Die sichtbaren Städte

Bekannt wurde der Architekt und Städtebautheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani durch seinen Einsatz für eine urbane Baukunst. Seit 1994 lehrte er in Zürich, wo er heute die Abschiedsvorlesung hält.

Jürgen Tietz
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Der Architekt und Städtebautheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani. (10.11.2005)(Bild: Karin Hofer / NZZ)

Der Architekt und Städtebautheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani. (10.11.2005)(Bild: Karin Hofer / NZZ)

Er ist für seine klaren Forderungen bekannt: der Architekt und Städtebautheoretiker Vittorio Magnago Lampugnani. In der Wochenzeitung «Die Zeit» schrieb er 1977: «Stellen wir uns eine Architektur vor, die formbewusst ist; die ihre Aufgabe, Räume für Menschen zu schaffen, sowohl nach aussen als auch nach innen als Gestaltungsaufgabe versteht.» Mit diesem Text formulierte der damals erst 25 Jahre alte Römer nicht weniger als ein Manifest für eine bessere Architektur und zeigte sich überzeugt: «Architektur als Kultur» sei möglich.

Vierzig Jahre, etliche Bücher, viele Vorlesungen und Studenten später wurde Lampugnani als Lehrer am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (GTA) der ETH Zürich emeritiert, wo er seit 1994 lehrte und heute Abend seine Abschiedsvorlesung hält. In diesen vierzig Jahren hat Lampugnani das, was er 1977 gleich einem filigranen Bauprofil als Anspruch an Zukünftiges skizzierte, mit einem eindrucksvollen eigenen Werk ausgefüllt — als Hochschullehrer, als einer der bedeutendsten Architekturdenker der Gegenwart und als eloquenter Redner und Autor, der seine pointierten Ansichten immer wieder auch in dieser Zeitung kundtat.

Wegweisende Schriften

Als er in den 1990er Jahren das Deutsche Architektur-Museum in Frankfurt am Main leitete, gelang ihm mit der Ausstellungsreihe über «Moderne Architektur in Deutschland» und den begleitenden Katalogen das Kunststück, die Moderne aus dem Korsett des Bauhaus-Kanons zu befreien und den Blick für ihre Nebenwege und Kontinuitäten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu öffnen. Das seltene Gespann aus Anschaulichkeit und analytischer Schärfe geht in seiner Arbeit Hand in Hand, in seiner Lehrtätigkeit genauso wie in seinen vielen Publikationen. Dabei ist Lampugnani mit grundsätzlichen Positionen zu einem Vorreiter der Renaissance von Europas Städten geworden. Sein Satz: «Architektur und Stadt können keine Wegwerfprodukte sein; sie müssen dauern», gehört in das Stammbuch jedes Architekten, jedes Stadtplaners, jedes Investors, jedes Politikers.

Selbstverständlich gilt es auch als Leitmotiv seines eigenen architektonischen und städtebaulichen Entwerfens, bei der 1999 vollendeten Wohnsiedlung Maria Lankowitz ebenso wie beim Basler Novartis-Campus. «Je dichter und artifizieller die Stadt wird, umso effizienter, nachhaltiger und attraktiver wird sie sein», zeigte sich der Städter aus Leidenschaft jüngst in einem Gespräch überzeugt (NZZ 25. 2. 17). Tatsächlich stehen die Stadt, ihre Geschichte und ihre Zukunft im Zentrum seines Denkens. Die von ihm herausgegebene fünfbändige Anthologie zum Städtebau ist eine unabdingbare Standardlektüre.

Es bleibt noch viel zu tun

Sein Opus magnum aber ist die im Berliner Wagenbach-Verlag erschienene Geschichte der «Stadt im 20. Jahrhundert», die Visionen, Entwürfe und Gebautes versammelt. Wissenschaftliche Klarheit, kombiniert mit sprachlicher Gewandtheit, zeichnet auch seine Beiträge in der NZZ aus, von denen einige Aufnahme in seine bei NZZ-Libro erschienene Aufsatzsammlung «Radikal normal» gefunden haben.

Als würde er seine Leser durch eine imaginäre Stadt aus Worten geleiten, so führt er sie durch die Gassen seines Wissens, verweilt auf den anschaulichen Plätzen der Bedeutung, um sie schliesslich auf die Anhöhen des Denkens zu bringen. Von dort aus gewinnen sie jenen Überblick über die Baukultur, der ihnen ohne die Lektüre seiner Bücher versagt geblieben wäre. Gleichwohl bleibt einiges für Lampugnani zu tun. Denn trotz einigen guten Architekturen in der Schweiz, in Italien und Deutschland erweist sich noch immer viel Gebautes als «in weitem Mass kulturell minderwertig», wie er schon 1977 klagte.