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Geduckte Berliner Skyline
Das Beisheim-Center schliesst den Potsdamer Platz
Der Potsdamer Platz, einst Inbegriff des modernen Berlin, war nach dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs und dem Mauerbau weitgehend ausradiert; doch heute verkörpert er in ganz anderer Erscheinung erneut den Mythos der Metropole. Jüngst fand er nun mit der Einweihung des Beisheim-Centers seinen baulichen Abschluss.
Im Jahre 15 nach dem Mauerfall ist das Berliner Baufieber deutlich abgeklungen. Während die vielgeschmähte steinerne Architektur mit den Leibniz-Kolonnaden von Hans Kollhoff in Charlottenburg und mit Frank Gehrys DZ-Bank am Pariser Platz durchaus auch respektable Lösungen hervorgebracht hat, scheint es ungewiss, ob Günter Behnischs Akademiegebäude aus Glas und Stahl das historische Platzgeviert am Brandenburger Tor stärken wird, auch wenn es qualitativ die benachbarte Kulissenarchitektur des Hotels Adlon und vermutlich auch die gegenüberliegende französische Botschaft von Christian de Portzamparc in den Schatten stellen dürfte. Deren Schwäche offenbart sich im Vergleich mit dem Glanzlicht unter all den neuen Berliner Landesvertretungen: der unlängst vollendeten niederländischen Botschaft. Der von Rem Koolhaas konzipierte Bau darf wohl zusammen mit Daniel Libeskinds Jüdischem Museum als Höhepunkt der neuen Hauptstadtarchitektur bezeichnet werden. Neben diesen Einzelwerken ragt als Ensemble der Potsdamer Platz aus dem steinernen Berliner Alltagsgrau heraus. Gross angelegte Medienkampagnen und die inzwischen verschwundene Infobox machten das Ballett der Baukräne auf «Europas grösster Baustelle» zur Touristenattraktion.
Mythos Weltstadt
Die Anziehungskraft des historisch jungen Potsdamer Platzes hat Tradition. Schon in den wilden zwanziger Jahren schwärmten Flaneure und Feuilletonisten vom metropolitanen Flair der «verkehrsreichsten Kreuzung Europas». Mit ihren grossen Hotels, Vergnügungsetablissements und Lichtreklamen war sie das pulsierende Herz der Stadt. Dieses erhielt 1929 mit Erich Mendelsohns sachlich-modernem, durch gekurvte Bandfenster dynamisiertem Columbus-Haus ein zukunftsweisendes Wahrzeichen. Es hätte - nach einem urbanistischen Entwurf der Brüder Luckhardt - zusammen mit seinem südlich der Potsdamer Strasse zu errichtenden Spiegelbild einen 14-stöckigen Turm aus Glas und Stahl rahmen sollen. Doch bald schon erstarrten diese futuristischen Ideen im eisigen Wind der Nazidiktatur. In den fünfziger Jahren musste schliesslich das nach dem Krieg wieder hergerichtete Columbus-Haus zusammen mit anderen baulichen Überbleibseln der Mauer und dem Todesstreifen weichen.
Nach der Wiedervereinigung weckte die riesige Brache zwischen dem Westberliner Kulturforum und der Ostberliner Friedrichstadt als zentral gelegenes Scharnier sogleich die Aufmerksamkeit der Investoren. 1991 wurde ein städtebaulicher Ideenwettbewerb für den Leipziger und den Potsdamer Platz durchgeführt. Das Siegerprojekt von Hilmer & Sattler, das dem vom Senat propagierten Ideal der «Europäischen Stadt» verpflichtet war, sollte - obgleich von Kritik und Architektenschaft stark angefeindet - die Zukunft des neu zu bebauenden Areals bestimmen: Die sechs bis zu vier Hektaren grossen «Filetstücke» am Potsdamer Platz gingen an Grossinvestoren, wobei sich die Daimler-Benz-Tochter Debis gleich deren zwei sicherte. Im Realisierungswettbewerb für das seither dominierende Debis-Areal wurde 1993 der Masterplan von Renzo Piano gekürt, der mit Gassen, Strassen, Plätzen und Blockrandbauten die Vorgaben von Hilmer & Sattler berücksichtigte.
Während auf dem Debis-Areal die im Wettbewerb auf die Plätze verwiesenen Architekten - Kollhoff, Moneo, Rogers und Isozaki - ebenfalls bauen durften, realisierte Helmut Jahn auf der nördlich anschliessenden Tranche für Sony im Alleingang einen amerikanisch anmutenden Geschäfts- und Unterhaltungskomplex aus Stahl und Glas. Bei den von Giorgio Grassi konzipierten Park-Kolonnaden schliesslich, die den Platz nach Süden hin begrenzen, überzeugen vor allem die beiden L-förmig einen Hof umschliessenden Wohnblocks von Roger Diener. Missglückt hingegen ist das prominenteste Gebäude der Kolonnaden: der direkt an den Potsdamer Platz vorstossende Kopfbau von Schweger & Partner, dessen verglaste Rundung an das einstige Haus «Vaterland» erinnern soll. Der 12-geschossige Hochhausstummel hat nun quer über den Platz hinweg mit Kollhoffs 17-geschossigem Delbrück-Haus und dem 18-geschossigen Beisheim-Tower von Hilmer & Sattler ein vornehmes Gegenüber erhalten. Zusammen mit den Debis-Türmen von Piano und Kollhoff sowie Jahns über 100 Meter hohem Sony-Tower bilden sie eine etwas geduckt wirkende Skyline im Herzen der Stadt.
Eine Insel des Konsums
Damit schliessen jetzt - knapp zehn Jahre nach Baubeginn und fünf Jahre nach der Teileröffnung des Debis-Centers - sechs die Spitze der jeweiligen «Tortenstücke» markierende Hochhäuser den Potsdamer Platz halbkreisförmig, während nach Osten hin der Leipziger Platz nur langsam seiner Vollendung entgegengeht. Blickt man vom Nobelhotel Ritz-Carlton, das die ersten elf Etagen des einem amerikanischen Art-déco-Hochhaus nachempfundenen Beisheim-Towers einnimmt, oder aus den darüber liegenden Luxuswohnungen auf den Potsdamer Platz, so schliesst sich dieser zu einem einprägsamen Grossstadtbild. Tagsüber rahmen die Türme aus Stein, Klinker, Terracotta und Glas ein pulsierendes Strassenleben, während nachts die leuchtenden Fassaden als Hauptdarsteller agieren. Hinter ihnen verbirgt sich das neue Quartier, das sich - ursprünglich als Gelenk zwischen Ost und West gedacht - wie eine isolierte Insel des Konsums im innerstädtischen Niemandsland von Tiergarten, Kulturforum und Gleisdreieck ausdehnt.
Obwohl Renzo Piano auf dem Debis-Areal einen Wohnen, Arbeiten und Freizeitvergnügen vereinenden städtischen Kosmos schaffen wollte, ist nicht viel mehr als eine riesige Shopping-Mall mit U- und S-Bahn-Anschluss in einer ebenso zentralen wie isolierten Lage entstanden. Sie wirkt trotz Kinos und Restaurants, Hotel, Musicaltheater und Spielcasino am Abend recht vorstädtisch. Wohl fühlt man sich an der von stattlichen Linden und historischen Randsteinen gefassten Alten Potsdamer Strasse durchaus in einem traditionellen Stadtraum. Doch die überwiegend mit gelboranger Terracotta verkleideten Fassaden erinnern an eine Retortenstadt, auch wenn das 100-jährige Weinhaus Hut als einziger weitgehend erhalten gebliebener historischer Bau und Kollhoffs abgetreppter Klinkerturm Geschichte vorgaukeln. Es sind denn auch diese beiden Bauten, welche der Strasse jene Festigkeit verleihen, die man nur wenige Schritte weiter am Marlene- Dietrich-Platz umso mehr vermisst.
Der mit schrägen Metallplatten camouflierte Doppelbau von Musicaltheater und Casino, dessen mehrfach gebrochene Form auf die dahinter sich verbergende Staatsbibliothek von Hans Scharoun anspielt, möchte die städtebaulich schwierige Situation am Ende der kurzen Alten Potsdamer Strasse zu einer Plaza formen, doch versperrt er den Übergang zum Kulturforum, das man nun nur an einem kleinen See vorbei erreichen kann. In diesem spiegelt sich Pianos gelungenster Bau, die in einem Hochhaus kulminierende Debis-Verwaltungszentrale mit ihrer kathedralartigen Galerie, die sich jenseits einer tristen Stichstrasse in der glasüberdachten Einkaufswelt der «Arkaden» fortsetzt. Hier treffen sich jetzt täglich Zehntausende von Touristen und Berlinern aus Ost und West zum Shopping-Spass, während gleichzeitig die meisten Strassen und Hintergassen des Quartiers veröden. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass man für das ganze Potsdamer-Platz-Viertel nur einen Wohnanteil von 20 Prozent vorgeschrieben hat und nun viele der raren Apartments als temporäre Wohnungen für Firmenmitarbeiter genutzt werden. Dabei gäbe es genügend Platz für Wohnhäuser - im Bereich des locker bebauten Kulturforums ebenso wie auf dem von den Amsterdamer Landschaftsarchitekten Bruno Doedens und Maike van Stiphout geschaffenen Tilla-Durieux- Park, der im Grunde nichts anderes ist als eine künstlich geböschte Rasenskulptur von 450 Metern Länge, die das Debis-Areal städtebaulich wenig sinnvoll von den Park-Kolonnaden trennt.
Luxus im Beisheim-Center
Verglichen mit der Vergnügungswelt des Debis-Areals, dessen Pop-Tech sich zumindest zeitweise zu einem städtischen Raum verdichtet, erscheint das Sony-Quartier wie ein metropolitaner Themenpark, der mit seinen anonymen Fassaden und dem völlig unmotiviert gekurvten Glasturm den Glamour eines amerikanischen Business District zelebriert. Bei Dunkelheit aber herrscht im riesigen Innenhof, der von einer gigantischen, stets die Farbe wechselnden Zeltkonstruktion überfangen ist, ein magisches Halbdunkel, in welchem raffinierte Lichteffekte und Sphärenklänge etwas Surreal-Science-Fiction-Artiges evozieren.
Eine ganz andere Atmosphäre herrscht auf dem jüngst erst eingeweihten, weitgehend nach den 1991 von Hilmer & Sattler erstellten Vorgaben realisierten Lenné-Areal, das von der Gebäudegruppe des nach Otto Beisheim, dem Investor und Gründer der Metro-Handelsgruppe, benannten Beisheim-Centers dominiert wird. Den Eingang ins Quartier markieren die beiden durch platzseitige Ecktürme akzentuierten Blockrandbebauungen des Beisheim-Towers und des Delbrück-Hauses, die mit ihren reich gegliederten Steinfassaden die Tradition des amerikanischen Hochhausbaus fortschreiben. Sie bilden den Auftakt zur kurzen Auguste-Hauschner-Strasse, die sich vor dem im «Chicago-Stil» errichteten Bürohaus von Hilmer & Sattler und dem sich durch eine spektakuläre Lobby auszeichnenden «Marriott» von Bernd Albers zum kleinen Inge-Beisheim-Platz weitet. Danach atmet die von zwei stimmungsvollen Hofgärten gesäumte Strasse etwas vom Geist eines noblen Mailänder Wohnquartiers aus dem frühen 20. Jahrhundert. Dass hier nicht nur prestigebewusste Firmen, sondern auch zahlungskräftige Bewohner einziehen sollen, zeigen neben den Luxusapartments im Beisheim- Tower die nahezu fertiggestellten grossbürgerlichen Eigentumswohnungen in den zehngeschossigen «Parkside Apartments» von David Chipperfield, von denen aus man über die ebenfalls von Doedens und van Stiphout als «Gartenkunstwerk» gestaltete Henriette-Herz-Anlage auf den Tiergarten blickt. Architektonisch weniger interessant als Chipperfields wuchtiger Steinbau, der mit seinen burgartig abgerundeten Ecken entfernt an Mendelsohns Anglo-Palestine-Bank in Jerusalem erinnert, sind die ebenfalls zehnstöckigen, jedoch von zweitrangigen Architekten errichteten «Stadtvillen» mit Wohn- und Bürogeschossen.
So bietet denn der neue Potsdamer Platz die unterschiedlichsten Bilder: vom traditionsbewussten Nobelviertel bei Beisheim über die Futureworld bei Sony und den Jahrmarkt bei Debis bis hin zur rationalistischen Strenge der Park-Kolonnaden. Allen architektonischen und urbanistischen Ungereimtheiten zum Trotz ist hier - gleichsam als Quintessenz von Moderne und Postmoderne - ein interessantes Stück Stadt des frühen 21. Jahrhunderts entstanden, das auf vielfältige Weise immer wichtiger werdende städtebauliche Aspekte wie Entertainment, Shopping und die damit einhergehende Verwandlung der Innenstadt in einen Themenpark, aber auch das Verschwinden des öffentlichen Raums veranschaulicht.
Die Eroberung des Himmels
Am Golf von Arabien entsteht das höchste Haus der Welt
Wenn es heute noch ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten gibt - zumal für Architekten - so ist es Dubai. In der Wirtschaftsmetropole der Vereinigten Arabischen Emirate denkt man nicht nur in Superlativen, man baut auch so. Die grössten künstlichen Inseln, die grösste überdachte Wintersportanlage, die grösste Shopping- Mall der Welt - sie alle sind hier im Entstehen. Als Krönung dieser planerischen Megalomanie wagen sich Dubais Investoren nun an eine weitere Etappe auf dem Weg zur ingenieurtechnischen Eroberung des Himmels. Denn obwohl der 11. September 2001 die Grenzen des architektonischen Höhenrausches andeutete, baut man allenthalben munter weiter: etwa auf Taiwan, wo Ende letzten Jahres mit dem 508 Meter hohen Taipeh- Tower das höchste Haus der Welt vollendet wurde. Doch schon Monate zuvor hatte man in Dubai bekannt gemacht, dass mit dem «Burj Dubai» an der Sheikh Zayed Road, der Wolkenkratzermeile der bald eine Million Einwohner zählenden Stadt, ein 560 Meter hoher Bau entstehen solle, der das auf 2007 angekündigte World Financial Center in Schanghai übertreffen und bei seiner Fertigstellung im Jahre 2008 einen neuen Höhenrekord setzten werde.
Um beim Bau dieser neusten architektonischen Identifikationsfigur Arabiens keine Zeit zu verlieren, fragte die Developmentfirma Emaar Properties, die mit dem «Burj al-Arab» und den «Emirates Towers» bereits die höchsten Wolkenkratzer des Orients realisiert hat, in Melbourne an: Dort nämlich hatte der Investor Bruno Grollo mit dem 1995 entwickelten Projekt eines über 500 Meter hohen Wohn- und Büroturms schon Vorarbeit geleistet. Doch scheiterte das hochgemute Projekt schliesslich, so dass die Firma froh war, ihren Entwurf den zukunftsgläubigen Wüstensöhnen anbieten zu können. Allein, die einfach gestrickte, schwerfällige Form des Turms wollte bald nicht mehr befriedigen. Hatte man doch in Dubai erkannt, dass ein einprägsames und unverwechselbares Erscheinungsbild, wie es etwa der schnell populär gewordene «Burj al-Arab» mit seiner Segelform verkörpert, ebenso wichtig ist wie schiere Grösse. Deshalb übergab man im vergangenen Mai den Auftrag den global tätigen Hochhausspezialisten von Skidmore Owings Merrill (SOM), die seit vergangenem Juli auch an Daniel Libeskinds Freedom Tower auf Ground Zero mitplanen, der nun (inklusive Antenne) von 541 auf 610 Meter erhöht wurde.
Der von SOM entworfene «Burj Dubai», der nun rund 650 Meter hoch werden soll (exakte Zahlen erhielt man bisher wohl aus Konkurrenzangst keine), wächst aus einem flachen, leicht pyramidenartigen Sockel, um dann rhythmisch abgestuft immer steiler in die Höhe zu schiessen. Obwohl in Dubai - anders als etwa in Abu Dhabi, der Hauptstadt der Emirate - Hochhäuser keine arabischen Stilelemente aufweisen müssen, wurde als Vorbild des «Burj Dubai» eine sechsblättrige Wüstenblume gewählt. Die aus der Blumenform resultierenden Einkerbungen im Grund- und Aufriss bewirken nicht nur eine ansprechendere Gestalt, sondern auch eine bessere Belichtung dieser gigantischen, auf rund 1,5 Milliarden Franken veranschlagten «City in the Sky», in der neben Vergnügungseinrichtungen, Geschäften und Büros auch ein Hotel sowie eine Vielzahl von Wohnungen untergebracht werden sollen.
Sehnsucht nach dem Süden
Aspekte italianisierender Architektur in St. Petersburg
Ein wichtiges, wenn auch ausserhalb der italienischsprachigen Welt nur wenig beachtetes Ereignis des Veranstaltungsjahres 2003 war die Luganeser Architekturausstellung über die «Maestri italiani e ticinesi nella Russia neoclassica» (NZZ 10. 10. 03). Mit ein Grund für die geringe Resonanz war zweifellos die Tatsache, dass der Katalog zu dieser anspruchsvollen Schau, die nun noch bis zum 18. April in der Eremitage von St. Petersburg gastiert, erst im Dezember erschienen ist. Schon jetzt aber darf diese zweibändige Begleitpublikation dank den grundlegenden Essays von Forschern aus Russland, Italien und dem Tessin sowie dem reichen Abbildungsmaterial als ein Standardwerk zur Architektur des Klassizismus in Russland gelten. Der monumentale Doppelband erlaubt es einem nicht nur, die Schau nochmals Revue passieren zu lassen: Er ermöglicht auch die nötige Vertiefung der in der Ausstellung vor allem visuell vermittelten Inhalte. Obwohl die Spannweite der Katalogbeiträge vom Antikenkult unter Katharina II. und Alexander I. bis hin zu den grossen in St. Petersburg tätigen Architekten und Dekorateuren reicht, kann diese sprudelnde Informationsquelle zur italianisierenden Architektur um 1800 im Zarenreich bei weitem nicht alle Aspekte erschöpfend behandeln. So kommen beispielsweise von dem aus Agno stammenden Tessiner Luigi Rusca nur der palastartige Kasernenbau der Gardekavallerie sowie die unter Alexander I. neu inszenierten Säulenhallen des Taurischen Palais zur Sprache.
Damit lässt die Publikation der weiterführenden Forschung noch viel Spielraum, wie eine von Konstantin Malinowski verfasste Monographie über die während dreier Generationen an der Newa aktive Architektenfamilie Rusca beweist. Im Mittelpunkt der Studie steht der lange Zeit zu Unrecht unterschätzte Klassizist Luigi Rusca (1762-1822), von dem neben den erwähnten Bauten höchstens noch zwei andere Kasernen sowie der tempelartige Rusca-Portikus am Newski Prospekt bekannt waren. Selbst Fachleute hatten bis anhin kaum eine Ahnung davon, dass auch Werke wie das Gartenpalais Mjatlew, die Stadtpaläste Kussow und Iljin, der Palast der vier Kolonnaden, der Sitz des Jesuitenordens, der Bau der Theologischen Fakultät, die Kasaner Brücke sowie bedeutende Interieurs und Möbelentwürfe von Rusca stammten. Mit Malinowskis Arbeit ist zur Aufarbeitung dieses Œuvre, von dem lange nur ein 1810 von Rusca selbst herausgegebenes Stichwerk zeugte, ein wichtiger Schritt getan. Es wäre jedoch zu wünschen, dass früher oder später ein eigentliches Werkverzeichnis nachgereicht werden könnte.
[Konstantin Malinowski: La famiglia Rusca a San Pietroburgo e nei dintorni. Ital. und russ. Ente turistico del Malcantone, Caslano 2003. 240 S., Fr. 20.- (info@malcantone.ch). - Dal mito al progetto. La cultura architettonica dei maestri italiani e ticinesi nella Russia neoclassica. Hrsg. Nicola Navone und Letizia Tedeschi. Archivio del Moderno, Mendrisio 2003. 2 Bde., 453 u. 462 S., Fr. 90.-. - Weiter liegt eine von Präsenz Schweiz herausgegebene CD-ROM (www.stpetersburg2003.ch) vor.]
Provozierend geniales Chaos
Das neuste Kultbuch des Architekturgurus Rem Koolhaas
Er ist wieder einmal allen weit voraus: Während trendbewusste Baukünstler und Designer verzweifelt das monumentale Theorie-Kult-Bilderbuch «SMLXL» zu überbieten suchen, wirft der mit 59 Jahren immer noch jugendlich-unkonventionelle Rem Koolhaas unter dem Titel «Content» schon wieder eine neue Architekturbibel auf den Markt - diesmal im etwas fett geratenen Pocketformat von billigen Lifestyle-Magazinen. Auf dem schrillen Cover des von Simon Brown und Jon Link mit einer provozierenden Collage camouflierten Theoriewerks treffen sich George W. Bush als Exorzist mit Freedom-Narrenkappe, Saddam Hussein als geschminkter Rambo, Kim Jong Il als Terminator und Joschka Fischer als grüner Flaschengeist vor dem von Koolhaas projektierten Pekinger CCTV-Gebäude zur unheiligen Sacra Conversazione. Gleichzeitig verspricht das «Magazin» eine Titelstory über «pervertierte Architektur», kündigt jedoch auch Beiträge über «Slum-Soziologie», «mörderische Ingenieurskunst», «paranoide Technologie», «Big-Brother- Wolkenkratzer» und «Al-Kaida-Fetisch» an. Doch so schlimm, wie der Umschlag droht, kommt es im Innern des Wälzers nicht.
Architektonisch-politischer Diskurs
Immerhin aber wird man von grellen Landkarten, bunten Grafiken und flirrenden Bildern in eine auf den ersten Blick schwindelerregend aggressive Welt gezerrt, in der Architektur zur blossen Dienerin der Macht degradiert zu werden scheint. Wenn dann noch Eyal Weizmann - ausgehend von einer zusammen mit Rafi Segal konzipierten Wanderausstellung - aufzeigt, wie eng Stadtplanung und Kriegsführung etwa im israelisch-palästinensischen Raum verknüpft sind, wundert man sich nicht, dass die in ihrem Tun und ihrem Ethos zwischen «Right Wing Think Tanks» und «Left Wing Action Tanks» taumelnden Architekten Lebensberatung nötig haben, um ihr fragiles Ego wieder aufzumöbeln. Danach werden ihnen ein «Re-Learning from Las Vegas» als frohe Botschaft und «Sex and the City» zur metropolitanen Entspannung angeboten, wohl um sie fit zu machen für die Hölle von «Lagos Life». Nicht anders als in echten Magazinen sind zwischen solch schwere Themen Reklamen eingestreut: bald redaktionell verkappt, wenn es um das Engagement von Koolhaas und seinem OMA-Team für «Prada-yada» geht, bald ganz unverblümt, wenn die orientalisch gekleidete Zürcher Architektin Jasmin Grego verführerisch à la Blade Runner mit dem Gesäusel: «Ein gutes Interior lässt Menschen gut aussehen», für «Architectural Digest» wirbt.
Schön verpackt in diesen bizarren architektonisch-politischen Diskurs, werden die Bauten und Projekte von Koolhaas und OMA gleich dreifach vorgestellt: in einem chronologischen Abriss, einem Miniatur-Werkverzeichnis sowie in Einzelpräsentationen. Hier geht Koolhaas geographisch vor und verortet jede Stätte seines Tuns (nicht immer ganz korrekt) im globalen Koordinatensystem. Auf der geistigen Architekturwanderung von West nach Ost stellt der «Weltbaukünstler» nach seiner Bibliothek in Seattle und den im vergangenen Jahr vollendeten «Mies-takes»-Verbesserungen auf dem Campus des IIT in Chicago die niederländische Botschaft in Berlin vor (deren Einweihung jüngst Anlass war zu einer zwischen Baustelle und Studentenatelier oszillierenden Koolhaas-OMA-Schau, die ab Ende März in erweitertem Kontext in seiner Heimatstadt Rotterdam gastieren wird). Danach träumt der Meister von östlicher Grösse und erläutert seine als futuristische Cities in the Sky inszenierten Entwürfe für ein Hyperbuilding in Bangkok, die Togok Towers in Seoul und den Sitz von China Central Television (CCTV) in Peking. Obwohl Koolhaas um die sicherheitstechnischen, ökologischen und sozialen Probleme der Hochhausarchitektur weiss, setzt er weiterhin auf Wolkenkratzer - aber nicht auf irgendwelche, sondern auf verwegene Himmelsstädte wie aus Science-Fiction-Filmen, welche die Erde nur noch mit Stelzen berühren.
Wie global vernetzt das Bauen heute ist, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass Koolhaas und viele seiner Kollegen vom «Go East» schwärmen, zumal da in Europa immer mehr Rekurse und in den USA immer ungehemmteres Profitstreben die Architektur zu banalisieren drohen. Dabei stört es sie offensichtlich wenig, dass ihre Kreationen an den pazifischen Küsten Asiens bald verwässert, bald zur Verherrlichung politischer Systeme missbraucht werden. Dies gilt nicht zuletzt für China. Doch gerade dieses Land, das nun alles noch schneller und noch grösser bauen will, zieht Koolhaas magisch an. Sein Traum von einer letztlich auf Kosten von Detail, Stimmung und Inhalt gehenden Beschleunigung führte etwa dazu, dass er und OMA sich beim Wettbewerb für das demnächst vollendete Konzerthaus in Porto die Aufgabe stellten: «How to turn a Dutch house into a Portuguese concert hall in under 2 weeks.»
Irritierend-inspirierendes Machwerk
Ein Hauptproblem der Baukunst sieht Koolhaas darin, dass in unserer schnelllebigen Welt Projekte bei ihrer Fertigstellung meist schon veraltet sind. Erst wenn die Architektur, diese «krude Mischung aus uraltem Wissen und zeitgenössischer Praxis», vom Zwang zu bauen befreit wäre, könnte sie - laut Koolhaas - zu einer Disziplin werden, die befähigt wäre, kritisch über alles nachzudenken. Deshalb hat er als Spiegelbild seines praktisch tätigen Büros OMA das AMO- Team zusammengestellt, das in die freien Sphären des Denkens abheben darf. Von dort erhält er jenen Input, der es ihm erlaubt, die Tätigkeit der zwischen dem Diktat der Mode und den Ansprüchen der Investoren schwankenden Architekten immer neu zu hinterfragen. Die Komplexität des Planens und Bauens in einer immer stärker auf soziale und ökologische Verträglichkeit angewiesenen Welt veranschaulichen die 544 Seiten dieser Publikation in einer solchen Dichte, dass man nur staunen kann, wie der vielbeschäftigte Koolhaas es schafft, das von ihm und AMO zusammengetragene Material geistig zu verdauen und darüber hinaus noch in eine publizierbare, wenn auch provozierend chaotische Form zu bringen. Doch dann erinnert man sich daran, dass Koolhaas, der seine Karriere ja als Journalist und Filmer begann, spätestens seit «Delirious New York» ein Faktensammler ist. Das spiegeln auch seine Bauten - allen voran die Kunsthal in Rotterdam, in der er tausend Anregungen zu einem wie immer nicht ganz kohärenten, aber irritierend-inspirierenden Bauwerk vereinigt hat.
Um ein ähnlich anregendes Machwerk handelt es sich bei «Content», das in seiner verwirrenden Gestaltung viel Fun, Anregung und Information bietet, aber auch eine halluzinatorische Fülle von Assoziationen evoziert, aus der sich jeder seine eigene Architekturtheorie destillieren kann. Die jeweiligen Erkenntnisse - und damit rechnet Koolhaas wohl insgeheim - dürften von Atlanta bis Zürich ganz unterschiedlich ausfallen. Damit sind die Zeiten, als Le Corbusiers weisse Kathedralen der Avantgarde noch Richtschnur waren, endgültig vorbei. In seiner theoretischen Uferlosigkeit öffnet «Content» die Schleusen für Junk-Architektur aus Spiegelglas ebenso wie für blubbernde Blob-Monster oder nostalgische Neugotik. Auch wenn der architektonische Vordenker Koolhaas sich seinen Projekten weiterhin mit aufwendigen Analysen nähert, will er mit «Content» wohl eher heterogen-selbstverliebte Bauorgien auslösen als Wege zu einer besseren Architektur weisen - und dies alles einmal mehr in höchst kultverdächtiger Form.
[Content. Hrsg. Rem Koolhaas und Brendan McGetrick (englischsprachig). Verlag Taschen, Köln 2004. 544 S., Fr. 19.80.]
Flügel über Ground Zero
Santiago Calatravas Projekt für den neuen Umsteigebahnhof in Lower Manhattan
Die Terrorattacke vom 11. September 2001 verursachte nicht nur grosses Leid. Durch sie verlor Manhattan auch ein Wahrzeichen und die Hochhausarchitektur ihr minimalistisches Hauptwerk. Ob dafür ebenbürtiger Ersatz geschaffen werden kann, scheint heute ungewisser denn je. Zu widersprüchlich sind die Wünsche von Investoren, Politikern und Hinterbliebenen, als dass die verschiedenen Projekte - Mahnmal, Bürotürme, Grünraum und Verkehrsbauten - zu einem überzeugenden architektonischen Ganzen verschmolzen werden könnten. Der Masterplan von Daniel Libeskind, von vielen als Geniestreich gefeiert, wirkte vor allem durch die Verführungskunst des Modells, das in der Umsetzung - wohl meist durch kommerziell denkende Architekten - viel von seiner Magie einbüssen dürfte. Denn wenn Baukunst und Investoreninteressen aufeinander prallen, kann kaum Grosses entstehen. Das zeigte der Wirbel um den Entwurf des Freedom Tower, den der im Turmbau unerfahrene Libeskind nun in Zusammenarbeit mit dem Hochhausspezialisten David Childs von SOM, der Larry Silversteins Vertrauen geniesst, realisieren muss. Auch beim Mahnmal auf Ground Zero gab es viel Hin und Her. Am Ende eines Wettbewerbs der Superlative wurde schliesslich ein zurückhaltend einfaches, in den Computerbildern durchaus ansprechendes Projekt gekürt. Doch dürfte es dem zuvor gänzlich unbekannten Architekten Michael Arad schwer fallen, diesen unsentimentalen Entwurf durchzusetzen, zumal sein Konzept vom Landschaftsgestalter Peter Walker bereits zum Lieblichen hin verwässert wurde.
So schienen denn bis anhin an Ground Zero alle architektonischen Hoffnungen zu zerschellen. Doch dann kürte die Port Authority in einem Auswahlverfahren für den neuen Umsteigebahnhof mit Santiago Calatrava einen Architekten, in dessen Bauten sich die Aura des Startums mit technischer Virtuosität vereint. Obwohl Calatrava in jüngster Zeit vor allem mit exzentrischen Kulturbauten in Valencia, Milwaukee oder Santa Cruz de Tenerife auf sich aufmerksam machte, sind es (neben den spektakulären Brücken) doch vor allem Bahnhöfe, die seinen Ruf begründeten. Beim Zürcher Bahnhof Stadelhofen, bei den Bahnhofshallen von Luzern und Lyon-Satolas oder den Perronüberdachungen in Lissabon zeigte er, wie durch das Zusammenklingen von Ingenieurskunst und Architektur Verkehrsbauten zu zoomorphen Meisterwerken werden können. Im Entwurf des aus den Tiefen von Ground Zero emporstrebenden WTC-Bahnhofs kann man denn auch ein Insekt mit flirrenden Flügeln oder aber eine weisse Friedenstaube sehen. Unter dieser für Calatrava typischen, formal aber bereits etwas abgenutzten Bauskulptur aus hellem Beton, Stahl und Glas wird sich dereinst eine transparente, sich bei gutem Wetter wie eine Blume öffnende Halle weiten, die all das an Luft, Raum und Klarheit bieten dürfte, was die düster lastende Penn Station den Reisenden verwehrt. Über ein Dutzend U-Bahn-Linien sowie der Path Train nach New Jersey werden an diesem lichten unterirdischen Umsteigebahnhof zusammentreffen und ein gigantisches Nervenzentrum des öffentlichen Verkehrs bilden.
Der in der Meisterung grosser Projekte erfahrene Calatrava dürfte sich in den Monaten bis zum Baubeginn Anfang 2005 mit Unterstützung der als Bauherrin fungierenden Port Authority gegen allfällige Änderungswünsche gewiss besser durchsetzen können als Libeskind, zumal sein Entwurf jüngst von George Pataki und Michael Bloomberg ebenso enthusiastisch begrüsst wurde wie von der Bevölkerung und den Medien (NZZ 24. 1. 04). Damit besteht die Chance, dass auf Ground Zero doch noch ein Werk aus einem Guss entstehen wird: ein tief in die Erde hineinreichender, aber von Tageslicht durchfluteter Verkehrstempel, der nach der Fertigstellung im Jahr 2009 den ihn umgebenden Wolkenkratzern durchaus die Show stehlen könnte. Wohl nicht ganz zu Unrecht: Denn für die Metropolen der Zukunft wird ein attraktiver und effizienter öffentlicher Verkehr immer wichtiger. Und dieser sollte - wie schon einmal im 19. Jahrhundert - durchaus mit imposanten Monumenten auf sich aufmerksam machen können.
Schwebender Stahlkäfig
Livio Vacchinis gebauter Architekturtraktat
Im Quartiere Nuovo von Locarno hat der siebzigjährige Tessiner Livio Vacchini mit der von einem Stahlgitter umhüllten «Ferriera» ein Geschäftshaus realisiert, das die Quintessenz seines rationalistischen Neuklassizismus darstellt.
In einer Zeit, da die Baukunst sich mit heiteren Fassadenspielereien und bombastischen Inszenierungen um Popularität bemüht, haben Architekten, die sich ernsthaft mit Theorie und Regelwerk befassen, einen schweren Stand. So wundert man sich nicht, dass Livio Vacchinis Bauten vom breiten Publikum kaum wahrgenommen werden, auch wenn sie in der Konsequenz ihrer Ausführung durchaus Emotionen wachrufen können. Diese reichen von der Begeisterung vieler Architekten bis hin zur heftigen Ablehnung jenes wütend gestikulierenden Herrn, der jüngst das neuste Werk des siebzigjährigen Tessiners, das Geschäftshaus «La Ferriera» in Locarno, lautstark als «Orrore della città» beschimpfte. Diese «Eisenkiste» (NZZ 27. 2. 03) verbindet im gründerzeitlichen Quartiere Nuovo mittels einer Galerie die Via Ciseri und die Via Luini.
Mit ihrem alle vier Fassaden umhüllenden Gitterwerk aus braunschwarzem Stahl, bei dem sich Transparenz und Verschleierung die Waage halten, bildet die Ferriera einen in der Höhe halbierten Würfel. Trotz seinem Gewicht von 1200 Tonnen scheint dieser mächtige Metallkäfig über acht gedrungenen Betonpfeilern zu schweben, fast wie Le Corbusiers Pilotis-Bauten. Aufgrund der Massstabslosigkeit will das Auge jedem der elf übereinander liegenden, aus quadratischen Rasteröffnungen bestehenden Fassadenstreifen eine Etage zuordnen. Damit nimmt das in Wahrheit nur sechsgeschossige Gebäude geradezu grossstädtische Dimensionen an - vergleichbar mit Steven Holls unlängst vollendetem Studentenheim in Cambridge, Massachusetts (NZZ 4. 7. 03), das auf den ersten Blick ähnliche Fassaden aufweist. Doch anders als Holls Wohnmaschine verzichtet Vacchinis rigides Geschäftshaus auf liebliche Farbakzente und regelwidrige Durchbrüche.
Metropolitanes Gebäude
Ein halbtransparentes Erdgeschoss und das die Obergeschosse verhüllende Stahlgitter verleihen der Ferriera eine beinahe surreale Erscheinung. Die ebenso abstrakte wie hermetische Gesamtform macht dieses Geschäftshaus - ähnlich wie Vacchinis Postgebäude von 1997 am Eingang von Locarnos Piazza Grande - aber auch zu einem Verwandten von Arne Jacobsens Nationalbank in Kopenhagen. Doch während dessen Bankpalast sich wie ein Tempel über einem massiven Sockel erhebt, interpretiert Vacchini das antike Vorbild anders: Er erklärt die Stadt selbst zum Sockel, placiert das «Säulengeschoss» auf Strassenniveau und ordnet dem Architrav sowie dem Giebel die auf je zwei Pfeilern pro Fassade ruhende Gitterhülle zu, hinter der sich als Gebäudekern eine doppelte, sechs Geschosse in die Höhe strebende «Cella» verbirgt. Erinnern die acht mittig angeordneten Pfeiler und das kassettierte stählerne «Gebälk» der Fassadenhaut an Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin, so stellt die Ferriera insgesamt eine Weiterentwicklung von Mies' Seagram Building in New York dar. Doch während bei diesem eine vorgeblendete Curtain Wall die Tektonik auf der Fassade nachzuzeichnen sucht, wird bei Vacchinis Bau die Konstruktion durch das Raumgitter bewusst verschleiert.
Erst wenn man hinaufschaut in die rund anderthalb Meter tiefe raumhaltige Gebäudehülle, erblickt man Stahlbalken, welche die Geschossebenen des inneren Doppelhauses an das tragende Gitterwerk binden. Diese neuartige, mit dem Chitinpanzer eines Schalentiers vergleichbare Konstruktion befreit den Innenbau vom sonst üblichen Skelett der Stützen und der Pfeiler. Zugleich übernimmt sie als gigantische Sonnenblende die Funktion der Klimahaut und erzeugt mit den dahinter liegenden hellen Wandflächen stets neue Lichteffekte: von bleiernem Schwarz bis zu lichtem Stahlblau. Dieser Wechsel sorgt für eine Dynamik, welche die Fassaden, wie Vacchini begeistert festhält, bald «männlich stark», bald «weiblich empfangend» erscheinen lässt, was dem kompromisslosen Bau eine humane Dimension verleiht. Auf das Chaos des vom Boom der letzten Jahrzehnte geschundenen Quartiere Nuovo kann er so - im Dialog mit dem spätklassizistischen Palazzo del Pretorio von Ferdinando Bernasconi - klärend und festigend einwirken.
Von Nizza nach Locarno
Ausgangspunkt der in architektonischer und städtebaulicher Hinsicht wichtigen, mit Gesamtkosten von rund 25 Millionen Franken aber vergleichsweise preisgünstigen Ferriera war ein Wettbewerbsprojekt, das Vacchini zusammen mit Silvia Gmür Ende der neunziger Jahre für das neue Rathaus von Nizza konzipiert hatte. Es sollte aus zwei von Gitterhüllen aus Beton umfassten Würfeln von je 50 Metern Seitenlänge bestehen. Die Perle der Côte d'Azur hätte mit diesen minimalistischen Zwillingskuben, zu denen noch eine quadratische Wasserfläche und ein Palmenhain gekommen wären, eine wegweisende Architektur erhalten. Doch scheiterte Vacchinis rigorose Vision am Kleinmut der Jury.
Kurz nach dem niederschmetternden Juryentscheid sprach dann Mitte 2000 die Rentenanstalt Swiss Life bei Vacchini wegen des Grundstücks an der Via Luini in Locarno vor, für das er Ende der achtziger Jahre einen Entwurf erarbeitet hatte. Im Laufe der Verhandlungen vermochte Vacchini die Bauherrschaft für ein neues Projekt zu begeistern, in welchem er die zentrale Idee von Nizza weiterentwickelte. In Rekordzeit entstand daraufhin - nicht zuletzt dank dem Einsatz vorgefertigter Stahlelemente - der allansichtige Halbkubus der Ferriera, deren rationalistischer Klassizismus sich etwa in den Proportionen von 20×35×50 Metern oder in dem von zwei Symmetrieachsen dominierten Grundriss zeigt. Hinter der dunklen Gebäudehülle, die mit ihren leeren Öffnungen und den verdichteten Ecklösungen an Palladios Basilica in Vicenza denken lässt, verbergen sich zwei fünfstöckige Längsbauten, die durch eine überdachte, in Nord-Süd-Richtung verlaufende Einkaufsgalerie voneinander getrennt sind. Als Antithese zur Shopping-Mall stellt die Galleria - wie der Bau ganz allgemein - ein Bekenntnis zur mediterranen Stadt dar, die den suburbanen Idealen eines Rem Koolhaas diametral entgegensteht.
Der Klarheit von Vacchinis Architektur entsprechend, beruhen die beiden den Nukleus des Gebäudes bildenden Innenbauten auf einem einfachen Plan: An den zur Galerie hin orientierten Ecken der beiden spiegelverkehrt identischen Baukörper sind zur konstruktiven Versteifung des Gebäudes vier Treppentürme mit Lifts und Nasszellen angeordnet. Dazwischen spannt sich auf jeder Etage ein völlig stützenloser und daher frei unterteilbarer loftartiger Grossraum von rund 50×13 Metern. Da die Wände (ausser an den durch die Erschliessungszonen markierten Ecken) verglast sind, öffnet sich ein weiter Rundblick auf Stadt, See und Gebirge, der durch das aussen vorgesetzte Gitterwerk gefiltert wird. Dadurch stellt sich in den Grossraumbüros ein Mansardeneffekt ein, der Vacchinis Idee einer Tragkonstruktion in Form eines abstrahierten «Tempelgebälks» auch innen spürbar macht.
Quintessenz von Vacchinis Schaffen
Mit dem logisch aus der Tradition hergeleiteten, sich zum dreidimensionalen «Ornament» verdichtenden Stahlgitter, aus dem man den ganzen Bau herleiten kann, stellt die Ferriera (deren Wurzeln zurückreichen bis zum 1965 in Bellinzona realisierten Bürohaus Fabrizia) die Quintessenz von Vacchinis Theorie und Praxis dar. Trotz seiner klassischen Rationalität wirkt dieser Geschäftstempel weder monumental noch einschüchternd. Vielmehr sorgen die mit viel Sensibilität gemeisterten Proportionen für eine Poesie des Minimalen - etwa bei dem als Reverenz an die Arkaden der Piazza Grande interpretierbaren, exakt nach Le Corbusiers Modulor proportionierten «Portikus» mit seinen acht leicht abgeschrägten Pfeilern. Vacchini hat mit diesem geschichtsbewussten Bau einen ebenso wichtigen wie innovativen Beitrag zur zeitgenössischen Geschäftshausarchitektur geleistet, die hierzulande seit langem kaum mehr mit interessanten Neuerungen aufwarten konnte.
Noblesse der Gründerzeit
Ein Bildband zur Ringstrassenarchitektur in Wien
Wien ist eine Stadt des 19. Jahrhunderts - noch heute und trotz seinem weit grösseren Erbe. Das demonstriert die Donaumetropole seit nunmehr 25 Jahren mit den Neujahrskonzerten. Doch die beschwingten Walzer sind nur ein sinnlich wahrnehmbarer Aspekt dieser Epoche. Ein anderer ist die Baukunst. Im spätklassizistischen Goldenen Saal des Musikvereins von Theophil Hansen gibt sie den heiteren Klängen erst Raum und Halt. Mit diesem Meisterwerk der Architektur der Gründerzeit schuf der gebürtige Däne das vielleicht nobelste Gebäude der Wiener Ringstrassenarchitektur. Zu deren Schönheit hatte er schon zuvor mit seinen palastartigen und doch antikisch einfachen Zinshäusern für den wohlhabenden Bürgerstand beigetragen. Später adelte er den Strassenzug, der nach einem Erlass von Kaiser Franz Joseph I. anstelle der einstigen Basteien als vier Kilometer langer Ring um Wiens Innenstadt gezogen wurde, mit den Tempelhallen des Parlamentsgebäudes. Diesen griechisch inspirierten Bauten des späteren Mentors von Otto Wagner antworten die neugotischen Interpretationen der Votivkirche von Heinrich Ferstel und des Rathauses von Friedrich Schmidt, die dem Rundbogenstil verpflichtete Oper von Eduard von der Nüll und August von Siccardsburg, vor allem aber die barock übersteigerte Neurenaissance des Kunst- und Naturhistorischen Museums, des Burgtheaters und der Neuen Hofburg, die Carl Hasenauer zusammen mit Gottfried Semper kreierte.
Obwohl in den Dekaden zwischen 1860 und 1890 an der Ringstrasse Hunderte von Palästen, Mietshäusern, Hotels, Verwaltungs- und Regierungsbauten, Hochschulen, Museen und Theater zum weltweit wohl grössten historistischen Ensemble vereint wurden, scheint nach den damaligen Aufnahmen die neue Stadt gleichsam über Nacht entstanden zu sein: Keine Baustelle trübt die Ansicht der Prachtsbauten. Einen Eindruck dieser architektonischen Perlenkette vermittelt nun ein Bildband mit Fotos aus der Entstehungszeit der lange in ihrem Wert unterschätzten Gebäude, die glücklicherweise dennoch aus dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs in neuem Glanz erstehen durften. Die gut ausgewählten Bilder geben nicht nur die Bauten in ihrem ursprünglichen Zustand wieder, sondern veranschaulichen auch eine frühe Zeit der Architekturfotografie: So lassen sich die bereits sehr unterschiedlichen Sichtweisen von Fotografen wie Victor Angerer, Carl Haack, Wilhelm Kral, August Stauda und Charles Scolik ausmachen.
Der eigentliche Meister aber war Michael Frankenstein (1843-1918), der seit 1870 in seinen sachlich präzisen Aufnahmen den exakt ins Zentrum gerückten Bauten eine unmittelbare, modern anmutende Präsenz verlieh. Der attraktive Bilderreigen wird abgerundet durch einen Überblick über die Architekten der Ringstrasse, durch das «Handbillet an Innenminister Bach», mit dem Kaiser Franz Joseph I. im Jahre 1857 seinen Willen zur Schaffung der Ringstrasse kundtat, durch Otto Wagners Würdigung der gründerzeitlichen Wiener Architektur sowie durch einen 1935 in der «Neuen Freien Presse» veröffentlichten Artikel, in welchem der Architekt Leopold Bauer die von der damaligen Avantgarde abgelehnte Ringstrasse städtebaulich und baukünstlerisch zu rehabilitieren sucht.
[Die Architektur der Wiener Ringstrasse. 1860-1900. Hrsg. Markus Kristan. Album-Verlag, Wien 2003. 119 S., Fr. 63.-.]
Architektonisches Abendmahl
Ausstellung Giraudi & Wettstein in Como
Ein von acht Lampen erhellter, langer Tisch leuchtet geheimnisvoll durch die grosse Vitrine, die den Eingang zur Kirche des ehemaligen Klosters von Santa Caterina an der Via Borgo Vico in Como einnimmt. Das 1634 geweihte Gotteshaus diente nach der Profanierung als Seminar sowie als Warenlager und verkam schliesslich nach einem Brand im 20. Jahrhundert zur Ruine. Nach einer sorgfältigen Intervention der jungen Architekten Paolo Brambilla aus Como und Elisabetta Orsini aus Mailand bildet es heute mit seinem rohen Ziegelwerk und den barocken Freskenresten die stimmungsvolle Hülle des Borgovico 33 genannten Kulturraums, der seit der Eröffnung mit einer dem grossen einheimischen Architekten Giuseppe Terragni gewidmeten Fotoausstellung von Pino Musi im Frühling 2002 nun die fünfte Schau zeigt. Diese gilt dem Schaffen von Sandra Giraudi und Felix Wettstein.
Die beiden 41-jährigen Luganeser Architekten machten sich einen Namen mit dem vor einem Jahr vollendeten gläsernen Informatikgebäude auf dem Universitätscampus Lugano und der zusammen mit Cruz & Ortiz aus Sevilla realisierten Passerelle des Basler SBB-Bahnhofs. War es in Lugano und Basel das Prinzip der Schichtung, aus dem - unter Berücksichtigung des städtebaulichen Kontextes - ganz unterschiedliche Lösungen resultierten, so verleihen Addition und Subtraktion von Volumen der Casa di Paola in Cadro eine an Alvaro Siza erinnernde skulpturale Präsenz. Diese Entwurfsstrategie führte beim Papier gebliebenen Doppelprojekt für ein Gotthardtunnel-Informationszentrum in Pollegio und Erstfeld zu einer sprechenden Architektur zwischen Teleskop und Dinosaurier, während die in der Tradition der Moderne konzipierte Parksiedlung Nocc in Gentilino mit Anklängen an die klassische italienische Gartenbaukunst überrascht.
In Como werden diese Arbeiten zusammen mit drei weiteren Projekten in einer ebenso einfachen wie überzeugenden Installation präsentiert. Ein Tisch mit acht Hockern lädt zum architektonischen Abendmahl: Die Pläne und Fotos sind auf zwei weisse Tischtücher aufgedruckt, zwischen denen - auf einem knallorangefarbenen Mittelstreifen - fünf schwarze Modelle stehen. Eine Diaschau rundet die von einem kleinen Katalog begleitete Ausstellung ab.
[Bis 18. Januar jeweils donnerstags bis sonntags von 17 bis 20 Uhr (Weihnachtstag und Neujahr ausgenommen). Katalog: Giraudi & Wettstein. Hrsg. Associazione Culturale Borgovico 33. Gabriele Capelli Editore, Mendrisio 2003. 48 S., Fr. 26.-.]
Faszination der Farbe
Der Münchner Architekt Otto Steidle als Baukünstler und Städteplaner
Nicht nur bei Schweizer Architekten wie Burkhalter und Sumi oder Gigon Guyer ist Farbe in der Baukunst ein Thema. Auch das Schaffen einiger der wichtigsten deutschen Büros zeichnet sich durch einen Hang zur Farbigkeit aus. So suchen die in Berlin tätigen Architekten Sauerbruch Hutton in ihren Bauten die Tradition eines Bruno Taut mit experimentellen und ökologischen Aspekten zu vereinen. Der Münchner Otto Steidle hingegen vertraut der Verführungskunst einer Architektur, die aus dem Widerspruch von bunt schillernden Fassaden und klaren Volumen resultiert. Obwohl man Steidles heutige Liebe zur farbigen Fassade wohl auch aus dem Münchner Kontext heraus erklären könnte, ist sie doch das Resultat einer jahrzehntelangen Annäherung. Bei seiner ersten Arbeit, der Wohnsiedlung an der Genter Strasse in München, die ihn 1972 bekannt machte, stand noch der strukturelle Ansatz im Mittelpunkt der Recherche, während die Farbe höchstens unterschwellig zum Zuge kam. Eine Dekade später, beim Projekt für die Documenta urbana in Kassel, beschäftigte ihn der postmoderne Zeitgeist. Gemeinsam mit Kiessler und Schweger gelang ihm dann Anfang der neunziger Jahre mit dem Verlagshaus Gruner und Jahr in Hamburg ein einprägsamer Baukomplex, auf den sich die Hochglanzmagazine begierig stürzten. Mit seinen grauen Fassaden und den beinahe expressiv zur Schau gestellten konstruktiven Teilen entspricht dieser Bau einem gemässigten Hightech. Sein immer noch strukturalistisch verflochtener, von den alten Parzellen abgeleiteter Grundriss aber generiert eine urbanistische Abfolge interner Wege, Passerellen und Höfe.
Diese Stadtplanung «en miniature» verband Steidle in seinem Entwurf für den Potsdamer Platz mit der Blockrandstruktur des 19. Jahrhunderts, um schliesslich bei seinem bisher wichtigsten städtebaulichen Projekt, der Neugestaltung des einstigen Münchner Messegeländes auf der Theresienhöhe, zu einem freien Spiel von Block, Zeile und Punkthaus zu finden, bei dem nun der zuvor in Ulm und Wien erprobten Farbigkeit ein ganz zentraler Stellenwert zukommt. Zu diesem gemischt genutzten, aus Geschäftshäusern und Wohnanlagen mit insgesamt 1600 Apartments bestehenden Quartier steuerte Steidle unter anderem das KPMG-Verwaltungsgebäude bei, dessen Fassadenraster effektvoll mit buntem Klinker verkleidet ist, sowie das in Orange und Gelb gehaltene Hochhaus - einen Wohnbau, der mit seinen Erkern und weit ausladenden Balkonen an zeitgenössische holländische Bauten erinnert. Noch plakativer eingefärbt als dieser Turm sind die einfachen Baukörper einer von den Grundrissen chinesischer Hofhäuser ausgehenden Siedlung in Peking, die eben erst nach kürzester Planungs- und Bauzeit fertig gestellt wurde. Den gut zehngeschossigen Wohnblöcken gibt neben der Farbigkeit eine fast pittoresk anmutende Verschachtelung Halt in der Anonymität der Vorstadt.
Eine zum 60. Geburtstag von Otto Steidle in der Architekturabteilung der Pinakothek der Moderne in München präsentierte Ausstellung zeigt nun, wie Steidle - gleichsam als Antipode des von Suburbia und Beschleunigung begeisterten Stadt-Chaoten Rem Koolhaas - die kontinuierlich gewachsene Stadt auf eine subtile, konservative Weise weiterdenkt, indem er auf die Wechselwirkung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit setzt. Die Schau verdeutlicht ausserdem, wie sorgfältig sich Steidle auch mit der Ausstrahlung seiner oft in Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstler Erich Wiesner konzipierten, «nicht nur in der Oberfläche, sondern im Wesen» eingefärbten Architekturen befasst. So verlieh er der Ludwig-Erhard-Strasse, einer monotonen Hamburger Stadtschneise, deren einziger Akzent zuvor die wiederaufgebaute Barockkirche von St. Michaelis war, eine neue Fassung: Wird doch das neue «Michaelis-Quartier» zur Durchgangsstrasse hin abgegrenzt durch eine städtebaulich differenzierte Baugruppe mit pixelartig aufgelöster Farbfassade, als deren Ausgangspunkt eine Grafik von Blinky Palermo diente. Im jüngst vollendeten Alfred- Wegener-Institut in den von Schuppen und Hallen geprägten Docks von Bremerhaven fand Steidle wieder zurück zu einem strukturalistisch anmutenden Grundriss. Hinter den mit einem geometrischen Muster aus schwarzem und weissem Klinker überzogenen Fassaden öffnen sich gelbe und grüne Hofräume, über die in den gleichen Farben gehaltene «Türme» hinausragen.
Steidles ständig sich wandelnder architektonischer Kosmos wird in München in der - bei Architekturausstellungen beliebten - Form eines Studios mit Tischen voller Arbeitsmodelle und Wänden voller Fotos und Pläne veranschaulicht. So erhält ein Œuvre Konturen, das zwar nur selten über den guten Durchschnitt hinausragt, aber mit seiner soliden Qualität der Stadt das gibt, was sie in erster Linie braucht: urbanistische und architektonische Substanz als Humus, aus dem heraus dann ab und zu ein extravagantes Meisterwerk wachsen kann.
[Bis 15. Februar. Katalog: Otto Steidle. Land, Stadt, Haus. Hrsg. Winfried Nerdinger. Architekturmuseum der Technischen Universität München, 2003. 108 S., Euro 21.-.]
Szenen und Netzwerke
Die von den 68er Unruhen ausgelösten Gärungsprozesse, die bald darauf folgende Ölkrise und der damit verbundene Wachstumsschock sowie die Kritik an einem vor allem wirtschaftlichen Kriterien gehorchenden spekulativen Bauen führten in den siebziger Jahren an den Hochschulen und in Kreisen junger Architekten zu einer Verweigerungshaltung, welche die Lust am theoretischen Hinterfragen der Baukunst weckte.
Dieses Extrem wurde in den letzten zwei Dekaden abgelöst vom eher populär ausgerichteten Schaffen von «Stararchitekten», die vor allem auf den Erfolg schielten. Heute führt der verbreitete Wunsch nach spektakulären Bauwerken zusammen mit einem eingeladene Berühmtheiten favorisierenden Wettbewerbssystem dazu, dass sich junge Architekten kaum noch durchsetzen können. Gleichzeitig werden an den Hochschulen mehr Architektinnen und Architekten denn je ausgebildet. Diese wählen nun aber nicht mehr die Flucht in die praxiskritische Theorie, sondern in eine oft betont hedonistische Diskussionskultur. Den neusten Tendenzen dieser «Off- Architektur» spürt nun das jüngste Doppelheft der deutschen Architekturzeitschrift «Archplus» unter den hippen Titeln «Szenen» und «Netzwerke» nach. Im ersten Heft wird anhand von Beispielen aus Berlin, Hamburg, Köln, Leipzig, München und Stuttgart dargestellt, wie sich «lose Arbeitsgemeinschaften» bilden, aus denen durch die Öffnung der Büros, die mediale Vermittlung eines vermehrt prozessual ausgerichteten Entwurfs und die Einbeziehung des interessierten Publikums neue Szenen entstehen. Das zweite Heft präsentiert anschliessend Beispiele dieser «Netzwerkkultur», die «im Off beginnt (. . .) und sich durch die Abkehr von der Egomanie der Vätergeneration auszeichnet». Dabei werden Zusammenschlüsse wie das «raumlabor.berlin» oder das Office for Subversive Architecture (OSA), aber auch Kleinbauten wie das mobile Atelierhaus «Cocobello» oder das Jugendzentrum «Roter Drachen» in München vorgestellt sowie ein Blick auf die neue Zeitschrift «An Architektur» (NZZ 13. 8. 03) geworfen.
[«Archplus»: Off-Architektur 1 (Szenen) und 2 (Netzwerke). Nr. 166 und 167. Berlin, Oktober 2003. Pro Heft Euro 14.-.]
Architektonische Paradiese
Schauplatz Los Angeles
Schatten über zwei Meisterwerken der Moderne
Der Grossraum Los Angeles besitzt eine Vielzahl von Meisterwerken der Villenarchitektur. Doch während man von Frank Gehrys spektakulärer Disney Hall neue städtische Impulse erhofft, ziehen Schatten über zwei Ikonen der Moderne auf: Frank Lloyd Wrights Hollyhock House und Rudolf Schindlers Bungalow in West Hollywood.
Für seine gebauten Extravaganzen ist Los Angeles bekannt. So besitzt Downtown nicht nur bizarre Kinopaläste, sondern mit Public Library und City Hall zwei Art-déco-Wahrzeichen, auf die andere Städte stolz wären. Doch erst das von Richard Meier wie eine neue Alhambra auf den Hügeln von Brentwood errichtete Getty Center, die neue Kathedrale von Rafael Moneo, vor allem aber die wogende Stahlskulptur von Frank Gehrys Disney Hall konnten den Angelenos die Gewissheit geben, dass ihre Stadt nun auch architektonisch erwachsen ist. Dabei besitzt der Grossraum Los Angeles seit langem eine Vielzahl wegweisender Villen - vom Gamble House der Arts- and-Craft-Architekten Green and Green über die Bauten Irving Gills und Richard Neutras Lovell- Haus bis hin zu den Case Study Houses von Charles und Ray Eames oder Pierre Koenig. Die bedeutendste Wohnarchitektur der südkalifornischen Metropole aber ist das Hollyhock House - eine Mischung aus Villa, Heiligtum und Kulturbezirk. Diesen magischen, zwischen aztekischen, ostasiatischen und modernen Formen oszillierenden Baukomplex liess Aline Barnsdall, die Tochter eines Ölmagnaten aus Pennsylvanien, ab 1917 auf Olive Hill errichten - und zwar von keinem Geringeren als Frank Lloyd Wright.
Eine Akropolis der Kunst
Die Anlage, die ursprünglich neben der Villa und zwei ebenfalls realisierten Gästehäusern auch ein Theater, ein Kino sowie Schauspielerunterkünfte hätte umfassen sollen, markiert die Wende Wrights vom offenen Präriestil hin zu einer monumentalen, nach innen gerichteten Architektur. Da sich der Meister damals aber ganz auf das Imperial-Hotel-Projekt in Tokio konzentrierte, überwachte sein junger Mitarbeiter Rudolf Schindler die Entstehung dieser «Californian Romanza», die sich bald schon höchst pittoresk auf der Kuppe von Olive Hill erheben sollte. Doch nicht einmal die prachtvolle Aussicht über Stadt und Berge konnte es verhindern, dass Aline Barnsdall sich auf ihrem Musenhügel unwohl fühlte, das Kulturprojekt abbrach und 1927 das Hollyhock House samt weitläufiger Parkanlage der Stadt schenkte: mit der Auflage, daraus einen Kulturbezirk zu machen.
Das Geschenk war ebenso wertvoll wie der Unterhalt aufwendig. Zwar liess die Stadt ein formal Wrights kalifornischen Werken nachempfundenes Municipal Art Center mit Galerie und Theater errichten, vermietete aber mit dem Hollyhock House das eigentliche Juwel an kulturelle Institutionen, welche das von Wright und Schindler ausgestattete Innere veränderten. Mitte der siebziger und Ende der achtziger Jahre wurden dann Restaurierungsarbeiten durchgeführt, die Interieurs und Möbel zum Teil rekonstruiert und das Haus Besuchern geöffnet. Doch nach dem Northridge-Erdbeben schloss man das in Mitleidenschaft gezogene Haus; und der lange schon vernachlässigte Park wurde zum Refugium für Obdachlose. Erst im September 2001 machte sich die Stadt an die fast 20 Millionen Dollar teure Sanierung der Grünanlagen: Am Nordhang mit dem Traumblick auf die Hollywood Hills wurden wieder Olivenhaine und auf dem Hochplateau zwischen Hollyhock House und Municipal Art Gallery ein Pinienwäldchen angepflanzt.
Doch auch nach der Wiedereröffnung von Olive Hill im letzten Mai bleibt das Hollyhock House geschlossen. Zwar wurden die schlimmsten Erdbebenschäden saniert; das Gebäude aber zeigt sich weiterhin in einem verwitterten Zustand, der eines Baudenkmals von Weltrang nicht würdig ist. Wann die auf zusätzliche 20 Millionen Dollar geschätzte Restaurierung in Angriff genommen werden kann, bleibt ungewiss. Sicher hingegen ist, dass sich die architektonisch und kulturhistorisch bedeutende Anlage zusammen mit einem noch zu bauenden Aussichtsrestaurant sowie dem Museum, das man anspruchsvoll (und nicht nur mit der improvisiert wirkenden Hollyhock-House- Show) bespielen könnte, in ein erstrangiges Ausflugsziel verwandeln liesse.
Wie wichtig eine besucherfreundliche Infrastruktur ist, zeigt das Beispiel des Bungalows, den Rudolf Schindler 1922, während er auf Olive Hill arbeitete, in Fertigbauweise als Doppelhaus mit gemeinsamer Küche, aber individuellen Gartenhöfen in West Hollywood realisierte. Obwohl das einst wohl als Antithese zum gravitätischen Hollyhock House gedachte, mittlerweile etwas in die Jahre gekommene Experimentalhaus öffentlich zugänglich ist, wird es höchstens von Architekturliebhabern besucht, weil es ausser einem Bookshop und gelegentlichen Ausstellungen nur leere Räume bietet. Gleichwohl rückte das Schindler- Haus jüngst ins Rampenlicht. Dies, weil der Investor Richard Loring auf dem Nachbargrundstück an der einst von Villen gesäumten Kings Road ein grosses Apartmenthaus erstellen möchte. Zum Widerstand gegen das Vorhaben rief nun das Museum für angewandte Kunst in Wien (MAK) auf, welches sich seit 1995 am Betrieb des Schindler-Hauses beteiligt. MAK-Direktor Peter Noever sprach sogar davon, dass «Schindler's Paradise» zum isolierten Museumsstück degradiert werde, wenn man den Kontext zerstöre.
Ideenwettbewerb
Dieser Sicht kann man entgegenhalten, dass das Haus schon jetzt von Wohnblocks bedrängt und seine Nutzung längst museal sei. Dennoch trifft es zu, dass die stimmungsvollen Gartenhöfe durch ein aufdringliches Gegenüber ihren Charakter verlieren würden. Um dem Bauprojekt eine konstruktive Alternative entgegenzustellen, lud Noever zwanzig teils international bekannte, teils junge regionale Büros zu einem Ideenwettbewerb ein. Von Coop Himmelb(l)au über Zaha Hadid bis Eric Owen Moss wurden meist dekonstruktivistische Vorschläge unterbreitet, die - trotz architektonischer Qualität - das Schindler-Haus nicht weniger einengen würden. Die Projekte, von denen man am ehesten Peter Eisenmans Vision eines wie durch ein Erdbeben geborstenen und vom Terrain halbwegs verschluckten Flachbaus realisiert sehen möchte, werden zurzeit mittels Plänen, Computerbildern und Modellen im Schindler-Haus zur Diskussion gestellt. Auch wenn sich dadurch Loring kaum zum Umdenken bewegen lassen dürfte, so wird vom Engagement des MAK zumindest ein Katalog bleiben, der demnächst erscheinen soll.
[Die Ausstellung im Schindler-Haus dauert bis zum 7. Dezember. Angekündigter Katalog: Architectural Resistance: Contemporary Architects Face Schindler Today. Hrsg. Peter Noever. Verlag Hatje Cantz, Ostfildern 2003. 120 S., Fr. 42.-.]
Glitzernde Katakomben für kostbare Bücher
Mario Bottas unterirdischer Museumsneubau für die Fondation Bodmer in Cologny
Mit ihren kostbaren Handschriften und Erstausgaben von der altägyptischen Zeit bis ins 20. Jahrhundert gilt die Fondation Martin Bodmer in Cologny bei Genf als eine der bedeutendsten Privatbibliotheken überhaupt. Nun hat ihr der Tessiner Architekt Mario Botta ein Museum gebaut, das sich sorgsam in das bestehende Bauensemble einfügt.
Neue Kulturbauten sind in den vergangenen Jahren immer mehr zu Spielwiesen architektonischer Eitelkeiten geworden, die Institutionen und Baukünstlern gleichermassen als Visitenkarten dienen. Mit der Watari-um-Galerie in Tokio, dem MoMA in San Francisco oder dem Tinguely- Museum in Basel, aber auch mit einer stolzen Gruppe von Sakralbauten beteiligte sich Mario Botta tatkräftig an dieser Entwicklung. Doch gleichzeitig hat er immer wieder kleine, stille Werke ausgeführt, bei denen die Verführungskunst der Fassaden gegenüber dem Inhalt zurücktreten musste. Das Centre Dürrenmatt in Neuenburg oder die im Entstehen begriffene Architekturbibliothek von Werner Oechslin in Einsiedeln sind ebenso Beispiele dafür wie das neue Museum der Fondation Martin Bodmer in Cologny bei Genf, das heute eröffnet wird. Tritt man durch das schmiedeiserne Tor an der Route du Guignard in den kleinen, von zwei neubarocken Pavillons gerahmten Ehrenhof, so öffnet sich dem Auge eine fast mediterran anmutende, von Zypressen und Rebpergolen akzentuierte Sicht auf den Genfersee und die Kalkriffe der Jurakette. Erst auf den zweiten Blick nimmt man, geblendet von diesem klassischen Panorama, eine zeitgenössische Intervention wahr: einen mit feinen weissen und grauen Bändern aus Marmor und Granit gestreiften Bodenbelag, in dessen Mitte fünf Glasstelen eine Symmetrieachse bilden. Diese zum Fussboden gewordene «Botta-Fassade» ist zunächst das einzige sichtbare Zeichen des halbwegs unterirdisch angelegen Museumsneubaus.
Humanistisch geprägtes Sammeln
Schon vor Bottas Neubau nutzte die Biblioteca Bodmeriana einen etwas beengten Saal, der die Pavillons unterirdisch miteinander verband, für Ausstellungen. Diese Anlage hatte Martin Bodmer (1899-1971) nach dem Zweiten Weltkrieg für seine aus Zürich übergeführte Büchersammlung errichten lassen. Als Spross einer reichen Zürcher Industriellenfamilie war er schon als Gymnasiast in der Lage gewesen, Erstausgaben und bald auch kostbare Manuskripte zu erwerben. Nach und nach baute er seinen Besitz zu einer alle schriftlichen «Schöpfungen des menschlichen Geistes» einschliessenden Bibliothek der Weltliteratur aus. Dabei war er sich wohl bewusst, «dass die Sammlung stets ein Fragment bleiben» musste. Deswegen bemühte er sich um eine «Auswahl nach Autoren, Texten, Sprachen, Ausgaben», mit der er «das Allgemeingültige im Typischen» aufzuzeigen suchte.
Im Zusammenhang mit seiner 1939 aufgenommenen kulturpolitischen Tätigkeit für das IKRK, dessen Vizepräsident er bald werden sollte, liess er sich in Genf nieder und erwarb auf den Rebhügeln von Cologny ein prachtvolles Anwesen. An dessen äusserstem Ende, beim alten Dorfkern von Cologny, bewahrte er in den neu errichteten Pavillons seine museale Bibliothek auf, die von ägyptischen Totenbüchern über die älteste bekannte Abschrift des Johannesevangeliums, persische Manuskripte, wissenschaftliche Abhandlungen, musikalische Autographen und ungezählte Inkunabeln bis hin zu Kunstwerken seine stark humanistisch geprägte Vorstellung von Literatur in über 150 000 Objekten dokumentiert. Dass deren Ausrichtung auf die fünf Pfeiler Bibel, Homer, Dante, Shakespeare und Goethe stark von der grossbürgerlichen Kultur Bodmers geprägt war, verleiht dieser einen entschieden abendländischen Charakter.
Botta statt Michelangelo
Die kurz nach Bodmers Tod im März 1971 in eine Stiftung eingebrachte Bibliothek genoss in den letzten dreissig Jahren nicht nur in Gelehrtenkreisen einen ausgezeichneten Ruf. Mit Publikationen und Ausstellungen versuchte sie auch ein breiteres Publikum zu erreichen. Dabei war es ihrem jetzigen Direktor, Martin Bircher, seit je klar, dass die Fondation Bodmer nur mit einem den heutigen Ansprüchen genügenden Museum, das permanent seine Highlights präsentieren sowie Wechselausstellungen veranstalten kann, im gegenwärtigen Kulturbetrieb zu bestehen vermag. Deshalb nahm die Fondation 1998 Kontakt mit Botta auf. Der im Jahr darauf erfolgte Verkauf einer einst als italienische Arbeit für wenig Geld in die Sammlung gelangten Zeichnung, die im Rahmen der Wiener Vittoria-Colonna-Ausstellung vor nicht allzu langer Zeit als Michelangelos «Christus und die Samariterin» erkannt worden war, erlaubte dann weitestgehend die Finanzierung des Museumsneubaus, der inklusive Innenausbau auf elf Millionen Franken zu stehen kam.
Mit einer chirurgisch präzisen Intervention schuf Botta einen neuen Raum in der Genfer Stadtlandschaft, der nicht nur zum Wallfahrtsort für Bibliophile, sondern - dank seiner schönen Lage - auch zu einem beliebten Ausflugsziel werden könnte. Die steinerne Esplanade mit den symmetrisch angeordneten, auf Bodmers fünf Pfeiler der Literatur verweisenden Glasstelen der Oberlichter saugt die Besucher förmlich in die Tiefe des Raums zwischen den Pavillons, wo zwei gekurvte Treppen sowie ein in Beton und Glas gehaltener Liftturm hinunterführen in den tiefer gelegenen Eingangshof. Schiessschartenartige Öffnungen in der alten Stützmauer, die den Blick freigeben auf die Dorfstrasse, bilden mit darauf angebrachten Sentenzen Bodmers den Auftakt zum Ausstellungsparcours. Angelegt ist er als Weg der Menschheitsgeschichte, die in die Urzeit - an die im Foyer Versteinerungen erinnern - zurückreicht, aber erst eigentlich mit der Erfindung der Schrift einsetzt. Davon zeugen Hieroglyphen sowie die gleichsam als Bewacher des Zugangs zu den Ausstellungsräumen placierte Kalksteinskulptur eines ägyptischen Schreibers.
Unterirdischer Literaturparcours
Die beiden zusammen rund 750 Quadratmeter grossen Schauräume hat Botta so übereinander angeordnet, dass dank einem Schlitz im Fussboden des oberen, auf der Höhe des abgesenkten Eingangshofs gelegenen Saales das seitlich und durch Oberlichter einfallende Tageslicht hinunter bis in den zweiten Saal gelangt. Beide Säle sind nachtschwarz gehalten - vom Buchenparkett über die glänzenden Stucco-lucido-Wände bis hin zu den ebenfalls von Botta entworfenen Vitrinen - und zudem von kleinen Spots beleuchtet, so dass sich der Eindruck von glitzernden Katakomben einstellt. Die ganz gezielt auf eine effektvolle Präsentation der Schriftstücke und Kunstwerke ausgerichtete Inszenierung vermittelt eine angenehme, mitunter fast spirituelle Atmosphäre, in der sich leicht ein Dialog mit den Exponaten entspinnen kann. Botta ist das seltene Kunststück einer unterirdischen Raumsequenz gelungen, in der man sich kaum unter der Erde und nie in den lastenden Tiefen eines Luftschutzbunkers fühlt.
Der Ausstellungsparcours führt hier zunächst vorbei an Zeugnissen der frühen Hochkulturen, an antiken Schriftstücken, illuminierten mittelalterlichen Handschriften und Kostbarkeiten der Renaissance - darunter das berühmte Dante-Porträt von Sandro Botticelli - zu den Reichtümern des Orients und Asiens. Eine Etage tiefer locken dann Inkunabeln der Klassik Englands, Frankreichs und Spaniens, Manuskripte und Aquarelle der Goethezeit (sowie ein Porträt des jugendlichen Erzherzogs Joseph von Liotard), gesellschaftliche und politische Dokumente, wissenschaftliche Publikationen von der Antike bis Einstein und literarische, aber auch künstlerische Äusserungen von der Romantik bis zur Moderne.
Mit der nun permanent zugänglichen Präsentation exemplarischer Stücke der Weltliteratur, die demnächst durch Wechselausstellungen mit Exponaten aus eigenen Beständen erweitert werden soll, wurde eine Grundlage geschaffen, auf der sich die Bodmeriana neu positionieren kann. Ankäufe und Donationen sollen die Sammlung weiterhin lebendig halten. So konnten jüngst die Korrespondenz zwischen Rilke und Baladine Klossowska, die von Proust im Frühjahr 1913 bis hin zum Titel radikal redigierten Druckfahnen des ersten Bandes der «Recherche» sowie das in Genf entstandene Manuskript der Novelle «El sur» von Jorge Luis Borges erworben und gewichtige Schenkungen entgegengenommen werden. Da bleibt nur zu hoffen, dass künftig die finanziellen Mittel zum Betrieb der Museumsbibliothek vermehrt auch von privater Seite fliessen werden, damit die Fondation Bodmer noch stärker zum Ort des interkulturellen Dialogs im internationalen Genf werden kann.
[ Tage der offenen Tür: Samstag und Sonntag, 14-18 Uhr, anschliessend täglich ausser montags 14-18 Uhr. - Katalog: Martin Bircher: Fondation Martin Bodmer. Bibliothek und Museum. Eine Einführung. Hrsg. Fondation Bodmer, Cologny 2003. 111 S., Fr. 15.-. ]
Wogende Wände
Frank Gehrys fulminantes Wahrzeichen für Los Angeles
Vor sechzehn Jahren wurde die Walt Disney Concert Hall, das neue Haus des Los Angeles Philharmonic, von Frank Gehry entworfen. Nach einer turbulenten Baugeschichte und vielen konzeptuellen Änderungen konnte das spektakuläre Gebäude vor zwei Wochen eröffnet werden. Mit ihm erhält Los Angeles ein neues Wahrzeichen.
Der Anblick ist betörend: Matt glänzende Wandflächen aus Edelstahl wogen über einem Sockel aus hellem Stein, unter dem sich - wie in downtown Los Angeles nicht anders zu erwarten - eine vielgeschossige Tiefgarage verbirgt. Kaum vollendet, erweist sich der fulminante Bau der Walt Disney Concert Hall auch schon als neustes Wahrzeichen einer Stadt, die aus dem Auto erfahren werden will. Doch wird eine solche Wahrnehmung Gehrys Geniestreich nur bedingt gerecht. Erst dem Flaneur erschliesst sich nämlich der Zauber dieser gebauten Sinfonie, dieser kinetischen Riesenskulptur, die (ähnlich wie die Stadt Los Angeles selbst) ihre Erscheinung stets wandelt und doch gleich bleibt. Auch wenn das neue Haus des L. A. Philharmonic kaum die Grossartigkeit des ebenfalls von Frank Gehry entworfenen Guggenheim-Museums in Bilbao erreicht, so übertrifft es dieses doch an Schönheit und Verführungskraft. Schwankend zwischen Hochkunst und Hollywood-Kitsch, verkörpert das Konzerthaus wie kein anderes Gebäude den auf Bewegung, Effekt und Show basierenden Genius loci der südkalifornischen Riesenstadt. Es offenbart zudem, dass Gehry - wie auch die ihm zurzeit im benachbarten MOCA gewidmete Schau zeigt - seit Bilbao im Grunde den immer gleichen Bau verwirklicht: mit solcher Hartnäckigkeit, dass er aus den rein künstlerischen Sphären, in denen er sich zu drehen scheint, kaum mehr auf den aktuellen Architekturdiskurs einwirken kann.
Das Wunder von Los Angeles
Als Gehry 1991 auf der fünften Architekturbiennale von Venedig die neusten Entwürfe der Disney Hall vorstellte, hielt man das als gigantische steinerne Blüte konzipierte Projekt für eine kalifornische Verrücktheit. Doch gegenüber dem plumpen, eher an ein Shopping-Center denn an einen Musentempel gemahnenden Vorschlag, welcher Gehry in dem 1987 (dank einer 50-Millionen-Dollar-Spende von Lillian Disney) lancierten Wettbewerb über Böhm, Hollein und Stirling hatte triumphieren lassen, bedeutete es einen grossen Fortschritt. Der lässt sich mit der späten Selbstfindung des heute 74-jährigen Architekten erklären: Seit dem «dekonstruktivistischen» Umbau seines Wohnhauses in Santa Monica vor dreissig Jahren hatte sich Gehry nämlich auf einer Gratwanderung zwischen Architektur, Kunst und Bricolage befunden. Erst der Beizug des Computerprogramms CATIA im Jahre 1991 ermöglichte es ihm, seine Visionen - die sich in ungezählten Skizzen, zerknüllten Papieren und Materialcollagen niedergeschlagen hatten - in Bauten umzusetzen. Als dann die Auswirkungen der Rezession, der Rodney-King-Unruhen und des Northridge- Erdbebens das Disney-Projekt im Jahre 1994 zum Stillstand brachten, nutzte Gehry die Atempause, um über dessen Erscheinungsbild nachzudenken. So fand er - zeitgleich mit dem 1991-1997 verwirklichten Guggenheim Bilbao - von einer steinernen Hülle zu jenem viel leichter, selbstverständlicher und eleganter wirkenden Schuppenkleid aus matt schimmerndem Metall, das seither zu seinem Markenzeichen geworden ist.
Gehry, ein Meister des prozesshaft-intuitiven Schaffens, behielt von dem in Venedig ausgestellten Entwurf nur den Konzertsaal bei: eine mit dem Akustiker Yasuhisa Toyota erarbeitete Kreuzung der klassischen Schuhschachtel mit Hans Scharouns Berliner Weinbergprinzip. An den leicht eingeknickten quaderförmigen Saal fügte Gehry in der Art des synthetischen Kubismus das Foyer, die gipsern flammende Grotte des Founders Room sowie Arbeitsräume an und umspielte das Ganze mit gewaltigen Girlanden aus Edelstahl, welche nun die im Grunde einfache Disney Hall hinter einer aufsehenerregenden kubosurrealistischen Kulisse verbergen. Diese nimmt man bald als silberne Seerose oder als Segelschiff in der endlos flutenden Stadtlandschaft wahr, bald aber auch als Stadtkrone, die im harten Mittagslicht weiss gleisst und bleigrau schimmert, um dann bei Sonnenuntergang langsam zu verglühen. Auf den Höhen von Bunker Hill darf dieses architektonische Kunstwerk nun als verspieltes Symbol der Stadtwerdung und der kulturellen Reifung von «La-La-Land» in Erscheinung treten.
Eine hölzerne Barke
Eine Freitreppe weist hinauf zur Plattform, auf der sich Gehrys 274 Millionen Dollar teure Bauskulptur erhebt. Von hier betritt der Besucher zwischen stählernen Wogen und durch eine nicht ganz stimmige Glasfassade das Foyer, sofern er nicht über die Rolltreppen direkt aus der Tiefgarage ankommt. Der weisse, sich über mehrere Ebenen ausdehnende Eingangsbereich wird von baumartigen Holzgebilden akzentuiert, in deren Ästen sich die tragende Struktur, die Klimaanlage sowie Lichtquellen verbergen. Einzig die sich zur Stadt hin öffnenden Glaswände erlauben einen Einblick in die Konstruktion dieses futuristischen Gebäudes, das wie aus einem Stück Metall gefräst erscheint, dessen eisernes Skelett letztlich aber auf den Erkenntnissen des Eiffelturms aufbaut und formal einer Berg-und-Tal-Bahn gleicht. Aus dem Foyer, das (im Gegensatz zur genialen Eingangshalle von Bilbao) etwas gar unruhig und zerfahren wirkt, gelangt man in den Konzertsaal - eine in ihrer Klarheit ebenso grossartige wie überzeugende Raumschöpfung. Trotz Einfachheit und strenger Symmetrie wirkt der 2265 Plätze anbietende Saal weniger monumental als fast schon intim. Bei Tag wird er von natürlichem Licht erhellt, am Abend aber verleiht ihm das Holz der terrassenförmigen Weinbergbestuhlung und der baldachinartigen Decke eine ruhige Atmosphäre, welche von der wie eine goldene Monstranz strahlenden Orgel mit hollywoodesker Theatralik ins Quasi-Sakrale überhöht wird.
Der Raum, den Gehry gerne mit einer hölzernen Barke vergleicht, zählt nicht nur zu den stimmungsvollsten Musiksälen der jüngsten Zeit. Mit seinem «Fülle, Wärme und direkt einwirkende Kraft» ausstrahlenden Klang (NZZ 28. 10. 03) vermag er auch die Musikkritiker zu überzeugen. Dürfte der Konzertsaal eher eine musikalisch gebildete Elite ansprechen, so begeistert die äussere, entfernt an das Opernhaus von Sydney erinnernde Hülle alle. Als leicht zugängliche Pop- Architektur, die von den Medien unisono zum Meisterwerk erklärt wurde, soll die Disney Hall auch den Zaungästen aus ärmeren Stadtteilen die Schwellenangst nehmen. Einladend gestaltet wurden deshalb gerade auch die Gartenterrassen (mit dem 300-plätzigen Freilufttheater), die das Konzertgebäude auf zwei Seiten umfassen und es vom fast schon schweizerisch einfachen Verwaltungstrakt trennen. In diesem so gar nicht an Gehry erinnernden Gebäude befinden sich auch das experimentelle Redcat Theater und eine Galerie, die nun zusammen mit Café, Restaurant und Music- Shop die Kulturmeile der Grand Avenue weiter beleben dürften.
Stadtwerdung einer Metropole
Die Disney Hall als Symbol urbanistischer Erneuerung
Amerikas Städte leben schnell. Galt downtown Los Angeles - die von öden Parkplatzarealen geprägte Stadtlandschaft zwischen dem vor 222 Jahren gegründeten Pueblo und den Türmen des Geschäftsviertels - unlängst noch als «City of Fear», so erlebt das Herz der südkalifornischen Metropole gegenwärtig eine wunderbare Transformation: Ein mexikanisch bunter Broadway, ein geschäftiger Fashion District, betriebsame Markthallen, restaurierte Baudenkmäler, noble Wohnhochhäuser und prachtvolle Sakral- und Kulturbauten machen Downtown zum neusten In-Bezirk der Riesenstadt, in dem man - laut «San Francisco Chronicle» - die «Bohemian Rhapsody» eines aufkeimenden Nachtlebens von der Roof Bar des hippen Standard-Hotels bis hin zu Little Pedro's Blue Bongo Bar vernehmen kann.
Die Stadtwerdung der auch schon «Kapitale der Dritten Welt» genannten Megalopolis ist das Resultat vieler Häutungen und Metamorphosen. Als ihr strahlendes Symbol darf Frank Gehrys soeben eröffnete Disney Hall bezeichnet werden. Denn trotz schwindelerregender Erscheinung ist dieses weltweit beachtete Monument ein Zeichen der Verdichtung in einer bis anhin von zentrifugalen Kräften und städtebaulichem Wildwuchs geprägten Stadt, die nun durch Schaffung von Wohnbauten, Boulevards und Grünanlagen neue Lebensräume erhalten soll. Angesichts der Aufbruchstimmung geht leicht vergessen, dass Downtown in den Roaring Twenties mit bombastischen Premierenkinos und Theatern bereits einmal das pulsierende Herz der Stadt war. Doch dann läutete der Siegeszug des Autos den Niedergang der Innenstadt ein. Nach dem Wegzug der Oberschicht verlotterten die viktorianischen Herrensitze auf Bunker Hill, dem zentral gelegenen Villenhügel, so dass die mächtige Community Redevelopment Agency (CRA) in den zukunftstrunkenen fünfziger Jahren das Viertel niederwalzen liess, um Platz zu schaffen für die Glitzertürme einer bald schon weithin sichtbaren Skyline.
Den Auftakt zur Neugestaltung von Bunker Hill machte das Hochhaus der Wasserwerke, das seither zusammen mit dem 27-stöckigen Art- déco-Turm der City Hall die Eckpunkte der Verwaltungsachse des Civic Center markiert. Quer dazu wurde entlang der auf dem abgeflachten Hügel verlaufenden Grand Avenue die dreiteilige Akropolis des Music Center mit der 1964 eröffneten Dorothy Chandler Hall realisiert. Schnell galt dieser auf Autofahrer ausgerichtete und von Brachen umgebene Verwaltungs- und Kulturbezirk abends und an Wochenenden als unsicher. Deshalb lancierte die CRA 1980 eine urbanistische Aufwertung der Grand Avenue zwischen dem Music Center und dem sich weiter südlich um die Central Library formierenden Finanzdistrikt. Doch statt auf den vom Büro Maguire & Thomas vorgelegten Entwurf einer kleinteiligen Bebauung durch renommierte Architekten wie Gehry, Legorreta, Moore und Pelli einzugehen, entschied sich die CRA für das Projekt von Fairview & Erickson. Aus diesem gingen schliesslich die von zwei Hochhäusern bewachte California Plaza und - als kleiner städtebaulicher Glücksfall - Arata Isozakis postmodernes Meisterwerk des Museum of Contemporary Art (MOCA) hervor.
Der California Plaza gegenüber bilden seit 1984 die scharfkantigen Wolkenkratzer des Wells Fargo Center von SOM das Tor zur Hope Street. Diese gefällt sich auf der Länge von zwei Strassenblöcken mit ihrem beachtlichen Skulpturenschmuck und dem versunkenen Farngarten der Orchard Plaza schon heute als eleganter (aber nur wenig begangener) Boulevard, welcher zu den von Lawrence Halprin, dem Altmeister der US- Landschaftsarchitektur, als mediterrane Treppenanlage konzipierten Bunker Hill Steps führt. Sie verbinden I. M. Peis 330 Meter hohen Library Tower mit dem tiefer gelegenen Art-déco-Juwel der 1993 renovierten und erweiterten Central Library zu einem modernen Ensemble im Geist der City Beautiful, das ostwärts bis zum Biltmore Hotel reicht und seine Fühler über den 1994 von Ricardo Legorreta umgeformten Pershing Square fast bis zum Broadway hin ausstreckt.
Die zunehmende Verdichtung des Finanzdistrikts machte mit chronisch überlasteten Freeways und astronomischen Parkplatzgebühren die Grenzen des Privatverkehrs deutlich, was in den frühen neunziger Jahren zum Bau der Red Line Metro führte. Gleichzeitig förderte die Stadt den Ausbau der Grand Avenue zur Kulturmeile. Diese schien nach der Eröffnung des MOCA und der Lancierung des Wettbewerbs für die Walt Disney Concert Hall im Jahre 1987 zum Greifen nahe, bevor Rezession, Rassenunruhen und das Northridge-Erdbeben zu Verzögerungen führten. Erst die Wiederaufnahme der vorübergehend eingestellten Bauarbeiten an der Disney Hall, die Vollendung der Colburne School of the Performing Arts und der Wettbewerb für eine neue Kathedrale am Nordende der Avenue verliehen dem Projekt Kulturmeile wieder Aktualität. So plante man im Hinblick auf die Einweihung der prächtigen, von Rafael Moneo entworfenen Kathedrale vor einem Jahr und die Eröffnung der Disney Hall eine Umgestaltung der Grand Avenue zur palmengesäumten und mit Springbrunnen belebten Flanierstrasse, doch wird diese schöne Vision nun nur als Fragment verwirklicht.
Dafür hegt das Grand Avenue Committee Pläne zur Investition von mehr als einer Milliarde Dollar in Büro- und Wohnhochhäuser mit Restaurants, Kinos und Geschäften, die auf die vier östlich und südlich an die Disney Hall anschliessenden, seit bald fünfzig Jahren als Autoparking genutzten Brachflächen zu stehen kommen sollen. Die Stadt ihrerseits verfolgt Ideen weiter, die unterschiedlich genutzten Areale zwischen den Bauten des Civic Center in einen Stadtpark umzuformen. Von der fortschreitenden Reurbanisierung zeugen aber auch die 8000 Lofts und Apartments, die bis 2007 in Neubauten oder umgenutzten Denkmalobjekten entstehen und so den Wohnungsbestand in dem gut 1,5 Quadratkilometer grossen Geviert rund um Grand Avenue und Broadway auf 23 000 Einheiten erhöhen sollen. Schon wird - mit Blick auf Bilbao - vom «L. A. effect» gesprochen. Und in der Tat haben die Kulturbauten an der Grand Avenue, vor allem aber die Disney Hall bereits ein neues Bewusstsein von Urbanität aufkommen lassen.
Glasschrein mit Gründach
Die wunderbare Transformation des Aargauer Kunsthauses durch Herzog & de Meuron
Das Aargauer Kunsthaus besitzt eine hervorragende Sammlung von Schweizer Kunst der letzten 200 Jahre. Dieser verhelfen nun die Basler Architekten Herzog & de Meuron mit ihrem Um- und Erweiterungsbau zu einem stolzen Auftritt, der Aarau in der Museumslandschaft ganz neu positioniert. Am Samstag findet die Eröffnung statt.
Unspektakulär ist das Wort, das einem einfällt, wenn man sich von der Altstadt her dem umgebauten Aargauer Kunsthaus in Aarau nähert. Unspektakulär deswegen, weil man den Eingriff des international gefeierten Architektenteams Herzog & de Meuron zunächst kaum wahrnimmt. Je näher man dann aber dem zurückhaltend transformierten Musentempel kommt, desto selbstbewusster weiss sich dieser im früher doch so desolaten Umfeld des zur lärmigen Verkehrsdrehscheibe verkommenen Aargauer Platzes zu behaupten. Das alte, 1959 vom lokalen Architekturbüro Loepfe, Hänni und Hänggli vollendete Kunsthaus, welches ganz klar vom Zürcher Bührletrakt und vom Kunsthaus Glarus beeinflusst wurde, wirkt unverändert. Nur der einstige Vorplatz, der sich etwas unmotiviert zwischen dem stimmungsvollen klassizistischen Ensemble von Regierungs- und Grossratsgebäude, dem höher gelegenen Rathauspark und dem Kunsthaus weitete, ist einem flachen Anbau gewichen. Dieser besteht aus einer langen, nachts sich in einen Leuchtkörper verwandelnden Fensterfront, gebildet aus dem weiter gezogenen gläsernen Sockel des Altbaus und einem windschiefen Dach, welches in der milden Oktobersonne grasgrün leuchtet - fast wie die nahen Jurahöhen.
Dialog mit Stadt und Altbau
Dieser pavillonartig leichte Glasschrein mit Gründach öffnet sich nun zur Freifläche vor dem Regierungsgebäude mit einer an das Basler Schaulager erinnernden trichterförmigen Fassadeneinkerbung. Hier ist neu der Museumseingang. Doch unmittelbar daneben zieht einen die zur Lobby hin giftgrün verglaste Wendeltreppe sogartig hinauf. Oben angelangt, findet man sich staunend in einer moosbewachsenen Felslandschaft aus Tuffstein wieder. Diese dehnt sich - eingeengt von Grossratsgebäude und Kantonsbibliothek - bis hinauf zum Rathausgarten und bis an die Mauern des alten Kunsthauses, wo man hinunterblicken kann in ein rundum verglastes Atrium, das Licht in die Parterresäle des Museums fliessen lässt.
Was man leichthin als subjektive Spielerei kritisieren könnte, erweist sich als das Resultat einer sorgfältigen Analyse der städtebaulichen Anlage und des architektonischen Kontextes. Im 1996 ausgeschriebenen Wettbewerb wurde ein unterirdischer Erweiterungsbau gewünscht. Doch Herzog & de Meuron wollten die Chance zu einer urbanistischen Lösung, die das Kunsthaus stärker an die Stadt anbindet, nicht ungenutzt lassen. Eine bauliche Verdichtung mittels eines transparenten, auch räumlich durchlässigen Annexes lautete ihr Vorschlag. Dieses eingeschossige Gebäude schoben sie gleichsam unter den ehemaligen Museumsplatz, der so auf die Höhe der Terrasse vor dem Grossratsgebäude angehoben wurde, wobei die Glaswände optisch als «Stützmauern» der erhöhten Platzanlage dienen.
Die doppelte Lesbarkeit der Intervention als gartenarchitektonisches Element und als räumliche Erweiterung des alten Kunsthauses zieht sich im Innern des Gebäudes fort. Das sich hinter der eingekerbten Nordostecke weitende, ganz in weissem Stucco lustro gehaltene Foyer wirkt bald wie die abstrakte, von einer bunt wuchernden Pflanzenphantasie des Künstlerpaares Steiner und Lenzlinger belebte Version einer grottenartigen Sala terrena, wie man sie etwa vom barocken Palazzo Borromeo auf der Isola Bella kennt, bald wie eine begehbare neokubistische Raumskulptur in der Tradition von Oskar Schlemmers Merzbau. Diese Rauminstallation, welche die Wendeltreppe des Altbaus monumental überhöht, wird als elegantes Scharnier zwischen Stadt und Museum zur Bühne des urbanen Lebens und weckt Erinnerungen an Jacques Herzogs frühe künstlerische Tätigkeit. Gleichzeitig dient dieser Kunstraum als Eingang, Bibliothek, vor allem aber als Café, durch dessen Fenster man dem städtischen Treiben zuschauen kann. Hier darf die beschauliche Hauptstadt des Kantons Aargau für einige Momente zur Metropole werden.
Räume für die Kunst
Während die neue Wendeltreppe - nun im Innern des Hauses - vom Eingang hinunter in die von Thomas und Martha Huber gestaltete Bibliothek und zu den Garderoben führt, gelangt man in der Tiefe des Foyers in die eigentlichen Schauräume. Wer befürchtet, dass sich dort das Spiel von Architektur und Kunst zuungunsten der Exponate fortsetzt, wird eines Besseren belehrt: Über die alte Wendeltreppe gelangt man in die sanft renovierten Oberlichtsäle des Altbaus. Der Schneckenbewegung des Aufstiegs antwortet hier ein Steinkreis von Richard Long, um den sich die Hochgebirgsdarstellungen von Caspar Wolf zu einer der suggestivsten Konstellationen der Eröffnungsschau gruppieren. Diese konzentriert sich unter dem Titel «Neue Räume» ganz auf die Sammlungsbestände und will mit rund 500 Meisterwerken von Johann Heinrich Füssli bis Marc- Antoine Fehr den Anspruch des Kunsthauses als heimliche Nationalgalerie für Schweizer Kunst unterstreichen. Noch nie konnten die Aarauer Bestände in dieser Breite präsentiert werden. Vielmehr dämmerten sie im früher vor allem als Kunsthalle bespielten Haus meist in den Depots vor sich hin. Das wird sich nun ändern, bleiben doch die Oberlichtsäle und die Räume im Untergeschoss künftig für die Sammlung reserviert, während das Parterre weiterhin Wechselausstellungen vorbehalten werden soll.
Die gegenwärtige Schau bildet über weite Strecken einen - von Franzosen wie Corot, Courbet oder Gauguin, von deutschen Expressionisten und internationalen Gegenwartskünstlern gefassten - Höhenweg der Schweizer Kunst, auf dem man allerdings einige Meister aus dem Westen und Süden des Landes vermisst. Werke von Anker, Böcklin, Koller und Zünd erzählen von den sammlungspolitischen Anfängen des 1860 gegründeten Aargauer Kunstvereins, während sich Hodler, Giacometti und Amiet zu einem ersten leuchtenden Gipfel vereinigen. Im Untergeschoss, in das neu über die Wendeltreppe Tageslicht vordringt, begegnet man der zwischen Kubismus und Abstraktion oszillierenden Kunst der Zwischenkriegszeit, einer schönen, erst jüngst zusammengekommenen Gruppe der Zürcher Konkreten und der mit gestisch-abstrakten Werken in einen Dialog gebrachten Eisenplastik. Die in den ehemaligen Depots untergebrachten Grafikräume überraschen mit einem noch nie gezeigten Legat von Werken Sophie Taeuber-Arps, während in den neu hinzugekommenen Sälen fotorealistische Malerei, expressive Skulptur und Objektkunst bis hin zu John Armleder zu sehen sind. Die vom Altbau übernommenen Asphaltböden verunklären den Übergang von Alt zu Neu, zumal auf dem unterirdischen Rundgang die Orientierung nicht ganz einfach ist. Da hilft auch die aufdringliche Neonbeleuchtung wenig. Schade, dass es nicht möglich war, durch den Boden des Atriums Tageslicht in diese Tiefen zu führen.
Umso heiterer präsentieren sich dagegen die Säle im Erdgeschoss, in denen das Seitenlicht des ehemaligen grossen Parterresaals dominiert. Dass dieser in transformierter Form weiterlebt, zeigt sich in allen vier um das Atrium angeordneten Räumen, vor allem aber in jenem Saal, der noch immer mit dem alten Terrazzoboden ausgestattet ist. Hier, wo sich die zeitgenössische Kunst ins beste Licht setzen darf, sucht man vergeblich nach neuen Medien und dunklen Videoboxen. Vielmehr triumphiert für einmal die zeitgenössische Malerei - von Helmut Federle über Rudolf de Crignis, Renée Levi und Adrian Schiess bis hin zu Joseph Marioni und Marcia Hafif. Deren Werke finden in den leuchtenden Sälen zu einer Aussagedichte, wie man sie ausserhalb der Ateliers kaum je erleben kann. - Herzog & de Meuron ist in Zusammenarbeit mit Remy Zaugg ein Amalgam aus Bestehendem und Neuem gelungen, das sich gleichermassen selbstbewusst und bescheiden, skulptural und urbanistisch, spektakulär und kunstgerecht gibt. Obwohl die 17 Millionen Franken teure Transformation verglichen etwa mit der Tate Modern in London klein erscheint, hat Aarau einen stolzen Museumsbau erhalten, der beides bietet: einen Ort für stille, quasisakrale Begegnungen mit der Kunst und ein architektonisches Ereignis.
Säulenhallen an der Newa
Die Architektur des Klassizismus in St. Petersburg
Seit der Tessiner Domenico Trezzini die ersten Wahrzeichen von St. Petersburg schuf, arbeiteten ungezählte Architekten und Dekorateure aus der italienischsprachigen Welt in der vor 300 Jahren gegründeten Metropole. Eine Doppelausstellung in Lugano und Mendrisio beleuchtet den bedeutenden Kulturaustausch zur Zeit des Klassizismus.
Am Ende der Herrschaft von Zar Alexander I. galt das damals eine halbe Million Einwohner zählende St. Petersburg als eine der prächtigsten Metropolen Europas. Dabei war die 122 Jahre zuvor von Peter dem Grossen im sumpfigen Newa-Delta gegründete Stadt in ihrer Anfangszeit nicht viel mehr gewesen als eine Ansammlung von Holzhütten, überragt von der Peter-und- Paul-Kathedrale, dem Meisterwerk des Tessiner Architekten Domenico Trezzini. Unter Elisabeth I. realisierte dann Bartolomeo Rastrelli Barockjuwelen wie das Smolny-Kloster, den Winterpalast oder die Anlage von Zarskoje Selo. Doch zur ersten wirklich modernen Stadt des Kontinents wurde Russlands «Fenster nach Europa» in den 63 Jahren zwischen der Thronbesteigung Katharinas II. (1762) und dem Tod ihres Enkels Alexander I. im Jahre 1825. Aufschwung und Neuerung manifestierten sich im Stadtbild in Form antikisierender Prachtsbauten, deren Fassaden und Interieurs die archäologischen Neuentdeckungen sowie die architektonischen und antiquarischen Erkenntnisse von Palladio bis Winckelmann spiegelten und St. Petersburg den Ruf eines neuen Rom eintrugen.
Der Traum von Italien
Zu Beginn ihrer bis 1796 dauernden Herrschaft machte sich die kunstsinnige, mit Voltaire und Diderot korrespondierende Katharina II. stark für einen aufgeklärten Absolutismus, dessen adäquates architektonisches Kleid sie im neu aufkeimenden, zunächst noch französisch geprägten Klassizismus sah. Ihr wachsendes Interesse an Antike und Italien befriedigten aus dem Ausland herbeigerufene oder an der Petersburger Akademie und anschliessend in Rom ausgebildete Architekten. Mit Neubauten wie der Akademie der Wissenschaften oder der Assignatenbank war Giacomo Quarenghi Mitbegründer des sogenannt strikten Klassizismus. Dieser erlebte seinen Höhepunkt in Potemkins Taurischem Palais von Iwan Starow sowie im Palast von Pawlowsk, den der von Palladio und Robert Adam beeinflusste Schotte Charles Cameron für Katharinas Sohn Paul I. errichtete. Einmal in Amt und Würde, gab dieser bei Vincenzo Brenna das burgartige, in wuchtigen Neorenaissanceformen gehaltene Michaels- Schloss in Auftrag, den wohl eigenwilligsten italianisierenden Grossbau der Epoche.
Schon bald nach der Thronbesteigung Alexanders I. im Jahre 1801 kristallisierte sich ein stark von der Vorstellung altrömischer Monumentalarchitektur geprägter Stil heraus. Die ersten Meisterwerke des neuen Jahrhunderts, die tempelartige Börse von Thomas de Thomon und Adrian Sacharows durch triumphbogenartige Portale akzentuierte Admiralität, zeugen allerdings auch von einem starken Einfluss der französischen Revolutionsarchitektur, während Andrei Woronichin mit der Kasaner Kathedrale und ihren urbanistisch raffiniert auf den Newski-Prospekt ausgerichteten Kolonnaden eine antikische Antwort auf den Petersdom fand. Alexanders Wille zur imperialen Umgestaltung der Stadt ermöglichte die von zeichenhaften Grossbauten einzigartig gefassten Stadträume von Carlo Rossi, dem genialen Sohn des vermutlich aus Lugano stammenden Giovanni Rossi und einer Tänzerin. Rossis Lösungen am Schlossplatz, beim Alexandratheater oder beim Michael-Palais, dem heutigen Russischen Museum, machten St. Petersburg zum Laboratorium eines frühmodernen Städtebaus, dem in der Neuen Welt in Ansätzen L'Enfants Washington antwortete.
Gelehrte Inszenierungen
Diese ebenso komplexe wie glorreiche Epoche der europäischen Architekturgeschichte versucht nun eine zur Feier des 300. Gründungsjahrs von St. Petersburg im Museo Cantonale d'Arte in Lugano sowie im Archivio del Moderno in Mendrisio veranstaltete Doppelausstellung auf italienische und römisch-antike Wurzeln zurückzuführen. Damit erhellt die anschliessend in die Eremitage weiterreisende Veranstaltung allerdings nur eine (wenn auch die bedeutendste) Quelle, aus der der Petersburger Klassizismus schöpfte. Als nämlich Katharina II. den neuen Stil zum Abbild des aufgeklärten Absolutismus deklarierte, stützte sie sich zunächst auf Vallin de la Mothe, dessen Bauten - etwa die Kunstakademie oder die Kleine Eremitage - noch ganz dem frühklassizistischen Architekturtheoretiker Jean-François Blondel und der Zeit von Louis XIV. verpflichtet waren. Die betont italienische Optik der nun unter Beizug russischer Spezialisten erarbeiteten Ausstellung rührt letztlich daher, dass diese aus der Präsentation zweier Dynastien von Tessiner Baukünstlern und Ingenieuren im Frühjahr 2000 in Mendrisio hervorging: der Adamini und Gilardi, welche in Russland ihre Terra promessa fanden.
Die mit historischen Stadtplänen und Veduten suggestiv gestaltete Ouverture in Lugano vermittelt einen Eindruck von St. Petersburgs schnellem und auf Prachtentfaltung hin angelegtem Wachstum. Im Überblick kann man hier fast allen Bauten begegnen, die dann anhand kostbarer Zeichnungen und Pläne diskutiert werden. Anschliessend wird Katharinas für die Zeit typische Antikenbegeisterung mit Gemälden von Hubert Robert, Pannini und Hackert, mit Stichen Piranesis oder mit Charles-Louis Clérisseaus Vision einer Zarenvilla all'antica illustriert. Eigene Kapitel sind der Petersburger Kunstakademie und dem Einfluss der Architekturtheoretiker von Vitruv bis Scamozzi gewidmet. Dem breit dargelegten italianisierenden Petersburger Klassizismus, der in den Bauten und Interieurs der Quarenghi, Brenna, Rossi und Rusca, der Cameron, Starow, Woronichin und Sacharow triumphierte, wird der spartanische Moskauer Klassizismus Domenico Gilardis entgegensetzt, dessen in der Nachfolge von Baschenow errichtete Bauten den neusten europäischen Geschmack reflektierten.
Wie schwer es fortschrittliche Projekte in dem vom alexandrinischen Empire dominierten Petersburg hatten, zeigt der Wettbewerb für die Isaaks-Kathedrale, bei dem der Vorschlag von Auguste de Montferrand, welcher nur Soufflots Panthéon variiert, dem rationalistisch entschlackten Entwurf von Domenico Adamini vorgezogen wurde. Der mit ihm verwandte Ingenieur Antonio Adamini war es dann, der Montferrand bei der Realisierung der Kathedrale, aber auch 1834 bei der Errichtung der Alexandersäule auf dem Schlossplatz als technischer Berater zur Seite stand. Deren in Mendrisio vorgestellte Arbeiten sowie die in Lugano erläuterten Werke von Domenico Gilardi und Luigi Rusca bilden Glanzlichter der Schau, die sonst - wenn auch mit vielen erstmals gezeigten Exponaten - eher bekannten Wegen folgt. Nun erscheint Luigi Rusca, dem bis zum 2. November auch das Museo plebano in Agno eine kleine Ausstellung mit Katalog widmet, erstmals gleichberechtigt zwischen Rossi und dem aus Bergamo stammenden Quarenghi. Wirkte er doch nicht nur mit seinen säulengeschmückten Kasernen, eigentlichen Militärpalästen, und weiteren, 1810 in einem illustrierten Folioband in Paris publizierten Bauten nachhaltig auf das Stadtbild ein, sondern modernisierte darüber hinaus auch das kostbare Taurische Palais.
Die gelehrte und mit bedeutenden Blättern reich bestückte Doppelausstellung, die - bedingt durch ihren architekturgeschichtlichen Anspruch - etwas an plastischer Anschaulichkeit vermissen lässt und daher ohne Kenntnis der Stadt St. Petersburg nur bedingt zu verstehen ist, wird von einem informativen wissenschaftlichen Katalog begleitet. Aufgrund der Druckfahnen darf dieser schon jetzt als Standardwerk bezeichnet werden, obwohl er erst Anfang Dezember erscheinen wird. Da trifft es sich gut, dass die frühsten bekannten Fotografien von St. Petersburg, die um 1850 vom Tessiner Ivan Bianchi aufgenommen wurden (NZZ 7. 2. 03, Katalog Fr. 70.-), gleichsam als Anschauungshilfe noch bis zum 28. November in der Biblioteca Cantonale in Lugano zu sehen sind.
[ Bis 11. Januar im Museo Cantonale d'Arte in Lugano und im Archivio del Moderno in Mendrisio. Katalog: Dal mito al progetto. La cultura architettonica dei maestri italiani e ticinesi nella Russia neoclassica. Hrsg. Nicola Navone und Letizia Tedeschi. Archivio del Moderno, Mendrisio 2003. 2 Bde., 928 S., Fr. 90.-.]
Metaphysische Bauskulptur
Eine Monographie zum Colosseo Quadrato in Rom
Heute ist er ein «Medienstar», doch lange Zeit war er der wohl bestgehasste Bau des modernen Rom: der Palazzo della Civiltà Italiana, den Mussolini 1937 in Auftrag gab als zentrales Ausstellungsgebäude der auf 1942 angekündigten, aber nach dem Kriegseintritt Italiens «sine die» verschobenen und schliesslich ganz aufgegebenen Esposizione Universale di Roma (EUR). Anders als das zweite Meisterwerk auf dem EUR-Gelände, Adalberto Liberas rationalistischer Palazzo dei Congressi, dessen Säulenhalle noch im New Yorker Lincoln Center nachklingt, galt der Colosseo Quadrato genannte Palazzo als architektonischer Ausdruck des faschistischen Imperiums.
Nicht zuletzt deshalb geriet das Anfang der vierziger Jahre erst im Aussenbau vollendete Gebäude ins Visier fortschrittlicher Kritiker. Aber auch Architekten wie Giuseppe Terragni, der seit dem Bau der Casa del Fascio in Como von der Versöhnung des Regimes mit der baukünstlerischen Avantgarde träumte, beanstandeten die steinerne Maskerade des von 216 monumentalen Arkaden durchbrochenen Kubus. - Es war der ideologisch unbedarfte, ganz auf optische Reize ausgerichtete Blick der Modefotografen, welcher das von einer kalten Poesie umhauchte Colosseo Quadrato von seinen Stigmata erlöste und zur surrealistisch anmutenden Bühne schöner Menschen umdeutete. Seither ist der von Giovanni Guerrini, Ernesto Lapadula und Mario Romano im Geist der Pittura metafisica entworfene «Tempel der Romanità» das Highlight des 1937 unter Federführung von Marcello Piacentini, dem Hofarchitekten des Duce, geplanten und halbwegs zwischen Stadt und Meer errichteten, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Römer Vorstadt ausgebauten Viertels EUR. Damals wurde auch der kriegsversehrte Palazzo della Civiltà Italiana vollendet, mit den geplanten Statuen versehen und als Ausstellungsgebäude der Landwirtschaftsschau «EA 53» benutzt, ohne dass man aber die durchaus heutiger Stararchitektur vergleichbare Zeichenhaftigkeit des weiterhin negativ besetzten Gebäudes erkannte. So dämmerte dieses lange als Bürohaus vor sich hin, bevor es 1999 per Dekret zum Museo Nazionale dell'Audiovisivo ausersehen wurde.
Nun liegt zu dieser metaphysischen Bauskulptur eine opulente Monographie vor, die alle Facetten des Gebäudes ausleuchtet. In seiner erhellenden Einführung verleiht Sergio Poretti dem Colosseo Quadrato nicht ganz unbegründet das Etikett eines auf dem zweiten Futurismus und der «Neometafisica» basierenden «visionären Klassizismus». Anschliessend wird aufgezeigt, wie Guerrini, Lapadula und Romano in ihrem einstimmig gekürten Projekt Piacentinis Idee eines Kubus übernahmen, diesen dann aber mit einer aus sechs übereinander gestellten Arkadenreihen bestehenden Fassade auflösten. Eine suggestive Präsentationszeichnung von Guerrini zeigt das von Dioskuren bewachte Bauwerk in enigmatischer nächtlicher Beleuchtung, als handle es sich um ein Gemälde von Giorgio De Chirico. Diese metaphysische Ansicht konnten die Architekten in die Realität hinüberretten, indem sie die vom Kolosseum inspirierte Bogenstellung - auf ihre konstruktive Essenz reduziert - in messerscharf geschnittener, harte Schatten erzeugender Flächigkeit umsetzten und so eine Gebäudehülle von rätselhafter Leere schufen.
Aber nicht nur in seiner äusseren Erscheinung war dieser Palazzo im Grunde weit moderner als die weniger heftig kritisierten Bauten des faschistischen Staatsarchitekten Piacentini. Denn Guerrini, Lapadula und Romano konzipierten einen fortschrittlichen Skelettbau, dessen minimalistisch anmutendes räumliches Raster sie anschliessend hinter Bögen aus Travertin verbargen. Die daraus resultierende neuklassizistische Gebäudeform nahm in ihrer doppelten Codierung bereits die architektonische Postmoderne vorweg. Es ist daher gut möglich, dass sich Rafael Moneo 1980 - also noch vor der baukünstlerischen Rehabilitierung des Palazzos - durch dessen purifizierte Architektur beim Bau des Nationalmuseums Römischer Kunst in Mérida anregen liess. Doch eine Rezeptionsgeschichte des Colosseo Quadrato sucht man in der Monographie vergeblich. Dafür werden die Planungs- und Baugeschichte, das baukünstlerische Programm, die geplante «Mostra della Civiltà Italiana», aber auch denkmalpflegerische und biografische Aspekte beleuchtet und ausführlich dokumentiert. Die durch sorgfältig reproduzierte historische Aufnahmen abgerundete Publikation dieses ebenso unbequemen wie magischen Bauwerks darf denn auch als beispielhaft bezeichnet werden.
[Il Palazzo della Civiltà Italiana. Architettura e costruzione del Colosseo Quadrato. Hrsg. Maristella Casciato und Sergio Poretti. Federico Motta Editore, Mailand 2003. 249 S., Euro 72.-.]
Meister der organisch-skulpturalen Form
Das Werk des Architekten Eero Saarinen
Die Begeisterung junger Baukünstler für die sogenannte Blob-Architektur mit ihren topologischen Formen hat neues Interesse an einem Architekten geweckt, der in den fünfziger Jahren als einer der Ersten den Computer für den Entwurf seiner organisch-skulpturalen Bauten einsetzte - zu einer Zeit also, als diese Technologie für die meisten erst in der Welt der Science-Fiction existierte. Auf die entwurfstechnischen Möglichkeiten der damals noch riesigen Rechner aufmerksam geworden war der 1910 in Finnland geborene und bereits als Teenager nach Amerika gekommene Eero Saarinen im Zusammenhang mit seinen Bauaufträgen für IBM in Rochester und Yorktown. Obwohl der in Yale in der Beaux- Arts-Tradition ausgebildete Architekt sich erst spät aus dem Schatten seines berühmten Vaters Eliel Saarinen (1873-1950) lösen konnte, schuf er im Laufe einer kurzen Karriere Bauikonen, die zu den Meisterwerken der amerikanischen Nachkriegsarchitektur zählen. Der bereits mit 51 Jahren einem Hirntumor erlegene Baukünstler pflegte einen kreativen Eklektizismus, der ihm kritische Bemerkungen wie «Viel Form und wenig Idee» aus dem Lager der orthodox-doktrinären Modernisten eintrug, während ihn Robert Venturi, der Vordenker der postmodernen Architektur, als «prophetische Figur» verehrte.
Unter Berücksichtigung der neusten technischen Erkenntnisse und gemäss dem Wahlspruch «Style for the Job» passte Eero Saarinen das Aussehen seiner Bauten der jeweiligen Aufgabenstellung an, wobei er bei Kultur- und Verkehrsbauten gerne auf die expressiven Formen einer Architecture parlante setzte, während er für Verwaltungsgebäude das von Mies van der Rohe entwickelte rationalistische Vokabular bevorzugte. Sein berühmtestes Werk, der 1956 entworfene und ein Jahr nach seinem Tod eröffnete TWA-Terminal auf dem JFK-Flughafen in New York, darf als das erste zeichenhafte Gebäude der Luftfahrtgeschichte gelten. Deshalb nimmt dieser zwischen Nachtfalter und Düsenjet oszillierende Bau mit seinen dynamischen, fast schon neobarocken Raumsequenzen, der heute noch in den Projekten eines Santiago Calatrava nachklingt, eine zentrale Stellung ein in der ebenso fundiert recherchierten wie attraktiv aufgemachten Eero-Saarinen-Monographie des spanischen Architekturhistorikers Antonio Román. In fünf Essays nähert sich dieser dem Werk des Meisters an und bereichert die anschaulichen Texte durch suggestive Schwarzweissfotos, Skizzen und Pläne.
Am Beispiel des TWA-Terminals gewinnt die mitunter Frank Gehry vergleichbare prozessuale Arbeitsweise des eigenwilligen, aus einer reichen Erfindungsgabe schöpfenden Künstlers Konturen. Einigendes Element der bald plastisch-fliessenden, bald kantigen Bauten ist ein vom Geist der fünfziger Jahre erfüllter Optimismus, dem man in den heiteren, elegant eingerichteten Wohnhäusern ebenso begegnet wie bei den Bauten auf dem MIT-Campus in Cambridge. Dort erntete Saarinen 1955 mit so gegensätzlichen Lösungen wie dem von einer auf nur drei Punkten ruhenden Betonschale überwölbten Kresge- Auditorium oder der in ein Ziegelgewand gehüllten, zylinderförmigen Kapelle viel Beifall, aber auch ätzenden Widerspruch. Während er für die Ingalls-Hockey-Halle der Yale University in New Haven ein rochenartiges Erscheinungsbild erfand, kreierte er für den Hauptsitz der Deere Company in Moline eine abstrakte Raumstruktur aus Glas und dunklem Stahl. Doch auch bei den einer klaren Einfachheit verpflichteten Konzerngebäuden liess Eero Saarinen mitunter seinen Einfällen freien Lauf: So darf sich vor der gekurvten Fassade des IBM-Forschungszentrums in Yorktown die Schwanzflosse eines mit Bruchstein geschuppten Fisches zum Eingangsbaldachin aufschwingen.
Naturstein prägt auch die Aussenhaut der wabenartig um neugotische Campusbauten gruppierten Stiles and Morse Colleges von Yale. Hier spürt man allenthalben jene Liebe zum künstlerischen Detail, die sich auch in seinen Designobjekten manifestiert: etwa dem Womb Chair (1948) oder dem futuristischen Tulpenstuhl aus Kunststoff (1956). Aber auch die grosse Geste war ihm nicht fremd. Sie triumphierte früh schon im monumentalen Bogen des Gateway Arch genannten Jefferson Memorial von St. Louis und dann erneut in der kühn gespannten Abflughalle von Washingtons Dulles International Airport oder im postum ausgeführten, konstruktiv auf die Twin Towers des WTC vorausweisenden CBS Building in New York.
[Antonio Román: Eero Saarinen. Architecture of Multiplicity. Princeton Architectural Press, New York 2003. 225 S., Fr. 98.-.]
Demokratisches Bauen
Ausstellung Günter Behnisch in Stuttgart
Mit der Weissenhofsiedlung besitzt Stuttgart ein veritables Pilgerziel für Architekturbegeisterte, obwohl nur gut die Hälfte des Baubestandes den Zweiten Weltkrieg und die Abreisswut der Wirtschaftswunderjahre überstanden hat. Auch wenn zurzeit fast überall in Deutschland die Rekonstruktionssucht grassiert, besteht kaum Aussicht, dass die physisch verlorenen, aber gut dokumentierten Häuser von Taut, Gropius oder Poelzig wiederhergestellt werden können. Gleichwohl vermittelt das in den achtziger Jahren restaurierte Ensemble heute wieder einen guten Eindruck von der 1927 eröffneten Werkbundsiedlung und ihrer damaligen Modernität. Während ein Informationszentrum im Wohnblock von Mies van der Rohe seit einigen Jahren die nötige Vertiefung in Form von Schautafeln und Publikationen bietet, saniert die Stadt Stuttgart nun mit dem Doppelhaus von Le Corbusier-Jeanneret das eigentliche Meisterwerk der Siedlung, um dort voraussichtlich 2004 eine umfassende Dauerausstellung einzurichten.
Dannzumal dürfte der Weissenhof, von dem schon jetzt die Architekturgalerie des BDA im sorgsam zurückgebauten Behrens-Haus profitiert, noch attraktiver werden. Gegenwärtig zeigt diese eine Ausstellung über Stuttgarts wichtigsten zeitgenössischen Architekten: Günter Behnisch, der 1972 mit dem zusammen mit Frei Otto ausgeführten Münchner Olympiapark bekannt wurde und heute wegen des 1994 konzipierten Neubaus der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin im Gespräch ist. Dabei beschränkt sich die Schau aus Platzgründen auf die 18 Bauten und einige Papier gebliebene Projekte, die während der nunmehr fünfzigjährigen Schaffenszeit des 1922 in Dresden geborenen, jedoch seit Beginn seiner Studien in Stuttgart ansässigen Architekten im Grossraum der schwäbischen Metropole entstanden sind.
Blickfang der kleinen, hauptsächlich aus Fotos und Zeichnungen bestehenden Ausstellung bildet aber kein Stuttgarter Bau, sondern das Modell des verdrehten Glashochhauses der Norddeutschen Landesbank in Hannover (1999-2002), das in der deutschen Fachpresse viel Lob und Aufmerksamkeit erfahren hat. Bauten von vergleichbarer Ausstrahlung konnte Behnisch bisher in Stuttgart nicht verwirklichen. Stattdessen errichtet nun das Berliner Büro Hascher & Jehle den Neubau der Galerie der Stadt Stuttgart am zentral gelegenen Schlossplatz in Form eines Glaskubus, der anspielt auf jene demokratisch-transparente Architektur, mit der sich Behnisch im Akademiestreit von Berlins steinerner Baukunst distanzierte.
Immerhin aber konnte der Doyen der modern gesinnten deutschen Architekten 1987 mit dem Hysolar-Institut der Universität Stuttgart in Vaihingen ein frühes Hauptwerk des Dekonstruktivismus realisieren. Es sind denn auch die auf den Ort bezogenen, benutzerfreundlichen Bildungsbauten - allen voran Schulhäuser und Kindergärten -, mit denen er seit der 1958 eröffneten Sommerrain-Schule in der Hauptstadt Baden-Württembergs brilliert. und weniger Bank- und Dienstleistungsgebäude wie das kantig-gläserne LBBW- Zentrum. - Die kleine Stuttgarter Ehrung für Behnisch kommt spät, aber der Meister, in dessen Büro eine Vielzahl junger Architekten zu eigenständigem Schaffen ermuntert wurden, darf sich damit trösten, dass seine Ideen lange schon weit über Süddeutschland hinaus auf fruchtbaren Boden gefallen sind.
[Bis 7. September. Katalog Euro 18.-.]
Heitere Metamorphose
Die Umgestaltung der Albertina in Wien
Erweiterungen von historischer Bausubstanz stellen oft Probleme denkmalpflegerischer Art. Neu hinzugefügte Bauteile sollten das Bestehende weder beeinträchtigen noch übertrumpfen und dennoch als Interventionen erkennbar sein. Die Umgestaltung des Albertina-Palais in Wien erfüllt diese Ansprüche auf überzeugende Weise.
Der Umgang mit wertvoller historischer Bausubstanz - handle es sich dabei um Einzelbauten oder gewachsene Ensembles - stellt seit der Renaissance eine ganz besondere Herausforderung an die Architekten dar. Doch erst in jüngster Zeit sind Erweiterungsbauten zu einem prestigeträchtigen baukünstlerischen Thema geworden, zu dem fast jede Stadt Beispiele vorweisen kann. So besitzt Zürich mit der Villa Bleuler ein Objekt, welches das Zusammengehen von Alt und Neu auf geradezu exemplarische Weise veranschaulicht: Zehn Jahre ist es her, seit das Zürcher Architekturbüro Marbach & Rüegg den 1888 vollendeten Neurenaissancebau des Semper-Schülers Alfred Friedrich Bluntschli zum neuen Sitz des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft umgebaut und erweitert hat. Dabei wurden die Prunkräume renoviert, die Wohn- und Dachgeschosse behutsam in Büroräume umgestaltet und das grosse Volumen der Bibliothek so in die von einer monumentalen Stützmauer gehaltene Terrasse der Vorfahrt eingegraben, dass die wertvolle Parkanlage von Fröbel & Mertens unberührt blieb. Nur ein linsenförmiges Oberlicht aus Glas und Stahl, das wie eine minimalistische Skulptur durch das Rasenrondell der Vorfahrt dringt, sowie kleine Öffnungen in der Stützmauer zeugen vom unterirdischen Eingriff. Zeichenhaft sichtbar wird die Erweiterung erst im ausserhalb des Parks gelegenen Restaurierungsatelier, welches dezent dem industriellen Formenvokabular des benachbarten Autospritzwerks antwortet.
Verwandlungen eines Stadtpalastes
Vor ähnlichen Problemen stand man in Wien, als es darum ging, das für seine Grafiksammlung weltbekannte Albertina-Palais zu erweitern. Dieses erhebt sich neben der Hofburg auf dem letzten Überrest der nach den Türkenkriegen angelegten Basteien, unter welchem Fragmente der mittelalterlichen Stadtmauer verborgen liegen. Auf diesem Augustinerbastei genannten Bollwerk entstand um 1650 der kaiserliche Bauhof, der später von Graf Sylva-Tarouca, dem Statthalter der Niederlande, zum Palais erweitert und schliesslich von dessen Nachfolger Herzog Albert von Sachsen-Teschen übernommen wurde. Dieser liess den Bau von Louis de Montoyer um einen 180 Meter langen, zum Burggarten hin orientierten Westflügel mit 33 Fensterachsen erweitern und Räumlichkeiten des angrenzenden Augustinerklosters für die von ihm angelegte Grafiksammlung umgestalten. Sein Alleinerbe, Erzherzog Carl, betraute 1822 den grossen Wiener Klassizisten Josef Kornhäusel mit dem Umbau der Erschliessungs- und Repräsentationsräume. Nach der Schleifung der meisten Basteien in den 1850er Jahren erhob sich nun das kurz darauf in seiner äusseren Erscheinung den historistischen Formen des Ringstrassenstils angepasste Albertina-Palais einsam und nur über zwei lange Rampen erreichbar auf seiner elf Meter hohen Bastei. Die schweren Kriegsschäden aus dem Jahre 1945 nahm man deshalb zum Anlass, die Rampe zur Augustinerstrasse durch eine kurze, steile Treppe zu ersetzen, die neue Stützmauer zur Strasse hin als Sockelgeschoss der Ostfassade zu gestalten und hier, im einstigen Kellerbereich, den neuen Haupteingang zu schaffen - eine Lösung, die nie befriedigen konnte, weil sie das Erscheinungsbild des Palais stark verzerrte.
Nach dem Brand der Hofburg im November 1992, der auch die dort gelagerten Schätze der Albertina bedrohte, beschloss man eine grosse Metamorphose, welche die Albertina erweitern und zugleich wieder in den Zustand von 1867 zurückverwandeln sollte. Sie setzte 1993 mit dem Wettbewerb für die neuen Studien- und Speichergebäude und die damit verbundene Restaurierung der Albertina ein und kann vermutlich noch dieses Jahr mit der Installierung von Hans Holleins Flugdach über dem wiederhergestellten alten Eingang auf der Bastei abgeschlossen werden.
Dank einer ausgesprochen intelligenten Lichtführung gestattete es das Siegerprojekt von Erich Steinmayr und Friedrich Mascher, die neuen Bauten von aussen fast unsichtbar in den zum Burggarten hin orientierten Erdkörper der Bastei einzugraben. Dabei brachten die beiden Mittfünfziger, die sich bisher vor allem mit Bauten in Vorarlberg hervorgetan hatten, das Studiengebäude in einem viergeschossigen Neubau unter. Dieser ist auf ein Atrium mit reflektierendem Wasserbassin hin ausgerichtet, das - angrenzend an das Palmenhaus des Burggartens und den Sitz der Bundesgartenverwaltung - tief in die Bastei abgesenkt wurde. Ein schmaler Lichthof bringt zusätzlich Helligkeit ins Zentrum des Studiengebäudes, in dem (wie an der gläsernen Atriumsfassade abzulesen ist) zuoberst die zusätzlich von einem Oberlicht erhellten Studienräume, in der Mitte die Restaurierungsateliers, auf Höhe des Innenhofs die Bibliothek und darunter der Bücherspeicher untergebracht sind. Kann man hier durch eine Glaswand einen 1999 freigelegten Turm der mittelalterlichen Stadtmauer erkennen, so scheinen die historischen Schichten beim Blick vom Atrium hinauf zur historistischen Fassade des Albertina- Palais und zum gotisch-neugotischen Turm der Augustinerkirche wie auf den Kopf gestellt.
An das Studiengebäude schliessen sich nach Süden die für die Albertina-Sammlung bestimmten Depoträume an, die wegen der fehlenden computertechnischen Erschliessung noch lange nicht bezogen werden können. Das zusätzliche Reservelager wurde nach der Übergabe der Albertina-Direktion an Klaus Albrecht Schröder im Jahre 1999 in einen 800 Quadratmeter grossen unterirdischen Ausstellungsraum umgewandelt. Müssen doch die österreichischen Bundesmuseen infolge ihrer Entlassung in die Eigenwirtschaftlichkeit vermehrt Gelder durch Veranstaltungen und Sponsoring selbst beschaffen. Die neue Situation bedingte weitere Projektänderungen: So bauten Steinmayr & Mascher die Pfeilerhalle mit dem Portikus im Westflügel der Albertina in eine zeitgemässe Ausstellungshalle um, richteten - als Gegenstück zu den prachtvoll restaurierten Prunksälen im Piano nobile - die «Propter Homines»-Ausstellungsräume ein, überdachten den zentralen Innenhof und gestalteten den einstigen Eingangsbereich an der schmalen, im Krieg zerstörten Südfassade völlig neu. Dieser Zugang machte einen behindertengerechten Aufgang auf die Bastei nötig. Für diesen wurde Ende 2000 ein Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem sich Hans Hollein mit der architektonischen Geste eines weit ausholenden Flugdaches gegen die Konkurrenz von Coop Himmelb(l)au, Zaha Hadid sowie Steinmayr & Mascher durchsetzen konnte.
Wege durch das Museum
Seit der Eröffnung der neuen Albertina im vergangenen März (NZZ 15. 3. 03) gelangt man nun gleichsam durch die Stützmauern der Bastei hinauf zum Museumseingang. Dazu wurde zwischen dem 1864 von Moritz von Löhr entworfenen Danubius-Brunnen und Holleins neuster Wiener Bar ein Hohlraum in der Bastei geschaffen, von dem aus ein gläserner Aufzug und eine Rolltreppe hinauf zum Reiterstandbild Erzherzog Albrechts führen, welches den neu-alten Eingang des Albertina-Palais bis zur Fertigstellung von Holleins Flugdach noch allein markiert. Dieses Dach wird dereinst zusammen mit der ebenfalls von Hollein umgestalteten und mit postmodern anmutenden Wülsten und Bullaugen versehenen Sockelzone am Albertina-Platz dem historischen Bau einen starken zeitgenössischen Akzent verleihen. - Durch das von Steinmayr & Mascher minimalistisch gestaltete Portal betritt man die fast schon ägyptisch strenge Eingangshalle, von der man in den überdachten und sorgsam in den Zustand von 1822 zurückversetzten Innenhof der Albertina gelangt. Dieser wurde von den beiden Vorarlbergern geschickt zum Scharnier der erschliessungstechnisch höchst komplexen Palastanlage bestimmt. Rechts gelangt man in den von Callum Lumsden eingerichteten Museumsshop, links in das vom jungen Wiener Architekten Arkan Zeytinoglu gestaltete Café und geradeaus in die Minervahalle, die den Auftakt zu Kornhäusels Erschliessungssystem bildet. Hier teilen sich erneut die Wege: Links führen Rolltreppen einer leuchtenden Glaswand entlang hinunter in den von Steinmayr & Mascher als flexiblen White Cube konzipierten Ausstellungssaal in der Bastei. Nach vorn schliesst an die Minervahalle der Säulengang an, auf den sich links ein weiterer Ausstellungsraum, die grosse Pfeilerhalle, öffnet. Über die Sphinxstiege erreicht man das Piano nobile, wo rechts der Ausstellungsparcours der Propter-Homines-Säle beginnt, während zur Linken Kornhäusels Musensaal lockt: das von Apoll und den Musen des Canova-Schülers Josef Klieber bevölkerte Herzstück der Prunkräume.
Von hier geht der Ausblick auf die geometrisch heitere, die Basteiterrasse weiterführende Dachlandschaft des bereits erwähnten Studiengebäudes von Steinmayr & Mascher, das selbst noch in der Aufsicht viel von seiner formalen Klarheit, konstruktiven Einfachheit und materiellen Reduktion verrät - Eigenschaften die das dem Publikum nicht zugängliche Gebäude zu einem der bedeutenden Neubauten Wiens machen. So besitzt die Albertina heute zwar mit dem Studiengebäude ein nahezu unsichtbares Meisterwerk sowie neue Ausstellungsbereiche und renovierte Repräsentationsräume. Aber die Sammlung selbst, deren sichere Unterbringung 1992 den Anstoss zum Umbau gegeben hatte, lagert weiterhin nicht wirklich optimal in der Hofburg.