Ein bunter Ort zum Leben

Vann Molyvanns Nationalstadion ist eine Oase mitten in der Hektik von Phnom Penh, aber auch ein architektonisches Meisterwerk. Nun bedrohen die Pläne einer Taiwaner Finanzholding den Bau.

Philippe Jorisch
Drucken
Von Angkors Tempelanlagen inspirierte Wassergräben – auch den Kindern gefällt das Nationalstadion von Vann Molyvann in Phnom Penh. (Bild: Ehrin Macksey)

Von Angkors Tempelanlagen inspirierte Wassergräben – auch den Kindern gefällt das Nationalstadion von Vann Molyvann in Phnom Penh. (Bild: Ehrin Macksey)

Wenn über Phnom Penh die Sonne aufgeht und die drückende Tropenhitze des Tages ankündigt, lebt das Nationalstadion bereits. Hunderte von Stadtbewohnern joggen auf der Rennbahn, spielen Federball auf den befestigten Flächen, und junge Männer stählen ihre Muskeln mit Übungen an den Betonstufen des Stadions. Das alles geschieht mitten in der Hauptstadt Kambodschas, eines Landes, von dem vielen Europäern höchstens die grossartigen Tempelanlagen von Angkor ein Begriff sind.

Der Verkehrslärm der Metropole wird durch den umlaufenden Erdwall der Freilichttribüne abgeschirmt; dafür beschallen überall Kofferradios die unterschiedlichsten Kleingruppen – von meditativ in sich versunkenen Yoga-Schülern bis hin zu expressiv gestikulierenden Power-Dance-Ensembles. Vereinzelt sitzen Paare auf der Tribüne und überblicken das Geschehen, Getränkeverkäufer preisen ihre Ware an.

Architekt einer Nation

Das Nationalstadion ist eine Oase mitten in der hektischen Grossstadt, ein öffentlich zugänglicher Freiraum von der Ausdehnung eines Parks. Es besitzt neben Sportanlagen auch luftige Hallen, Garderoben und zahlreiche gedeckte Bereiche zum Schutz vor der Sonne und dem tropischen Regen. Doch das über fünfzigjährige Stadion des Architekten Vann Molyvann, das als Schlüsselwerk der kambodschanischen Moderne gilt, ist in Gefahr: Es droht der Abbruch.

Wie andere junge Nationen dieser Zeit suchte Kambodscha seine neue Identität mit moderner Architektur zum Ausdruck zu bringen.

Leben und Werk von Vann Molyvann, der jüngst seinen 90. Geburtstag feiern konnte, sind eng mit der neusten Geschichte Kambodschas verknüpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog erstmals eine grosse Anzahl junger Kambodschaner zum Studium ins Ausland und kehrte mit neuen, westlichen Ideen zurück in die Heimat. Zu ihnen zählte Molyvann, der als junger Mann auch die Möglichkeit erhielt, in Europa zu studieren, und zwar Architektur an der Ecole des Beaux-Arts in Paris. Dies war mitten in einer Zeit, als modernistische Entwurfsprinzipien im Rahmen des europäischen Wiederaufbaus erstmals grossflächig zur Anwendung kamen.

Als Molyvann 1956 in die Heimat zurückkehrte, hatte Kambodscha unter König Norodom Sihanouk bereits die Unabhängigkeit von Frankreich erlangt. Wie andere junge Nationen dieser Zeit suchte auch Kambodscha seine neue Identität mit moderner Architektur zum Ausdruck zu bringen. Die sogenannte New Khmer Architecture entwickelte sich in den späten 1950er und in den 1960er Jahren vornehmlich in Phnom Penh – etwa zeitgleich mit dem Neubau modernistischer Vorzeigestädte wie Chandigarh oder Brasilia.

Prosperität und Aufbruch

Vann Molyvann, der prominenteste kambodschanische Baukünstler seiner Generation, war ab 1957 als Staatsarchitekt direkt dem König unterstellt. Er realisierte in dieser Ära der Prosperität und des intellektuellen Aufbruchs fast sein gesamtes Œuvre, das besonders das Stadtbild von Phnom Penh prägt. Innert kurzer Zeit entstanden nach seinen Plänen grosse Wohnkomplexe, Schulen, Universitäten, Ministerien und weitere öffentliche Bauten. Das 1964 fertiggestellte Nationalstadion war nicht nur das grösste Projekt des jungen Architekten – mit über 60 000 Sitzplätzen, grossen Schwimmanlagen, mehreren Hallen und einer umfangreichen Umgebungsgestaltung war es auch ein ambitioniertes Vorzeigeprojekt des jungen Staates. Die damals grösste Sportanlage Südostasiens wurde innerhalb von nur zwei Jahren gebaut.

Doch die Visionen Molyvanns reichten weiter: Er schrieb mit «Modern Khmer Cities» sein Traktat zum kambodschanischen Städtebau, und die von ihm geplante Erweiterung der Hauptstadt entlang dem Bassac-Flussufer erhielt internationale Beachtung. Ausserdem war er 1967, in einer Zeit, als Kambodscha die Perle Südostasiens genannt wurde, Mitbegründer der Royal University of Fine Arts von Phnom Penh.

Regionale tropische Moderne

Was Vann Molyvanns Architektur auszeichnet, ist die kultivierte und kunstvolle Kombination von architektonischen Elementen aus den Zeiten von Angkor, des Kolonialismus und der Moderne in Harmonie mit dem tropischen Klima. Entgegen dem Ideal der «weissen» Moderne kombinierte Molyvann Beton mit Natursteinwänden und ornamental gemauerten Backsteinen. Auch mit dem Einsatz von Glas war er zurückhaltender als seine westeuropäischen Zeitgenossen. Stattdessen entwarf er offene Veranden und beschattete, natürlich belüftete Innenhöfe. Um öffentlich zugängliche Flächen unter den Bauten zu schaffen, verwandte er im Erdgeschoss Stützen – eine Kreuzung von Le Corbusiers Pilotis mit den Stelzen der ländlichen Bauten Kambodschas, die zum Schutz vor Hochwasser aufgeständert sind.

Mit Rampen, erhöhten Zirkulationsebenen und Dachgärten reagierte Molyvann in seinen Projekten auf feine topografische Höhendifferenzen. Er studierte intensiv die historischen Tempelanlagen von Angkor mit ihren grossflächigen Terrainmodellierungen und komplexen Bewässerungssystemen und setzte seine Erkenntnisse architektonisch in Form von Wassergräben und Teichen um – nicht zuletzt um den kühlenden Effekt der Verdunstung für die Bauten zu nutzen. Diese passive Klimatisierung mit natürlichen Elementen – gleichsam die regionale Ausformulierung einer globalen modernen Bewegung – funktioniert noch heute.

Als König Sihanouk 1970 durch einen Militärputsch gestürzt wurde, floh Vann Molyvann mit seiner Familie in die Schweiz. Während der Gewaltherrschaft der Roten Khmer und des darauffolgenden vietnamesischen Regimes lebte er in Lausanne, wo er Vorlesungen an der Eidgenössischen Technischen Hochschule hielt und für das Uno-Habitat-Programm arbeitete.

Bauliches Erbe unter Druck

Seine rund 60 Gebäude, die er vornehmlich in Phnom Penh realisiert hatte, überstanden alle die Zeit des Bürgerkriegs, ohne Schaden zu nehmen; und als Vann Molyvann 1992 in die kambodschanische Hauptstadt zurückkehrte, wurde er zum Minister für Kultur, Kunst und Stadtplanung ernannt. Doch die neue, marktorientierte Regierung konnte er von seinen städteplanerischen Ideen nicht überzeugen. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten wird die Raumbildung in Phnom Penh unter dem Druck neuer Stadtentwicklungsprozesse ausschliesslich durch kapitalistische Kräfte geprägt. Bis heute existieren in Kambodscha weder Zonenpläne noch Baugesetze, und Phnom Penh droht zu einer typischen asiatischen Megalopole zu werden. Die Relevanz gebauter Zeitzeugen an oftmals prominenten Lagen bleibt von dieser Laisser-faire-Politik genauso unerkannt wie die Notwendigkeit einer integralen Planung öffentlicher Infrastrukturen.

Ein filigranes Ministeriumsgebäude wurde zerstört und durch einen protzigen Glasbau chinesischer Handschrift ersetzt.

Wie ein Fanal dieser Entwicklung erscheint das von Molyvann realisierte Nationaltheater. Diese lebendige Institution fiel 1994 einem Feuer zum Opfer und wurde schliesslich abgebrochen. Auch ein von Molyvann in einer üppigen Parklandschaft konzipiertes filigranes Ministeriumsgebäude mit halbrundem Grundriss wurde zerstört und 2008 durch einen protzigen Glasbau chinesischer Handschrift ersetzt. Das Gelände des Nationalstadions wird seit dem Jahr 2000 von einer Taiwaner Finanzholding im Baurecht genutzt. In den letzten Jahren wurden Kanäle zugebaut, die Vann Molyvann als Teil der Gesamtanlage konzipiert hatte, damit während der Monsunzeit die Wassermassen weggeführt werden. Heute sind die Strassen regelmässig überflutet; und ein bis zu dreissig Geschosse hoher Gebäudekomplex mit Büros, Luxuswohnungen und Einkaufszentrum bedrängt auf einer Seite die Sportstätte.

Während koloniale Häuser in Kambodscha seit Jahren eine hohe Akzeptanz geniessen und vermehrt geschützt und renoviert werden, wurde der Architektur aus der Zeit nach der Unabhängigkeit bis anhin wenig Beachtung zuteil. Eine Gruppe engagierter Künstler, Architekten und Studierender bietet seit etwa zehn Jahren professionell geführte Khmer Architecture Tours zu den modernistischen Bauten der Hauptstadt an. Diese stossen auf wachsendes Interesse, vor allem bei Architektur- und Kulturinteressierten aus dem Westen. Die bis anhin einzige umfassende Dokumentation dieser Werke ist eine 2008 erschienene Publikation von Helen Ross und Daryl Collins mit dem Titel «Building Cambodia: New Khmer Architecture 1953–1970». Das längst vergriffene Standardwerk listet über tausend Projekte auf und enthält Kurzbiografien von rund fünfzig Architekten und Ingenieuren aus dieser goldenen Ära.

Neu erwachtes Interesse

Noch tiefer geht das 2009 vom kanadischen Architekten William Greaves initiierte «Vann Molyvann Project»: Ein internationales Team von Architekten, Studenten und Wissenschaftern erforscht und publiziert nach dem Open-Source-Prinzip die Bauten Vann Molyvanns mit dem Ziel, vor allem auch in Kambodscha selbst das öffentliche Bewusstsein zu schärfen und Lücken in der Architekturgeschichte zu schliessen. Weil im Bürgerkrieg sämtliche Planarchive vernichtet wurden, waren Massaufnahmen vor Ort und das Studium historischer Fotografien nötig, um den Originalzustand der veränderten oder gar abgebrochenen Bauwerke zu rekonstruieren. In einer Sommerakademie erstellten Studenten präzis vermessene Architekturzeichnungen und aufwendige Holzmodelle von Vann Molyvanns wichtigsten Werken. Als Wanderausstellung konzipiert, waren diese Stücke zuletzt im Rahmen der Biennale von Taipeh zu sehen.

Nun stellt der kürzlich vollendete Dokumentarfilm «The Man Who Built Cambodia» von Christopher Rompré und Haig Balian die Person Vann Molyvann ins Zentrum. Obwohl der 90-jährige Architekt gesundheitlich angeschlagen ist und heute zurückgezogen lebt, konnten ihn die Filmemacher für Interviews gewinnen. Die Aufnahmen zeigen das Funkeln in seinen Augen, wenn er sich an die von Euphorie geprägten Jahre während des Baus des Nationalstadions erinnert, aber auch das Gefühl der Ohnmacht, das sich angesichts der Zerstörung des eigenen Œuvres seiner bemächtigt. Sehenswert ist der Film schon wegen der spektakulären Luftaufnahmen, welche die frühmorgendlichen Szenen im und um das Nationalstadion atmosphärisch einfangen. Es sind die einzigen Aufnahmen in dieser Art, weil Drohnenflüge in der Hauptstadt heute nicht mehr zugelassen sind.

Letztes Jahr hat die internationale Organisation World Monuments Watch mit Sitz in New York das Nationalstadion von Phnom Penh auf die Liste der fünfzig weltweit meistgefährdeten kulturellen Stätten gesetzt. Es wird sich weisen, ob das wachsende internationale Interesse eine Bewahrung und Pflege dieser Perle des tropischen Modernismus erwirken kann. In der Schlussszene des Dokumentarfilms richtet Vann Molyvann einen besorgten Blick in die Zukunft und ruft die jungen Kambodschaner auf, in der Heimat eine eigene neue Architektur zu entwickeln – in der Hoffnung, dass sich die artistischen und intellektuellen Konturen der Stadt zurückgewinnen lassen.