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Gesamtkunstwerk Ausstellung
Eine Pariser Schau über Architekten als Szenographen
Immer mehr Architekten beschäftigen sich mit Ausstellungs-Szenographien. Eine anregende Schau im Pariser Pavillon de l'Arsenal zeigt 115 für verschiedene Institute entworfene Inszenierungen.
Der Pavillon de l'Arsenal in Paris ist ein wunderbarer Ort. Es sind dort - gratis - die anregendsten und lehrreichsten Architektur- und Urbanismus- Ausstellungen der Kapitale zu sehen. Ein Markenzeichen der städtischen Institution ist es, die Szenographien ihrer Schauen Architekturbüros anzuvertrauen. Fünfzig solche «Scénographies d'architectes», die das Zentrum seit seiner Eröffnung 1988 in Auftrag gegeben hat, werden derzeit in einer Retrospektive gezeigt. Darunter finden sich so originelle Inszenierungen wie der ironisch- pompöse Repräsentationsraum im Stil des Second Empire, in welchen Pierre Schall den Pavillon 1991 für die Ausstellung «Paris-Haussmann» verwandelte, die Lagerhalle voller Holzkisten und -möbel, die Patrick Berger und Frédéric Bonnet 1994 für «Le bois: essences et sens» schufen, oder Shigeru Bans Labyrinth aus Schlumpfmützen-Zelten, Papprollen-Paravents und einem Papiertunnel für «L'Archipel métropolitain» (2003).
Variationen über ein klassisches Thema
Doch statt sich selbst auf die Schulter zu klopfen, zeigt das Zentrum diese fünfzig hauseigenen Architekten-Szenographien auf zwanzig Bildschirmen am Rand der Schau. Den Mittelpunkt der Ausstellung bilden 65 Arbeiten, die für andere Institutionen in Frankreich und im übrigen Europa geschaffen wurden. Aus diesen seien einige Beispiele herausgegriffen, die die drei am prominentesten vertretenen Typen von Architekten-Szenographien illustrieren.
Den ersten Typus könnte man als «klassisch» bezeichnen, bietet er doch Variationen über das typische Ausstellungsmöbel, den Tisch. Er ist vor allem bei grossen Architekten beliebt. So bestand die Retrospektive von Herzog & de Meuron im Basler Schaulager (2004) hauptsächlich aus unregelmässig im Raum verteilten Tischen von unterschiedlicher Grösse, auf denen Modelle auslagen. Renzo Piano liess bei seiner Werkschau im Centre Pompidou (2000) insgesamt 22 verglaste Holzrahmen wie Riesentablette an feinen Seilen von der Decke hängen. Die originellste Variation bot jedoch am selben Ort Thom Maynes diesjährige Werkschau (NZZ 5. 5. 06): ein begehbares, leicht ansteigendes Podest aus 170 von einer Aluminiumstruktur gefassten Glasplatten, unter denen Modelle, Pläne und Videomonitore ausgebreitet waren.
Erstaunlicherweise bezog - zumindest den gelieferten Informationen nach zu urteilen - keine der Szenographien den Kontext wirklich mit ein. Das ist umso erstaunlicher, als viele der Schauen nicht in einem White Cube stattfanden, sondern in Räumlichkeiten mit einer markanten Innenarchitektur: in Kirchen, Industriegebäuden, Museen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Etliche Architekten versuchten, diesen (irritierenden?) Kontext geradezu auszublenden, indem sie für die Exponate einen «Raum im Raum» schufen - oder gleich deren mehrere.
In seiner Werkschau im Nederlands Architectuur Instituut in Rotterdam liess Daniel Libeskind 1997 den Besucher durch ein Labyrinth aus stahlblechbeplankten Wänden irren, die gleichsam bei der Explosion im Raum festgefroren waren. Peter Eisenman hingegen zog 2004 in die grosse Ausstellungshalle des Wiener Museums für Angewandte Kunst (MAK) eine niedrige Zwischendecke ein und stellte dreissig quaderförmige Pfeiler auf, deren Inneres die Exponate seiner Retrospektive barg. Und für die Kunstausstellung «Vision machine» legte Lars Spuybroek im Jahre 2000 einen weissen Riesenraupen-Tunnel durch das imposante Atrium des Musée des beaux-arts von Nantes. Das begehbare, mit einer leicht transparenten Wollhaut bezogene Sperrholz-Gerippe des Tunnels war mit Gemälden und Fotos behangen.
Solche Arbeiten nähern sich dem dritten Typus an, der die Szenographie als Installation, als eigenständiges Kunstwerk versteht. Bei der von Peter Cook, Dennis Crompton und David Greene gestalteten Archigram-Rückschau im Londoner Design Museum (2004) ist es kaum mehr möglich, Exponate und Szenographie zu unterscheiden. Die im Herbst 2000 von Coop Himmelb(l)au in der Neuen Galerie Graz realisierte Ausgestaltung der Rudi-Gernreich-Ausstellung «Fashion will go out of fashion» wirkte mit ihren aus dem Boden wachsenden enigmatischen Videomöbeln, den von der Decke hängenden überdimensionierten Metallhauben und den flimmernden Raumhüllen, welche mit Artikeln und Fotos aus Modemagazinen tapeziert waren, mindestens ebenso aufregend wie die Kreationen des Couturiers.
Kurvenreiche Raumskulptur
Unendlich poetisch mutet Toyo Itos Eingebung an, für seine Werkschau in Vicenza (2001) durch die abgedunkelte Basilica Palladiana zweiundzwanzig hohe Säulen aus einem von oben bestrahlten halbtransparenten Stoff schweben zu lassen - wie leuchtende Tornados, in deren Auge je ein Projekt ruht. Geradezu futuristisch wirkt dagegen die von Zaha Hadid für ihre Retrospektive im MAK (2003) geschaffene Installation «Ice Storm», eine zugleich kanten- und kurvenreiche Raumskulptur, die man am ehesten als einen durch Magmaglut zum Schmelzen gebrachten Gletscher umschreiben könnte.
«Scénographies d'architectes» ist nicht die gelungenste Ausstellung des Pavillon de l'Arsenal. Christine Desmoulins' Auswahl fehlt es an Stringenz: Warum etwa wurde der ephemere «Pavilion 2005» von Alvaro Siza und Eduardo Souto Moura für die Londoner Serpentine Gallery mit aufgenommen, in dem nichts ausgestellt war? Die grosse Zahl der gezeigten Arbeiten verunmöglichte es, jede einzelne hinreichend zu dokumentieren. Ihre alphabetische Reihung nach Architektennamen wirkt eher denkfaul. Und die für die Ausstellung gewählte Szenographie von Dominique Perrault - rund drei Dutzend identische Leuchttafeln, die auf jeder Seite ein Projekt vorstellen - hält dem Vergleich mit den meisten präsentierten Arbeiten nicht stand. Dennoch: Das Thema ist fesselnd und seine Behandlung zumindest befriedigend. Reiseunlustigen sei der Katalog empfohlen: Dieser übernimmt fast sklavisch genau die Texte und Bilder der Schau.
[ Bis 22. Oktober. Katalog: Scénographies d'architectes. Editions du Pavillon de l'Arsenal, Paris 2006. 488 S., 38 Euro. ]
Ein neues Museum von Weltrang für Paris
Im Musée du Quai Branly fusionieren Architektur und Stammeskunst
Heute wird in Paris das Musée du Quai Branly eröffnet. Der Neubau von Jean Nouvel und die darin gezeigten Werke der Stammeskunst aus aller Welt bilden eine staunenswerte Einheit.
Eine Szene wie aus einem Klamaukstreifen: In dem kurzen Schwarzweissfilm schleicht ein Eskimo über die Arktis, schnuppert an einem Eisloch, schwenkt die Harpune und schiesst - ins Schwarze! Das Seil spannt sich, der Jäger stemmt die Beine, es zieht ihn zum Loch hin, der Inuit schlittert auf das Loch zu, bringt mit Müh und Not den Strick zum Stillstand, endlich spurten ein paar Helfer herbei und hieven aus dem Loch: eine formidabel fette Robbe! Der Museumsbesucher, mit Schalk sei's gesagt, gleicht oft einer solchen Riesenrobbe: dümpelt am liebsten in seinem Loch vor sich hin und frisst sich mit der immergleichen Kost einen geistigen Speckgürtel an: Masaccio, Manet, Matisse im Sommer, Rembrandt, Reynolds, Renoir im Winter. Ihn aus seinem Loch zu hieven, ihm zum Beispiel etwas derart Ungewohntes wie Stammeskunst schmackhaft zu machen, braucht schon einige Zugkraft.
Erster Pariser Museumsneubau seit 1977
Das Musée du Quai Branly in Paris, das sich heute dem Publikum vorstellt, wird diese Zugkraft nötig haben. Wiewohl sich weltweit eine zunehmende Zahl von Kunstfreunden für Stammeskunst interessiert, lässt sich allein mit deren Besuchen wohl kaum die erhoffte Million Billette pro Jahr verkaufen. Das Profil der Besucher wird also sehr breit gefächert sein müssen, und den meisten von ihnen dürften die Namen der exotischen Herkunftsorte der Exponate wenig sagen. Noch weniger jedenfalls als die von Masaccio, Manet und Matisse, an deren Werken im Louvre, im Musée d'Orsay beziehungsweise im Centre Pompidou Scharen von Touristen vorbeieilen. Wie diese Institutionen zählt das Musée du Quai Branly, der erste hauptstädtische Museumsneubau seit dem 1977 eröffneten Centre Pompidou, zur Kategorie der Global Players unter den Museen.
Trumpf des Museums ist die Architektur von Jean Nouvel. Die Fusion von Form und Inhalt ist hierzulande beispiellos. Am Quai Branly, der an der Seine entlang von der Esplanade des Invalides zum Eiffelturm führt, empfängt den Besucher eine 12 Meter hohe geschwungene Glaspalisade mit Pflanzen-Serigraphien, hinter der kleine Pfade durch eine Hügellandschaft mäandern. Diese führen zur Museumsgalerie, einem 220 Meter langen, geknickten Kastenbau, der zum grössten Teil auf 26 aleatorisch verteilten Pfeilern steht. Alle Metallstrukturen verschwinden unter einem Verputz aus Pflaster und Kalk, wie auch im Innern die baumartigen Pfeiler in Naturtönen gehalten sind. Markant stechen aus dieser Nordfassade, auf deren 1500 Glasrauten blaugrüne Landschaftsbilder gedruckt sind, dreissig auskragende «Schachteln» heraus. Diese sind mit Holzpaneelen in kräftigen Farben verkleidet und formen im Innern der Galerie kleine Kammern. Das Ganze evoziert Hütten vor einem Urwald.
Unter der 10 Meter hohen Galerie hindurch gelangt der Besucher zu einem Tal, das zum Haupteingang führt. Auf dieser Seite des von Gilles Clément gestalteten Parks wachsen Kirsch- und Magnolienbäume und bilden zwei Becken mit Wasserpflanzen eine Art natürliche Grenze zur Rue de l'Université. Von der Empfangshalle aus steigt eine 180 Meter lange sinusförmige Rampe langsam zur Galerie empor. Der Weg führt durch einen sechsstöckigen Glasturm, in dem 9500 Musikinstrumente konserviert werden, schwebt über den derzeit noch nicht bespielten 2000 Quadratmeter grossen Raum für Wechselausstellungen im Erdgeschoss, verengt sich zu einem dunklen Tunnel und mündet endlich in die Weite der Galerie. Der Aufgang als Mischung aus Initiationsweg und Entdeckungsreise - eine schöne architektonische Metapher.
Staunenswert dann die Galerie. Die 4750 Quadratmeter grosse Plattform verzichtet völlig auf Wände, ist wegen der Dichte der Museographie aber nie je ganz zu überblicken. Die neun Meter hohe, bis zu 35 Meter breite und rund 200 Meter lange Halle durchzieht in der Länge der «Fluss» genannte zentrale Zirkulationsweg, der zwischen den Stümpfen der «Schlange» eingefasst ist. Diese mit erdfarbenem Leder tapezierten Möbel bilden langgezogene, zum Teil übermannshohe Wülste, in welche Sitzgelegenheiten und interaktive Bildschirme eingelassen sind. Organische, blob-artige Formen sind neu in Nouvels Werk.
Den «Fluss» umgeben die vier geographischen Abteilungen: Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. Die Farbe des Bodens zeigt jeweils an, in welcher Weltgegend man sich befindet, sonst jedoch ist der Parcours frei. Das wirkt erst irritierend, stimuliert dann aber die Entdeckerlust.
Die Sammlung setzt sich hauptsächlich aus den historischen Kollektionen des Musée de l'homme und des Musée national des arts d'Afrique et d'Océanie zusammen. Von den rund 300 000 Objekten sind 3500 dauerhaft in der Galerie zu sehen und sollen zumindest die wichtigsten übrigen innert 12 Jahren in Wechselausstellungen gezeigt werden. Als Staatspräsident Chirac 1996 das 235 Millionen Euro teure Projekt lancierte, entbrannte eine Debatte über die Frage, ob das Museum ein Kunst- oder ein Wissenschaftsmuseum sein solle. Das von Germain Viatte ausgearbeitete und von Nouvel kongenial umgesetzte Konzept verbindet beide Ansätze, den ästhetischen und den anthropologischen. Die Exponate prangen wie Preziosen in «entmaterialisierten» Vitrinen; Texte, Karten und audiovisuelle Dokumente wie der eingangs resümierte Eskimofilm finden sich an der Seite der Möbel.
Ein grosser Wurf - mit Vorbehalten
Weswegen dann die leichten Vorbehalte beim Verlassen des Museums? Die Exponate sind erstrangig. Das Gebäude besticht mit einer Vielzahl von Trouvaillen. So hat der Landschaftsarchitekt Patrick Blanc die Fassade des Verwaltungsbaus am Quai Branly in einen vertikalen Garten mit 15 000 Pflanzen verwandelt, während die Südseiten dieses Baus sowie der Mediathek mit leuchtend orangefarbenen Samurai-Säbeln gespickt sind und das Gebäude für die Restaurationsateliers an der Rue de l'Université auf die umgebende Haussmann-Architektur anspielt.
Das Vokabular der Galerie mit ihrer Schuppen- und Lederhaut, ihren Baumpfeilern und Schlangenformen, nicht zu vergessen der Art- Nouveau-Libellenflügel, der auf der Dachterrasse das Restaurant birgt, ist homogen. Aber der südliche Teil des Komplexes mit dem Mur-rideau aus unterschiedlich transparentem Glas und den weissen sowie rotbraunen Sonnenblenden mutet eher disparat an. Und im Innern wirkt manches unfertig oder unpersönlich, vor allem im Untergeschoss. So muss man warten, bis die Arbeiten wirklich abgeschlossen sind, bis der Park grünt und die Institution zu leben beginnt, um ein endgültiges Urteil zu fällen. Vorläufiges Fazit: ein grosser Wurf - mit kleinen Vorbehalten.
Lotusblüte auf Betonsockel
Wohntürme, Quallensalat: Chinatown
«Zur Porte de Choisy?», mault der Taxifahrer. «Unmöglich! Schon zu Normalzeiten ist da alles verstopft - jetzt erst recht, wo sie das Tram bauen! Dazu diese Chinesen überall auf der Strasse!» Fazit des sinophoben Maghrebiners, der vom Autofahren lebt: Man frage sich, wer auf die Schnapsidee gekommen sei, das Automobil zu erfinden . . . Die Antwort findet sich wenig später: Es waren nicht die «Chinesen», sondern René Panhard und Emile Levassor. So zumindest steht es auf einem Schild am Eingang des Ziegelsteinbaus mit Sheddach am Ende der Avenue d'Ivry: «Ici nacquit l'industrie automobile en 1891.»
Die Firma Panhard-Levassor beschäftigte 1905 rund 1500 Arbeiter auf ihrem riesigen Fabrikgelände zwischen den heutigen Avenues d'Ivry und de Choisy. Heute sind die längst nicht mehr produzierten Modelle begehrte Sammlerstücke - die «Société de constructions mécaniques Panhard-Levassor» hat sich auf die Herstellung von Panzerfahrzeugen verlegt. So geht die Welt. Welcher der Stadtplaner, die ab 1965 das Viertel tiefgreifend umgestalteten, hätte imaginieren können, was heute daraus geworden ist? Damals wurden allenthalben hohe Wohntürme errichtet - doch die anvisierten Bewohner, «moderne» Jungfamilien aus dem mittleren und oberen Kader, blieben aus. Dafür strömten nach dem Fall von Saigon Zehntausende von oft chinesischstämmigen Flüchtlingen aus Vietnam, Kambodscha und Laos nach Frankreich - allein bis 1979 waren es 145 000. Ein Teil von ihnen zog in die halb leerstehenden Wohntürme des 13. Arrondissements.
Chinatown - oder eher: Indochinatown - ist ein faszinierendes Studienobjekt für Soziologen und Urbanisten. Quasi in Reinkultur lässt sich hier beobachten, wie eine Bevölkerungsgruppe sich ein Viertel aneignet, das für ganz andere bestimmt war. Das «Village des Olympiades» etwa wurde 1970 bis 1977 nach den Prinzipien von Le Corbusiers «Charta von Athen» erbaut: zehn bis zu 34-stöckige Wohntürme auf einem acht Meter hohen Betonsockel, unter dem Fahrbahnen hindurchführen. Doch alles hier wurde zweckentfremdet. Auf dem Sockel steht eine Pagode, in einer der unterirdischen Strassen findet sich ein Buddha-Tempel. Und der Güterbahnhof, wo früher die Einzelteile der Panhard-Automobile her- und die montierten PKW abtransportiert wurden, dient heute gar als unterirdischer Grossmarkt für exotische Produkte. Ein Dekor wie für einen Film noir: grasbewachsene Gleise führen von einem stillgelegten Tunnel zum schwarz gähnenden Eingang des Markts unter dem Betonsockel; zu Arbeitszeiten herrscht hier emsiges Gewusel.
Trotz der Vielzahl von Boutiquen, Supermärkten und Restaurants mit fernöstlichen Schriftzeichen wirkt Chinatown in Sachen Architektur und Urbanismus kaum «asiatisch». Sitzt man freilich im «Impérial Choisy» und labt sich an Quallensalat und frittiertem gehäutetem Krebs, stellt sich die Frage nach der Authentizität nicht mehr. Selbst wenn um einen herum neben schmatzenden Schlitzaugen auch schwarze Stups-, arabische Adler- und lateinische Langnasen dinieren . . .
Ein Centre Pompidou für die Bretagne
Christian de Portzamparcs Kulturkomplex in Rennes
In Rennes wurde am vergangenen Dienstag der von Christian de Portzamparc entworfene Kulturkomplex Les Champs libres eröffnet, der mehrere Institutionen unter einem Dach vereint. Ein Wahrzeichen für die Hauptstadt der Bretagne - und für die bretonische Identität.
Ehrgeiz oder Grössenwahnsinn? Mit 212 500 Einwohnern ist Rennes nicht nur eine der kleinsten Städte der Welt mit einer Metro, dem 2002 in Betrieb genommenen VAL. Die Hauptstadt der Bretagne nimmt mit dem letzten Dienstag eröffneten Kulturkomplex Les Champs libres auch explizit Bezug auf zwei der spektakulärsten Kulturbauten des späten 20. Jahrhunderts: das Pariser Centre Pompidou und das Guggenheim- Museum Bilbao. Der Vergleich mit der baskischen Hafenstadt hinkt freilich. Rennes mag seine Probleme haben: Wegen des starken Bevölkerungswachstums wird der Raum knapp und verstärkt sich die soziale Segregation, der Alkoholkonsum vieler bretonischer Jugendlicher ist besorgniserregend . . . Aber mit einer Arbeitslosenrate von bloss 8 Prozent, weit unter dem Landesschnitt, läuft der Wirtschaftsmotor auch ohne katalysierenden Bilbao-Effekt auf Hochtouren.
Drei Institutionen unter einem Dach
Triftiger ist der Vergleich mit dem Centre Pompidou. Wie in diesem wohnen auch in den Champs libres mehrere Institutionen unter einem Dach. Anders jedoch als Renzo Piano und Richard Rogers in ihrer 1977 fertiggestellten Architektur- Ikone erhebt Christian de Portzamparc diese Koexistenz zum wichtigsten Gestaltungsprinzip seines Kulturkomplexes. So sind die drei neuen Nachbarn schon von aussen klar zu unterscheiden: Das Musée de Bretagne bildet einen rechteckigen, fast fensterlosen Sockel über dem verglasten Erdgeschoss, welchen der von einem Dom überragte Konus des Espace des sciences und die fünfeckige umgekehrte Pyramide der Bibliothèque de Rennes durchstossen. Gemahnt das Museum von aussen an die Steinplatte eines Dolmens, dessen rosagraue Betonverkleidung den Granit der Felsküste evoziert, so verweisen die 16 000 Zinkschuppen des Wissenschaftszentrums auf die Schieferdächer der Stadt, während sich die auf drei Seiten verglaste Bibliothek mit ihrer weiss lackierten Aluminiumhaut ganz zeitgenössisch gibt.
Auch in der Empfangshalle stossen heutig- kühle Grautöne und das Altrot des regionaltypischen Schiefersteins aufeinander. Charakteristisch für Portzamparc, den Architekten der Pariser Cité de la musique, ist die Gestaltung der weitläufigen Halle als ein Stadtviertel en miniature. Durch einen der drei Eingänge kommend, spaziert der Besucher an den Gebäuden der Bibliothek und des Wissenschaftszentrums vorbei zu einer bunt-fröhlichen kleinen Bibliothek und zum verzauberten «Laboratoire de Merlin» für Kinder oder zu einem Medienraum mit Internetzugang, Fernsehern und 220 Periodika. Auch dank der Arbeit des Grafikers Ruedi Baur, des Leiters des Instituts für Designforschung der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich, vermag man sich auf Anhieb zu orientieren. Die Logos und Informationstafeln bringen überdies den dringend nötigen Schuss Farbe und Verspieltheit in den sonst etwas strengen Bau.
Die Champs libres warten mit modernster Technik auf. So bietet das Wissenschaftszentrum neben einem der Geologie gewidmeten Saal, dessen Erdbebensimulator Kinder von 7 bis 77 Jahren begeistern dürfte, ein digitales Planetarium mit einem halbkugelförmigen Bildschirm von 14 Metern Durchmesser. In der Bibliothek ist der Verleih der 190 000 frei zugänglichen Bände voll automatisiert: Der Benutzer nimmt ein Buch aus dem Regal, führt es unter ein Gerät, das den Titel registriert, und legt es nach der Lektüre einfach in eine Box im Erdgeschoss zurück - ab Oktober wird sogar ein Roboter die Rückgaben sortieren. Die Bibliothekare können sich so auf Information und Beratung konzentrieren.
Die sechs Stockwerke, auf denen je eine Abteilung untergebracht ist, sind alle gleich strukturiert: am Eingang der Empfangsschalter und das Gerät für die Identifikation der Bücher; dahinter die grauen Regale, deren geringe Höhe auf Klaustrophobiker beruhigend wirken dürfte; zur Fensterfront hin die Lesetische mit Blick auf die Esplanade Charles-de-Gaulle. Im Rahmen der Umgestaltung des Bahnhofsviertels wird der vordem oberirdische Parkplatz bis 2008 unter den Platz verlegt, an welchen der renovierte Saal für Massenspektakel «Le Liberté», ein neuer Multiplex mit 13 Sälen von Portzamparc sowie zwei öffentliche Gebäude angrenzen werden.
Wahrzeichen der bretonischen Identität
Den ersten Stock der Champs libres bildet ein Gefüge von Plattformen und Stegen, das um die Bibliothek und das Wissenschaftszentrum mäandert. Hier breitet sich über 1900 Quadratmeter die Dauerausstellung des Museums aus. «Bretagne est Univers» entwirft mit Hilfe von 2300 Exponaten einen detaillierten Abriss der Geschichte der Region vom Paläolithikum bis zur Jetztzeit. Gezeigt werden neben kunsthandwerklichen Arbeiten wie der berühmten «Brigitte», einer gallo-römischen Statuette, auch Alltagsgegenstände wie Mobiliar, Geschirr und Kleider. Der folkloristische Aspekt tritt klar zurück zugunsten der Didaktik und - dank Elizabeth de Portzamparcs eleganter Szenographie - auch der Ästhetik. Das Musée de Bretagne ist alles andere als ein Kuriositätenkabinett von bloss lokalem Interesse - es beleuchtet, so sein Chefkonservator, Jean-Paul Le Maguet, im Gespräch, «das Werden einer Region aus einer europäischen Perspektive».
Das Thema der bretonischen Identität wird in den Champs libres auf vielfältige, auch für auswärtige Besucher ansprechende Art und Weise aufgefächert. Das Wissenschaftszentrum zeigt die Formung der Landschaft, insbesondere des armorikanischen Gebirges. Die Bibliothek konserviert das erste lateinisch-bretonisch-französische Wörterbuch aus dem Jahr 1499. Und das Museum zeigt in zwei grossen Sälen Wechselausstellungen zu im weitesten Sinne regionalen Themen - so Ende April ein Panorama der florierenden bretonischen Comicszene. Derweil im 450 Plätze fassenden Konferenzsaal der Historiker Maurice Olender über Rassismus und der Drei-Sterne- Koch Olivier Roellinger über Gastronomie sprechen werden.
Kulturelle Schätze
Rennes besitzt noch andere Institutionen von überregionaler Bedeutung. Die Oper, die trotz bescheidenen Mitteln auch Raritäten wie «L'Isola disabitata» von Joseph Haydn aufs Programm setzt. Das von Catherine Diverrès geleitete Tanzzentrum und das Théâtre national de Bretagne, wo Matthias Langhoff, Stanislas Nordey, François Tanguy und Marcial Di Fonzo Bo regelmässig ihre Arbeiten präsentieren - das Haus gibt sich dezidiert (und bisweilen etwas gewollt) modern. Nicht zu vergessen das wegen eines Gemäldes, Georges de La Tours «Nouveau-né», bekannte Musée des Beaux-Arts, das auch mit bedeutenden Werken von Lubin Baugin, Veronese, Rubens, Corot, Gauguin sowie vor allem mit einer erstklassigen Sammlung von Zeichnungen und mit zwei schönen Stillleben von Chardin aufwartet. Aber bis auf eine Sektion über die Schule von Pont-Aven im Kunstmuseum und bis auf das Ecomusée La Bintinais, das die Geschichte eines Grossbauernhofs nachzeichnet, war das genuin Bretonische in Rennes bisher nur am Rande vertreten. Les Champs libres schliessen hier eine Lücke - und verschaffen der Hauptstadt der Bretagne zugleich ein Wahrzeichen.
Surrealistische Kunstwelt
Die Villa Noailles in Hyères als Zentrum für Design und Architektur
Die von Robert Mallet-Stevens erbaute Villa Noailles in Südfrankreich dient seit ihrer Renovation als Kunstzentrum. Zurzeit ist dort eine Ausstellung dem Architektenduo Lacaton & Vassal gewidmet.
Morgens kämpft man sich durch den Pariser Frost zum Bahnhof; nachmittags geniesst man mit geöffneter Strickjacke den Blick auf die sonnige Bucht von Hyères. In einem Satz ist so resümiert, warum die reichen Hauptstädter vor dem Krieg gern den Winter an der Mittelmeerküste verbrachten: «L'Azur! l'azur! l'azur! l'azur!», um Mallarmé zu zitieren. Nach einem anderen Werk des symbolistischen Dichters - «Un coup de Dés jamais n'abolira le Hasard» - ist ein surrealistischer Film benannt, den Man Ray 1929 in dem damals avantgardistischsten Anwesen der Côte d'Azur drehte: der Villa Noailles in Hyères. «Les Mystères du Château du Dé» führt aus dem winterlichen Paris in den frühlingshaften Süden und nähert sich der Villa von unten her, von der Stadt.
Unvollendeter Wurf
Am Hang erblickt man eine Art Festung, welche von den Türmen einer mittelalterlichen Burgruine überragt wird. Bei genauerem Hinsehen erkennt man eine geknickte, imposante Mauer, die von mannshohen Scharten durchbrochen wird. Ein kühner Einfall des Architekten, Robert Mallet-Stevens: Vom dahinter gelegenen Garten aus blickt man gleichsam auf eine Galerie von gerahmten Stadt- und Meerbildern. Die Hauptfassade der Villa setzt sich dezidiert vom maurischen oder anglo-normannischen Stil der sie umgebenden Villen ab: Ihre ineinander geschobenen Kastenformen sind wie der tiefer gelagerte dreieckige Garten von Gabriel Guévrékian kubistisch angehaucht. Im Innern ist vor allem der Salon rose bemerkenswert, ein fensterloser Atelierraum mit terrassenförmigem Glasdach.
Ein vollendeter Wurf ist die Villa Noailles jedoch nicht. Zwischen 1923 und 1933 stellte sie eine Art work in progress dar - bis die Auftraggeber, Charles und Marie-Laure de Noailles, das Interesse an der Dauerbaustelle verloren. Der ursprünglichen Villa liessen sie ohne Rücksicht auf das Gesamtbild den Salon rose und das Schwimmbad anfügen, eine «petite villa» für Gäste und Domestiken, eine Erweiterung des Esszimmers, einen Gymnastiksaal, eine Squashhalle. Doch nur ein Teil stammt von Mallet-Stevens - ein Spaziergang um den Komplex zeigt «ein Agglomerat von zementgrauen Kuben» (Man Ray) ohne grosse Kohärenz.
Gerade als letztlich gescheitertes Projekt ist die Villa aber von Interesse. Der Widerspruch war im Auftrag angelegt: Charles de Noailles wünschte sich «une petite maison amusante à habiter», ohne jedoch auf Dienstpersonal und auf Gäste wie Buñuel (der hier das Drehbuch von «L'Age d'or» schrieb), Cocteau, die Brüder Giacometti, Milhaud und Poulenc verzichten zu wollen. Waren geräumige Zimmer und kostbare Materialien verpönt, so betraute man Pierre Chareau, Georges Djo-Bourgeois und Francis Jourdain mit der Innenausstattung und gab ein Vermögen für die Sanitäranlagen aus. Mit ihrem falschen Beton und ihrer Ausrichtung auf Sport, Hygiene und Mechanisierung ist die Villa ostentativ modern und insofern zeittypisch. Nicht zuletzt stellt der technisch mittelmässig ausgeführte Bau das Erstlingswerk eines nicht mehr ganz jungen Architekten dar, der als Filmausstatter bekannt geworden war: Die Villa Noailles bildet das Dekor für die Inszenierung eines «anderen» Lebens.
1973 wurde das Anwesen an die Stadt Hyères verkauft - und 16 Jahre lang Verfall und Vandalismus preisgegeben. Die Renovierung ist langwierig: Obwohl seit 1989 bereits über 7 Millionen Euro investiert wurden, sind auf einem Rundgang mit dem Direktor der Villa, Jean-Pierre Blanc, noch immer Räume voller Schutt und Unrat zu sehen. Doch wird der Komplex seit 1990 für Ausstellungen genutzt. Seit einigen Jahren gibt es ein richtiges Kulturprogramm, dessen Kern das renommierte Festival International des Arts de la Mode d'Hyères bildet. Dieses besteht aus einem Wettbewerb für junge Designer, in dessen Jury Koryphäen wie Galliano, Gaultier und Margiela sitzen, und aus mehreren Ausstellungen rund um die Mode. Der Fotowettbewerb und der heuer erstmals veranstaltete Designwettbewerb funktionieren nach demselben Prinzip.
Mode im Frühjahr, Design im Sommer, Fotografie im Herbst und Architektur im Winter sind die Pfeiler des Programms. Mit 14 Mitarbeitern und einem Budget von 1,2 Millionen Euro verfügt Blanc seit kurzem erstmals über angemessene Mittel. Geplant sind freilich noch weitere Arbeiten, um Zimmer für artistes en résidence zu schaffen, ein Restaurant und - dies von Leihgaben der Noailles-Erben abhängig - eine Dauerausstellung über die Geschichte der Villa.
An die Geschichte knüpft auch die Programmpolitik mit ihrem Bestreben an, wie einst die aristokratischen Mäzene jungen Künstlern unter die Arme zu greifen und sie mit etablierten Schöpfern zusammenzubringen beziehungsweise mit deren Arbeiten vertraut zu machen. Nach Ausstellungen über Hussein Chalayan, Droog Design, Karl Lagerfeld, Marc Newson, Paco Rabanne und viele andere ist jetzt eine Schau dem Architektenduo Anne Lacaton und Jean- Philippe Vassal gewidmet.
Lacaton & Vassal wurden 1993 mit der in Floirac bei Bordeaux errichteten Maison Latapie bekannt, einem Low-Cost-Bau, der zur Hälfte aus einem Gewächshaus besteht. Auch beim Haus in Coutras in der Gironde und bei den viel publizierten Wohnungen in der Mülhausener Cité manifeste integrierten sie landwirtschaftliche Gewächshäuser. Diese sind zu einer Art Signatur des Teams geworden: Für wenig Geld bieten sie Lichtfülle, grosse Deckenhöhe, klimatischen Komfort - und Teilräume ohne vordefinierte Funktion, die frei genutzt werden können.
Flexible Architekturen
In jüngeren Projekten haben Lacaton & Vassal den Ansatz verfeinert. Die nächstes Jahr zu erbauende Architekturschule in Nantes fügt den 12 500 Quadratmetern des Grundprogramms quasi als «Bonus» 5500 Quadratmeter hinzu, deren Nutzung den Schülern und Lehrern überlassen ist. Wie für die Schule ist auch für den Entwurf eines 30-stöckigen Wohnturms in Poitiers die doppelte Deckenhöhe charakteristisch: Die Duplexwohnungen besitzen einen 6 Meter hohen, verglasten «Bonusraum» und sind mit einer Durchschnittsfläche von 200 Quadratmetern ungleich grösser als Appartements, die zu einem vergleichbaren Preis gebaut wurden.
Es ist spannend zu sehen, was die genannten Projekte mit der Villa Noailles verbindet: das Streben nach Lichtfülle, nach maximalem Nutzwert - Charles de Noailles' (nicht zu Ende gedachter) Wunsch nach «une maison infiniment pratique et simple» könnte auch das Credo von Lacaton & Vassal sein. Es wird aber auch klar, wo der entscheidende Unterschied liegt: Musste die Villa quasi pausenlos vergrössert werden, um Funktionen zu erfüllen, die im ursprünglichen (Minimal-)Programm nicht vorgesehen waren, so versucht das Bordelaiser Architektenduo, Bauten zu schaffen, die sich dank ihrer Flexibilität den wechselnden Wünschen ihrer Benutzer anpassen.
[ Die Ausstellung Lacaton & Vassal ist bis zum 2. April in der Villa Noailles in Hyères zu sehen. Kein Katalog. ]
Baustelle Paris
Strategien zur Erneuerung der französischen Hauptstadt
Rund zehn Prozent der Fläche der französischen Hauptstadt sind derzeit im Umbau. Im Folgenden werden drei Beispiele vorgestellt, die je für einen Aspekt der Erneuerung der Kapitale typisch sind. Dazu zählt auch das Riesenprojekt «Paris Rive Gauche».
Paris, die meistbesuchte Stadt der Welt, mit deren Bauerbe nur Städte wie Rom rivalisieren können. Paris, dessen Zentrum stark vom einem ortsspezifischen Urbanismus geprägt ist, dem «haussmannisme» des späten 19. Jahrhunderts. Paris, eine der flächenmässig kleinsten und am dichtesten besiedelten Kapitalen - kann man in einer solchen Stadt überhaupt noch bauen? Wer meint, die Ville Lumière sei museifiziert oder gar mumifiziert, täuscht sich. Tausend Hektaren oder rund zehn Prozent der Fläche der Hauptstadt sind derzeit im Umbau. Neben Beispielen von standardisiertem Bürobau und «Fassadismus» finden sich auch ambitionierte urbanistische Projekte.
Ein neues Viertel am Fluss
Touristen, die mit einem älteren Stadtplan Paris erkunden, mögen sich wundern, warum sie die Rue René Goscinny partout nicht finden können. Oder die Strassen, die nach Hans Arp, Paul Klee, James Joyce, Primo Levi und vielen anderen benannt sind. Der Grund: im 13. Arrondissement sind in den letzten Jahren Dutzende von neuen Strassen entstanden. «Paris Rive Gauche» ist ein riesiges Projekt - manche sprechen gar von den umfangreichsten Arbeiten seit der Ummodelung der Innenstadt durch den Präfekten Haussmann zwischen 1853 und 1870. Die kurz ZAC genannte «Zone d'aménagement concerté» (Zone, deren Bebauung von der öffentlichen Hand organisiert wird) umfasst den gesamten 2,7 Kilometer langen Nordteil des 13. Arrondissements entlang der Seine. Bis 2015 sollen auf dem 130 Hektaren grossen Areal zwischen der Gare d'Austerlitz und der östlichen Vorstadt Ivry-sur-Seine über 2,2 Millionen Quadratmeter Nutz- und 98 000 Quadratmeter Grünfläche geschaffen werden - die Gesamtkosten des 1988 lancierten Projekts sind auf 3 Milliarden Euro veranschlagt.
Was die Zahlen nicht erfassen, ist das seltsame, zugleich prickelnde und bedrückende Gefühl, das einen beim Flanieren durch die ZAC beschleicht. Am Quai d'Austerlitz, der vom gleichnamigen Bahnhof aus nach Osten führt, stehen sich buchstäblich Alt und Neu gegenüber. Zur Seine hin die Magasins généraux: 280 Meter heruntergekommene Betonfassaden, hinter denen Grossisten ihre höhlenartigen Verkaufsräume mehr schlecht als recht eingerichtet haben - ein Dekor für einen Roman von Simenon. Auf der andern Strassenseite die glasfunkelnden, metallblitzenden Bürokomplexe von Finanz-, Informatik-, Pharma- und Telekomunternehmen. Dieses Jahr beginnt die Verwandlung der Magasins généraux durch Dominique Jakob und Brendan MacFarlane in eine trendige Cité de la mode et du design. Auch die Eröffnung eines Flussbads mit Schwimmbecken, Sauna, Hammam, Jacuzzis usw. am Fuss der Nationalbibliothek sowie einer doppelt geschwungenen Fussgängerbrücke von Dietmar Feichtinger, die nach Bercy führt, wird zur Erschliessung des Seine-Ufers beitragen.
Der zentrale Sektor der ZAC «Paris Rive Gauche» um die 1996 eröffnete neue Nationalbibliothek ist heute fast vollendet. Beidseits der vier Büchertürme von Dominique Perrault stehen Wohn- und Bürogebäude von Philippe Chaix und Jean-Paul Morel, Philippe Gazeau, Franck Hammoutène, Francis Soler und anderen. Trotz der unbestreitbaren Qualität vieler Bauten wirkt das Viertel ein wenig leblos - vielleicht liegt es auch an der strengen Kastenform fast aller Gebäude. Ganz anders der südöstlich angrenzende Sektor: Christian de Portzamparc, der den Masterplan entworfen hat, setzt hier erstmals im grossen Rahmen sein Konzept der «Ilots ouverts» um, der nur teilweise bebauten Parzellen mit kleinen Gärten und Plätzen, zwischen denen lichtdurchflutete Strässchen mäandern. Neben Altstars wie Ricardo Bofill, Henri Gaudin und Norman Foster wurden auch junge Büros verpflichtet; die Formen- und Farbenvielfalt der Bauten ist gross.
Wie ein Fremdkörper inmitten all der architektonischen Vorzeigearbeiten wirkt der Squat «Les Frigos». Das 1921 erbaute Kühllager, eine mit Graffiti übersäte Trutzburg aus Beton, beherbergt seit einem Vierteljahrhundert Künstlerateliers. Anfang 2004 ist es in den Besitz der Stadt Paris übergegangen, die seine jetzige Bestimmung erhalten möchte. Mit den Frigos, den Galerien der Rue Louise Weiss, der Nationalbibliothek, dem von Jean-Michel Wilmotte entworfenen Kinokomplex MK2 sowie dem Batofar, einem auf Konzerte mit elektronischer Musik spezialisierten Hausboot, verfügt «Paris Rive Gauche» bereits jetzt über ein breit gefächertes Kulturangebot.
Dieses dürfte sich im Herbst noch stark erweitern mit dem Zuzug der Université Paris 7 - Denis Diderot und ihren 27 000 Studenten. Die Universität wird nicht nur über zwei umgestaltete «historische» Bauwerke verfügen, die Grands Moulins de Paris (Nutzfläche: 30 000 Quadratmeter; Architekt des Umbaus: Rudy Ricciotti) und die Halle aux farines (17 800 Quadratmeter; Nicolas Michelin). Sondern sie wird sich auch in Neubauten niederlassen, die zwischen Wohn- und Bürogebäuden stehen. Ebenfalls im Herbst bezieht auch die Ecole d'architecture de Paris - Val de Seine einen Neubau von Frédéric Borel und eine umgebaute Fabrikhalle aus dem Jahr 1891. In der Nähe bauen Valode & Pistre fünf Gebäude für einen biotechnologischen Pol. Der von Portzamparc mitgestaltete Sektor setzt nicht nur auf die Erhaltung markanter Industriebauten, sondern auch auf funktionale Durchmischung.
Während der an der Seine entlangführende Nordbereich der ZAC schon fast vollständig konzipiert und zu einem Gutteil vollendet ist, befindet sich der schmalere Südteil entlang der Avenue de France noch weitgehend im Planungsstadium. Diese neue Hauptverkehrsader wurde teilweise über die Gleise gebaut, die von der Gare d'Austerlitz aus Richtung Südosten führen. Sie bildet die Naht zwischen dem «alten» 13. Arrondissement und dem neu erschlossenen Areal entlang der Seine. Von der Qualität der urbanistischen Gestaltung des Plattenbaus über den Gleisen und seiner unmittelbaren Umgebung wird es abhängen, ob Neu und Alt zusammenwächst.
Verbindung über den Stadtrand
Bei der ZAC «Les Lilas» am südöstlichen Stadtrand ist die Ausgangslage eine ganz andere. Hier geht es darum, die Verbindungen zwischen drei jenseits des Boulevard périphérique gelegenen Vororten und den Randzonen der 19. und 20. Arrondissements zu verbessern. Heute schlägt der Boulevard périphérique, die ringförmige, bis zu achtspurige Schnellstrasse um Paris, im Bereich der ZAC eine tiefe Schneise, welche einzig an der Porte des Lilas von einem Verkehrskreisel überbrückt wird. Dessen ausgesparter Mittelbereich, unter dem der Verkehr braust, wird zurzeit überdeckt. Metallträger spannen sich über die Leere, zwei Kräne sind am Werk. Eine arabische Passantin ruft ihrer Begleiterin zu: «Das ist ja wie in Beirut hier!».
Die Baustelle wird freilich noch grösser: Nach dem Mittelbereich soll beidseits des Kreisels der Périphérique über eine Länge von je rund hundert Metern überdeckt werden. Nebst einem 15 000 Quadratmeter grossen Park sind dort ein Busbahnhof, eine Bibliothek und ein Multiplexkino geplant. Ein Studenten- und ein Altersheim sind bereits vollendet beziehungsweise im Bau.
Im Vergleich mit dem Riesenprojekt «Paris Rive Gauche» wirkt die ZAC «Les Lilas» unspektakulär. Sie ist jedoch emblematisch für mehrere Projekte, deren Ziel es ist, Verbindungen zu schaffen zwischen Paris und seinen Randgemeinden und die Belastung durch den Autoverkehr auf ein erträgliches Mass zu reduzieren. Der Périphérique wird auch an der Porte de Vanves und zwischen den Portes des Ternes und de Champerret überdeckt, Parks entstehen an den Portes de Montreuil und de Vincennes.
Lifting für den Plattenbau
Ganz anders die Probleme, die der Front de Seine unweit des Eiffelturms aufwirft. Der ab 1959 von Raymond Lopez und anderen konzipierte Komplex besteht aus einer weitläufigen Plattform für Fussgänger, die sich zwei Geschosse über das Bodenniveau erhebt. Auf dieser «Dalle» stehen zwanzig 98 Meter hohe Wohn- und Bürotürme und etwa ebenso viele Flachbauten. Wer empfänglich ist für die Atmosphäre ungewöhnlicher Stadtlandschaften, wird einen Spaziergang hier goutieren. Über eine spiralförmige Rampe erreicht man vom Quai de Grenelle aus die Dalle. Deren weisser, graubrauner und blaugrauer Kachelboden bildet aus der Vogelperspektive betrachtet psychedelische Muster. Die Wolkenkratzer sind alle verschieden gestaltet: die Fassaden orthogonal oder konkav, mit einer Prädominanz von Glas, Beton oder Metall.
Bis auf ein paar alte Leute und eine asiatische Familie ist weit und breit niemand zu sehen. Dabei arbeiten hier 5000 Menschen und wohnen doppelt so viele. Brücken verbinden Abschnitte der Dalle, die eine Querstrasse zum Quai de Grenelle durchschneidet. Unten geht das Leben seinen Gang, oben schwebt man in einem seltsam luftleeren Raum. Im Einkaufszentrum stehen ganze Galerien leer. Die Stimmung schwankt zwischen Melancholie und Klaustrophobie. Das soll nun alles anders werden. Der Baulärm verrät es: Grössere Arbeiten sind im Gang. Die Dalle wird punkto Stabilität, Wasserdichte, Beleuchtung usw. instand gesetzt und erhält 20 Prozent mehr Grünfläche. Renovierte oder neu geschaffene Treppen, Rampen und Aufzüge sollen die Zugänglichkeit und so auch die Anbindung an das umgebende Viertel verbessern. Das Einkaufszentrum wird dank einem tiefgreifenden (und umstrittenen) Umbau durch das Büro Valode & Pistre Investoren wie die Fnac und die Galeries Lafayette anziehen. Und auch die Renovation der Wolkenkratzer beginnt: Das genannte Büro ist dabei, die frühere Tour Flatotel in ein Luxusheim «à l'américaine» zu verwandeln.
Die Projekte «Les Lilas» und «Front de Seine» sind mit einem veranschlagten Gesamtbudget von 225 Millionen beziehungsweise über 400 Millionen Euro und einer Fläche von 25 beziehungsweise 18 Hektaren mittelgrosse urbanistische Vorhaben. Im Gegensatz zu «Paris Rive Gauche» dürften sie kaum internationales Interesse erregen. Doch ist jedes der drei hier angeführten Beispiele charakteristisch für je einen spezifischen Aspekt des hauptstädtischen Urbanismus nach der Ära der «Grands travaux»: Erschliessung einer lange Zeit durch Bahn- und Industrieanlagen besetzten Enklave («Paris Rive Gauche»), Annäherung der Kapitale an ihre Randgemeinden («Les Lilas»), Reparatur des schlecht gealterten Stadtgefüges der Nachkriegszeit («Front de Seine»). Paris erneuert sich im Grossen wie im Kleinen, am Rand wie im Zentrum, spektakulär wie fast unbemerkt.
Zauberpalast im Licht
Der Petit Palais in Paris wiedereröffnet
Wo sind wir? Die Monumentaltreppe führt zu einem Portal und zu einer Rotunde, die auf den Invalidendom anspielen. Die Kolonnade der Hauptfassade gleicht derjenigen des Louvre, die dahinter gelegenen Galerien erinnern an den Versailler Spiegelsaal. Unser verzücktes Auge erblickt Gemälde von Rubens und von Monet, altgriechische Vasen und venezianische Gläser, Beauvais- Tapisserien und Rodin-Skulpturen, Rocaille-Möbel und Hector Guimards Esszimmer. Und derweil draussen die Temperaturen wieder herbstlich frisch geworden sind, trägt im Innengarten eine Dattelpalme üppige Früchte zur Schau.
Wo sind wir? Im Pariser Petit Palais, einem Zauberpalast der schönen Künste. Nach viereinhalbjährigem Umbau wird der imposante Bau an den Champs-Elysées, der nur im Vergleich mit dem gegenüber gelegenen Grand Palais das Epithet «klein» verdient, heute wiedereröffnet. Wie sein Vis-à-vis war der Petit Palais für die Weltausstellung von 1900 erbaut worden. Während jener in den Besitz des Staates überging, dient der «kleine» Palast seit 103 Jahren als städtisches Museum der schönen Künste. Das trifft sich gut, hatte ihn der Architekt Charles Girault doch in jenem eklektizistischen Stil entworfen, der in Frankreich auch «style beaux-arts» heisst. Der symmetrische Grundriss hat die Form eines Trapezes, das einen halbkreisförmigen Innengarten umgibt. Diesen umlagern mehrere Ringe: in der Beletage ein Säulenumgang und zwei Galerien, im Erdgeschoss bis zu vier Raumfolgen.
Das mit dem 72,2 Millionen Euro teuren Umbau betraute Büro Chaix & Morel et associés hat den angegrauten grossbürgerlichen Palast von einst in ein modernes, für jedermann zugängliches Museum verwandelt. Neu sind Zugänge für Behinderte, ein Café mit Blick auf den Garten, ein unterirdisches Auditorium und eine Buchhandlung. Ausstellungs- und Nutzfläche wurden je um rund die Hälfte auf 7450 beziehungsweise 22 650 Quadratmeter erweitert. Vor allem jedoch hat der Petit Palais weitgehend seinen Ursprungszustand wiedergefunden. Und das bedeutet: Licht, Licht und nochmals Licht. Mit ihrem Spiel von Durchblicken und Reflexionen, mit dem durch meterhohe Glasfronten einfallenden Sonnenlicht und dem von Glasdächern verströmten Oberlicht war Giraults Architektur ihrer Zeit voraus. Mangels Klimatisierung mussten Fenster zugestellt und Zwischenwände errichtet werden. Jetzt ist das Gebäude wieder von Helligkeit durchflutet - so sehr, dass man in der Galerie für Wechselausstellungen zur Seine hin manchmal die Augen zukneift.
Laut Gilles Chazal, dem Direktor des Museums, hat dieses weder den Anspruch, enzyklopädisch zu sein, noch, einen chronologischen Parcours der westlichen Kunst auszubreiten. Vielmehr gehorche die Präsentation der Exponate dem Prinzip der «suggestiven Gegenüberstellungen». Ein schlüssiger Ansatz: Sowohl die räumliche Konfiguration als auch das Profil der - an überraschenden Schwerpunkten wie an augenfälligen Lücken reichen - Sammlung laden den Besucher dazu ein, gleichsam von Überraschung zu Überraschung zu vagabundieren. Wiewohl die Säle von 1 bis 40 nummeriert sind, empfiehlt sich ein Rundgang «à la carte». Mit etwas gutem (oder schlechtem) Willen kann man so Courbets «Demoiselles des bords de la Seine» und einen grazilen Nachttisch von Pierre IV Migeon aufeinander treffen lassen. Oder Delacroix' «Combat du Giaour et du Pacha» und mittelalterliche Elfenbeinschnitzereien. Oder ein Pastellbild von Odilon Redon und eine kretische Ikone. Wiewohl der Petit Palais so manches Meisterwerk besitzt, ist er nicht eigentlich das, was man ein «grosses Museum» nennen würde. Dafür aber eines, das durch seine Art, kleine und grosse Kunstwerke in Dialog treten zu lassen, Geist und Sinne kitzelt.
Stadt, Land, Strom
Wie Bordeaux, Lyon und Orléans ihr Flussufer zurückgewinnen
Die Städte Bordeaux, Lyon und Orléans haben Pläne erarbeitet, um ihre Flussufer zurückzugewinnen. Die Projekte sind vom finanziellen und zeitlichen Rahmen her sehr verschieden. Während in Orléans ein Abschnitt des Kanals wiedereröffnet und in Bordeaux das linke Ufer umgestaltet wird, entsteht in Lyon ein neues Zentrumsviertel.
Bordeaux, Lyon und Orléans - drei Städte, die im 20. Jahrhundert dem jeweiligen Fluss, an dem sie liegen, den Rücken zuwandten. Und die in den letzten Jahren ambitiöse Pläne erarbeitet haben, um ihren Uferbereich zurückzugewinnen. Wo früher Handel und Industrie dominierten, heissen die Leitworte heute Lebensqualität, Patrimonium, Ökologie und Tourismus. Die topographischen Gegebenheiten in den drei Städten sind sehr verschieden, desgleichen das Budget und der zeitliche Rahmen der urbanistischen Arbeiten. Dennoch findet sich so manche Gemeinsamkeit.
Der Kanal von Orléans
Die Loire, an welcher Orléans liegt, ist seit 1957 offiziell kein Wasserweg mehr. Steht man auf dem Pont Georges V im historischen Stadtzentrum, begreift man sogleich warum. Der Wasserstand ist niedrig, hier und da bilden sich kleine Stromschnellen. Sandbänke und Miniaturinseln säumen den Lauf - nicht umsonst wird die Loire oft als der letzte Wildfluss Europas bezeichnet. Der neu zu gestaltende Uferbereich geht vom Pont Georges V aus nach Osten. Ein Spaziergang diese Strecke entlang gleicht einer Reise per aspera ad astra. Am Quai du Châtelet, vor der neu mit einem Wellenmuster aus zweifarbigem Kalkstein gepflasterten Place de Loire, erstreckt sich über mehrere hundert Meter hinweg eine etwa 25 Meter tiefe, sanft zum Fluss hin abfallende Promenade. Diese ist durchweg gepflastert und diente bis vor kurzem als Parkplatz. Fünf hölzerne «Balkone» mit Sesseln aus Metall fungieren hier als Aussichtsplätze. Am Ende des Quai du Fort Alleaume befindet sich die gleichnamige verschlammte Schleuse, hinter welcher der parallel zum Fluss verlaufende Canal d'Orléans 1963 über etwa einen Kilometer zugeschüttet worden ist. Nach dem massiven Pont Thinat führt der Weg an einem asphaltierten Parkplatz entlang. Vor Grossläden für Baumaterialien lassen Halbwüchsige ihre Autoradios dröhnen oder rauchen Joints.
Am Übergang zum Chemin du Halage ändert sich das Bild dann jäh. Die Nationalstrasse 152, die bisher die Uferpromenade von der Stadt abgeschnitten hat, verschwindet - wie bald auch das suburbane Umfeld, das gepflegten Landhäusern und einer üppig grünenden Böschung weicht. Der etwa anderthalb Meter breite Deich, der den Canal d'Orléans vom Fluss trennt, ist ab hier begehbar - und nachdem man am Port Saint-Loup das Hindernis des dort 2003 zusammengestürzten Deichabschnitts umgangen hat, ist das Becken auch wieder mit Wasser gefüllt. Von da an wird die Promenade atemberaubend: links der schmale Kanal, in dem gelbe Seerosen blühen, rechts der majestätische Fluss mit seinen von Misteln überwucherten Bäumen auf unregelmässigen Inseln. Zum Horizont hin schlängelt sich über Kilometer hinweg das Steinband des Deichs, auf welchem Enten schlafen und Reiher sinnieren. So führt der Weg vom Pont Georges V bis nach Combleux aus dem Zentrum der Stadt ins Herz der Natur.
Im November 2002 hat der Verbund der 22 Gemeinden des Grossraums Orléans das «Grand Projet Loire / Trame Verte» angenommen. In Orléans selbst ist von dem Projekt vornehmlich der Uferbereich zwischen den Ponts Georges V und Thinat betroffen. Die RN 152 soll auf sechs Meter verengt und ein Fahrradweg geschaffen werden. Die Uferpromenade hinter der bestehenden Platanenreihe wird restauriert, bepflanzt und beleuchtet sowie mit Stadtmöbeln versehen. Leichte Kioske und zwei traditionelle Loire- Schiffe, die ein Café und ein Restaurant beherbergen, empfangen die Flaneure. Eines der Hauptziele des Projekts ist es, den Fluss zu beleben. Kleine Boote sollen an festen oder schwimmenden Pontons anlegen können. Der zugeschüttete Kanalabschnitt wird wiedereröffnet, die Ecluse du Fort Alleaume wieder in Betrieb gesetzt. Insgesamt sind im Grossraum 27 Eingriffe für eine Gesamtsumme von 30 Millionen Euro vorgesehen (davon 6,5 Millionen Euro für Orléans selbst); das Gros der Arbeiten beginnt 2006. Ausserhalb der Stadtgrenzen ist unter anderem die Schaffung eines 300 Hektaren grossen «Parc de Loire» südöstlich des Zentrums geplant und die Verbindung des Flusses mit einem seiner Arme, dem Loiret, durch «grüne Ströme» von Parks, Wiesen, Baumschulen und Wanderwegen.
Licht und Wasser in Bordeaux
Geht es in Orléans vor allem darum, ein Plus an Lebensqualität zu gewinnen und dem Image der Stadt ein schärferes Profil zu verleihen, so galt es in Bordeaux recht eigentlich, die Gironde- Kapitale aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Neben dem Bau von drei Ende 2003 eröffneten Tramlinien - mit welchem sie eng verquickt ist - bildete die Umgestaltung der Uferzonen das urbanistische Grossprojekt der Stadtregierung um den ehemaligen Premierminister Alain Juppé (1995-2004). Ein kluger Schachzug war es, den eigentlichen Arbeiten 1995 den «Plan Lumière» vorausgehen zu lassen. Mit der Place de la Bourse beginnend, wurden über zwanzig Plätze, Gebäude und Monumente am historischen linken Ufer erleuchtet. Die Scheinwerfer liessen die Bewohner ihre Stadt neu entdecken - deren Pracht, aber auch deren Schattenseiten. Zu diesen zählten die Verwahrlosung vieler Gebäude und die hermetische Abriegelung der Uferzone. Ab 1997 wurden fast alle 244 flussseitigen Fassaden zwischen dem Quai de Paludate und dem Quai de Bacalan renoviert; die Gitter vor dem Uferbereich waren bereits im Vorjahr entfernt worden. Nachdem mehrere Hangars, die den Blick auf die Garonne versperrten, abgerissen und die Quais für Lastwagen gesperrt worden waren, lockten ab 1998 diverse Festveranstaltungen allsommerlich Zehntausende ans Ufer.
Ende 1998 wurde ein Wettbewerb für die Neugestaltung der Quais ausgeschrieben, den das Team um den Pariser Urbanisten Michel Corajoud gewann. Corajoud verteilte zunächst die verschiedenen Verkehrsstränge direkt auf fünf «Streifen»: Am Fluss eine mineralische Promenade mit langsamem Fahrradweg; dann eine Grünzone zum Verweilen. Anschliessend ein «boulevard urbain» mit zweimal zwei Spuren, Parkplätzen und schnellem Fahrradweg. Weiter zwei Tramspuren und endlich ein bis zu zehn Meter breites Trottoir mit einer baumgesäumten Fahrspur und Parkplätzen für die Anwohner.
Sodann unterteilte Corajoud die 4,5 Kilometer lange und 80 Meter breite Uferzone zwischen den «bassins à flot» und dem Pont Saint-Jean in fünf «Sequenzen». Von Norden nach Süden sollen einander folgen: Am Quai de Bacalan die im Oktober eröffneten Hangars 15 bis 19, in denen (Gross-)Läden und Restaurants untergebracht sind, sowie der minimalistisch-graue, für Messen und Ausstellungen bestimmte Hangar 14 und der neu errichtete High-Tech-Hangar 20, der ein Zentrum zur Popularisierung der Naturwissenschaften beherbergt. Am Quai des Chartrons breite, von den Cafés und Restaurants gern genutzte Trottoirs sowie fünf kleine Plätze unter lauschigen Bäumen. Östlich der Esplanade des Quinconces eine direkt am Fluss gelegene, 15 000 Quadratmeter grosse Rasenfläche, von der aus der Blick zum neuen botanischen Garten auf dem andern Ufer schweift. Auf der Place de la Bourse eine weite Fläche, die sich ein paar Zentimeter hoch überfluten lässt, damit sich im Wasser die Fassade des Palais Gabriel spiegle, sowie beidseits ein «rideau d'eau» und am Ufer ein schwimmender Ponton. Südlich des Pont de Pierre endlich ein fünf Hektaren grosser Park.
Corajouds Entwurf führt eine Form von urbaner Gastlichkeit ein, verleiht aber zugleich - die bisher realisierten Arbeiten zeigen es - jeder Sequenz ein individuelles Gesicht: industriell im Norden, dörflich-gesellig am Quai des Chartrons, raffiniert mit aquatischen Metaphern spielend an der Place de la Bourse. Die auf 109 Millionen Euro (ohne die drei Tramlinien) veranschlagten Arbeiten sollen bis zu den nächsten Gemeindewahlen 2007 vollendet sein. Um 2009 folgt die Eröffnung einer Brücke zwischen dem rechten Ufer und dem Quai de Bacalan; bis dahin sollte auch entschieden sein, was dort aus den beiden zusammen über 20 Hektaren grossen, seit 1982 nicht mehr genutzten Schwimmdocks wird.
Eine Place nautique für Lyon
Geht es in Bordeaux um die Neugestaltung des gesamten linken Ufers, so eignet dem Projekt «Lyon Confluence» noch einmal eine andere Dimension. Hier ist nicht nur ein vergleichsweise schmaler Streifen direkt am Fluss betroffen, sondern ein ganzes, anderthalb Quadratkilometer grosses Viertel in nächster Nähe zum Stadtzentrum. Das «Confluence»-Areal bildet die untere Hälfte der Presqu'Ile zwischen Saône und Rhone, welche, wie der Name sagt, an seiner Südspitze zusammenfliessen. Hier ist das Wasser allgegenwärtig - auch bei der Neugestaltung des Inneren der Halbinsel. - Die Nordhälfte der Presqu'Ile ist grossstädtisch bebaut im Stil des 19. Jahrhunderts. Hier finden sich das Rathaus, das Musée des Beaux-Arts, Jean Nouvels Opernhaus und die zentralen Places des Terreaux, de la République, Bellecour und Carnot. Im Süden der Place Carnot ändert sich das Stadtbild radikal. Das den Platz begrenzende Centre d'échanges, ein 1976 eröffneter Klotz aus Beton, Stahl und Glas, trägt den Übernamen «le Bunker» nicht unverdient. Seine Funktion ist es, Verkehrsmittel wie Bus, Tram, Métro, Zug (TGV) und Auto miteinander zu verknüpfen. Vor allem jedoch verbirgt er die Anschlussstelle zwischen den Autobahnen 6 (Paris-Lyon) und 7 (Lyon-Marseille), die in den sechziger Jahren über die Halbinsel geführt wurden. Zusammen mit dem hinter dem Zentrum gelegenen Bahnhof Perrache, dessen Gleise die Presqu'Ile entzweischneiden, bildet dieser «mur de la honte» eine für Fussgänger nur schwer zu nehmende Hürde.
Es gibt drei Wege, um zur Südspitze der Halbinsel zu gelangen. Die Strecke im Osten ist mit Abstand die unangenehmste. Zwischen der Autobahn, die am Fluss entlang röhrt, und der endlosen, abweisenden Fassade des Marché de gros evoziert der menschenleere Quai Perrache eine industrielle Geisterstadt. Abgewrackte Wohnmobile parkieren - wie lang wohl schon? - am Strassenrand; es stinkt nach Urin und Fäulnis. Am Ende der Rue Wuillerme taucht plötzlich ein gespenstischer Jahrmarkt auf, dessen Karussells sich im Leerlauf drehen. Nach dem asphaltierten Grauen des Carrefour Pasteur gelangt man unter der Autobahn hindurch endlich zur nadelförmigen Südspitze. Wasser zu beiden Seiten, hüfthohes Gras und Bongotrommler zwischen Mohnblumen - ein Ort abseits der Welt. Hier wird Coop Himmelb(l)au bis 2008 das Musée des Confluences errichten, eine riesige dekonstruktivistische «Kristallwolke», die ein Wissens- und Gesellschaftsmuseum beherbergt.
Architektur von heute am Wasserpark
Der Rückweg auf der Westseite ist ungleich angenehmer. Der Saône entlang wurde 2001 eine provisorische Uferpromenade eingerichtet, die bis zum 2,5 Kilometer entfernten Bahnhof Perrache führt. Im Gegensatz zum urbanen Ostufer der Rhone wartet das Westufer der Saône mit grünen Hügeln auf. An Hausbooten und Margeritenwiesen vorbei gelangt man zu den Docks Rambaud, wo das imposante Entrepôt La Sucrière seit 2003 die Biennale d'art contemporain empfängt. Unter der Zugbrücke hindurch wieder am Bahnhof angelangt, mag man von dort aus den letzten Weg zur Südspitze erkunden wollen. Im Gegensatz zu den beiden anderen führt dieser durchs Innere der Halbinsel. Der Anfang ist wenig einladend: Wie viele Anwohner muss man auf einem schmalen Gehsteig neben Autos eine «voûte» durchqueren, einen der beiden langen Tunnel unter dem Centre d'échanges. Dann jedoch landet man auf der - zurzeit im Umbau befindlichen - Place des Archives und erhält einen ersten Eindruck vom künftigen Aussehen des Viertels. Das Stadtarchiv hat sich hier in der früheren Briefverteilanlage niedergelassen, deren blonder Steinwand zum Platz hin der Architekt Albert Constantin eine wintergartenartige Glasfassade vorgeschoben hat.
Die Place des Archives wird ihrer doppelten Bestimmung als Vorplatz des Bahnhofs und als städtischer Garten entsprechend einen mineralischen, offenen und einen begrünten, intimeren Teil aufweisen. In der bekannten Tradition des Lyoner Parkhäuserbaus werden die acht Garagengeschosse für 632 Autos unter dem Platz je durch eine Regenbogenfarbe individualisiert; die beiden Spiralen zur Auf- und Abfahrt soll je ein 22 Meter hoher «mur végétal» von Patrick Blanc begrünen.
Der Cours Charlemagne, die zentrale Achse des Perrache-Viertels, führt von hier aus zur Südspitze. Während die Gleise und Haltestellen des Trams, das 2007 bis zum Musée des Confluences fahren wird, bereits im Bau sind, ist von den ambitiösen Bauten, die westlich des Cours Charlemagne entstehen sollen, noch nichts zu sehen. Ein paar Zahlen verdeutlichen die Dimensionen des Projekts. Die erste Phase läuft bis 2015: Bis dahin soll für 780 Millionen Euro ein neuer Stadtteil entstehen, dessen Einwohner- und Arbeitsplatzzahl von heute je 7000 auf 25 000 beziehungsweise 22 000 steigen dürfte.
Interessant ist der Masterplan des Urbanisten François Grether - der auch das «Grand Projet Loire» in Orléans konzipiert hat - und des Landschaftsarchitekten Michel Desvigne: Den Mittelpunkt des neuen Westviertels bildet die Place nautique, ein 340 Meter langes und bis zu 70 Meter breites Becken, das von der Saône bis fast zur zentralen Achse des Cours Charlemagne reicht. Von weiten, stufenförmigen Quais umgeben, stellt es laut seinem Architekten, Georges Descombes, einen gut zwei Hektaren grossen «Hafenpark» dar. Im Süden schliesst ein Einkaufs- und Vergnügungszentrum mit sanft gewellten Segeldächern an, im Osten eine Eisenbahnbrücke. Die Nordseite des Beckens wird von drei Häuserblocks begrenzt, deren Bauträger unter dem dreifachen Aspekt der funktionalen und sozialen Diversität, der Umweltverträglichkeit und der architektonischen Qualität ihrer Projekte ausgewählt wurden. Die Vielfalt der bis 2007/08 fertigzustellenden Bauten ist tatsächlich gross; unter den beteiligten Architekten finden sich Massimiliano Fuksas, Erick van Egeraat, Manuelle Gautrand sowie Winy Maas vom trendigen Rotterdamer Büro MVRDV. Endlich wird am Uferbereich um die Place nautique bis 2008 ein 7,3 Hektaren grosser Park entstehen. Dieser besteht aus einer Promenade an der Saône, dahinter gelegenen «Wassergärten» mit begehbaren Inselchen sowie rechtwinklig vom Ufer aus ins Innere der Halbinsel vorstossenden Plätzen, Gärten und begrünten Strassen.
Qualitative Kriterien
Der Masterplan von Grether und Desvigne vermittelt zwischen Fluss und Land, zwischen öffentlichen und privaten, lokalen und internationalen Bereichen. Zu begrüssen ist, dass die öffentliche Hand die zu diesem Zweck gegründete Société d'économie mixte Lyon Confluence (SEM) mit allen Aspekten der Neugestaltung der freien oder frei werdenden Areale des Perrache- Viertels betraut hat. Im Fall der Vergabe der Grundstücke an der Place nautique etwa wählte die SEM die Bauträger in erster Linie nach qualitativen und nicht nach finanziellen Kriterien aus. Die erste Phase der Neugestaltung des Perrache- Viertels wird im Jahre 2015 enden. Kapitale Entscheidungen für die Zukunft der südlichen Halbinsel stehen aber noch aus, namentlich was die Umwandlung des Gefängnisses, des Grossmarkts und des Centre d'échanges sowie die lang ersehnte Beseitigung der Autobahnen betrifft. Auch die Immobilienprojekte, der Aus- und Umbau der Infrastrukturen und die Anlage des Saône-Parks werden 2015 noch lange nicht abgeschlossen sein.
Gelingt es Lyon, bei der Neugestaltung des Perrache-Viertels dem Druck des Immobilienmarkts standzuhalten und sich nicht durch administrative Prozeduren lähmen zu lassen, könnte die Stadt in die Riege der europäischen Metropolen mit einem wirklich profilierten, dynamischen Image vorrücken. Mit Leitbegriffen wie «Umweltverträglichkeit», «Mitsprache der Bürger» und «zeitgenössische Architektur» schlägt die Urbanisierung der Halbinsel den richtigen Weg ein.
Informationen unter: www.agglo-orleans.fr, www.lacub.com, www.lyon-confluence.fr.
Geometrie, Licht und Komfort
Der Architekt Robert Mallet-Stevens im Centre Pompidou
Als Protagonist des modernen Bauens in Frankreich ist Robert Mallet-Stevens etwas in Vergessenheit geraten. Bewundert werden aber noch immer seine Hauptwerke: die Villen Noailles und Cavrois. Eine grosse Ausstellung im Pariser Centre Pompidou zeichnet jetzt ein vollständiges Porträt des Mitbegründers der Union des Artistes Modernes.
«In die Kompositionen von Mallet-Stevens», schrieb Georges-Henri Pingusson 1978 über seinen Kollegen, «schlich sich eine Art Magie, ein ausserordentliches Parfum von Futurismus, eine vorweggenommene Präsenz dessen, was geboren werden wird, eine kubistische Logik und Kraft, die über die dekorativen Formen hinausgingen.» Sigfried Giedion sah das anders: Nannte er doch Mallet-Stevens 1928 einen Formalisten, «der die neuen Mittel über das alte Skelett zieht». Robert Mallet-Stevens (1886-1945) ist noch heute eine schwer einzuordnende Figur. Als Vertreter der «zweiten Generation» des modernen Bauens in Frankreich - nach Tony Garnier und den Brüdern Perret - war er in der Zwischenkriegszeit neben Le Corbusier der markanteste Vertreter seiner Zunft. Doch spätestens seit seinem Tod 1945 steht sein Werk im Schatten des grossen Schweizers. Mallet-Stevens' Interesse für rein Technisch- Konstruktives war gering, wie auch seine Neigung zu radikal-utopischem Theoretisieren. Soziale Wohnbauten, urbanistische Projekte oder auch industriell produzierte Möbel spielen in seinem uvre allenfalls eine Nebenrolle. Kommt hinzu, dass seine Archive auf eigenen Wunsch hin vernichtet und viele Hauptwerke jahrelang dem Verfall preisgegeben wurden.
Belle Epoque und Modernismus
Eine grosse Ausstellung im Pariser Centre Pompidou entwirft nun ein vollständiges Porträt dieses Meisters der «geometrischen Präzision der Form» (Konstantin Melnikow). Die ungewohnt schnörkellos und allgemein verständlich gehaltene Schau ist chronologisch geordnet und in dreizehn bio- oder monografische Sequenzen unterteilt. Die Szenographie verzichtet bis auf das Eingangsportal, das den Pavillon du tourisme von 1925 in Erinnerung ruft, auf architektonische Anspielungen. Doch eignet ihr durchaus Atmosphäre: So evozieren etwa die türkisblauen Wände des ersten Saals die Belle Epoque, in der Mallet-Stevens' erste Arbeiten entstanden sind.
Nach seinem Studienabschluss an der Pariser Ecole spéciale d'architecture knüpft Mallet-Stevens Kontakte in den Pariser Avantgardekreisen und legt eine Vielzahl von Projekten vor, von denen - auch wegen des Kriegs - keines vor 1923 realisiert wurde. Das «uvre de papier» dieses ersten Schaffensjahrzehnts steht vom architektonischen Vokabular wie von der grafischen Umsetzung her stark unter dem Einfluss von Josef Hoffmann. In Brüssel hatte der Österreicher für Mallet-Stevens' Onkel und Tante das nach ihnen benannte Palais Stoclet entworfen, sein 1911 vollendetes Hauptwerk. Der junge Architekt lernte Hoffmann wohl auf der Baustelle kennen, arbeitete möglicherweise gar in seinem Büro.
Das «wienerische» Idiom findet sich noch in der 1922 veröffentlichten Mappe «Une Cité moderne». In jenem Jahr stellt Le Corbusier am Pariser Salon d'automne seinen kühnen Entwurf einer «Ville contemporaine» für drei Millionen Einwohner vor. Nichts dergleichen bei Mallet- Stevens: Jede der 32 Zeichnungen zeigt ein Einzelgebäude, das zwar eine bestimmte Funktion verkörpert (Bank, Kino oder Museum), aber in keinerlei urbanistischen Kontext eingebunden ist. Interessanterweise lässt die Ausstellung 20 gleich geartete Zeichnungen folgen, die wohl von 1923/24 stammen: auch hier kontextlose Gebäude mit je einer präzisen Funktion - doch das «Wienerische» ist einer modernistischen Einfachheit gewichen, mit Flachdächern, glatten Fassaden und schlichten kubischen Volumen.
Von der Villa Noailles zur Villa Cavrois
Mallet-Stevens' erster grosser Wurf - ein 1921 vom Couturier Paul Poiret in Auftrag gegebenes Schloss kam über den Rohbau nicht hinaus - ist die 1923 bis 1932 in Hyères entstandene Villa Noailles. Aus dem «kleinen, interessant zu bewohnenden Haus», das der Vicomte de Noailles beim Architekten bestellt hatte, wurde durch sukzessive Anbauten ein labyrinthisches modernes Schloss mit rund sechzig Räumen und einer Gesamtfläche von 2000 Quadratmetern. Der Komplex überzeugt nicht restlos: Als Ganzes wirkt er heterogen, denn ein Gutteil der Hinzufügungen stammt von einem lokalen Architekten. Die Glasziegel der Decke des Schwimmbads wurden bald undicht und opak. Bemerkenswert ist jedoch die Art, wie die Villa bildartige Ausblicke auf die umgebende Hügellandschaft freigibt. Für die Innengestaltung wurden Koryphäen wie Pierre Chareau (Mobiliar), Henri Laurens (ein Basrelief), Theo Van Doesburg und Sybold van Ravesteyn (je ein Raum) verpflichtet; den kubistischen Garten entwarf Gabriel Guévrékian. 1928 liess Man Ray im Film «Les Mystères du château de Dé» Mallet- Stevens' Architektur die Hauptrolle spielen - der surrealistische Wachtraum ist neben weiterem Filmmaterial in der Ausstellung zu sehen.
Die Zusammenarbeit mit Künstlern aus anderen Sparten bildet eine Konstante im Schaffen des Architekten. Im Ehrenkomitee der von ihm 1914 gegründeten Zeitschrift «Nouvelle manière» fanden sich der Bildhauer Bourdelle, der Komponist Debussy, der Maler Denis und der Schriftsteller Maeterlinck. Als gefragter Filmausstatter konzipierte Mallet-Stevens unter anderem die Dekors von Marcel L'Herbiers Film «L'Inhumaine» (1923), der als eine Art Résumé der französischen Avantgarde gedacht war und an dem Chareau, Léger, Milhaud und Poiret mitarbeiteten. Auch in Mallet-Stevens' eigentlichem Meisterwerk, der 1932 in Croix bei Lille vollendeten Villa Cavrois, finden sich neben raffinierten eigenen Möbeln Beiträge von Jean Prouvé, den Brüdern Martel und vor allem die geniale indirekte Beleuchtung von André Salomon. Die Villa wurde zu einem Manifest des Geistes der Union des Artistes Modernes, die Mallet-Stevens 1929 mitgegründet hatte. Zugleich bildet sie eine gelungene Synthese der wichtigsten Inspirationsquellen des Architekten, vom Palais Stoclet über den Kubofuturismus bis zur Gruppe De Stijl. - Neben weiteren Inkunabeln der französischen Moderne wie den fünf Hôtels particuliers der Rue Mallet-Stevens in Paris (1926-1934) dokumentieren die Schau und der von ihrem Kurator, Olivier Cinqualbre, herausgegebene Werkkatalog auch Mallet-Stevens' Wirken als Innenarchitekt, als Möbelbauer und als Lehrer.
Nach 1930 wandte er sich vermehrt dem Entwurf von Schulen, Museen oder Ausstellungspavillons zu. Nicht alle Projekte fielen so überzeugend aus wie dasjenige des Pavillon de l'électricité an der Pariser Exposition des arts et techniques von 1937 - die meisten wurden erst gar nicht gebaut. Das Leben spielte dem eleganten Hedonisten nicht eben gut mit. Mallet-Stevens zählte zu jener Generation, deren Berufseinstieg vom Ersten Weltkrieg und deren Reifezeit von der Wirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg überschattet wurde. Mit seiner jüdischen Frau floh er 1940 in die freie Südzone. Im Gegensatz zu vielen Zunftgenossen war es ihm nicht vergönnt, nach der Libération am Wiederaufbau mitzuwirken. Anfang 1945 starb der Architekt an den Folgen einer schweren Krankheit. Sein Werk, dessen Leitwörter Rationalität, Geometrie, Lichtfülle, Hygiene und Komfort heissen, geriet halb in Vergessenheit. Die vorbildliche Schau im Centre Pompidou gleicht einer Rehabilitation.
Bis 29. August im Centre Pompidou in Paris. Katalog: Robert Mallet Stevens. L'uvre complète. Ed. du Centre Pompidou, Paris 2005. 240 S., Euro 39.90.
Solitär, schlecht eingefasst
Eine Ausstellung des Architekten Patrick Berger in Paris
In der Schweiz ist Patrick Berger mit dem Neubau der Uefa in Nyon und mit einer Retrospektive in Mendrisio bekannt geworden. In seiner Heimat Frankreich hingegen ist der an der ETH Lausanne tätige Architekt noch immer nur in Fachkreisen bekannt. Eine Ausstellung in Paris soll sein Werk nun bekannter machen.
Der 1947 geborene Pariser Architekt Patrick Berger ist in Frankreich fast nur in Fachkreisen bekannt. Daran haben auch in jüngerer Zeit eine Ausstellung in der Pariser Galerie d'architecture und die Verleihung des letztjährigen Grand Prix national de l'architecture nur wenig ändern können. Und auch die Werkschau, die das Institut français d'architecture und die im Entstehen begriffene Cité de l'architecture et du patrimoine dem Schöpfer jetzt in ihren provisorischen Räumlichkeiten im Palais de la Porte dorée widmen, dürfte den Bekanntheitsgrad des langjährigen Architekturprofessors an der ETH Lausanne nur leicht erhöhen.
Berger ist kein Liebhaber postmoderner Diskurse oder flamboyanter Gesten: Ikonoklastisches Theoretisieren und aufsehenerregende Medienauftritte sind seine Sache nicht. Seine jüngst bei den «Presses polytechniques et universitaires romandes» wiederaufgelegte städtebauliche Studie «Formes cachées, la ville» ist im Tonfall eines hehren, oftmals recht undurchdringlichen Idealismus verfasst. Und auch Bergers Bauwerke mögen auf den ersten Blick nüchtern, ja abweisend wirken: Ihre klassizistische Strenge wird in Frankreich gern «calvinistisch» genannt. Exemplarisch hierfür steht der Uefa-Sitz in Nyon (NZZ 21. 3. 97), an dem sich die Grundelemente von Bergers Vokabular ablesen lassen. Zu nennen wäre etwa die Schichtung klar voneinander abgesetzter identischer Stockwerke, die eine Art «Blätterteigeffekt» zeitigt. Dieser Effekt findet sich auch in dem 2003 vollendeten Gebäude für die soziokulturellen Aktivitäten des Pariser Verkehrsverbunds RATP und dem im Bau befindlichen Hôtel d'agglomération de Rennes-Métropole. Besonders raffiniert wird das Prinzip im Wettbewerbsentwurf für das Musée des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée in Marseille umgesetzt: Hier durchbricht eine breite, sich nach oben erweiternde verglaste Spirale vier dünne rechteckige Plattformen, die den Rundbau wie Balkone umlaufen. Stets wird dabei die Vertikalität der einzelnen «Schichten» durch den stark horizontal artikulierten Raster der Fassaden ausbalanciert.
Sodann verschleiern - vor allem in jüngeren Projekten - geschwungene Formen die vorherrschende Orthogonalität und gerät die Symmetrie bisweilen ins «Rutschen». Im Hôtel d'agglomération in Rennes etwa ist der zentrale Versammlungssaal linsenförmig; so auch der für den italienischen Collodi-Park entworfene «Vogelpavillon», dessen elf «Schichten» sich nach oben hin verjüngen. Die Skizzen für den Perinatologie- Komplex des Cochin-Krankenhauses in Paris, ein Wettbewerbsentwurf von 2004, veranschaulichen ihrerseits, wie sich zweimal vier Rechtecke durch Dehnung, Stauchung und Verschiebung zu einem komplex geschwungenen Grundriss verformt haben. Noch andere Merkmale von Bergers Handschrift treten in der Ausstellung zutage: seine Vorliebe für extrem langgezogene, schmale Lichtschächte, der stete Einbezug der Natur - neuerdings auch klimatischer Parameter wie Sonneneinfall oder Luftzirkulation - und die Sorge um städtebauliche Integration, von welcher auch eine Vielzahl urbanistischer Projekte zeugen.
Trotz ihrem Materialreichtum - vier Modelle wurden sogar eigens für den Anlass angefertigt - wird die Schau der Vielschichtigkeit von Bergers nur vordergründig minimalistischem Werk nicht wirklich gerecht. Schöpfer sind selten die besten Vermittler ihrer eigenen Kreationen: so auch hier. Der vom Architekten selbst konzipierten Ausstellung fehlt es an Savoir-faire; die eigenhändig verfassten Kurztexte zu jedem Projekt ermangeln der Genauigkeit, sprachlich wie inhaltlich. Auf den für Berger charakteristischen Umgang mit kostbaren Materialien wird nur ganz am Rand verwiesen; viele Entwürfe vermag man sich nur sehr vage vorzustellen. Punkto Informationsgehalt bleibt der Katalog noch hinter der Schau zurück. Kurz: eine verpasste Gelegenheit, einen kennenswerten Architekten bekannter zu machen.
[ Bis 15. Mai. Katalog: Milieux, Patrick Berger. Cité de l'architecture et du patrimoine, Paris 2005. 184 S., Euro 30.-. ]
Der Holocaust in Buchstaben und Bildern
Das Pariser Mémorial de la Shoah wird eröffnet
Das Mémorial de la Shoah, das morgen in Paris der Öffentlichkeit übergeben wird, präsentiert sich als das grösste seiner Art in Europa. Mehr als um ein Mahnmal handelt es sich um ein umfassendes Dokumentationszentrum.
Vor sechzig Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Seit 1996 wird am 27. Januar in Deutschland alljährlich offiziell der Opfer des nationalsozialistischen Terrors gedacht. Auch in vielen anderen europäischen Ländern - darunter seit 2004 die Schweiz - ist dieser Tag ein «Tag des Gedenkens an den Holocaust und der Verhütung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit». Es hätte sich angeboten, das Berliner Holocaust-Mahnmal an diesem Datum zu eröffnen - was aber erst am 10. Mai geschehen wird. Dafür wird morgen in Paris das Mémorial de la Shoah der Öffentlichkeit vorgestellt.
Eine Mauer mit 76 000 Namen
Steht man im Vorhof des Memorials, das von der Rue Geoffroy-l'Asnier im historischen Judenviertel durch massive Metallgitter abgeschirmt wird, blickt man auf eine vierzehn Meter hohe blinde Steinfassade. Die beiden Seitenwände des Hauptgebäudes sind aus Beton und bilden ein Geflecht aus Davidsternen. Im vorderen Teil des Vorhofs befindet sich ein über mannshoher Zylinder aus Bronze, der die Schornsteine der Vernichtungslager evoziert. Unter dem Vorhof ist über zwei Treppen die Krypta zu erreichen, ein weiter Raum, der im Halbdunkel liegt. Durch den Zylinder fällt von oben Tageslicht auf einen grossen Stern aus schwarzem Marmor, unter dem die Asche von Opfern aus Auschwitz-Birkenau, Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibor, Treblinka sowie Mauthausen und dem Warschauer Ghetto in Erde aus Israel begraben liegt. Dieser Teil des Komplexes wurde 1956 fertiggestellt; das Mémorial du Martyr Juif Inconnu - eine Anlehnung an die republikanische Tombe du Soldat Inconnu - steht seit 1991 unter Denkmalschutz.
Den Architekten Antoine Jouve und Simon Vignaud stellte sich die Aufgabe, diesem Komplex drei dahinter gelegene Wohnhäuser aus den 1840er Jahren anzugliedern. Deren Fassaden weisen keinerlei Gemeinsamkeit auf mit der monumentalen Steinwand zur Rue Geoffroy-l'Asnier. Der Versuch einer Vereinheitlichung wurde erst gar nicht unternommen; hinter vielen Fenstern zur Rue du Pont Louis-Philippe prangen jetzt grosse Fotoporträts. Neu ist im historischen Vorhof ein Mur des noms, auf dem die Namen und Geburtsjahre von 76 000 deportierten französischen Juden eingemeisselt sind, alphabetisch und nach dem Jahr der Deportation geordnet.
Die Gesamtfläche hat sich von 1800 auf 5000 Quadratmeter erhöht. Das Museum und das Dokumentationszentrum haben neue Räumlichkeiten erhalten, ganz neu ist ein Multimediasaal mit zwölf Bildschirmen. Die Bestände entstammen dem Centre de Documentation Juive Contemporaine (CDJC), auf dessen Initiative hin einst das Mémorial du Martyr Juif Inconnu gebaut worden war. Aus der Fusion der beiden Institutionen ist jetzt das Mémorial de la Shoah hervorgegangen. Die Geschichte des CDJC verdient kurz erzählt zu werden. Gegründet wurde das Zentrum im April 1943 in Grenoble. Laut der Historikerin Annette Wieviorka war für Frankreichs Juden das Ende des Kriegs damals schon absehbar. Es sei für den Gründer des CDJC, den Geschäftsmann Isaac Schneersohn, darum gegangen, den Boden für das Danach zu bereiten: also möglichst viel Material für künftige Restitutionen und Forderungen nach Schadenersatz zu sammeln.
Wissen statt Emotionen
Die Geschichte der eigentlichen Bestände des CDJC beginnt erst nach 1945. Namentlich mit der Sicherung wichtiger Archive des Vichy- Regimes und der Besatzungsmacht (darunter die der Gestapo) durch einen jungen Mitarbeiter, den späteren Antisemitismusforscher Léon Poliakov. Der Bedeutung dieser Archive ist es zu verdanken, dass das CDJC zu den Nürnberger Prozessen einen permanenten Vertreter entsandte und die dort verwendeten Dokumente offiziell zugestellt bekam. In den achtziger Jahren stellte das Zentrum der französischen Justiz das sogenannte Télex d'Izieu zur Verfügung, dank welchem eine Anklage gegen Klaus Barbie, den Gestapo-Chef von Lyon, erhoben werden konnte. Lange Zeit war das CDJC die einzige Institution, die Dokumente zur Verfolgung und Vernichtung der französischen Juden sammelte; Robert Paxton hat hier ebenso geforscht wie Serge Klarsfeld. Auch wurde mit «Le Monde Juif» am CDJC 1946 die erste «Revue d'histoire de la Shoah» (so der heutige Titel) gegründet. 1997 deponierten die Archives nationales in der Krypta des Memorials die «Fichiers des juifs», ein 1991 von Klarsfeld entdecktes Konvolut verschiedener Karteien der Vichy-Verwaltung, in denen verhaftete, internierte, befreite oder gesuchte Juden aufgelistet wurden. Heute besitzt das Zentrum 1 000 000 Schriftstücke (fast alles Originale), 60 000 Fotos und 55 000 Bücher. Diese können im Lesesaal des vierten Stocks konsultiert werden.
Ein kleiner Teil davon ist in den 1000 Quadratmetern des unterirdisch gelegenen Museums zu sehen. Für die Szenographen Catherine Bizouard und François Pin war es keine einfache Aufgabe, die beiden schlauchartigen Hauptsäle so zu gestalten, dass ein Gefühl der Klaustrophobie vermieden werden konnte. Dank einer rhythmischen Raumaufteilung und der Verwendung kontrastierender Materialien - gestockter Beton für die Wände, Metall für die Decke, Kunstharz für den Boden - ist ihnen das gelungen. Die chronologisch-thematisch angelegte Dauerausstellung zeigt, von einem geschichtlichen Abriss des europäischen Judentums seit dem Mittelalter ausgehend, die Mechanismen auf, die von Hitlers Machtergreifung zum Völkermord geführt haben. Der Fokus liegt auf Frankreich, doch werden dortige Ereignisse immer in einen europäischen Kontext gestellt. Laut Jacques Fredj, dem Direktor des Memorials, sollten die Verfolgten nicht «comme des victimes, mais comme des acteurs de leur vie» gezeigt werden. Entsprechend finden sich neben Dokumenten der Nazis und ihrer Helfer auch viele Zeugnisse vom Leben und Handeln - einschliesslich des Widerstands - der Juden. Der Parcours mündet in einen in sanftes weisses Licht getauchten Saal, dessen Paneel mit 2550 kleinen Fotos aus Klarsfelds «Mémorial des enfants juifs déportés de France» bedeckt ist. Erst hier gestattet sich die Szenographie, die sonst streng neutral ist, etwas wie einen verhaltenen emotionalen Effekt.
Im ersten Stock liegen die Räume für Wechselausstellungen. Bis zum 17. April sind hier rund fünfzig Zeichnungen von David Olère zu sehen, einem Überlebenden des Sonderkommandos von Auschwitz. Kurz nach dem Krieg entstanden, wirken diese Werke wie ein einziger Schrei. Der Kontrast von Olères Pathos (und auch der Monumentalität des Memorials von 1956) einerseits und andererseits der Art, wie heute die Innengestaltung der neuen Gebäudeteile auf jede Art von Zeichenhaftigkeit verzichtet, ist sprechend. In den Nachkriegsjahren ging es darum, den Völkermord möglichst eindrücklich zu vergegenwärtigen, die Menschen zu frappieren, ja zu schockieren. Der heutige Umgang mit der Shoah ist ungleich sachlicher. Das Architektenteam habe auf jeden Kommentar, auf jedes «élément d'ambiance» verzichten wollen, erklärt François Pin bei einem Rundgang.
Die Innengestaltung der neuen Gebäudeteile ist tatsächlich funktional bis zur Banalität. Im Gegensatz zum Berliner Mahnmal mit seinen 2711 Betonstelen versucht das Pariser Memorial nicht einmal, ein Sinnbild zu finden für «eine Absage an die Vergegenwärtigung des Grauens mit ästhetischen Mitteln» (NZZ vom 18. 12. 04). Stattdessen setzt es auf Didaktik: Neben dem Museum und dem Dokumentationszentrum leisten auch Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche, ambitiöse editorische Projekte sowie Diskussionen, Konferenzen und Filmprojektionen im neuen Auditorium Aufklärungsarbeit.
www.memorialdelashoah.org
Eine Wunderharfe über dem Wolkenmeer
Der Viaduc de Millau als neuer Höhepunkt europäischer Brückenbaukunst
Schrägseilbrücken erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Arbeiten von Christian Menn, Santiago Calatrava und Ben van Berkel haben in jüngerer Zeit die skulpturale Ausdruckskraft dieses Brückentyps vor Augen geführt. Der neue Viaduc de Millau ist demgegenüber weniger ein architektonischer Wurf als ein Emblem der französischen Tradition des staatlichen Verkehrsbaus. Freilich eines mit gewaltigen Dimensionen.
Von einer Anhöhe aus überblickt man Millau, 23 000 Einwohner, die Unterpräfektur des französischen Département Aveyron. Ein pittoreskes Gewirr aus Ziegeldächern, in der klaren, kalten Winterluft das leichte Sfumato rauchender Schornsteine - und rechts über der Kirchturmspitze, weit im Hintergrund, die weisse Silhouette einer Art Wunderharfe, wie von Geisterhand zwischen zwei Hügel gezaubert.
«Viele Leute hier haben nichts», sagt Claudine Amat, die freundliche Taxifahrerin, die uns bei unserer Besichtigung des Viaduc de Millau zu den besten Aussichtsorten bringt. So seien grössere Gelegenheiten für die wirtschaftliche Entwicklung der armen Gegend mutwillig verpatzt worden: etwa die Niederlassung der Computerfirma IBM oder der Bau eines Militärlagers auf dem Plateau du Larzac. Das pompös Route nationale betitelte einspurige Strässchen zieht sich endlos den Berg hinauf. Die «RN 9» ist landesweit bekannt für ihre Staus im Sommer, wenn es die Touristen aus dem Norden ans Meer zieht - bis zu 26 Kilometer!
Der serpentinenartige, steil ansteigende Weg ist tatsächlich schwer zu bewältigen: «Sobald hier ein Wohnmobil stecken bleibt», erklärt Amat, «ist die Hölle los.» Die Verlängerung der Autobahn A 75 durch den Viaduc de Millau dient just der Behebung dieses Problems - und der Erschliessung der Gegend. Die A 75 verbindet Clermont-Ferrand mit Béziers, das Massif central mit dem Mittelmeer - oder, im europäischen Zusammenhang gesehen, Amsterdam mit Barcelona.
Eine «hohe» Lösung
Nachdem der Verlauf des neuen Autobahnabschnitts 1989 festgelegt worden war, boten sich der Direction des Routes du Ministère de l'Equipement zwei Alternativen an, um die beiden hohen Kalksteinhügel, zwischen denen der Tarn fliesst, zu überbrücken. Die «niedrige» Lösung sah den Bau einer 600 Meter langen Brücke über den Fluss vor, an die sich ein 2300 Meter langer Viadukt mit vielen Pfeilern sowie ein Tunnel angeschlossen hätten. Die «hohe» Lösung bestand aus der heutigen, 2500 Meter langen und bis zu 275 Meter über dem Tarn gelegenen Brücke. Laut Michel Leyrit, dem damaligen Directeur des routes, «ging es nicht darum, einen Rekord aufzustellen. Die beiden Alternativen waren ähnlich teuer.» Gewählt wurde die «hohe» Lösung, weil sie für Automobilisten sicherer ist und sich harmonischer in das Tal einfügt.
Wir stehen auf der «Aire de vision Viaduc de Millau», einer Aussichtsplattform oberhalb des Bauwerks. Die Brücke ist hier in ihrer ganzen Länge zu sehen. Sieben Lichter, auf jeder Pylonspitze eines, blitzen rhythmisch auf. Die Schrägseile, vom Tal aus wie weisse Kreidestriche auf einer hellblauen Tafel, verschwinden hier fast im Himmel. Was von fern grazil aussah, wirkt hier imposanter. Der Viadukt zieht Touristen an, es ist in der ganzen Stadt zu merken.
Im Vergleich zur herkömmlichen Vorgehensweise der französischen Strassenverwaltung weist der Entstehungsprozess des Viaduc de Millau zwei Besonderheiten auf. Zum einen wurden nach zweijährigen Studien durch ein Team um den Ingenieur Michel Virlogeux 1993 fünf Tandems aus je einem Ingenieur- und einem Architektenbüro beauftragt, Pläne für jeweils eine vorgeschriebene Viaduktform auszuarbeiten. Der Architekt Francis Soler etwa entwarf eine ästhetisch bestechende Brücke mit phallusförmigen Pfeilern aus Stahlfachwerk und einem Pauliträger (d. h. einem linsenförmigen Fachwerkträger aus Stahl) unter jedem der sieben je 330 Meter langen Abschnitte. Die Jury aber entschied sich 1996 für den Entwurf von Virlogeux und Norman Foster.
Ein gutes Geschäft für alle
Zum anderen entschied der Staat 1998, den Viadukt von privater Hand erbauen zu lassen. Als Bauherr wurde 2001 der französische Baukonzern Eiffage designiert, der als Gegenleistung für einen Gutteil der Konzeption und die gesamte Ausführung sowie Finanzierung des Bauwerks eine Konzession für 78 Jahre erhielt (gerechnet ab Baubeginn). Während dieser Zeit fliessen ihm alle Einnahmen der Mautstelle des Viadukts zu. Am 31. Dezember 2079 geht die Brücke dann in Staatsbesitz über, doch ist Eiffage verpflichtet, bis 2121 die Wartung zu übernehmen. Für den Staat hat diese Vorgehensweise den doppelten Vorteil, dass ihn der Bau des Viadukts an sich keinen Cent gekostet hat und dass die Arbeiten in der Rekordzeit von exakt drei Jahren fertiggestellt wurden. Trotz Brückenzoll kommt Automobilisten die Fahrt über die (sonst kostenlose) A 5 billiger als die alternative Route A 6-A 7-A 9.
Am Fuss des Viadukts befindet sich ein Besucherzentrum. Erst hier lässt sich ermessen, wie gigantisch das Bauwerk ist. Weiter unten, in der Talsohle, fliesst der Tarn, ein vergleichsweise schmales Flüsschen. Weit über unseren Köpfen erstreckt sich das 32 Meter breite Band der Fahrbahn. Die Unterseite des Kastenträgers aus Stahl verbreitet matte Reflexionen und kontrastiert mit dem hellen Beton der Pfeiler. Von hier aus gesehen wirkt die Brücke derart lang, dass sie verschiedene Wetterzonen zu verbinden scheint: auf der einen Seite strahlend blauer Himmel, auf der anderen dräuend geballte Wolken. Je nach Lichteinfall schimmern die Seile wie feine Perlenketten oder ziehen dunkle Schraffuren über den Azur.
Ein paar Worte zur Konstruktion des Viadukts. Es handelt sich um eine Schrägseilbrücke, ein Typus, der besonders grosse Spannweiten erlaubt. Hier sind es 342 Meter. Der 2460 Meter lange Kastenträger ruht auf sieben Pfeilern, deren Höhe von 77 bis zu 245 Metern reicht. Jeden Pfeiler überragt ein 88 Meter hoher und 650 Tonnen schwerer Pylon, so dass der höchste Träger insgesamt 333 Meter misst. An diesem sind beidseitig je elf Seile aus 45 bis 91 Stahldrähten befestigt, an denen der Kastenträger hängt. Nach sechsmonatigen Erdarbeiten wurde Mitte 2002 mit dem Bau eines seitlichen Widerlagers an jedem Abhang sowie der sieben Pfeiler aus Spannbeton begonnen - und zwar gleichzeitig, so dass neun Baustellen mit je einem eigenen Bauleiter das Tal füllten. Nach der Fertigstellung der Fussplatten, die je mittels vier 12 bis 15 Meter tiefer «Puits marocains» im Boden verankert sind, wurde jeder Pfeiler im Dreitage-Rhythmus um vier Meter erhöht. Eine «selbststeigende» Verschalung ermöglichte diese rasche Kadenz der Betongüsse.
Währenddessen wurden in der Eiffage-Filiale Eiffel im elsässischen Lauterbourg 152 Stahlkästen mit einem annähernd quadratischen Querschnitt von vier Metern und einer Länge zwischen 12 und 20 Metern hergestellt, die das Kernstück des Kastenträgers bilden. Dessen Gewicht konnte dank der Verwendung von hochwertigem Stahl anstelle des üblichen Betons von 120 000 Tonnen auf 36 000 Tonnen reduziert werden. Die vor Ort zusammengefügten Abschnitte des Kastenträgers wurden mittels hydraulischer Pressen leicht angehoben und Millimeter für Millimeter nach vorn geschoben - bis zur nächsten provisorischen Metallstaffel zwischen zwei Pfeilern oder zum nächsten Pfeiler. Die Fahrbahn wuchs also von den seitlichen Widerlagern zur Mitte hin, bis am 28. Mai 2004 die beiden Teile des Kastenträgers über dem Tarn zusammentrafen. Dank diesem sogenannten Taktschiebeverfahren konnten 96 Prozent der Arbeitsprozesse «an Land» gemacht werden: So war kein einziger tödlicher Unfall zu beklagen. Endlich wurden die vorgefertigten Stahlpylonen aufgerichtet, die Seile daran festgemacht und die zweimal zwei Fahrbahnen mit einem Spezialbelag versehen.
Der erste Betriebstag des Viadukts; wir sind auf der A 75. Auch Claudine Amat freut sich auf ihre erste Fahrt über die Brücke. An der Mautstelle begrüsst sie die Kassiererin: wie sie selbst eine «Millavaise», eine Bewohnerin Millaus. Die Brücke schafft Arbeitsplätze: Rund fünfzig Personen arbeiten für die Compagnie Eiffage du Viaduc de Millau. Hat man sich zu viel versprochen von der Fahrt? Sich von den Rekordberichten («die zweitlängste Schrägseilbrücke der Welt», «mit 245 Metern der höchste Pfeiler der Welt» usw.) berauschen lassen? Die Fahrt über das Viadukt ist mit Abstand der am wenigsten beeindruckende Teil unseres Besuchs. Die Aussicht auf das Tal wird - wie sollte es auch anders sein bei einer Autobahn? - versperrt: durch 7320 Module aus Acrylglas, welche drei Meter hohe Windschirme bilden. Wären da nicht die Pylonen mit den strahlend weissen Seilen, man wähnte sich auf einer ganz normalen Schnellstrasse.
Der Viaduc de Millau wurde von einem Team um den Ingenieur Michel Virlogeux konzipiert. Es ist wichtig, festzuhalten, dass eine Brücke in erster Linie das Werk eines Ingenieurs ist. Nach der Rolle von Norman Foster befragt, antwortet Virlogeux diplomatisch: «Es gibt Architekten, die einen ausgezeichneten Sinn für Strukturen haben. Und es gibt Ingenieure, die einen gewissen Sinn für Ästhetik haben.» Im Fall des Viadukts legt freilich schon die Chronologie den Vorrang des Ingenieurs nahe. Den gewählten Brückentypus hatte Virlogeux bereits Anfang der neunziger Jahre vorgeschlagen; Foster wurde erst 1996 zum Architekten bestimmt. Die Entwürfe des Briten für die Form der Pfeiler und des Kastenträgers mussten nach strukturellen beziehungsweise aerodynamischen Gesichtspunkten abgeändert werden; durchsetzen konnte er sich hingegen mit der leichten Kurvung der Fahrbahn, welche den Automobilisten eine bessere Wahrnehmung der Brücke erlaubt. Die Leichtigkeit des Kastenträgers, die Zweiteilung der Pfeiler nach oben hin, die umgekehrte V-Form der Pylonen und die relativ geringe Anzahl von Seilen mögen ästhetisch reizvoll sein, entspringen jedoch statisch-konstruktiven Erfordernissen. Eine gelungene Brücke muss laut dem Brückenkenner Dirk Bühler «über ein klares und einfaches Tragwerk verfügen, an dem der Kraftfluss mühelos ablesbar ist». Das ist beim Viaduc de Millau der Fall.
Ein Emblem des «Génie civil français»
Ob es sich freilich auch um einen schöpferischen Wurf handelt, der dem Brückenbau im 21. Jahrhundert neue - namentlich formale - Horizonte eröffnet? Diese Frage möchte man eher verneinen. Es gibt Schrägseilbrücken, die eine ungleich persönlichere Sprache sprechen. Zu diesen zählen etwa Arbeiten des Schweizers Christian Menn wie die Charles-River-Brücke in Boston und mehr noch die schon 1980 vollendete Ganterbrücke mit ihren in Betonplatten eingeschlossenen Seilen sowie die hinreissend elegante Sunnibergbrücke mit ihren zweimal vier sich wie eine leicht gespreizte Stimmgabel nach oben hin öffnenden Betonpylonen. Auch Santiago Calatravas Alamillo-Brücke in Sevilla (1992) und Ben van Berkels Erasmusbrücke in Amsterdam (1996), beide mit einem einzigen, schräggestellten Pylonen, sind Werke von fast skulpturaler Ausdruckskraft - selbst wenn man nicht vergessen sollte, dass keines dieser Werke auch nur annähernd die Dimensionen des Viaduc de Millau erreicht und Schrägseilbrücken mit mehr als zwei Pylonen auch ganz andere statische Probleme aufwerfen als solche mit nur einem oder zweien.
Am besten lässt sich der Millau-Viadukt wohl als eine besonders prächtige Blüte der französischen Tradition des zentralistisch organisierten staatlichen Verkehrswegbaus definieren - «un nouvel emblème du génie civil français», wie Staatspräsident Jacques Chirac bei der Einweihung befand. Diese Tradition reicht zurück bis zum 1716 gegründeten «Corps des Ingénieurs des Ponts et Chaussées», zur 1747 von Jean- Rodolphe Perronet geschaffenen Ecole des Ponts et Chaussées und zur 1794 eröffneten Ecole Polytechnique. Wichtige Protagonisten dieser Geschichte waren Claude Louis Marie Henri Navier im 18. Jahrhundert, Gustave Eiffel, François Hennebique und Paul Séjourné im 19. Jahrhundert sowie Eugène Freyssinet im 20. Jahrhundert. Virlogeux, ein Absolvent der Ecole Polytechnique und Ingénieur des Ponts et Chaussées, der gut hundert grössere und kleinere Brücken (mit)konzipiert hat - darunter den Pont de Normandie (1994), einen direkten Vorläufer des Viaduc de Millau -, reiht sich klar in diese Kette ein.
Die Eröffnung des Viadukts wurde denn auch zu einem nationalen Ereignis stilisiert. Um noch einmal Chiracs feierliche Prosa zu zitieren: «Die Franzosen sind, zu Recht, stolz auf die hier vollbrachte Grosstat, welche für Frankreich spricht. Ein modernes Frankreich, ein unternehmungsfreudiges und ein erfolgreiches Frankreich. Ein Frankreich, das in die Zukunft investiert. Ein Frankreich am Vorposten des weltweiten Fortschritts. Ein Frankreich an der Spitze der wissenschaftlichen und technischen Höchstleistungen.» Die hiesige Presse feierte einstimmig die «kolossale Eleganz» des grossen Wurfs - «même si l'architecte est britannique, nul n'est parfait» («Libération»). Selbst «Le Figaro», der gewöhnlich das blau-weiss-rote Banner besonders hoch hält, musste zugeben, dass dem «architecte britannique Lord Forrester» (sic) ein «ouvrage exceptionnel» gelungen sei. Vive la France!
Hochhäuser wie unregelmässige Kristalle
Eine Portzamparc-Werkschau in Lille
Der Palais des Beaux-Arts in Lille widmet dem französischen Architekten Christian de Portzamparc die erste Werkschau seit 1996. Zu sehen sind unter anderem jüngere Hochhausprojekte und zwei für Rio de Janeiro und Luxemburg geplante Konzertsäle.
Todchic und todernst: So wirkt die grosse monographische Ausstellung, die der Palais des Beaux-Arts in der heurigen europäischen Kulturhauptstadt Lille dem französischen Architekten Christian de Portzamparc widmet. Auf brusthohen Podesten aus anthrazitfarben angemaltem Holz thronen Modelle unterschiedlichen Massstabs. Spots entreissen dem Halbdunkel Inseln der Helligkeit. Auf drei Seiten des fensterlosen Saals im Untergeschoss des Museums flimmern Filme über grosse Leinwände, derweil aus Lautsprechern eine Art sphärisches Wummern mit Anklängen an ein Orchester beim Stimmen ertönt. Prova d'orchestra oder Sinfonie der Tausend? Der Werkschau fehlen sowohl Fellinis Frische als auch Mahlers Metaphysik. Stattdessen wirkt sie proper bis zur Asepsis und seriös bis zur Trockenheit - wie oft auch Portzamparcs Bauten.
Stadtplanung mit offenen Blocks
«What you see is what you get» könnte die Devise der meisten Arbeiten des 1944 geborenen Architekten lauten. Die Form entspricht dem Inhalt: kaum ein jüngeres Gebäude, dessen innere Aufteilung nicht bereits ein Blick von aussen verriete. Das gilt selbst dann, wenn Aussenhülle und Innenstruktur stark divergieren. So etwa im Fall des Entwurfs für die Grande Bibliothèque du Québec in Montreal (2000), wo ein langgezogenes «Aquarium» vier abstrakt-walfischförmige Körper umschliesst. Da das «Aquarium» rundum verglast ist, lassen sich diese Körper, denen je ein Teil des Programms zugeordnet ist (Mediathek, Auditorium usw.), von aussen gut erkennen. Diese Art von Lesbarkeit, die bisweilen eine gewisse Geheimnislosigkeit mit sich bringt, war nicht immer ein Markenzeichen des Architekten. Die Pariser Cité de la musique etwa, dank welcher Portzamparc zusammen mit dem benachbarten, zeitgleich erbauten Nationalkonservatorium international bekannt geworden ist (1984-1995), lässt sich von aussen wohl kaum erfassen. Hingegen sind dieser «Stadt der Musik» jene zwei Elemente eingeschrieben, die auch Portzamparcs urbanistische Arbeiten charakterisieren: die Fragmentierung grosser Raumeinheiten in kleinere Teile mit menschlichem Massstab und ihre Verbindung durch eine Binnenstrasse.
Einer der drei Bereiche der Ausstellung ist unter dem Titel «Pluriel» den stadtplanerischen Projekten gewidmet. Die beiden genannten Elemente finden sich dort allenthalben wieder. Im niederländischen Almere etwa gestaltet Portzamparc den ihm anvertrauten «Block One» (2000- 2006) als einen fliegenden Grasteppich: ebenerdig Läden und Boutiquen, darüber eine grosse Wiese, deren Ränder mit Wohnhäusern bebaut sind, das Ganze wie ein rechteckiger Kuchen durch zwei sich kreuzende Fussgängerstrassen in vier Stücke geteilt. Ähnlich sieht der Masterplan für das von diversen Architekten zu bebauende Masséna-Viertel im 13. Pariser Arrondissement (1995-2007) «offene Blocks» vor, durch die die Fussgänger flanieren können. «Ilot ouvert» ist ein Kernbegriff in Portzamparcs Vokabular - das Gegenteil des Stadtbilds à la Haussmann mit seinen unzugänglichen Innenhöfen hinter geschlossenen Häuserfronten.
Eine Musikstadt in Brasilien
Das Pendant zu «Pluriel» ist «Singulier». Unter diesem Titel versammelt ein zweiter Teil der Schau architektonische Solitäre mit grosser Ausstrahlung - in der Hauptsache öffentliche Gebäude. Die beiden wichtigsten sind zwei im Entstehen begriffene Konzertsäle: die Cidade da Musica in Rio de Janeiro (2002-2007) und die Philharmonie in Luxemburg (1997-2005). Die brasilianische «Stadt der Musik» umfasst einen Konzertsaal mit 1800 Plätzen, in dem auch Opern aufgeführt werden können, einen Kammermusiksaal mit 500 Sitzen und einen 180 Zuhörer fassenden «elektro-akustischen Saal». Der Bau besteht aus einer riesigen Plattform, die in zehn Metern Höhe auf segelförmigen Pfeilern ruht und, von Wasser- und Grünflächen unterlaufen, über einen tropischen Garten blickt. Die verschiedenen Säle und Räumlichkeiten, die die Plattform durchstossen, sind leicht konisch geschwungen und gemahnen ebenfalls an Segel; die Zirkulation erfolgt über Rampen, Treppen und über die im Freien gelegenen, terrassenähnlichen Teile der Plattform. Ganz anders der Komplex in Luxemburg: Hier ist der ovale Hauptbau mit dem 1500 Zuschauer fassenden Konzertsaal von einem Wald von 627 grazilen Säulen umstellt; der Kammermusiksaal befindet sich in einer konischen Ausbuchtung. Beiden Projekten gemein sind die (zehn beziehungsweise acht) seitlichen Türme, die im Konzertsaal die Zuschauerlogen beherbergen und sich in Rio sogar auf Gleisen bewegen lassen. Der letzte Teil der Schau stellt unter dem Titel «Vertical» zehn Hochhausprojekte vor. Mit der Tour du Crédit Lyonnais in Lille (1991-1995) und vor allem mit dem LVMH Tower in New York (1995-1999) hat Portzamparc zwei vielbeachtete Hochhäuser erbaut. Seine jüngeren Projekte in La Défense (Tour T1, 2001; Tour Granite, 2002-2006) und New York (Hearst Tower, 2000; Kalimian Tower, 2003) gehen deutlich von den prismatischen Formen des schmalen LVMH-Turms aus: Es sind skulpturale, unregelmässig geometrische Körper, die an langgezogene Kristalle erinnern. Der Entwurf für den nicht realisierten Bandai Cultural Complex in Tokio (1994), dessen Strassenfassade nachts wie ein elektrifiziertes Totem in changierenden Bob-Wilson-Farben hätte erglühen sollen, verweist auf Portzamparcs lebenslange Betätigung als Zeichner und Maler. Auf bildnerische Arbeiten verzichtet die Ausstellung jedoch ganz, wie sie auch Plänen lediglich eine Nebenrolle zukommen lässt - dies im Gegensatz zur Portzamparc-Retrospektive von 1996 im Centre Pompidou in Paris. Stattdessen dominieren Modelle und Computerfilme: Solcherart gewinnt die Schau etwas Räumliches, ja Haptisches.
[ Bis zum 10. Januar in Lille. Kein Katalog. ]
Träume und Realitäten
Design und Architektur in der Kulturhauptstadt
Lille setzt zum Abschluss seines ambitionierten Kulturhauptstadtprogramms einen Schwerpunkt auf Design und Architektur. Höhepunkt des Veranstaltungsreigens ist eine verspielte und farbenfrohe Ausstellung, die von Droog Design kuratiert wurde. Weniger überzeugend mutet dagegen die jüngere Entwicklung des Euralille-Areals an.
Es ist ein wunderbarer Spielplatz für erwachsene Kinder: Über den ganzen zweiten Stock des Tri Postal, der früheren Briefverteilanlage am Bahnhof Lille-Flandres, erstreckt sich ein weiter offener Raum von etwa zwölf Metern Breite und etlichen Dutzend Metern Länge. Durch grosse Fenster auf beiden Längsseiten fällt Tageslicht. Überall stehen, liegen oder hängen seltsame Gegenstände, präsentiert in Vitrinen, mannshohen Häuschen oder auf hochsitzartigen Strukturen aus hellem Holz. Ein Podest aus demselben Material mäandert durch den ganzen Raum und strukturiert den Parcours. Die von Gijs Bakker und Renny Ramakers vom Amsterdamer Kollektiv Droog Design kuratierte Ausstellung «Design etc. - Open Borders» ist die erste Ausgabe einer Triennale, die unter dem Titel «Droog Event» jedes Mal in einer anderen Stadt stattfinden soll.
Kuckucksuhr und Totenkokon
Ziel der Schau ist es, einen Überblick über jüngste Entwicklungen des europäischen Designs zu präsentieren - ohne Anspruch auf Repräsentativität und, trotz gegenteiliger Behauptung im Katalog, auch ohne thematische Verklammerung. Etliche Objekte lassen sich mehrdeutig lesen, etwa unter dem Gesichtspunkt des Humors, der Gesellschaftskritik oder der Ästhetik: In Abwesenheit einer kuratorischen Leitlinie bleibt es jedem Besucher überlassen, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Das ist keine Kritik: Angesichts der grossen Bandbreite der Exponate war es gewiss besser, sie nicht in mehr oder weniger künstliche Kategorien zu zwängen, sondern einfach nebeneinander stehen zu lassen.
Zu sehen sind Hochzeitskleider von Hamid Eddakhissi und Rachael Sleight aus alten Hemden und Wegwerfpapier (Stichwort «Recycling»), ein ausgestopfter Hase von Afke Golsteijn mit bestickten langen Ohren («Customising von Haustieren»), ein pädagogisches Handy von IDEO, das Elektroschocks abgibt, sobald sein Benutzer zu laut wird («Wer nicht flüstern will, muss fühlen») und ein zu einem MP3-Player umgebauter Plattenspieler von Max Wolf und Markus Bader («neue Technik in alten Gehäusen»). Eva Stenram hat die Fassaden der Modelle von sieben Hochhäusern mit Sozialwohnungen denen der offiziellen Residenzen der Königin von England nachgestaltet. Von Emiliana Design stammt ein Paar Schuhe, das sich während des Laufens mit Energie auflädt: Zu Hause lassen sich damit Glühbirnen betreiben. Anna Citelli und Raoul Bretzel wollen gar Tote in einem Riesenkokon aus Stärke und biologisch abbaubarem Plastic begraben, von welchem sich ein darüber gepflanzter Baum ernähren soll. Insgesamt ähnelt die Schau einer Wunderkammer, die von einer Überraschung zur nächsten führt. Darin entspricht sie dem Image von «Lille 2004», das ganz auf Buntes, Sinnliches und Experimentelles setzt.
Eine Brücke zur Architektur schlägt die vom Walker Art Center in Minneapolis übernommene Ausstellung «Etrange & familier» im mittelalterlichen Musée de l'Hospice Comtesse. Zwar finden sich auch dort «Gebrauchsgegenstände» wie die von «www.fortunecookies» gestalteten Filzquadrate «Felt 12X12», die sich zu Kleidern zusammenfügen oder auch als individuelle Hotdog- Halter verwenden lassen. Die meisten Exponate sind jedoch Bauten (im weitesten Sinn), darunter so bekannte wie Shigeru Bans «Paper Loghouse» aus Pappröhren und Bierkästen oder der «Pig City»-Entwurf sowie der niederländische Pavillon der Expo 2000 in Hannover von MVRDV. Neben mobilen Wohneinheiten, die wenig Neues bieten (fast immer handelt es sich um Variationen des Container-Prinzips), gibt es auch einige originelle Kreationen: etwa Martín Ruiz de Azúas «Basic House», eine aufblasbare, etwa mannshohe «Blase» aus metallischem Polyester, in die man hineinschlüpfen kann und die zusammengefaltet kaum grösser ist als ein Taschentuch.
Ganz der Architektur gewidmet war jüngst eine Ausstellung in Lars Spuybroeks «Maison Folie de Wazemmes» (NZZ 14. 6. 04). Das neu eröffnete Kulturzentrum - die bleibende architektonische Initiative von «Lille 2004» - hatte für wenige Tage von deSingel in Antwerpen eine Werkschau der dortigen B-Architecten übernommen. Die Entwürfe der namentlich mit der Innengestaltung der Antwerpener Boutique von Walter Van Beirendonck und dem Umbau der Brüsseler Beursschouwburg bekannt gewordenen Architekten zeichnen sich durch jenen findigen Low-Budget- Minimalismus aus, der vielen flämischen Büros eigen ist.
Auch mit der Szenographie der Ausstellung «Lille, métropole en Europe» im Centre Euralille wurde ein Flame betraut: Stéphane Beel, einer der profiliertesten Architekten Belgiens. Doch leider enttäuschen hier sowohl die Form als auch der Inhalt. Die zu einer Art Strassenraster angeordneten übermannshohen weissen Lagerregale, auf denen sich Pläne, Modelle, Fotos und Videos befinden, spielen auf die urbanistische Thematik an und auf den Ausstellungsort (Jean Nouvels Einkaufszentrum), strahlen jedoch eine klinische Kälte aus. Inhaltlich stellt die Schau in sechs thematischen Sektionen - Kulturbauten, Wohnungen, Einkaufszentren - Projekte aus Lille und Umgebung solchen aus anderen europäischen Städten gegenüber. Da nicht herausgearbeitet wird, was genau die in jeder Sektion vereinten Arbeiten verbindet, wirkt die Auswahl beliebig. Trotz einer reichen Materialansammlung mutet das Ganze letztlich wie eine Übung in Sachen Eigenwerbung mit apologetischem Unterton an: «Lille ist auch eine grosse Stadt!»
Eine gewisse Grandezza
Gross ist eine Stadt freilich nicht nur durch die Quantität, sondern auch durch die Qualität ihrer Bauten. Da die Ausstellung sich, was Lille betrifft, auf das Euralille-Viertel konzentriert, bietet sich ein Rundgang durch das Areal an, um zu sehen, was sich dort in den letzten Jahren getan hat. Der von 1989 bis 1995 nach dem Masterplan von OMA / Rem Koolhaas aus dem Boden gestampfte «Secteur central» ist dank der kühnen Übereinanderschichtung von Bauwerken mit scheinbar unvereinbaren Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Reisen weltweit bekannt geworden. Zwar finden sich dort neben Nouvels Centre Euralille und Christian de Portzamparcs Crédit- Lyonnais-Turm auch banale Arbeiten (etwa Claude Vasconis Tour Lille-Europe); auch fällt das Zirkulieren zwischen den verschiedenen Ebenen nicht immer leicht. Doch als Ganzes eignet dem Entwurf zweifellos eine gewisse Grandezza.
Nun besteht Euralille freilich nicht nur aus dem «Secteur central», der seit 1995 weiter gewachsen ist: etwa mit der wenig überzeugenden «Cité des affaires» von François Delhay (2002), dem weitaus gelungeneren «Souham 3»-Bürogebäude von Chaix et Morel (2003) und dem derzeit im Bau befindlichen vierten der fünf vorgesehenen Türme über Nouvels Einkaufszentrum. An den «zentralen Sektor» grenzen vier weitere Viertel an: im Südosten statt des geplanten Parks eine Peripherie-Einöde, ganz im Norden der architektonisch mediokre «Secteur du Romarin», südlich von Koolhaas' Grand Palais der neue «Secteur Euralille 2», wo neben einem klobigen Verwaltungskomplex 170 Wohnungen entstehen sollen. Im Nordosten endlich schliesst an die Gare Lille- Europe der «Secteur Saint-Maurice» an. Hier wurden seit 2000 acht Wohn- und Bürohäuser erbaut, zwei weitere sind im Entstehen. Von der Architektur her bieten die dicht gedrängten Bauten gehobenes Mittelmass; zumindest ein Bürohaus von Xaveer de Geyter vermag durchaus zu überzeugen. In urbanistischer Hinsicht bedenklich ist jedoch, dass der Häuserblock - wie auch das künftige Wohn- und Büroviertel von «Euralille 2» - sich von seiner Umwelt isoliert, auf Mono- oder Bifunktionalität setzt und für Menschen, die nicht dort wohnen oder arbeiten, kaum attraktiv sein dürfte. Die jüngere Entwicklung des Euralille-Projekts erscheint so in mancher Hinsicht geradezu als eine Negation seines ursprünglichen Geistes.
Ausstellungen bis 28. November (www.lille2004.com).
Le Corbusier bei den Studenten
Der Pavillon Suisse in der Cité universitaire
1933 wurde in der Cité internationale universitaire de Paris der Pavillon Suisse eröffnet. Das von Le Corbusier entworfene Gebäude ist ein denkmalgeschütztes Kleinod der architektonischen Moderne und zugleich ein erfolgreich funktionierendes Studentenheim. Soeben ist eine umfassende Monographie erschienen. Ein Besuch vor Ort.
Nach den Greueln des Ersten Weltkriegs wandten sich viele Franzosen pazifistischem und internationalistischem Gedankengut zu. Die von Modellen wie dem Völkerbund oder den ersten Weltausstellungen inspirierte Cité internationale universitaire de Paris (CIUP) ist ein Kind dieses Geistes. Neben ihrer praktischen Funktion, der Beherbergung von Studenten aus der Provinz und aus dem Ausland, stand (und steht) die 1925 am südlichen Stadtrand eröffnete CIUP für Ideale wie Völkerverständigung und Friedensförderung durch Wissen und Kultur. Auf dem 37 Hektaren grossen parkähnlichen Areal finden sich 27 oft regionalistisch angehauchte Länderpavillons, darunter drei Kleinode: das Collège Néerlandais von Willem Marinus Dudok (1938), die Maison du Brésil von Le Corbusier und Lucio Costa (1959) sowie Le Corbusiers Pavillon Suisse (1933). - Der wechselvollen Entstehungsgeschichte des Pavillon Suisse hat der in den USA lehrende Ivan Zaknic soeben eine zweisprachige, reich dokumentierte und bebilderte Monographie gewidmet. Leider wurde der englische Originaltext oftmals flau und mitunter sogar ungenau übersetzt. Von diesem Schönheitsfehler abgesehen handelt es sich jedoch um eine sehr seriöse Arbeit, die das Thema unter all seinen Aspekten beleuchtet.
Symbolträchtig
Wichtige Protagonisten des Entstehungsprozesses waren der Zürcher Mathematiker Rudolf Fueter, der 1925 einen Aufruf zur Gründung eines Schweizer Hauses in der CIUP veröffentlichte und später das Kuratorium des Pavillon Suisse präsidieren sollte, sowie der Architekturtheoretiker Sigfried Giedion und der Architekt und ETH-Professor Karl Moser. Diese wollten Le Corbusier nach dessen Misserfolg im Wettbewerb für den Völkerbundspalast in Genf einen symbolträchtigen Auftrag verschaffen - was ihnen auch gelang. Mitte 1930 begann der Architekt mit der Konzeption eines auf 450 000 Franken veranschlagten Studentenheims: ein langwieriges Unternehmen. Die Pläne mussten mehrmals geändert werden, das Geld aus privaten und öffentlichen Quellen floss nur tropfenweise, die bürokratischen Prozeduren zwischen zwei Staaten, zwei Komitees (in Zürich und in Paris), der Stadt Paris, der Universität Paris sowie der CIUP waren geradezu byzantinisch.
Am 7. Juli 1933 konnte der Pavillon Suisse endlich eröffnet werden. Das auf einem 2234 Quadratmeter grossen Gelände errichtete Gebäude reflektiert die 1923 in «Vers une architecture» vorgestellten «Fünf Punkte für eine neue Architektur». Der vierstöckige rechteckige Hauptbau mit den Studentenzimmern steht, erstens, auf sechs «hundeknochenförmigen» Pfeilern aus Stahlbeton; zwischen dem Erdniveau und dem ersten Stock erstreckt sich im Freien ein vier Meter hoher «Espace habitable couvert». Das Dachgeschoss wartet, zweitens, mit vier kleinen «Gärten» auf, die freilich im Vergleich zum ursprünglich geplanten grosszügigen «Solarium» arg zurückgestutzt wurden und mit ihrem - von Le Corbusier lange verweigerten - Ausblick auf den Park auch eher Terrassen ähneln als den intendierten Klosterhöfen. Hingegen wurde, drittens, das Prinzip des freien Grundrisses ohne Abstriche verwirklicht, ruhen die einzelnen Stockwerke doch auf einer Tragstruktur, die im Innern eine freie Verteilung der Trennwände ermöglichte. Das Gleiche gilt, viertens, für das Prinzip der freien Fassade: Im Süden findet sich ein verglaster, auf den drei anderen Seiten ein mit natursteinähnlichen Betonplatten verkleideter «Mur- rideau». Endlich ist die Südfassade eine fast ideale Verkörperung des Prinzips der «Fenêtres longues», weisen die Studentenzimmer zum Park hin doch durchgängige Bandfenster auf.
An die Nordfassade schliesst ein fünfstöckiger Turm mit Aufzug und Treppenhaus an sowie ein Flachbau mit dem Büro des Direktors, der winzigen Wohnung des Hauswarts und dem «Salon courbe». Die Ostseite des Treppenturms besteht ganz aus Glasziegeln, die geschwungene Nordwand des Flachbaus aus Kalkstein. Für den «Salon courbe», wo die Studenten früher frühstückten und heute Kulturveranstaltungen organisieren, hat Le Corbusier nicht nur bunt bemalte Bänke entworfen, sondern auch ein fotografisches Wanddekor, das er 1948 durch die grandiose «Peinture du silence» ersetzte. Die Möbel in den 47 je 16 Quadratmeter grossen Studentenzimmern, die über individuelle Duschen verfügen, stammen von Charlotte Perriand. Dank ihrer durchdachten Konzeption wirken die Räume weder kalt noch klaustrophobisch.
Bei einem Rundgang erklärt der Architekt Jacques Chopinet, der seit 1976 für den Pavillon Suisse zuständig ist, was seit 1945 alles renoviert wurde - natürlich à l'identique. «Die schnell gealterte Südfassade musste 1957/58 ganz ersetzt werden. Die unteren Bänder der Verglasung wurden abgedeckt, aussen Rollos angebracht: In den Zimmern war es im Sommer oft 40 Grad heiss! 1990 bis 1993 kamen die übrigen Fassaden an die Reihe: Alle Betonpaneele wurden neu gefertigt und mit rostfreien Halterungen an der Metallstruktur befestigt. Auch innen haben wir viel verbessert, von der Asbestsanierung bis zur Einrichtung von individuellen Telefonanschlüssen und Internetzugängen.» Doch sei jeder Eingriff ein Hindernislauf, weil sowohl die Fondation Le Corbusier als auch die französische Kulturverwaltung mit Argusaugen über das Gebäude wachten. Dieses steht seit 1986 in Gänze unter Denkmalschutz und zieht jede Woche 300 bis 500 Architekten und Architekturliebhaber an.
Tango und Barockmusik
Hélène de Roche, seit 1992 Direktorin des Pavillon Suisse, lädt im «Espace habitable couvert» unter dem Hauptbau auf zwei Le-Corbusier-Sesseln zum Gespräch ein. In der morgendlichen Herbstsonne drehen Jogger ihre Runden; hinter den Tennisplätzen sieht man Autos auf dem Boulevard Périphérique dahinrasen - das Schlagen einer sechsspurigen Schneise durch den Park war 1957 einer der Geniestreiche, durch welche sich Frankreichs Stadtplaner zu jener Zeit gern verewigten. Studienanfänger werden in der CIUP nicht aufgenommen. Die meisten Bewohner, die auf den autofreien Strässchen der Miniaturstadt spazieren, sind über 25 Jahre alt. Die Hälfte der «Résidents» des Pavillon Suisse, so de Roche, komme zu gleichen Teilen aus der Deutschschweiz und aus der Romandie, die andere Hälfte werde im Rahmen von festen Austauschprogrammen innerhalb der CIUP vermittelt. «So empfangen wir jedes Jahr zwei Japaner, einen Norweger, zwei Argentinier usw. und schicken umgekehrt junge Schweizer in die entsprechenden Häuser.» Die Monatsmiete beträgt 340 Euro, was für die Eigenfinanzierung bei weitem nicht reicht. So schiesst das Bundesamt für Bildung und Wissenschaft jährlich 100 000 Franken an die Betriebskosten und weitere 300 000 Franken an den Unterhalt des Gebäudes zu.
Der Pavillon Suisse verfügt auch über ein kleines Budget für Kulturveranstaltungen, die von den Bewohnern initiiert werden: Zu diesem Zweck haben die «Résidents» 1989 einen eigenen Verein gegründet. Die Bandbreite reicht von Tangoabenden über barocke Lautenkonzerte bis zu Debatten über Psychoanalyse. Ende September hat de Roche sogar ein zweitägiges internationales Kolloquium über Le Corbusier organisiert. Für die Unterstützung durch die Schweizer Botschaft könne sie nicht dankbar genug sein, betont die Direktorin; weniger angenehm sei dagegen der stetig wachsende Papierkrieg mit der französischen Verwaltung. Nach vier Mandaten wird de Roche Ende des Monats aus dem Amt scheiden - was ihr da vom Leben und Arbeiten im Pavillon Suisse in Erinnerung bleiben mag? «Zum einen ist das Gebäude sehr hell: Bei einer schweren Erkrankung letztes Jahr hat mir Le Corbusier eine richtige Lichttherapie verpasst! Zum andern fördert die räumliche Konfiguration Kontakte und Kreativität.»
Ivan Zaknic: Le Corbusier. Pavillon Suisse. Birkhäuser-Verlag, Basel 2004. 418 S., Fr 98.-.
Bilbao + Tate = Pompidou II
Entwürfe für das Centre Pompidou-Metz
Wie bereits gemeldet, wird das Pariser Centre Pompidou einen Ableger in der Provinz erhalten (NZZ 5. 12. 03). Dieser soll 2007 unter dem Namen Centre Pompidou-Metz in der lothringischen Hauptstadt eröffnet werden. Eine Ausstellung im Pariser Mutterhaus zeigt nun neben dem Ende letzten Jahres erkorenen Siegerprojekt von Shigeru Ban, Jean de Gastines und Philip Gumuchdjian fünf weitere Entwürfe, die in die Endrunde des internationalen Wettbewerbs gelangt sind. Neben den eigentlichen Wettbewerbsdokumenten - je vier grosse Schautafeln mit Plänen, Schnitten und Bildern sowie ein detaillierter Vorstellungstext und ein Modell - sind auf sechs langgezogenen Tischen auch Objekte zu sehen, die nicht eingereicht wurden, aber sehr sprechend den jeweiligen Schöpfungsprozess illustrieren. Während etwa das Rotterdamer Büro NOX Architekten von der (hochfliegenden) Devise «Bilbao + Tate = Pompidou II» ausging, arbeiteten Herzog & de Meuron mit Aberdutzenden von Fotos, während Stéphane Maupin und Pascal Cribier in kleinen Modellen verschiedene Gebäudeformen durchspielten.
Shigeru Ban liess sich seinerseits von einem chinesischen Flechthut inspirieren: Unter einer zeltartigen Struktur aus Metall und Holz stapelt der Japaner drei 90 Meter lange und 15 Meter breite Galerien schräg übereinander. Das mit einer Membran aus Glasfasern überzogene Netzgeflecht wird von drei Galerienenden und von einem 80 Meter hohen Pfeil durchstossen. Leicht orientalisch angehaucht, ähnelt der Bau einer Mischung aus Gartenarchitektur und Zauberzirkuszelt. In scharfem Kontrast dazu steht das trutzburgartige Projekt von Foreign Office Architects (eine Art Virus-Würfel, dessen Fassadenmodule den Facetten geschliffener Edelsteine gleichen), vor allem aber der besonders ansprechende Beitrag von Herzog & de Meuron. Die Basler Architekten haben einen strengen Kubus entworfen, in dem wie bei einer Torte drei dicke, verspiegelt-opake Schichten mit drei dünnen, verglast-transparenten Lagen alternieren. Von aussen monumental, weist der Bau im Innern eine komplexe Strukturierung auf; «konzentrationsfördernde» lineare Folgen von orthogonalen Ausstellungssälen alternieren mit «offenen» Räumlichkeiten, in denen der Besucher frei flanieren und sich entspannen kann. Eine Art Synthese zwischen Shigeru Ban und Herzog & de Meuron legt Dominique Perrault vor: Er überspannt einen grossen, verspiegelten Quader mit einem schräg versetzten Zeltdach; die Arbeiten von NOX (eine Art Gürteltierpanzer) sowie von Maupin und Cribier (ein Schlauch auf Stelzen) wirken dagegen etwas allzu sehr der Blob-Architektur beziehungsweise den Utopien der Metabolisten verpflichtet.
Das auf 36 Millionen Euro veranschlagte Centre Pompidou-Metz wird 12 200 Quadratmeter Nutzfläche bieten, davon die Hälfte für Ausstellungsräume. Diese sollen mit der reichen Sammlung des Musée national d'art moderne im Pariser Centre Pompidou bespielt werden. Kernbegriffe beider Zentren sind «zeitgenössisches Schaffen», «Multidisziplinarität», «Offenheit» und «Flexibilität».
[ Bis 4. Oktober. Katalog: Centre Pompidou-Metz. Edition Moniteur, Edition Centre Pompidou, Paris 2004. 160 S., Euro 29.-. ]
Operation les Halles
Vier Bauprojekte für das Herz von Paris
Das zwischen 1972 und 1986 massgeblich auf Betreiben des einstigen Pariser Bürgermeisters Jacques Chirac aus dem Boden gestampfte Hallenviertel ist ein urbanistisches Desaster im Herzen einer Stadt, die im Übrigen von grösseren Katastrophen verschont geblieben ist. Die neue Pariser Stadtregierung unter dem Sozialisten Bertrand Delanoë hat letztes Jahr einen Wettbewerb zur Neugestaltung des 400 Meter mal 180 Meter grossen Areals ausgeschrieben: Die Projekte von vier ausgewählten Teams sind jetzt im Forum des Halles ausgestellt. Das französische Büro Seura schlägt die Schaffung einer 22 Meter breiten «Rambla» quer durch das rechteckige Grundstück vor, welche die in ein Design- und Modezentrum verwandelte Bourse du commerce am westlichen Ende des Areals mit einem neu geschaffenen «Carreau des Halles» ganz im Osten verbände. Dieses, ein 145 Meter auf 145 Meter grosses «Dach» aus Glas und Kupfer, soll die öffentlichen Einrichtungen und Läden des heutigen Forum des Halles beherbergen und das Tageslicht bis hinunter zu den bestehenden Métro- und RER-Bahnhöfen weiterleiten.
Auch Jean Nouvel sieht ein «Carreau» vor: eine 27 Meter hohe Riesenhalle aus grauen Spiegeln, Bildschirmen und Bildflächen sowie einer Wasserschicht über Glas, deren Dach einen 7000 Quadratmeter grossen Garten und ein Schwimmbad trägt. Dem Rotterdamer Büro MVRDV schwebt ein 4 Meter hohes, fast zur Hälfte aus buntem Glas bestehendes «Podium» vor, das sich praktisch über die gesamte Fläche erstreckt und mit thematischen Gärten aufwartet. Rem Koolhaas' Büro OMA endlich suggeriert den Bau von zwanzig über das gesamte Areal verteilten vielfarbigen Pyramidentürmen mit abgekappter Spitze, die mit dem Untergrund kommunizieren und - wie auch drei «Schluchten» - nachdrücklich die dritte Dimension herausarbeiten. Im Juni wird der Sieger verkündet: Die Ambitionen sind gewaltig, die Erwartungen auch.
[Die Ausstellung (www.projetleshalles.com) ist bis auf weiteres auf dem Niveau 3 des Forum des Halles zu sehen.]
Amöben und Calamares
Blob-Architektur im Pariser Centre Pompidou
Was genau hat man sich unter «Architectures non standard» vorzustellen? Unter diesem Titel präsentiert das Pariser Centre Pompidou zurzeit eine Ausstellung, doch ihr Gegenstand ist schwer zu fassen. Im Katalog decken sich die Definitionen mitnichten: Während die einen den Terminus «Architectures non standard» von der Mathematik herleiten, kommt er für die anderen von den neuen digitalen Konzeptionswerkzeugen her; mal geht es um einen Schöpfungsprozess, der in der Geschichte der Baukunst «radikal neu» sein soll, mal um ein (formales) Ergebnis, dessen Wurzeln bis zu Antoni Gaudí und zu Erich Mendelsohns Einsteinturm zurückreichen.
Der Augenschein zeigt: Die «Nicht-Standard- Architektur» deckt sich weitgehend mit der sogenannten Blob-Architektur. Dieser in den letzten Jahren aufgekommene Begriff bezeichnet Bauwerke, vor allem aber nicht realisierte Projekte, die am Computer konzipiert wurden, bisweilen eine biomorphe Gestalt aufweisen, stets jedoch flüssige, wandlungsfähige und hochkomplexe Formen annehmen, die der nicht-euklidischen Geometrie entstammen. «Blob» ist nicht nur ein Akronym für «binary large objects», sondern auch der Titel eines Science-Fiction-Horrorfilms von 1958 über eine aus dem Weltraum stammende, Menschen verschlingende amorphe Masse. Ganz ähnlich die gleichnamigen Architekturen: amöbenförmig und mit kantenlos-verfliessender Oberfläche. In Frankreich wurde die Blob- Architektur vornehmlich dank der jährlichen «ArchiLab»-Schau in Orléans rezipiert - und da Frédéric Migayrou, der frühere Leiter dieser Veranstaltung, heute am Centre Pompidou amtiert, nimmt es wenig wunder, dass die hier von ihm kuratierte Schau etliche Arbeiten zeigt, die bereits dort zu sehen waren.
So etwa der «Resi/Rise Skyscraper» von KOL/MAC Studio, der aussieht wie das muskulöse Bein eines gigantischen Robotersauriers. Auf das Skelett aus diversen Materialien sollen Wohnmodule aufgepfropft werden können, die sich in Sachen Grösse, Programm oder Dienstleistungen ganz nach den Wünschen der Bewohner richten: eine Art vertikale Urbanisierung. Das gleiche Prinzip liegt den «Lobbi-Ports» des Büros Servo zugrunde. Es handelt sich dabei um kapselartige Installationen, die sich in Hotelhallen implantieren lassen und via LED-Bildschirme Filme, Ansagen, persönliche Nachrichten usw. ausstrahlen sollen. Viele der gezeigten Projekte setzen irgendwie auf die neuen Technologien und auf «Interaktivität». So etwa der Entwurf von «dECOi Architects» für das Eingangsportal zur Uferpromenade nahe der Londoner Waterloo Bridge: Die Form des 70 Meter langen, aus vier Aluminiumbändern bestehenden Schlauchs wurde durch das «Morphing» von kontextuellen Daten wie Geräuschen und Bewegungen gewonnen; im Innern des Baus sollen wiederum Fussgänger «interaktive Klangskulpturen» auslösen - so beisst sich die konzeptionelle Schlange in den Schwanz. Ohnehin scheint die Originalität des Schöpfungsprozesses für viele «Nicht-Standard-Architekten» wichtiger zu sein als die Qualität des Resultats. So gleicht die Konzeption von Greg Lynns «Embryological Houses» der Teilung von befruchteten Eizellen, die - alle vom gleichen «Urmaterial» ausgehend - zu jeweils einzigartigen Wesen heranreifen. In seinen New Yorker «Ost/Kuttner Apartments» kreuzt KOL/MAC Studio gar Betten, Badewannen, Kopfkissen und Kühlschränke miteinander.
Der Formenreichtum der rund fünfzig gezeigten Projekte kommt in der Galerie Sud des Centre Pompidou dank zum Teil grossformatigen Modellen, bunt flimmernden Plasmabildschirmen und einem Soundtrack zwischen «Alien», David Lynch und dem Gesang der Wale zu einer Wirkung, die man in den USA wohl als «dramatic» bezeichnen würde. Vertreter der Alten Welt freilich mögen sich zwischen zwei konzeptuellen Mondflügen - die Texte warten wie so oft im Centre Pompidou mit tonnenschweren Sprach- Meteoriten auf - auch leise wundern über die Diskrepanz zwischen der hochgestochenen Theorie und der mitunter doch eher harmlosen Umsetzung in Form von Modellen, die aussehen wie zwei Handvoll übereinander geworfene Calamares-Ringe. Auch begnügen sich viele Projekte mit einer spektakulären Hülle, ohne dass Näheres über die Innengestaltung zu erfahren wäre; und allzu oft wird man einfach mit ebenso spektakulären wie enigmatischen Computerbildern abgespeist - kurz: viel Form, aber (zu) wenig Inhalt.
[Bis zum 1. März. Katalog: Euro 39.90.]
Kunst unterm Flechthut
Ein Ableger des Centre Pompidou in Metz
Das Pariser Centre Pompidou erhält einen Ableger in Metz. Dieser wird von Shigeru Ban, Jean de Gastines und Philip Gumuchdjian erbaut. Die Architekten sind als Sieger aus einem internationalen Wettbewerb hervorgegangen, an dem u."a. Herzog & de Meuron sowie Dominique Perrault teilgenommen hatten. Das auf 24 Millionen Euro veranschlagte Gebäude soll 12"000 Quadratmeter Nutzfläche bieten, die Hälfte davon für Ausstellungs- und Verwaltungsräumlichkeiten. Der Entwurf sieht drei etwa 100 Meter lange Galerien vor. Diese sind wie langgezogene Kästen unter eine zeltartige Dachstruktur aus Metall und Holz geschoben, welche einem chinesischen Flechthut ähnelt. Das Gebäude soll Anfang 2007 eröffnet werden und neben Wechselausstellungen auch „einen bedeutenden Teil der Sammlung“ des Musée national d'art moderne im Centre Pompidou präsentieren. Ursprünglich war der Ableger in Lille geplant, doch dürfte der Umstand, dass der heutige Kulturminister und frühere Präsident des Centre Pompidou, Jean-Jacques Aillagon, bei den Regionalwahlen im nächsten Jahr - und hernach vielleicht auch bei den Gemeindewahlen 2007 - in seiner Heimatstadt Metz kandidieren möchte, für den Zuschlag an die lothringische Stadt eine Rolle gespielt haben.
Historische Radikalität
Jubiläumsausgabe von ArchiLab in Orléans
Fünf Jahre sind eigentlich noch kein Alter zum Feiern. Der Umstand, dass die 1999 gegründeten Rencontres internationales d'architecture d'Orléans - alias ArchiLab - heuer ihr Konzept stark geändert haben, verdankt sich denn auch nicht diesem ungeraden Jubiläum, sondern der Tatsache, dass ArchiLab eine Veranstaltung des Fonds régional d'art contemporain (FRAC) der Region Centre ist - und dass die 24 FRAC in allen Regionen Frankreichs heuer ihr 20-jähriges Bestehen feiern. Aus diesem Grund hat das Kulturministerium eine Reihe von Veranstaltungen initiiert, deren Ziel eine Bestandsaufnahme der seit 1983 angehäuften rund 15 000 Kunstwerke ist (www.les20ansdesfrac.culture.fr). So bietet denn ArchiLab diesmal nicht mehr wie in den Vorjahren eine Auswahl der jüngsten internationalen Trends, sondern einen Querschnitt durch die Sammlung des FRAC Centre. Dieser hat sich seit 1991 auf Architektur spezialisiert - und zwar im Gegensatz zu den meisten anderen FRAC unter Einbezug «historischer» Arbeiten. Aus den mittlerweile rund 500 Modellen und 10 000 Zeichnungen haben sich gleich fünf Ausstellungen zusammenstellen lassen. Die mit Abstand wichtigste ist wie in den Vorjahren im Site des subsistances militaires zu finden. Auf 1500 Quadratmetern breitet die Schau «Architectures expérimentales 1950-2000» ein lückenhaftes, aber mit zum Teil wenig bekannten Arbeiten auch fesselndes Panorama der prophetischen oder utopischen Sphären aus, in welche Pioniere der Architektur im Lauf der letzten fünfzig Jahre vorgedrungen sind.
Hauptkriterium bei der Auswahl der gezeigten Projekte ist der experimentelle Ansatz - etwa bei der «Maison en plastique», mit welcher Ionel Schein 1956 an die Öffentlichkeit trat. Der schneckenhausförmige Bau vereint Biomorphismus und (damals) modernste Baumaterialien. In eine ähnliche Richtung weisen wenig später die linsenförmigen «Domobile» von Pascal Häusermann und die «Cellules polyvalentes» von Chanéac. Beide lassen sich zu mehrzelligen Gebilden zusammenballen - eine Idee, mit der etliche der gezeigten Projekte spielen, darunter eine Ikone der späten sechziger Jahre: Peter Cooks «Instant City». In dieser mobilen «Stadt», die sich bestehenden Infrastrukturen «aufpfropfen» lässt, wird Architektur zum Event, zur verhaltenspsychologischen Erfahrung.
Dezidiert erdverbunden sind dagegen mehrere Entwürfe für - meist auf dreidimensionalen Rastern basierende - «Metastädte». Alle bieten sie eine Grundstruktur, in oder auf welcher sich individuelle Nutzer so einnisten mögen, wie es ihnen beliebt. Diese Grundstruktur kann ein Turmbau sein wie bei Walter Pichlers «kompakter Stadt», ein Gitterwerk auf Pfeilern wie bei Yona Friedmans «Ville spatiale» oder ein meccanoartiges Gerüst wie bei der «Raumstadt» von Eckard Schulze-Fielitz und dem Entwurf für die Besiedlung des österreichischen Ragnitz-Tals von Eilfried Huth und Günther Domenig (dem gemeinsamen Werk der beiden widmet ArchiLab im Musée des beaux-arts eine separate Schau).
Über die programmatische Schräge der «Fonction oblique» von Claude Parent kommt die Ausstellung zum Kontextualismus von James Wines' viel publizierter «Indeterminate Façade» mit ihren eingestürzten Ziegelsteinen, zum Dekonstruktivismus von Bernard Tschumis Parc de la Villette, zu Daniel Libeskinds Stadtexegese «Berlin City Edge» und zu vielen weiteren Projekten. Diese stammen von Grössen wie Paul Andreu, Peter Eisenman, Zaha Hadid, Itsuko Hasegawa, Rem Koolhaas und Aldo Rossi, aber auch von wesentlich weniger bekannten Kollegen wie David Georges Emmerich, dem Erfinder selbsttragender Strukturen. All diese Arbeiten werden grosszügig mit Modellen und/oder Zeichnungen illustriert und durch vorbildliche Texte erläutert. So kann man sich im Gegensatz zu den Vorjahren von jeder Arbeit ein Bild machen - und im luxuriös bebilderten 576-seitigen Katalog eine Fülle von Informationen über die in der Sammlung vertretenen Architekten und ihre Werke finden.
Ausser in den beiden genannten Ausstellungen bietet ArchiLab noch an drei weiteren Orten in der Stadt einen Rückblick auf die vier vorangegangenen Ausgaben, eine kleine Schau über zwischen 1935 und 1945 geborene Vertreter der «Italie radicale» sowie eine Werkmonographie über Dominique Perraults Pariser Nationalbibliothek. Die Kuratorin der fünf Ausstellungen und engagierte Direktorin des FRAC Centre, Marie- Ange Brayer, verrät im Gespräch, dass ArchiLab von 2006 an zu einer Biennale werden soll und der Site des subsistances, ein 3500 Quadratmeter grosses ehemaliges Proviantlager der Armee, dannzumal nach einem auf 5,5 Millionen Euro veranschlagten Umbau als neuer Sitz des FRAC dienen wird. Dort soll es neben Räumlichkeiten für die Präsentation der Sammlung und für Wechselausstellungen auch Platz für ein Dokumentationszentrum geben.
[Bis zum 12. Oktober. Katalog: Euro 65.- (www.archilab.org).]
Verwirrende Präsentation
Die Zürcher Architekten Vehovar & Jauslin in Paris
Knapp sechzig Modelle, kleine und mittelgrosse, hängen am Eingang der Pariser Galerie d'architecture an einer froschgrünen Wand - ohne jede weitere Information. Was als Aufhänger für die Ausstellung, die dort dem Zürcher Architekturbüro Vehovar & Jauslin gewidmet ist, zur Not durchgehen mag, ist als Gesamtkonzept kaum befriedigend. Wer das Faltblatt übersieht, das auf einem Tresen ausliegt, erfährt nicht einmal, wer Mateja Vehovar und Stephan Jauslin sind, dass sie 1996 in Zürich ein Büro gegründet und dank ihrem Projekt für die Arteplage in Yverdon Bekanntheit erlangt haben. Abgesehen davon, dass dem Pariser Publikum die Expo 02 bestenfalls vage etwas sagen dürfte: Wer mag erahnen, dass die Modelle im Eingangsbereich zu ganz verschiedenen Projekten gehören, während die Collagen aus Fotos, Skizzen, Zeichnungen und Computerbildern, die im Hauptbereich auf sechs niedrigen Leuchttischen zwischen grossen durchsichtigen Plasticballons zu sehen sind, die Entwicklung des Projekts für die Landesausstellung dokumentieren? Die in psychedelischen Farben verschwimmenden Videoaufnahmen der fertiggestellten Arteplage jedenfalls dürften zur Aufklärung dieser und ähnlicher Fragen wenig beitragen. Positiv zu erwähnen ist immerhin, dass die 1999 im Marais eröffnete Architekturgalerie, die bisher 24 Ausstellungen überwiegend weniger bekannten Baukünstlern und Designern gewidmet hat, sich erneut eines jungen Büros angenommen hat. Doch hapert es auch diesmal an der Didaktik.
Da ist es ein Glück, dass Mitte Januar eine deutsch-englische Monographie über die Architekten erscheinen wird. Zwar findet man auch dort allerlei selbstzweckhaftes Bildmaterial, doch erläutern kurze Einführungstexte die dreizehn vorgestellten Projekte. Charakteristika wie das Arbeiten in internationalen und interdisziplinären Gruppen, die Beschäftigung mit Videotechnik, Landschaftsarchitektur, Aussenraumgestaltung, Ausstellungs- und Rauminstallation, vor allem aber die mit grosser Sorgfalt betriebene Einbindung der Bauwerke in die Umwelt treten so hervor.
[Bis zum 18. Januar. Katalog: Emotional Landscapes. Birkhäuser-Verlag, Basel 2003. 224 S., Fr. 58.-.]
Geteilte Territorien
Urbanismus in Paris
«Territoires partagés, l'archipel métropolitain» heisst die neue Ausstellung im Pariser Pavillon de l'Arsenal. Ihr Ziel ist es, das Entstehen, Sein und Werden der Metropole Paris in möglichst vielen Facetten zu beleuchten. Über hundert Autoren - Architekten, Stadtplaner, Wissenschafter usw. - befassen sich in kurzen Bild- und Textbeiträgen mit Themen wie der Geographie des Pariser Beckens, den Schwankungen der Bevölkerungsdichte, den Strategien der öffentlichen Verkehrsplanung, den Universitätsprojekten oder der Rehabilitierung der Bièvre, des zweiten, weitgehend unbekannten Flusses in der Stadt.
Oft geht dabei der Blick über den Tellerrand, um die jenseits des Périphérique gelegenen Randgemeinden, ja die gesamte Region Ile-de-France mit einzubeziehen. So zeigen viele Beispiele, dass zwischen Zentrum und Peripherie nicht nur ein Austausch besteht, sondern geradezu ein symbiotisches Geflecht. Zudem können neue Zentren in der Peripherie attraktive Alternativen zur Pariser Innenstadt bieten. Symptomatisch für die Emanzipation der früheren Vorstädte sind die hochmodernen, die Kapitale völlig umgehenden Tramverbindungen zwischen Banlieue-Städten.
Als Ganzes betrachtet, mag man in der Schau einen roten Faden vermissen. Auch nach dem Lesen des 390-seitigen, wie immer in Zusammenarbeit mit Picard Editeur (hervorragend) realisierten Katalogs ist als einzige übergreifende Gemeinsamkeit auszumachen, dass sich alle Beiträge mit urbanistischen Fragen aus dem Pariser Grossraum befassen: Doch da dieser Grossraum alles andere als homogen ist, muss die Ausstellung diesen Sachverhalt wohl oder übel widerspiegeln. Auch die Kritik, der Besucher werde mit Material erschlagen, greift nicht. Zum einen ist es zu loben, wenn eine Institution nicht der Mode des theorielastigen Firlefanzes erliegt oder auf eine sinnenvernebelnde Flut spektakulärer Bilder setzt, sondern sich auf Fakten und Zahlen konzentriert. Zum andern dürfte gar nicht intendiert sein, dass eine jede und ein jeder sich sämtliche Texte und Bilder zu Gemüte führe, von A bis Z. Der Pavillon de l'Arsenal wendet sich schliesslich nicht nur an Fachleute, sondern auch an Herrn und Frau Jedermann, die nur geschwind einmal hereinschnuppern wollen, um zu erfahren, was an Projekten läuft in ihrem Viertel oder in der Vorstadt, wo ihre Kinder oder Bekannten leben. So ist die Ausstellung auch als ein Beitrag ans Gemeinwesen zu verstehen, und nicht nur als ein akademisches Exerzitium.
Nicht zuletzt regt auch die Szenographie das Interesse an. Wie immer wurde für die Gestaltung des Parcours ein auswärtiger Architekt verpflichtet, mit Shigeru Ban sogar ein hochkarätiger. Seiner Recycling-Ethik und -Ästhetik treu, hat der Japaner aus runden oder quadratischen Pappröhren mannshohe, lang geschlängelte Paravents gebastelt, worauf Texte, grossformatige Fotos und Pläne geklebt sind. In zehn Meter hohen, tornadoförmig zur Decke aufragenden «Zelten» aus Filzstoff sind drei Fotoreportagen über Vorstadtlandschaften zu sehen; in geschlossenen Strukturen aus Aluminiumgeflecht sogenannte «Parcours» - deren Texte allerdings zum Teil in jenen vage konzeptuellen Jargon verfallen, den die Schau sich im Übrigen wohltuend versagt.
[Bis Februar 2003. Katalog: Territoires partagés, l'archipel métropolitain. Ed. du Pavillon de l'Arsenal, Picard Editeur, Paris 2002. 390 S., Euro 53.-.]
Architektur der Ausgeglichenheit
Eine Würdigung der Brüder Perret in Le Havre
In Le Havre haben die Brüder Perret nach 1945 ihre letzten Meisterwerke gebaut. Diese wurden über die Jahre hin zum Teil entstellt, doch dafür lockt die Hafenstadt jetzt mit einer von der Konzeption wie vom Materialreichtum her überragenden Gesamtschau über das Leben und Werk der grossen Architekten und Bauunternehmer.
Am 5. und 6. September 1944 ging das Zentrum von Le Havre im Bombenhagel unter: 5126 Einwohner fanden den Tod, 80 000 waren obdachlos, und 12 500 Gebäude wurden zerstört. Bereits vor dem Bombardement hatten ehemalige Schüler dem damals siebzigjährigen Auguste Perret die Leitung eines «Atelier de Reconstruction» angetragen. Ziel war es, einen ganzheitlichen Ansatz für den Wiederaufbau auszuarbeiten. Zwar scheiterte Perrets Projekt, Le Havre um 3,5 Meter erhöht auf einer Plattform wieder aufzubauen, doch in einem «monumentalen Dreieck» (Joseph Abram) am Vorhafen konnte er einen Teil seiner Ideen verwirklichen. Das Herz des Plans bildet das am nordöstlichen Eck des Dreiecks placierte Rathaus. Hier treffen die Avenue Foch und die Rue de Paris rechtwinklig aufeinander. Erstere, eine von Alleen und siebenstöckigen Wohnblocks gesäumte Prachtstrasse, führt zur westlichen Meerfront, wo die Porte Océane einen perspektivischen Blick auf den Atlantik bewirkt. Die Rue de Paris führt ihrerseits vom Rathaus zur südlichen Meerfront; zwischen den beiden Achsen sind alle Strassen streng orthogonal angelegt, lediglich der Boulevard François-1er verläuft als Hypotenuse des Dreiecks diagonal dem Meer entlang.
Der Masterplan von Perrets «Atelier de Reconstruction» sollte die Einheitlichkeit der von verschiedenen Architekten auf dem neu parzellierten Areal zu erbauenden Gebäude gewährleisten. Gelungen ist dies nur zum Teil: Das heutige Stadtbild mutet heterogener an als das, welches die ursprünglichen Pläne vorsahen. Doch zeigt etwa das urbane Gefüge aus sogenannten Immeubles sans affectation individuelle (I. S. A. I.) um die Place de l'Hôtel-de-Ville, was Perret vorschwebte: eine Abfolge von Haupt- und Nebenstrassen, von eher privaten Seitenwegen und belebten Flanierzonen, von langen Kastenbauten und Hochhäusern.
Sensualistischer Minimalismus
Ein Besuch in einer Eigentumswohnung in der Rue de Paris zeigt, dass die für damalige Verhältnisse grosszügigen Standardwohnungen noch heute zu gefallen vermögen. Nach drei Seiten hin von einem schmalen Balkon umlaufen, verfügt das helle Appartement über elf Fenster, Parkettböden und originales Küchenmobiliar. Allerdings hätten, so Elisabeth Chauvin, die Autorin eines Artikels über die I. S. A. I. in dem soeben erschienenen «Album de la reconstruction du Havre» (Editions Points de vue), etliche Besitzer die ursprüngliche Raumdisposition zerstört. Doch sei es, seit ein Teil der Stadt 1995 zur «Zone de protection du patrimoine architectural» ernannt wurde, immerhin möglich geworden, die Gestaltung von Reklameschildern oder den Anstrich von Balkonen zu reglementieren und die Fassaden fachgerecht zu restaurieren.
Freilich: Die Ende der achtziger Jahre erfolgte Verschandelung von Perrets Rathaus durch einen billigen Anbau wird wohl ebenso schwer rückgängig zu machen sein wie der Bau eines Grillrestaurants auf dem hoheitsvollen Rathausplatz. Und auch die Eglise Saint-Joseph ist in ihrem Innern durch Hinzufügungen verunstaltet worden. Das ist umso bedauerlicher, als Auguste Perret ein «sensualistischer» Minimalist war, der mit wenigen, sorgfältig aufeinander abgestimmten Werkstoffen arbeitete - entsprechend anfällig sind seine Bauten für jeden Zusatz. Der Zauber, den der innen hohle und mit bunten Zierfenstern gesäumte 108 Meter hohe Kirchturm entfaltet, und der hinreissende Effekt, der aus dem Kontrast zwischen der wuchtigen Masse der Wände und den freistehenden Betonpfeilern resultiert, könnten noch viel grösser sein, wenn das Gebäude seinen Originalzustand wiederfände.
Grossartige Ausstellung
Bleibende Verdienste hat sich Le Havre jetzt allerdings mit der vom Pariser Institut français d'architecture (IFA) produzierten Ausstellung «Perret, la poétique du béton» gesichert, die bis zum 6. Januar im Musée Malraux zu sehen ist. Das 1999 von Laurent Beaudouin renovierte Kunstmuseum, ein am Meer gelegener Glasbau von Guy Lagneau mit einem Aluminiumdach von Jean Prouvé (1958-61), zählt zusammen mit Oscar Niemeyers Maison de la culture (1979-82) zu den weiteren Architekturattraktionen in Le Havre. Aus dem Erdgeschoss wurden jetzt alle Gemälde entfernt, um Platz zu schaffen für die erste umfassende Perret-Ausstellung seit 1976. Ihre Ambition, ein umfassendes Bild vom Leben und Schaffen der Perret-Brüder zu entwerfen, erfüllten die Kuratoren Joseph Abram und Jean- Louis Cohen grandios. Unter Verzicht auf audiovisuelle Hilfsmittel wartet der von Bruno Reichlin linear, aber überraschungsreich gestaltete Parcours mit einer Fülle von Material auf: Pläne und Skizzen, 350 originale Photographien und oftmals grossformatige Zeichnungen, dazu 30 Modelle. Von diesen wurden 17 eigens für die Ausstellung angefertigt - eine Augenfreude sondergleichen, neben den originalen Modellen des Rathausturms von Le Havre derart detailgenaue Maquetten zu sehen wie die vom Wohnhaus in der Rue Franklin (1903/04), vom Théâtre de l'exposition des arts décoratifs (1924/25) und von der Eglise Saint- Joseph (1951-54), die im unüblich grossen Format von 1:33 von Meistern in Genf, Mailand und Wien angefertigt wurden.
Von der Ausbildung der Perrets an der Pariser Ecole des Beaux-Arts über die Gründung der Firma Perret Frères (1905) - in der Claude (1880-1962) die Verwaltung übernahm, während Gustave (1876-1952) und Auguste (1874-1954) sich die schöpferische Arbeit teilten, Ersterer mehr dem Technischen, Letzterer mehr dem Künstlerischen zugewandt - bis hin zu den späten Meisterwerken in Amiens und Le Havre zeichnet die Ausstellung (er)kenntnisreich die Laufbahn der Architekten und Bauunternehmer nach. Dabei begegnet man Werken wie der bahnbrechenden Garage in der Pariser Rue de Ponthieu (1906/07), die den Stahlbeton salonfähig machte, dem Théâtre des Champs-Elysées (1910-13), das den Ruhm der Perrets etablierte, aber auch Ikonen wie der Kirche in Le Raincy (1922/23), dem in Sachen Raumdisposition neuartigen Wohnhaus in der Rue Raynouard (1929-32) oder dem Musée des travaux publics (1936-48) mit seiner kühn geschwungenen Doppeltreppe. Darüber hinaus gelingt es der Schau, die Ästhetik der Perrets zu veranschaulichen. Die sie begleitende und vertiefende «Encyclopédie Perret», ein unumgängliches Komplement zu dem vor zwei Jahren vom IFA und von den Editions Norma publizierten Werkkatalog, fasst es in Worte: Es gibt im Œuvre der Perrets einerseits technische und formale Charakteristika - das fast exklusive Arbeiten mit Stahlbeton; der rationalistische Verzicht auf Dekoratives, ja selbst auf Verputz; die Betonung der tragenden Strukturelemente; die Bevorzugung der «lebenspendenden» Vertikale, namentlich bei der Gestaltung der Fenster und Fassaden -, anderseits einen dezidierten künstlerischen Gestaltungswillen. Dabei paart sich eine quasi spartanische Austerität mit einer grossbürgerlichen Freude an ausgesuchten Materialien, einer fast japanisch anmutenden Kunst der Reduktion und einem geradezu klassischen Sensorium für Proportionen, Rhythmen und Wiederholungen. Man sieht es den Bauten an, dass Auguste Perret mit Paul Valéry befreundet war, diesem unaufgeregten Denker und überragenden Dichter, der die Antike mit der Moderne vermählte und sich den Fesseln der Prosodie aus demselben Grund unterwarf wie Perret jenen des Rasters, der Symmetrie und des «Ausdrucks durch Struktur»: um durch selbst gesetzte Schranken den kreativen Geist immer weiter zu schärfen und zu verfeinern. Die epochale Architektur der Perrets bietet denn auch «un spectacle de sérénité» - ein Bild der Ausgeglichenheit.
[Bis 6. Januar 2003. - Encyclopédie Perret. Hrsg. Joseph Abram, Jean-Louis Cohen und Guy Lambert. Editions du Patrimoine/Editions du Moniteur, Paris 2002. 445 S., Euro 59.-.]
Worthülsen und Stahlkrinolinen
Die vierte Ausgabe von ArchiLab in Orléans
Was ist der Unterschied zwischen einem schweizerischen und einem französischen Architekten? Der eine konzipiert Gebäude, der andere glossiert über Thesen und Phrasen von Guattari oder Virilio. Dieser (ernst gemeinte) Witz war bei der Vernissage von ArchiLab in Orléans zu hören, der jährlichen Ausstellung über junge und/oder avantgardistische Architekturbüros aus aller Welt. Die Eidgenossenschaft wurde von den beiden Kommissarinnen, Marie Ange Brayer und Béatrice Simonot, sowie den fünf Mitgliedern des Comité scientifique wieder einmal links liegen gelassen. Von den seit 1999 präsentierten 165 Büros stammte gerade eines aus der Romandie, womit die Schweiz in Sachen Präsenz noch hinter Australien, Chile und China rangiert. Doch ist die abermalige Abwesenheit der für ihre Praxisbezogenheit bekannten Schweizer durchaus charakteristisch für die Veranstaltung - «Vive la théorie, à bas la pratique!» könnte die Losung lauten.
Unter dem diesjährigen Thema, «Economie de la terre», kann man sich alles und nichts vorstellen. Nach der Lektüre der meisten Essays im Katalog ist man so klug als wie zuvor. Manche der Sätze, die einem da unter die Augen kommen, gehörten in eine Anthologie der geschraubtesten Worthülsenkonstrukte. Kehrseite der Medaille des traditionell kopflastigen französischen Diskurses über Architektur, der sich in ArchiLab besonders wild austobt, ist ein schreiender Mangel an Didaktik. Die bunten Bilder im Katalog ergänzen nicht die - zugegebenermassen meist wohltuend sachbezogenen - Texte zu jedem Projekt, sondern zelebrieren sich selbst. In der Schau ist bei manchen Exponaten trotz hippen Illustrationen und Begleittexten à la Guattari, Virilio usw. schlichtweg nicht zu verstehen, worum es eigentlich geht. Sollte ArchiLab die Ambition haben, sich produktiv weiterzuentwickeln, wäre dringend mehr Publikumsfreundlichkeit anzuraten.
Zum Glück jedoch erschöpft sich die Veranstaltung nicht im theoretischen Überbau, sondern präsentiert im stimmungsvollen Site des Subsistances militaires auch Projekte. Heuer sind es rund 90 von 30 verschiedenen Büros - und viele davon sind interessant. Freilich erwartet den Besucher des linearen, mit Plänen, Skizzen, Diagrammen, Modellen, Videos und auf Computern abrufbaren Informationen angereicherten Parcours nicht nur reine Architektur. Etliche Exponate entstammen den Sparten Urbanismus, Design (Möbel) oder bildende Kunst (Installationen). Am interessantesten jedoch sind die Architekturprojekte im eigentlichen Sinn - hier ein paar Beispiele, die dem Thema der Schau im Spannungsfeld von Begriffen wie «Natur», «Umwelt», «Ökologie» usw. am nächsten kommen.
Die drei gezeigten Projekte von Francis Soler zum Beispiel beeindrucken, weil sie den Kontext souverän mit einbeziehen, zugleich aber zu einem ganz eigenen formalen Profil finden: So soll die frühere U-Boot-Basis Keroman in der Bretagne - von der umgebenden Erde befreit - zu einer kleinen Inselkette mit schlanken weissen Windrädern werden, auf der touristische und nautische Aktivitäten stattfinden. Wie das gestauchte Skelett einer Krinoline sieht das Riesenprojekt einer über 2,5 Kilometer langen Autobahnbrücke in Südwestfrankreich aus, deren 330 Meter lange Segmente auf aus Stahl geflochtenen ovalen Pfeilern mit einem Schnitt von maximal 140 Metern ruhen; und die Netzhülle der 237 Meter langen spindelförmigen Voliere von Cloud 9 im neuen Meereszoo von Barcelona soll von einem «Baum» aus Stahlröhren getragen werden. Dieser führt den Pflanzen, die auf ihm wachsen, Wasser und Dünger zu und liefert per Kamera Bilder der brütenden Vögel. Interessant sind auch einige Beiträge zu den Themen «Selbstversorgung» - wie Françoise-Hélène Jourdas Stadt unter Glas im deutschen Ruhrgebiet (NZZ 20. 10. 99) - und «Recycling». So will das junge Pekinger Büro TeamMinus im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2008 Bauschutt in Elemente aus Glas und Stahl füllen, aus denen dann Kioske, Telefonzellen oder Bushaltestellen gebildet werden sollen.
[Bis 14. Juli ( www.archilab.org). Katalog: ArchiLab. Editions HYX, Orléans 2002. 244 S., Euro 48.-.]