Bauen gegen das Vergessen

Der Wirtschaftsaufschwung hat in Chinas Städten und Dörfern tiefe Spuren hinterlassen. Der Pritzkerpreisträger Wang Shu baut gegen das Vergessen alter Kulturlandschaften und Handwerkstraditionen.

Paul Andreas
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Fein proportionierte Silhouette am Fluss – das von Wang revitalisierte Dorf Wencun. (Bild: Iwan Baan)

Fein proportionierte Silhouette am Fluss – das von Wang revitalisierte Dorf Wencun. (Bild: Iwan Baan)

Neue Architektur in China – das war in den letzten dreissig Jahren vor allem eine grosse Abriss-Show: Die mit dem Wirtschaftswachstum im Gleichschritt wachsende neue Mittelklasse wurde in oft seelenlosen Funktionsstädten untergebracht, die quasi über Nacht aus dem Boden gestampft wurden. Einige entstanden mitten im Niemandsland – die meisten aber auf den Trümmern oft über Jahrhunderte gewachsener Siedlungen und Kulturlandschaften. Das Bauen mit der Abrissbirne galt lange als Standardantwort auf Architekturtraditionen und daran geknüpfte soziale Identitäten.

Vor fünf Jahren bekam Wang Shu den renommierten Pritzkerpreis verliehen – als erster in China ausgebildeter und dort auch wirkender Architekt. Er wurde damit für ein überschaubares Œuvre geehrt, das jedoch durch seine kulturelle Eigen- und Widerständigkeit überzeugt: Anders als viele seiner chinesischen Kollegen, aber auch viele globale Stars, die sich in China in ihren Bauten oft an vage Formmetaphern klammern, knüpft der Architekt aus Hangzhou, der einstigen Kaiserstadt Südchinas, bei den konkreten Orten und dem lokalen Kontext seiner geplanten Bauten an. Sowohl in der Material- als auch in der Formensprache flimmern dabei die unter der «Planiermoderne» oft verschütteten autochthonen chinesischen Bau- und Handwerkstraditionen wieder auf – ohne dass dabei gegenwartsvergessene Imitate und kitschige Surrogate entstünden.

Handwerker der Erinnerung

Global bekannt wurde der heute 56-jährige Architekt vor zehn Jahren vor allem durch seinen voluminösen Museumsbau für das Ningbo History Museum. Über dreissig Dörfer mussten weichen für das neue Verwaltungszentrum der 80 000 Einwohner zählenden Neustadt Yinzhou im Süden der alten Hafenmetropole Ningbo. Wang Shu wurde vor das Himmelfahrtskommando gestellt, inmitten der freigeräumten Zentrumsachse binnen weniger Monate Planungszeit einen Kulturbau entstehen zu lassen – mit über 30 000 Quadratmetern Ausstellungs- und Depotfläche. Statt mit einem weiteren Hochhaus auf die leere Ödnis zweier benachbarter Verwaltungspaläste zu antworten, entwarf er einen breit gelagerten, geradezu festungsartigen «low scraper».

Die kleinteiligen Nachbarschaften eines traditionellen Dorfs versuchten Wang Shu und Lu Wenyu bei ihrer Revitalisierung von Wencun wiederherzustellen. (Bild: Iwan Baan)

Die kleinteiligen Nachbarschaften eines traditionellen Dorfs versuchten Wang Shu und Lu Wenyu bei ihrer Revitalisierung von Wencun wiederherzustellen. (Bild: Iwan Baan)

Dessen schroffe, aus der Sockelmasse herausgeschnittene Betonvolumen liess er mit einem fein gewobenen Teppich all jener Abrissmaterialien belegen, die dem Neubau zum Opfer gefallen waren: Eine schon unfassbar grossflächige, pixelwolkige Collage aus geschichteten Ziegeln mit schwarzen und roten Terrakotta-Flicken umhüllt den massiven Rahmenbau aus Beton – ausgerichtet an einem ausgesprochen präzise geführten System horizontaler Fluchtlinien. Das kleinteilige Flächenmosaik der rezyklierten Abrisssteine mildert die monumentale Schwere des Baus und schmeichelt den Sichtbetonflächen, die eigens in eine Bambusschalung gegossen wurden. Noch wichtiger als die weiche haptische Wirkung ist aber: Der Bau wird durch seine Hülle aus Abrissmaterialien zum Träger kollektiver Erinnerungen und kollektiver Identität – die ältesten der wiederverwendeten Steine datieren 1500 Jahre zurück in die Tang-Dynastie.

Prozesshaftes Bauen

Wapan heisst dieses Flickwerk-Recycling auf Chinesisch – eine vor allem nach zerstörerischen Taifunen und Erdbeben über Jahrtausende geübte Baupraxis, die viel handwerkliches Können voraussetzt – vergleichbar etwa mit dem Schichten von Steinmauern ohne Mörtelzusätze. Seit dem Beginn seiner Karriere, die ihn vor allem mit Restaurierungsprojekten in Kontakt brachte, pflegt Wang Shu die Kooperation mit Handwerkern auf der Baustelle. So wie er seine Ideen stets per Hand skizziert, vollenden sich auch seine Bauten erst im Dialog mit den Ausführenden.

Obwohl das von Wang Shu und Lu Wenyu wiederhergestellte Dorf Wencun im Hinterland der Millionenmetropole Fuyang liegt, pflegen die Bewohner dort noch immer ein ländliches Leben. (Bild: Iwan Baan)

Obwohl das von Wang Shu und Lu Wenyu wiederhergestellte Dorf Wencun im Hinterland der Millionenmetropole Fuyang liegt, pflegen die Bewohner dort noch immer ein ländliches Leben. (Bild: Iwan Baan)

Dass dieser prozesshafte, die Autorschaft des Gebäudes bewusst in mehrere Hände legende Ansatz viel leichter zu benennen als letztlich umzusetzen ist, zeigt eine Episode beim Bau des Ningbo-Museums: Immer wieder sollen die Arbeiter den Architekten darum gebeten haben, auf seine Skizzen für die Recycling-Fassade zu schauen – bis er ihnen irgendwann riet: «Leute, schaut lieber hinauf in den Himmel – alles, was ihr sucht, findet ihr in den vorüberziehenden Wolkenlandschaften!» Nicht der spektakuläre Entwurf auf dem Papier, sondern die gemeinsame, aus spontanen Notwendigkeiten heraus geborene Improvisation ist für Wang Shu die Kür der Architektur. Deshalb tauften er und seine Partnerin Lu Wenyu ihr gemeinsames Büro 1998 auf den Namen Amateur Architecture Studio – Architekturbüro der Laien, Liebhaber und Dilettanten.

Natürliche und gebaute Berge

Chinesische Architekturtradition ist die Meisterschaft der Nachahmung: Bis zum Beginn der Moderne ging es in der Architektur Chinas über Jahrtausende darum, klassische Vorbilder zu rezipieren und zu zitieren – in Auseinandersetzung mit bestimmten konstruktiven oder materiellen Details. Auch Wang ist dem Lehrpfad der Traditionen gefolgt. Seine Architektur und seine Gebäude leiten sich aber vor allem von Beobachtungen ab, die er dem intensiven Studium der chinesischen Gartenkunst und Landschaftsmalerei verdankt.

Tatsächlich fühlt man sich, wenn man im Süden Hangzhous den Xeishan-Campus der China Arts Academy besucht, wie auf einem Gang durch eine chinesische Gartenanlage. So organisch gewachsen, formal vielgestaltig und doch immer aufeinander bezogen wirken die Fakultätsgebäude, die oft um einen vorgefundenen grünen Hügel und einige Wasserkanäle gruppiert wurden. Wie ein Dorf in einem alten chinesischen Landschaftsbild addieren sich die flachen, abgestuften, mitunter auch geschwungenen Dachlandschaften zu einem Ensemble. Über Brücken zwischen den Gebäuden, skurrile Zickzack-Wandelgänge und auch die vielen unregelmässigen Fensterperforationen an den Fassaden ergibt sich dabei eine schier unendliche Vielfalt von wechselnden Perspektiven auf diese Gebäudelandschaft. Man wähnt sich in einem eigenen Universum abseits der am Horizont wachsenden Trabantensiedlungen.

Bekannt wurde der heute 56-jährige Wang Shu vor zehn Jahren mit dem Ningbo History Museum, dessen schroffen, aus der Sockelmasse herausgeschnittenen Betonvolumen er mit Abrissmaterialien der für den Neubau geopferten Häuser belegen. (Bild: Iwan Baan)

Bekannt wurde der heute 56-jährige Wang Shu vor zehn Jahren mit dem Ningbo History Museum, dessen schroffen, aus der Sockelmasse herausgeschnittenen Betonvolumen er mit Abrissmaterialien der für den Neubau geopferten Häuser belegen. (Bild: Iwan Baan)

Chinesische Landschaftsmalerei eröffnet Blicke auf die Natur, die im Gegensatz zur vereinheitlichenden westlichen Zentralperspektive in einer topologischen Struktur paralleler Perspektiven verankert sind: Die Berg- und Flussmotive in der Tuschmalerei werden aus unterschiedlichen Nah- und Fernsichten und damit zusammenhängenden emotionalen Geisteszuständen der Versenkung dargestellt – oft sind es Wolken und Nebelschwaden, die die Übergänge zwischen diesen in der Vertikalen angeordneten Welten herstellen.

Dieser Raumstruktur des Disparaten spürt auch Wang Shu in seinen Bauten nach – etwa wenn er wie im 2013 eröffneten Wa-Shan-Gästehotel des Xeishan-Campus die Funktionen in Sichtbeton-Boxen unter einem gigantischen Faltdach versammelt, das von einer überstehenden, wolkenartigen Holzsparrenkonstruktion getragen wird. Der Besucher wird von den labyrinthisch durch das Gebäude mäandrierenden Erschliessungswegen immer wieder an unerwartet pittoreske Aussichtspunkte geführt – abseitige Platzsituationen, Wasserbassins, Durchsichten in die Natur –, bis er dem langgestreckten Bau gar aufs Dach steigt: Eine über das Ziegeldach im Zickzack geführte Gangway macht die Neigungen und Steigungen physisch erlebbar und setzt sie in kontextuelle Beziehung zu den Hügeln am Horizont.

Chinesisches Arkadien

Mit einem Stab von gerade einmal vier Mitarbeitern nehmen Wang Shu und Lu Wenyu auch nach dem Pritzkerpreis nur wenige Aufträge an. Ihr Wirkungshorizont – sieht man einmal von einer Bushaltestelle im österreichischen Vorarlberg und einigen Biennale-Beiträgen ab – beschränkt sich überwiegend auf die südlichen Provinzen um Hangzhou herum. Am Xeishan-Campus entwirft und baut Wang, der dort auch Architekturdekan ist, seit der Jahrtausendwende stetig weiter. In Chinas stark beschleunigtem Modernisierungssystem, das Strassen, Brücken und Hochhäuser quasi über Nacht errichtet, bekommt das Bauen mit der Weile und der Zeit eine besondere Qualität und Signifikanz.

Viel Zeit liess Wang Shu dann auch verstreichen, bis er den Auftrag für einen 40 000 Quadratmeter grossen Museums- und Archivkomplex an der Wasserfront der Neun-Millionen-Metropole Fuyang annahm. Das vor kurzem eröffnete, aus einer Betonkonstruktion und einer kleinteilig geschwungenen Dachlandschaft aus Abrissziegeln gefügte Museum zeigt Werke der lokalen Landschaftsmalerei, welche die bezaubernde Schönheit der Region vor rund 800 Jahren meisterhaft dokumentieren. Aber nicht nur einen Anziehungsort für die Kunst wollte Wang direkt am Yinghe-Fluss realisieren. Im gleichen Zug pokerte er mit der Provinzregierung darum, den Auftrag zur Revitalisierung eines Bergdorfes seiner Wahl übertragen zu bekommen – so wie diese heute noch auf den alten Bildrollen zu sehen, real aber von Schrumpfung, Abriss und zumeist eher hässlicher Neubebauung bedroht sind.

Ein traditionelles Dorf

Wang und Wenyu entschieden sich für das idyllisch an einem Flüsschen gelegene Dorf Wencun, weitab im Hinterland der Millionenmetropole. Das erst wenig bekannte Projekt macht ein bei Lars Müller Publishers in Basel erschienenes Buch, «Wang Shu Amateur Architecture Studio» (240 S., Fr. 50.–), der architekturinteressierten Öffentlichkeit zugänglich. Es zeigt, wie sensibel und mit welchen kreativen Lösungen die Architekten den maroden oder schlecht ersetzten Bestand restaurieren und überarbeiten sowie durch eine Reihe neuer Hofhaustypen erweitern.

Unter Beizug lokaler Handwerker und unter Einsatz regionaler Materialien wurde die fein proportionierte Silhouette der Häuser am Fluss wiederhergestellt – sogar jüngere Zweckbauten aus Beton konnten durch eine geschickte Camouflage mit Lehmputz und neue Dachüberstände in das revitalisierte Ortsbild integriert werden. Was dem Auge schmeichelt, erdbebensicher konstruiert ist und sogar Wohnen und Gewerbe rational unter ein Dach bringt, wird von vielen Dorfbewohnern allerdings eher als unpraktisch empfunden – erste Modifikationen der Grundrisse sind im Gange. Wang Shus und Lu Wenyus Amateur Architecture Studio akzeptiert das stoisch – gleichzeitig haben sie vorsichtig die Etablierung einer klassischen Akademie in einer leerstehenden Gedenkhalle des Ortes angeregt: Nur Menschen, die ihre Traditionen kennen, können sie auch wirklich wertschätzen und auf ihnen aufbauen.

Für das Historische Museum in Ningbo verwendete Wang Shu Backsteine und Ziegel von Abbruchhäusern in der Provinz Zhejiang. (Bild: pd)
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Auf den ersten Blick scheint das markante, wie eine Felslandschaft wirkende Gebäude vor allem ein Musterbeispiel nachhaltigen Bauens zu sein. (Bild: pd)
Doch schwingt ein kritischer Unterton mit, denn Wang Shu verweist damit auf die um sich greifende Zerstörung historischer Bausubstanz, deren Erhaltung ihm ein grossen Anliegen ist. (Bild: pd)
Das Historische Museum in Ningbo. (Bild: pd)
Das «Ceramic House» in Jinhua von Wang Shu. (Bild: pd)
Wang Shu ordnete die einzelnen Gebäude der 2000 fertiggestellten Bibliothek des Wenzheng College in Suzhou dezent in der Landschaft zwischen Hügeln und einem See an. (Bild: pd)

Für das Historische Museum in Ningbo verwendete Wang Shu Backsteine und Ziegel von Abbruchhäusern in der Provinz Zhejiang. (Bild: pd)