Das Bündner Dorf Riom erfindet sich neu

Der Schweizer Heimatschutz verleiht den Wakker-Preis 2018 an die Kulturstiftung Origen. Diese ist im Bergdorf Riom angesiedelt, das gegen Abwanderung kämpft. Origen belebt den Ort mit Kultur.

Jörg Krummenacher
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Musiktheater in einem ehemaligen Stall: Origen-Aufführung von «Der Zar in Paris» im letzten Winter. (Bild: Origen Festival)

Musiktheater in einem ehemaligen Stall: Origen-Aufführung von «Der Zar in Paris» im letzten Winter. (Bild: Origen Festival)

Riom: 1250 Meter über Meer, noch 200 Einwohner, an der Bergflanke neben den Skipisten Savognins gelegen. Riom teilt das Schicksal so manchen Dorfes im Alpenraum: Die Jungen wandern ab, Häuser und Ställe stehen leer, die Schule bleibt geschlossen. Doch in Riom hat sich die 2006 gegründete Stiftung Origen eingenistet und ist mittendrin, dem Ort neues Leben einzuhauchen. «Es gab immer wieder Momente, da sich das Dorf neu erfunden hat», sagt der Theologe und Theaterwissenschafter Giovanni Netzer. Er ist Initiant und Intendant von Origen. Netzer bezieht sich etwa auf den grossen Brand von 1864, der beinah im ganzen Dorf wütete und in dessen Folge viele Häuser neu gebaut wurden. Nun ist Netzer an vorderster Stelle dafür verantwortlich, diverse leerstehende Gebäude im Rahmen der kulturellen Aktivitäten der Stiftung einer neuen Nutzung zuzuführen.

Sechster Bündner Preisträger

Der Schweizer Heimatschutz nimmt das Europäische Kulturerbejahr 2018 zum Anlass, seinen begehrten, mit 20'000 Franken dotierten Wakker-Preis für einmal nicht einer Gemeinde, sondern erstmals einer «Organisation der Zivilgesellschaft» zu verleihen. Der Preis wird seit 1972 jährlich ausgerichtet und soll vorbildliche Leistungen bei der Ortsbild- und Siedlungsentwicklung auszeichnen. Die Stiftung Origen ist der sechste Preisträger aus Graubünden. Kein anderer Kanton ist bisher öfter bedacht worden.

Origen lässt sich mit Ursprung übersetzen. Der Name ist Programm: Die Stiftung Origen schöpft aus der regionalen Kultur und versucht gleichzeitig, ganz unbescheiden, «Welttheater» zu machen. Aufgeführt werden Tanztheater, Musiktheater und Konzerte. Das führt sie bisweilen über das Bündnerland hinaus: So gastierte Origen 2014 mit dem Mozart-Requiem in der Zürcher Bahnhofshalle.

Der Heimatschutz begründet die Auszeichnung für die Stiftung damit, dass diese die Veränderung des Dorfes als «Chance für die Zukunft» erkannt habe: «Anstatt einen neuen Kulturtempel für ihr erfolgreiches Festival zu planen, hat die Stiftung entschieden, das vorhandene Bauerbe als Alleinstellungsmerkmal zu pflegen und respektvoll neu zu bespielen.» Ausgehend vom eigenen kulturellen Erbe sei es Origen gelungen, eine Ausstrahlung weit über das eigene Tal hinaus zu erreichen.

Am Anfang war die Burg

Die Verleihung des Wakker-Preises wird am 18. August in Riom als grosses Fest über die Bühne gehen. Für die Bekanntgabe des Preisträgers hatte sich der Heimatschutz am Dienstag die Villa Carisch samt angrenzender Scheune ausgesucht, eine Villa, die nach dem Dorfbrand von einem Heimkehrer neu errichtet worden war. Am Anfang von Origen aber stand die einst stolze Burg am unteren Dorfrand, erbaut vor bald 800 Jahren, die zur Ruine zerfallen war. 2006 wurde sie wachgeküsst und zum Theaterraum für 220 Personen umgebaut. Inzwischen ist im Dorf neben der Villa Carisch und ihrer zum ganzjährig nutzbaren Vorstellungsraum umfunktionierten Scheune «Clavadeira» das Restaurant Taratsch hinzugekommen, das italienische Küche bietet, ebenso das Café Carisch, das die Zuckerbäckertradition aufleben lässt. Das nicht mehr genutzte Schulhaus ist zum Probelokal und Produktionsbüro geworden.

Erstmals und als Ausnahme verleiht der Schweizer Heimatschutz den begehrten Wakkerpreis nicht an eine Gemeinde, sondern an eine kulturelle Organisation. Preisträgerin 2018 ist die Stiftung «Nova Fundaziun Origen» im Bündner Dorf Riom. (Bild: Christian Beutler / Keystone)
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«Origen» zeichnet sich durch seine temporären Bauten aus, die die umliegende Landschaft als Kulisse nutzen. Im Bild: der «Torre Melancolia», ein 18 Meter hoher, begehbarer Turm, der im Sommer 2016 auf dem Julierpass stand. Er war Startschuss für den ein Jahr danach realisierten Theaterturm auf dem Pass. Der Turm soll an die Bündner Emigranten erinnern. (Bild: Gian Ehrenzeller / Keystone)
Das «Origen» ist ein Musiktheater und Tanzfestival, das seit 2006 jährlich in Riom im Oberhalbstein stattfindet. Grundgedanke der Inszenierungen ist stets, klassische Opernstücke und Tanzaufführungen mit der traditionellen rätoromanischen Sprache in Kontakt zu bringen. Bild: Ansicht des Tanztheaters «Exil» von Eno Peci im Jahr 2016 in der Burg Riom (Bild: Bowie Verschuuren / www.origen.ch)
Die Kulturorganisation Origen ist untrennbar mit der Person des 50-jährigen Giovanni Netzer verbunden. Der Theologe, Kunstgeschichtler und Theaterwissenschaftler firmiert als Gründer und Leiter des Origen-Theaters. (Bild: Gian Ehrenzeller / Keystone)
Obwohl die Spielorte jährlich variieren, hat das Bündner Kulturfestival zwei Stammhäuser in seiner Heimat Riom. Im Jahr 2006 wurde die Burg Riom von «Origen» gemeinsam mit dem Churer Architekten Marcel Liesch renoviert und in ein Theater umgewandelt. (Bild: Christian Beutler / Keystone)
Die Theaterfestung bietet rund 220 Zuschauern Platz und verbindet zeitgenössisches Theater sowie Tanz mit einer über 800 Jahre alten Kulisse. (Bild: PD)
Das Sommertheater in der Burg von Riom: Innenansicht der Zuschauertribüne mit dem schweren Dach aus den 1970er Jahren. (Foto: Christian Beutler / Keystone)
Die Winterspielstätte «Clavadeira» öffnete seine Pforten im Jahr 2015. Mit den Theaterräumen erhielt das Festival erstmals eine ganzjährig bespielbare Infrastruktur. (Bild: PD)
Die Scheune des «Clavadeira» lässt spektakuläres Licht zu. Durch die Holzdekorationen in den Fassaden fällt sparsames Tageslicht, welches dem Raum eine mystische Atmosphäre verleiht. (Bild: PD)
Das Wintertheater in der Scheune des Monsieur Carisch. (Foto: James Batten / Schweizer Heimatschutz)
Im Sommer 2017 eröffnete schliesslich das zwei Millionen Franken teure Juliertheater. Durch hohe Fensteröffnungen verbindet dieser 30 Meter hohe Bau auf einzigartige Weise Natur und Kultur. (Bild: Annick Ramp / NZZ)
Der aus Holz erbaute Julierturm wirkt durch die vielen Öffnungen transparent. Die obere Plattform kann als Veranstaltungsraum oder als Foyer genutzt werden. (Bild: Keystone)
Ebenfalls vom Theater in Beschlag genommen wurde das Anwesen der heimischen Konditor-Familie Carisch. Die Villa Carisch erfuhr eine Neubelebung als Foyer und Ort des Austausches, das stillgelegte Schulhaus als Probelokal. (Bild: Christian Beutler / Keystone) Zum Artikel

Erstmals und als Ausnahme verleiht der Schweizer Heimatschutz den begehrten Wakkerpreis nicht an eine Gemeinde, sondern an eine kulturelle Organisation. Preisträgerin 2018 ist die Stiftung «Nova Fundaziun Origen» im Bündner Dorf Riom. (Bild: Christian Beutler / Keystone)

Zuletzt, im vergangenen Sommer, hat die Nova Fundaziun Origen für zwei Millionen Franken einen roten Turm auf die Passhöhe des Juliers gestellt. Wie schon bei der Wiederbelebung der Burg Riom, als Moritz Leuenberger sprach, war auch bei der Eröffnung des Kulturturms am 1. August ein Bundesrat zugange, diesmal Alain Berset. Nun, im Winter, umgeben von Schneemassen, leuchtet der Turm auf der Julier-Passhöhe wie ein Raumschiff aus einer fernen Welt.

Das neue Projekt: Malancuneia

«Wir haben hier die Freiheit, die Dinge neu zu denken», so freut sich Giovanni Netzer über die besonderen Chancen, die ihm die strukturschwache Region bietet. Den Wakker-Preis versteht er denn auch gleich als Steilpass, ein neues Projekt zu lancieren: Malancuneia, zu deutsch: Heimweh. Vier leerstehende Gebäude im Ortszentrum von Riom sollen in den nächsten Jahren umgenutzt und belebt werden: Die alte Gemeindekanzlei wird zum Besucherzentrum, im Haus gegenüber entstehen Wohnungen, in einer Scheune Werkstätten und Ateliers, das Schulhaus schliesslich wird zum Bildungszentrum. All das setzt Investitionen von 7,6 Millionen Franken voraus. Der Kanton Graubünden beteiligt sich mit einer Million Franken. Für den Rest hofft Origen auf Spenden.

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