Im Zeichen der Verdichtung wird immer mehr wertvolle Bausubstanz zerstört. Das Beispiel der Franzensfeste in Südtirol lehrt nun, wie Altbauten ebenso subtil wie kunstvoll revitalisiert werden können.
Die Alpen und ihr Vorland von der Côte d'Azur bis Wien zählen zu den landschaftlichen Höhepunkten Europas. Das zeigt ein Blick von Zürichs Bürkli-Terrasse auf den See und das Hochgebirge. Dank der fest mit dem Stadtbild verflochtenen Seelandschaft, die nun durch eine ökologisch fragwürdige Seilbahn zur Disneyland-Kulisse werden soll, dürfte Zürich immer ein Juwel bleiben. Auch wenn heute viele – von Investoren bis zu den linken Stadträten – an der fragilen Schönheit der Stadt kratzen und sich dabei auf die Verdichtung berufen.
Sogar an Zürichs Seefront treibt nun das geschichtsvergessene 21. Jahrhundert mit Baumfrass und Banalitäten sein Unwesen. Nicht besser ergeht es den weit weniger dem Wachstumsdruck ausgesetzten Bergregionen. Was mussten das Engadin, das Rhonetal oder das Tessin in den letzten Jahren erdulden – und ihnen gleich die alpinen Feriengebiete Österreichs oder Frankreichs.
Nur Südtirol schien lange ein Land der Seligen zu sein. Zwar entstanden auch dort allenthalben Hotels im Pseudo-Tiroler-Stil. Aber die Dörfer und Städte wucherten nicht ungehemmt ins Umland aus. Stattdessen überraschten sie mit selbstbewussten Akzenten – etwa dem vor bald fünfzig Jahren entstandenen Schülerheim von Helmut Maurer in Mals unweit der Schweizer Grenze. In den letzten fünfzehn Jahren erlebte Südtirol dann einen baukünstlerischen Höhenflug. Selbst im Industriegebiet von Bozen entstanden Neubauten von überdurchschnittlicher Qualität.
Doch in den letzten Jahren hat sich das Blatt gewendet. Wichtige Projekte gehen nicht mehr an einheimische Architekten, sondern an Stars und Zauberlehrlinge aus dem Ausland, die sich beim Planen in der Ferne wenig um landschaftliche und städtebauliche Bedürfnisse kümmern.
Waren das neue, kantige Universitätsgebäude des Zürcher Duos Bischoff & Azzola und das skulptural-ungelenke Museion des Berliner Büros Krüger Schuberth Vandreike noch Interventionen, die trotz ihrer Härte den Charme von Bozens Innenstadt nicht wirklich störten, so droht nun ein Projekt von David Chipperfield das Bahnhofsviertel in eine monotone Nachbarschaft zu verwandeln. Doch schlimmer ist das Gebäudemonster, welches der Wiener Exzentriker Boris Podrecca jüngst in Meran realisierte – und zwar an der Stelle des von Marino Meo entworfenen Hotels «Bristol», das 1954 von Sophia Loren als «l'hotel più moderno ed elegante d'Europa» eröffnet wurde.
Nun bedrängt Podreccas formale, materielle und stadträumliche Kakofonie die Umgebung, vor allem aber den Geschäfts- und Wohnkomplex des heute kultigen, vom offiziellen Südtirol aber noch kaum geschätzten Armando Ronca, dem das Kunsthaus Meran im Herbst eine grosse Retrospektive widmen wird.
Doch viele Bauherren setzen weiterhin auf internationale Architekten, von denen sich einige eine weitere Belebung des boomenden Tourismus erhoffen. Das Resultat sind stets Gebäude, die sich mit den sensibel auf den Ort abgestimmten Arbeiten der besten einheimischen Baukünstler – etwa dem Meraner Kulturzentrum Kimm von Höller & Klotzner, dem Weingut Manincor in Kaltern von Walter Angonese oder der Kellerei Nals Margreid von Markus Scherer – nicht messen können.
Man horchte deshalb auf, als die Betreibergesellschaft von Südtirols grösstem Skizirkus ankündigte, auf dem durch Bergbahnen völlig verunstalteten Kronzplatz ein weiteres durch Reinhold Messner zu bespielendes Mountain Museum zu errichten. Das in Bruneck ansässige Büro EM2, dem vor zehn Jahren mit der Friedhoferweiterung in Luttach im Ahrntal ein international beachtetes Werk gelungen war, schlug vor, das Museumsgebäude an der steilen, aussichtsreichen Westkante des flachen Berges so einzugraben, dass nur ein kammartiger Eingangspavillon sichtbar geblieben wäre.
Zwei teleskopartig aus dem Abhang wachsende Fenster und eine weit auskragende Plattform hätten Ausblicke auf die Dolomiten, den Ortler und hinunter ins Val Badia ermöglicht. Doch dann war Messner und der Betreibergesellschaft der Name des Brunecker Büros zu wenig zugkräftig. Deshalb klopften sie bei Zaha Hadid an, die ohne Skrupel das Grundkonzept von EM2 übernahm und in ihre Sprache übertrug. Sie setzte eine Ufo-artige Vergnügungsarchitektur mit gekurvten Erkern und Panoramabalkon oben auf die Hangkante und camouflierte sie recht ungeschickt mit einem überdimensionierten Steinhaufen, der sich nun ganz unorganisch aus der Landschaft erhebt.
Eine weitaus überzeugendere Aussichtsplattform konnte soeben als Teil des grossen Transformationsprojekts Franzensfeste südlich des Brennerpasses eröffnet werden. Von ihr aus überblickt man das enge, von Auto- und Eisenbahn bedrängte Eisacktal und die beiden unteren Teile der wie eine befestigte Kleinstadt anmutenden Fortifikation. Als grösste Festungsanlage des Habsburgerreichs wurde sie von Franz von Scholl, dem «österreichischen Vauban», der Topografie folgend auf drei unterschiedlichen Geländestufen errichtet.
Schon nach ihrer Fertigstellung 1838 erwies sie sich als veraltet und diente nie kriegerischen Zwecken. Bald schon als Pulverlager genutzt, blieb sie auch nach ihrer Abtretung an Italien weitgehend unverändert, während sich die Landschaft stark veränderte: zunächst durch den 1940 vollendeten Stausee, dann durch den Bau der Autobahn. Mit diesem ging eine Verlegung der Staatsstrasse einher, bei der der westlichste Teil der unteren Festung in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Als der ebenso grosse wie nutzlose Baukomplex schliesslich an die Autonome Provinz Südtirol ging, veranstaltete diese 2006 einen Wettbewerb zur Umgestaltung der Festung in ein Ausstellungs- und Veranstaltungszentrum, den der Meraner Architekt Markus Scherer zusammen mit seinem Vinschgauer Kollegen Walter Dietl für sich entscheiden konnte.
Entstanden ist ein stilles, mitunter fast metaphysisch anmutendes Meisterwerk.
Scherer, der sich zusammen mit Walter Angonese schon 2003 mit dem ingeniösen Umbau von Schloss Tirol einen Namen gemacht hatte, versuchte die Patina des in seinem Urzustand erhaltenen Baudenkmals zu wahren und «für zukünftige Besucher erlebbar zu machen». Entstanden ist ein stilles, mitunter fast metaphysisch anmutendes Meisterwerk, das die besten Eigenschaften der neuen Südtiroler Architektur auf höchstem künstlerischem Niveau vereint und dabei an unerwarteten Stellen mit spektakulären Einfällen überrascht.
Da «Architektur im Dialog zwischen alter und neuer Bausubstanz entsteht», dämpfte Scherer hier seine moderne Formensprache mit Materialien, die das prozesshafte «Verwittern und die Entstehung von Patina ermöglichen». So schälte er bei der Umnutzung der Kasematten-Gebäude des unteren Forts «fast chirurgisch» jene neuralgischen Punkte heraus, die mit kleinstem Aufwand die bestmögliche Erschliessung garantierten. Zentral sind dabei die beiden Türme aus geschichtetem Beton, durch deren offene Fugen Licht und Luft ins Treppenhaus dringen.
Sie interpretieren die Fassadenstruktur der Altbauten auf eigenwillige Weise und erschliessen zusammen mit den in dunkel patiniertem Stahl gehaltenen Passerellen die verschiedenen Ausstellungsgeschosse der Kasematten: besonders spektakulär bei der verdrehten Doppelbrücke, die – einzig durch Zug- und Druckstäbe gefestigt – stützenfrei 16 Meter über den Stausee auskragt und so zwei sich nur über Eck berührende Kasematten ebenso elegant wie expressiv verbindet.
Die zuerst vollendete untere Festung, die bereits 2008 als zentraler Veranstaltungsort der 7. Manifesta bespielt werden konnte, zeigte den von überall her angereisten Besuchern, was Baukunst zu leisten vermag, wenn ein einfühlsamer Architekt mit offenen Augen für Raum, Form und Material sowie mit Sinn für den Genius loci an einen Altbau herangeht. Dabei beschränkte sich Scherer anders als einst Aurelio Galfetti, der das mittelalterliche Castelgrande in Bellinzona etwas allzu rigoros purifizierte, auf die allernotwendigsten Eingriffe, suchte für diese aber exquisite Lösungen.
So erschloss er die im Jahr 2009 eröffnete mittlere Festung vom Eingangshof aus über eine durch zwei Tunnels zugängliche, 21 Meter hohe Kaverne, in der die Nazis das Gold der italienischen Staatsbank versteckt haben sollen. Hier sorgt eine zusammen mit dem Bozener Ingenieur Klaus Plattner ausgetüftelte, waghalsig sich um eine leere Mitte drehende Treppe, die durch Fluchtpasserellen mit dem gegenüberliegenden Lift verbunden ist, für einen magischen Raumeindruck, wie man ihn von Piranesis Carceri oder Eschers Endlostreppen her kennt. Sie endet im Pulverhaus, das im Zweiten Weltkrieg durch einen Irrläufer in die Luft ging. Von dort gelangt man dann zu den oberen Ausstellungsbauten.
Die seit 2006 von Markus Scherer als Work in Progress vorangetriebene Arbeit an der Franzensfeste sorgte immer wieder für Aufsehen. So auch im Juli letzten Jahres, als der Infopoint des Brenner-Basistunnels (BBT) im westlichsten, durch den Bau der neuen Staatsstrasse teilweise beschädigten Bereich der unteren Festungsanlage eröffnet wurde.
Zu ihm gelangt man vom Eingangshof auf einem Weg, der hinter einer halbtransparenten Wand aus steingefüllten Gittern an der tiefer gelegenen Staatsstrasse vorbei und hinauf führt zum Vortrags- und Versammlungssaal. Das anstelle eines einst beim Tunnelbau eingestürzten Gebäudes als diagonale Brückenkonstruktion über der Staatsstrasse errichtete neue Haus lenkt den Blick hin zum pavillonartigen Infopoint. Hier betritt man die suggestive, über sieben Kasemattenräume sich erstreckende Ausstellung zum dereinst längsten Eisenbahntunnel der Welt.
Nach dem Rundgang entdeckt man dann vielleicht die Aussichtsplattform des oberen Forts, zu der man im Rahmen von Führungen durch einen Tunnel mit über 400 Treppenstufen aufsteigen kann. Sie bildet den vorläufigen Abschluss der Umgestaltung der Franzensfeste. Diese Transformation ist deshalb so wichtig, weil sie uns in einer unter architektonischer Amnesie leidenden Zeit, in der immer mehr Altbausubstanz unwiederbringlich verschwindet, zeigt, wie ein vermeintlich nutzloses Bauwerk zum Lehrstück eines baukünstlerisch empfindsamen Umgangs mit dem Bestand werden kann.