Ein Krankenhaus in Aleppo wurde 2016 vermutlich zum Ziel von Luftangriffen von regierungsnahen Streitkräften. (Bild: Forensic Architecture)

Ein Krankenhaus in Aleppo wurde 2016 vermutlich zum Ziel von Luftangriffen von regierungsnahen Streitkräften. (Bild: Forensic Architecture)

Diese Architekten dokumentieren Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Eyal Weizman gründete die Forschungsgruppe Forensic Architecture, die Kriegs- und Folterschauplätze rekonstruiert. 3-D-Modelle und Landkarten erreichen damit den Status von forensischen Beweisen, die vor Gericht eingesetzt werden können, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen.

Antje Stahl
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Der Präsident Bashar al-Asad behauptet, Katar würde Eyal Weizman bezahlen, damit er Lügen über den Krieg in Syrien verbreite. Die israelische Regierung hält ihn für einen Pollywood-Produzenten, der propalästinensische Propagandavideos drehe. Und Holger Bellino, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion in Hessen, beschimpft ihn als «Linkspopulisten», der «Verschwörungstheorien» über den Verfassungsschutz der Bundesrepublik Deutschland erfinde. Eyal Weizman, geboren 1970 in Haifa, Israel, ist ein sehr berühmter und selbst in Germany gefürchteter Mann.

Die Politik tue alles, sagt er am Telefon, um ihre eigenen Verbrechen zu vertuschen. Nicht nur in Syrien, in Palästina, im Irak oder in China, auch in Europa. Wir erreichen ihn in seiner Research-Agentur Forensic Architecture in London, dort sieht es aus wie in einem Architekturbüro mit Newsroom. Die Skype-Verbindung wackelt, wir verabreden uns zum Festnetzen.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Eyal Weizman (dritter von rechts, hintere Reihe) und ein Teil seines Teams, 2017. Bild: Forensic Architecture)

Eyal Weizman (dritter von rechts, hintere Reihe) und ein Teil seines Teams, 2017. Bild: Forensic Architecture)

«Verbrechen gegen die Menschlichkeit» – nicht mehr und nicht weniger wirft der Direktor Eyal Weizman Politikern, Parteien und Staaten vor – gemeinsam mit einem rund zwanzigköpfigen Team ermittelt er rund um die Uhr Beweise, die seine Anklagen stützen. Wie er arbeitet, wird sich im Einzelfall noch zeigen, aber so viel vorweg: Forensic Architecture ist eine junge Wissenschaft und erhebt den Anspruch, nachvollziehbare Sach- und Kausalzusammenhänge der Rhetorik sich bedroht fühlender Amtsträger gegenüberzustellen. Nur geht es Weizman nicht um DNA-Spuren, es werden keine psychiatrischen Gutachten oder rechtsmedizinischen Befunde erstellt, Weizman ist ausgebildeter Architekt und rekonstruiert Tatorte: Wohnungen, Gebäude, Städte, mitunter ganze Regionen. Seit vielen Jahren wird Forensic Architecture dabei vom European Research Council unterstützt und ist an die Goldsmiths-Universität in London angeschlossen, was vielleicht nicht die politische Unabhängigkeit dieser heroischen Mannschaft aus Architekten, Journalisten, Filmemachern und IT-Spezialisten garantiert, aber zeigt, dass ihre Methoden auf akademischem Boden entstanden sind.

Grafische Rekonstruktion des Grenzstreifens zwischen Israel und Palästina. Im April 2009 wurde hier der Demonstrant Bassem Abu Rahma von israelischen Sicherheitskräften erschossen. (Bild: Forensic Architecture)

Grafische Rekonstruktion des Grenzstreifens zwischen Israel und Palästina. Im April 2009 wurde hier der Demonstrant Bassem Abu Rahma von israelischen Sicherheitskräften erschossen. (Bild: Forensic Architecture)

Für den Hamburger Anwalt Alexander Kienzle war das auch der Grund, warum er Eyal Weizman 2017 zur Hauptverhandlung des NSU-Prozesses in München einladen wollte. Kienzle tritt als Nebenkläger beim Oberlandesgericht in Bayern auf und vertritt die Familie des neunten Opfers des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds: Halit Yozgat, er wurde im April 2006 im Internet-Café seiner Familie in Kassel ermordet. Eyal Weizman sollte als Sachverständiger auftreten und die Ergebnisse seiner Recherche präsentieren.

Was kann ein Architekt zu einem Straf- oder auch Zivilprozess beitragen? Und wie gehen die Forensiker genau vor? Diese Fragen stellen sich überall dort, wo Eyal Weizman auftritt: in Deutschland, aber auch in den Niederlanden beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag, beim Obersten Gericht seines Heimatlandes Israel. (Eben dort gewann ein Anwalt 2015 mithilfe von Weizmans Team sogar einen Prozess.)

Ruinen lesen: Eyal Weizmans Feldstudie zu einem Drohnenangriff in Miranshah, Nord-Waziristan, im März 2012. (Bild: Forensic Architecture)

Ruinen lesen: Eyal Weizmans Feldstudie zu einem Drohnenangriff in Miranshah, Nord-Waziristan, im März 2012. (Bild: Forensic Architecture)

Ruinen

Um das Ausmass der Arbeit der Architektur-Forensiker zu verstehen, ruft Weizman schon einmal die Sprengung der Konzentrationslager und Gaskammern in Erinnerung, die die Nationalsozialisten kurz vor der Niederlage im Zweiten Weltkrieg systematisch betrieben: Bis heute versuchen Holocaust-Leugner wie der Brite David Irving den «Mangel an architektonischen Beweisen» zu instrumentalisieren, um die Überlebenden und Zeugen der Lüge zu bezichtigen. Bis heute arbeiten Archäologen deshalb im polnischen Sobibor daran, die Fundamente des Konzentrationslagers aufzuspüren und freizulegen. Für Weizman sind diese Forscher in gewisser Hinsicht Vorbilder, denn auch er begann sich als junger Architekt für Ruinen zu interessieren, archäologische Spuren zu untersuchen.

Für eines seiner ersten international beachteten Projekte kartografierte er das Westjordanland und zeichnete palästinensische Dörfer sowie die neuen Siedlungen und Strassen ein, die Israel über die Jahre gebaut hatte und jene verdrängt beziehungsweise zerstört hatten. Eigentlich sollte diese Forschungsarbeit im Sommer 2002 auf dem World Congress of Architecture in Berlin vor über 6000 internationalen Gästen präsentiert werden. Kurz bevor der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder den Kongress eröffnen sollte, schaltete sich jedoch der israelische Architektenverband ein und verwehrte Weizman die Teilnahme: «Möge der Himmel uns beistehen, wenn das alles wäre, was Israel zeigen könnte», begründete der Direktor Uri Zerubavel seine Entscheidung. «Als ob hier nur Siedlungen gebaut würden.» Eyal Weizman, seinerzeit bereits Kritiker der Sicherheits- und Siedlungspolitik seines Heimatlandes und Human-Rights-Activist, hielt diesen Eingriff für Zensur.

Die Agentur Forensic Architecture ermittelt Mordfälle, um einen Tathergang zu rekonstruieren, werden die Tatorte am Computer rekonstruiert: Hier sieht man ein Dorf in der Wüste Negev, in dem zwei Menschen von israelischen Polizeikräften getötet worden sind. (Bild: Forensic Architecture)

Die Agentur Forensic Architecture ermittelt Mordfälle, um einen Tathergang zu rekonstruieren, werden die Tatorte am Computer rekonstruiert: Hier sieht man ein Dorf in der Wüste Negev, in dem zwei Menschen von israelischen Polizeikräften getötet worden sind. (Bild: Forensic Architecture)

Jedem Ermittlungsverfahren, dem Eyal Weizman und sein Team sich verschreiben, gehen so zwei Prämissen voraus: Staatliche Gewalt hinterlässt architektonische Spuren, und die Entscheidungsträger verfügen über die Macht, sie zu tilgen. Forensic Architecture arbeitet deshalb ausschliesslich für zivile Opfer, für NGO und unabhängige Vereine: «Man kann nicht darauf vertrauen, dass Staaten staatliche Verbrechen aufklären», sagt Weizman.

Einreise wäre lebensgefährlich

Es überrascht daher auch nicht, dass es Weizman und seinem Team so gut wie nie möglich ist, die Tatorte aufzusuchen. Sie empfangen geschädigte Personen oder ihre Vertreter aus Krisen- und Kriegsgebieten, die Einreise wäre lebensgefährlich oder ist untersagt. Oft müssen sie ihren Auftraggebern aus der Ferne helfen. In naher Zukunft werden sie einigen Mitgliedern der Organisation Yazda eine Aufnahmetechnik, die Fotogrammetrie, beibringen: Sie vertreten die jesidischen Mädchen und Frauen, die vom IS versklavt und vergewaltigt wurden, und versuchen das Beweismaterial zu sichern. «Es gibt zwar bereits Fotos der Häuser und Schulen, in denen sie gefangen gehalten wurden», sagt ein Mitarbeiter von Weizman. Er aber versucht, die räumliche Situation wiederherzustellen, also Bilder zueinander in Beziehung zu setzen, um 3-D-Modelle zu erstellen.

«The Black Friday report» ist eine Kollaboration zwischen Forensic Architecture und Amnesty International. Mittels Material, das sie über soziale Medien gesammelt haben, versuchen sie die Ereignisse in Rafah nachzuvollziehen, die die palästinensische Stadt zwischen dem 1. und 4. August 2014 erschütterten. (Bild: Forensic Architecture)

«The Black Friday report» ist eine Kollaboration zwischen Forensic Architecture und Amnesty International. Mittels Material, das sie über soziale Medien gesammelt haben, versuchen sie die Ereignisse in Rafah nachzuvollziehen, die die palästinensische Stadt zwischen dem 1. und 4. August 2014 erschütterten. (Bild: Forensic Architecture)

In vielen anderen Fällen muss Forensic Architecture allerdings mit weniger Quellen auskommen. Aus Syrien erreichten die Agentur Handyvideos von einem vermutlich russischen Bombenangriff. Bereits lange vor dem Arabischen Frühling wurden Videomitschnitte und Handyfotos als Kommunikationsmittel gegen repressive Staatsmächte eingesetzt: In sozialen Netzwerken werden die Beweise hochgeladen, sie werden von Journalisten im Ausland ausgewertet. Die Architekten-Forensiker schalten sich in diesen Vorgang ein, indem sie das gesamte Videomaterial in Raum und Zeit verorten. Anhand von Satellitenbildern und Landkarten kann Weizmans Team die Standorte der unterschiedlichen Handys rekonstruieren und damit ein objektives Narrativ herstellen, das das filmische Chaos ordnet und es Dritten erschwert, einzelne Videomitschnitte als Fälschungen zu demontieren.

Standortbestimmung von Zivilpersonen, die Luftangriffe mit ihren Handykameras aufnahmen. (Bild: Forensic Architecture)

Standortbestimmung von Zivilpersonen, die Luftangriffe mit ihren Handykameras aufnahmen. (Bild: Forensic Architecture)

Der Öffentlichkeit stehen ja kaum dieselben Bilder zur Verfügung wie Geheimdiensten. Satellitenbilder etwa seien zwar über die Jahre immer schärfer geworden, aber wer welche Auflösung in die Hände bekomme, regulierten Gesetze, so Weizman. Auf bestimmten Bildern könne man so nicht mehr erkennen, ob eine Bombe Menschen getötet habe oder nicht. Wenn es kein Bildmaterial gibt, arbeiten die Architekten deshalb wie Phantombildzeichner, nur dass sie keine Gesichter, sondern Räume nachzeichnen. Allein auf Grundlage von Zeugenberichten etwa bauten sie ein Foltergefängnis nach, das sich nördlich von Damaskus befindet. Die einst inhaftierten Syrer erinnerten sich oft nur an Geräusche und minimale Zellenabschnitte, die ein Architekt am Computer wie Puzzleteile zusammenfügte.

Syrer erinnerten sich oft nur schemenhaft an die Räume des Gefängnisses Saydnaya, in denen sie gefangen gehalten und gefoltert wurden. (Bild: Forensic Architecture)

Syrer erinnerten sich oft nur schemenhaft an die Räume des Gefängnisses Saydnaya, in denen sie gefangen gehalten und gefoltert wurden. (Bild: Forensic Architecture)

Zu Hilfe kommen ihnen Programme, die ihre Berufsgenossen nutzen, um virtuell Lofts zu entwerfen und einzurichten. Kaum wundert man sich mehr darüber, dass die gesamte Ästhetik, die Zeichnungen, Renderings, Modelle und Videos von Forensic Architecture einen so anziehen wie so manche Grafik eines Designers.

Ausstellungshaus ersetzt Gerichtssaal

Nicht jedes dieser Ermittlungsverfahren landet vor einem nationalen oder internationalen Gerichtshof. Tatsächlich, sagt Weizman, sei die Agentur auf andere «Foren» angewiesen, damit sich in der Öffentlichkeit nicht nur die «simulierte Realität der Politik» durchsetze. Er hält die «Wahrheit» für das vielleicht grösste Opfer staatlicher Gewalt, das, was Menschen leibhaft erführen, müsse sich gegenüber der Politik behaupten. Auch Ausstellungshäuser wie das Haus der Kulturen der Welt in Berlin oder The Institute of Contemporary Arts in London erkennt er als alternative Gerichtssäle an. Im Zentrum der Schau «Counter Investigations», die gerade im ICA eröffnet wird, sollten deshalb auch noch einmal der NSU-Prozess und seine Rechercheergebnisse stehen.

Die Abbildung zeit eine Computersimulation eines Internet-Cafés in Kassel, in dem Halit Yozgat am 6. April 2006 ermordet wurde. Die Figur stellt den Mitarbeiter des deutschen Verfassungsschutzes Andreas Temme dar, der sich zur Tatzeit am Tatort befand. (Bild: Forensic Architecture)

Die Abbildung zeit eine Computersimulation eines Internet-Cafés in Kassel, in dem Halit Yozgat am 6. April 2006 ermordet wurde. Die Figur stellt den Mitarbeiter des deutschen Verfassungsschutzes Andreas Temme dar, der sich zur Tatzeit am Tatort befand. (Bild: Forensic Architecture)

Zur Tatzeit im April 2006 befand sich nicht nur das Opfer Halit Yozgat im Internet-Café, auch ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, Andreas Temme, hatte sich im hinteren Raum aufgehalten und sich in eine Partnervermittlungsseite eingeloggt, das ist vielen auch bekannt. An seiner Figur hängt sich deshalb bis heute die Frage auf, inwiefern Mitarbeiter des Verfassungsschutzes über die Gewaltverbrechen der rechtsextremen Szene informiert waren. Befragt werden dürfen sie nicht: Das hatte der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Hessens, Volker Bouffier (CDU), durch eine Sperrerklärung verhindert. Allein Andreas Temme musste aussagen, als er anhand seiner Log-in-Daten identifiziert worden war, gab aber an, keine «aussergewöhnlichen Geräusche», das heisst keinen Schuss, gehört zu haben.

Forensic Architecture baute auf Nachfrage einer Organisation, die mit der Familie des ermordeten Jungen Yozgat zusammenarbeitet, das Internet-Café nach und berechnete mithilfe von Temmes Log-in-Daten und jenen der anderen Kunden, die zur Tatzeit telefoniert oder Computerspiele gespielt hatten, mögliche Szenarien, die Temme der Falschaussage überführen könnten. Es sei ausgeschlossen, so jedenfalls Forensic Architecture, dass der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes nichts gehört, gesehen oder gerochen habe.

77 Quadratmeter gross ist das Internet-Café, Forensic Architecture berechnete 16 mögliche Szenarios, die sich in einem Zeitraum von 9 Minuten und 26 Sekunden abgespielt haben könnten. (Bild: Forensic Architecture)

77 Quadratmeter gross ist das Internet-Café, Forensic Architecture berechnete 16 mögliche Szenarios, die sich in einem Zeitraum von 9 Minuten und 26 Sekunden abgespielt haben könnten. (Bild: Forensic Architecture)

Vor dem Oberlandesgericht in Bayern durfte der Direktor von Forensic Architecture diesen Sachverhalt jedoch nie vortragen: Der Rechtsanwalt Alexander Kienzle erfuhr, dass der Agentur «von anderen Verfahrensbeteiligten in unzulässiger Weise Aktenteile zur Verfügung gestellt worden sind», die das Gutachten beeinflusst haben könnten. Juristisch betrachtet, ergab es Sinn, dass Kienzle deshalb auf eine Ladung verzichtete. Dass es der Wahrheitsfindung geholfen hätte, der Eyal Weizman sich verpflichtet fühlt, davon ist der Hamburger Anwalt auf Nachfrage noch immer überzeugt.

«Counter Investigations: Forensic Architecture», ICA, London. Bis 6. Mai 2018. Ein umfassender Bericht von Eyal Weizman über Forensic Architecture erschien bei Zone Books, New York 2017. 368 S., Fr. 64.90.