Poesie des öffentlichen Raums: Ein Tessiner Dorf wertet mit feinen architektonischen Gesten den Alltag auf

Ein Architekturbüro hat den Ort Monte im Valle di Muggio mit feinen Interventionen für alte und junge Menschen aufgewertet. Die Strategie sollte als Vorbild für schrumpfende und überalterte Dörfer in der ganzen Schweiz dienen.

Andres Herzog, Castel San Pietro 5 min
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Die Aufwertung des öffentlichen Raums entschädigt für die engen Platzverhältnisse in den alten Gassen und Häusern des Dorfes Monte im Tessiner Valle di Muggio.

Die Aufwertung des öffentlichen Raums entschädigt für die engen Platzverhältnisse in den alten Gassen und Häusern des Dorfes Monte im Tessiner Valle di Muggio.

Marcello Merletto / Studioser

Die Inhaberin des Dorfladens im Tessiner Ort Monte im Valle di Muggio hat die Panini schon bereitgelegt. Sie kennt die beiden Architekten Rina Rolli und Tiziano Schürch vom Studioser gut, seit diese den Ort in den letzten zwei Jahren analysiert und feinjustiert haben. Der Dorfladen diente schon zuvor als Treffpunkt. Nun ist dieser auch architektonisch als solcher zu erkennen.

Die Architekten haben die Strasse vor dem Laden gepflästert und eine Bank montiert. Eine Konsole an der Hausmauer wirkt als Schaufenster. Im Laden, der auch als improvisiertes Café dient, wurden Tische zurechtgerückt und ein paar Regale gebaut. Die architektonischen Eingriffe bleiben nahezu unsichtbar. Und doch werten sie den Alltag merklich auf.

Bilder Sven Högger

Das soziale Herz von Monte: der Dorfladen. Frisches Brot gibt es auch noch nach Ladenschluss: nämlich im Schrank vor dem Eingang.

Das Projekt geht zurück auf eine Studie, die drei Tessiner Gemeinden mit dem Schweizerischen Seniorenrat in Auftrag gegeben haben. Die Studie sollte herausfinden, wie das Leben der älteren Bevölkerung in Randregionen verbessert werden kann. Daraus resultierten zehn Empfehlungen, die von sozialen über technische bis hin zu baulichen Massnahmen reichen. Die Gemeinde Castel San Pietro beauftragte daraufhin das Studioser, Interventionen für den Ortsteil Monte abzuleiten, der vor zwanzig Jahren eingemeindet wurde.

Insgesamt haben die Architekten acht kleinere Projekte umgesetzt. Vor dem ehemaligen Gemeindehaus haben sie einen massiven Tisch aus Naturstein gebaut, um den herum filigrane Metallstühle stehen. Hier können sich die Bewohner treffen. Die Aufwertung des öffentlichen Raums entschädigt für die engen Platzverhältnisse in den alten Gassen und Häusern. Die architektonischen Massnahmen sind atmosphärisch wie praktisch. Ein Handlauf gibt in den schmalen Gassen Halt. Auf einer Bank kann man verschnaufen.

Bilder Sven Högger

Auf dem Kirchplatz wurde eine schon vor Langem entfernte Sitzbank neu interpretiert und mit zusätzlichen Funktionen ausgestattet, (oben Casa Communale, unten rechts die Kirche, unten links Sitzbank im Detail).

Rollstuhlgerecht wird das steile Dorf mit den engen Häusern deshalb nicht. Und doch ermöglichen die Eingriffe alten Menschen, länger im Ort zu bleiben. Und auch die jungen profitieren. Die Handläufe können Kinder als Kügelibahn nutzen. Die Murmeln dafür kann man im Dorfladen kaufen. «Unser Ziel war es, nicht bloss Handläufe im ganzen Dorf zu bauen, sondern wie die Architektin Lina Bo Bardi poetische und naive Vorstellungen mit politischen und sozialen Anforderungen zu verknüpfen», sagt Rina Rolli.

Die Geschichten des Dorfes erzählen

Die beiden Architekten haben mit vielen der rund hundert Einwohner gesprochen, die ihnen ihre Bilderalben geöffnet und ihre Erinnerungen von früher mitgeteilt haben. Während dieser informellen Partizipation lernten die Architekten die Biografie des Dorfes kennen, an die sie mit ihren Arbeiten anknüpfen. «Unsere Architektur macht die Geschichte des Ortes sichtbar», sagt Tiziano Schürch. Die vorgenommenen Aufwertungen gleichen manchmal eher der Arbeit der Denkmalpflege. Ein Steinhaus, in dem einst Kastanien getrocknet wurden, haben die Architekten bloss mit einer Infotafel versehen, mit denen sie alle Teilprojekte markiert haben.

Die Architekten verweisen auf Hermann Czechs «stille Architektur», die nur spricht, wenn sie gefragt wird. Ihre stillen Korrekturen – mögen sie noch so klein sein – antworten auf profane Bedürfnisse. Beim Zugang zum Friedhof wurde ein kleiner Brunnen ergänzt, dessen Marmor, Steinplatten und Beton die Materialgeschichte der Region erzählt. Beim ehemaligen Waschhaus im Wald hat es eine Feuerstelle gegeben. Neben dem Dorfbrunnen wurde ein Baum gepflanzt, der mit einem Mäuerchen gefasst ist, das als Sitzgelegenheit dient.

Bilder Sven Högger

Der Handlauf für die Alten ist gleichzeitig eine Kügelibahn für die Kinder (links), und der kleine Brunnen beim Zugang zum Friedhof aus Marmor, Steinplatten und Beton erzählt zugleich die Materialgeschichte der Region.

Tiziano Schürch und Rina Rolli verstehen Architektur als gesellschaftliches Werkzeug. Sie beziehen die Bevölkerung mit ein und gestalten dann präzise Eingriffe, die klar von Architektenhand entworfen sind – bis hin zum erklärenden Flyer. Ihre Perspektive für das Ganze erinnert an den Architekten Luigi Snozzi, der ab 1977 den Ort Monte Carasso revitalisiert und verdichtet hat. Das Studioser handelt allerdings in einem anderen Massstab und mit einer anderen Sprache als Snozzi. In Monte sieht man keine Sichtbetonbauten, sondern feine Gesten des täglichen Gebrauchs.

Preis für Erstlingswerk

«Andere Orte können von Monte lernen», sagt die Bürgermeisterin Alessia Ponti. «Die Eingriffe sind klein, aber wichtig für die Menschen.» Castel San Pietro will sein Ortszentrum renovieren und sich dabei an Monte orientieren. Zentral wird sein, dass die Bevölkerung mitmacht. «Die beste Lösung bringt wenig ohne Engagement der Leute.»

Monte ist ein pittoreskes Dorf, das Valle di Muggio eine idyllische Landschaft. Die Architekten brauchten nicht viel mehr zu tun, als diese Stärke mit ihren Akupunkturen besser zur Geltung zu bringen. An anderen Orten und in einem grösseren Massstab wird ihr poetischer Zugang an Grenzen stossen. Aber auch dort bietet ihre Strategie, den Ort genau zu lesen und zu justieren, Potenzial für den öffentlichen Raum, der oft vernachlässigt wird: gerade für Gemeinden, deren Bevölkerung abwandert und deren finanzieller Rahmen für solche Eingriffe eng gesteckt ist.

Neues Kopfsteinpflaster unterstreicht den Charakter des Dorfplatzes und seine Bedeutung für die Gemeinschaft.

Neues Kopfsteinpflaster unterstreicht den Charakter des Dorfplatzes und seine Bedeutung für die Gemeinschaft.

Sven Högger

Das Projekt zeigt Wirkung über das Dorf hinaus. Die deutsche Architekturzeitschrift «Bauwelt» zeichnete den Eingriff 2023 mit ihrem Preis für Erstlingswerke aus. Letztes Jahr haben die Architekten mit Studenten eine Sommerschule geleitet, die im ganzen Tal Kleinstinterventionen entworfen und gebaut hat. Monte plant mit dem Studioser einen Spielplatz. Die Nachbargemeinde Breggia hat die Architekten mit einer ähnlichen Analyse des Ortes beauftragt.

Im Unterschied zum Bilbao-Effekt, der mit einem spektakulären Projekt eine Stadt umkrempelt, wirkt sich der Monte-Effekt subtiler auf den Ort aus. Er kann die Überalterung und Abwanderung in den Dörfern nicht stoppen, dafür sind grössere ökonomische Zusammenhänge und Lebensrealitäten verantwortlich. In Monte war die Einwohnerzahl bereits vor dem Projekt stabil. Aber die Dorfpflege kann das Dasein derer, die bleiben, bereichern und vielleicht neue Leute anziehen. Die Anpassungen sind eine Art architektonische Spitex, die mit wenig Aufwand ein besseres Leben in der alten Umgebung ermöglicht.