsreiche, unkonventionelle Architektur deutlich ab. Borrominis Höhenflügen der Phantasie schien nun plötzlich etwas Fragwürdiges, ja Verbotenes anzuhaften. Bernini kehrte erneut als Favorit in den Vatikan zurück. Auf Borrominis Lehrzeit am Mailänder Dom verweisend, machte Bernini den Papst glauben, dessen Stil sei nichts anderes als gotisch und deshalb so merkwürdig. Borromini suchte seine Neuerungen zu verteidigen und darzulegen, dass seine Entwürfe auf gründlicher Kenntnis Vitruvs, der Antike, der Geometrie und der Natur basierten. - In den 1650er Jahren wurde er ein enger Freund des Universalgelehrten und Priesters Fioravante Martinelli, der engagiert Borrominis Werk und seine «vivezza dell'ingegno» beschrieb. Trotz Martinellis beredter Verteidigung galt die Gunst der Stunde Berninis klassizistischem Barock. Alexander VII. traf sich während seines Pontifikats jede Woche, zeitweise sogar jeden Tag mit Bernini. Zudem wurde er von Colbert eingeladen, einen Palast für Ludwig XIV. zu entwerfen. Als Bernini mit Ehren überhäuft aus Paris zugekehrt war, gingen die von ihm entworfenen Kolonnaden vor St. Peter, das grandioseste Projekt des römischen Barocks, der Vollendung entgegen. Borromini muss vor Neid ausser sich gewesen sein.

Im Sinne der Affektenlehre der Renaissance war Bernini - wie Zeitgenossen berichten - ein cholerischer Typ, der zu heftigen Ausbrüchen, aber auch zu grossen Leistungen fähig war. Borromini hingegen war ein melancholischer Typ, ein ewiger Junggeselle, der sich gerne nach der spanisch-habsburgischen Etikette schwarz kleidete. Wie ein richtiger Pensieroso zeichnete er nächtelang an Lösungen anstehender Probleme. Die Melancholie wurde in der Medizin des 17. Jahrhunderts als kreatives Temperament betrachtet, doch in Verbindung mit den harten Schicksalsschlägen einer typischen Architektenlaufbahn forderte sie ihren Tribut. Nach dem Tod von Innozenz X. im Jahre 1655 löste eine grosse Anspannung bei Borromini psychische Probleme aus. Ein Jahrzehnt später, im Sommer 1667, kehrte die nachtschwarze Stimmung wieder. Mehrere Wochen verbrachte er schlaflos und deprimiert. Am 24. Juli starb sein Freund Martinelli. In der darauffolgenden Woche widerrief er sein Testament und setzte ein neues auf, verbrannte einige seiner Papiere und nahm sich in der Nacht auf den 2. August mit dem Schwert das Leben.

Borrominis Vermächtnis liegt in einer Architektur von grosser Originalität, die im Studium der Antike und Michelangelos gründet, doch mit Sinn für Neuerung erfüllt ist. Sie drückte dem Werk einiger der grössten Meister des Spätbarocks ihren Stempel auf: bei Guarino Guarini und Filippo Juvarra in Turin, Santini-Aichel in Böhmen und selbst bei Nicholas Hawksmoor in England. Frankreich war für seine Formensprache weniger empfänglich, doch war es in den 1670er Jahren ein anonymer Franzose, der - ein Jahrzehnt nach Borrominis Tod - bei einem Besuch Roms die richtigen Worte fand. Borromini gebühre «la gloire de marquer de l'esprit dans tout ce qu'il invente dans l'architecture». Übersetzung Michael Gnehm.

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