Le Corbusier baute in Indien eine ganze Stadt. Ein Dokumentarfilm erzählt von dem utopischen Experiment Chandigarh

Ein Schweizer Film hält drei wichtige Lehren bereit, die heute oft infrage gestellt werden: Utopien wirken, universelle Werte sind real, und Stadt heisst Veränderung.

Andres Herzog 5 min
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«Chandigarh ist ein grosses Experiment in Indien», schrieb der Premierminister Jawaharlal Nehru 1959.

«Chandigarh ist ein grosses Experiment in Indien», schrieb der Premierminister Jawaharlal Nehru 1959.

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«Welcome to Chandigarh – The city beautiful», so begrüsst ein Schild die Autofahrer am Stadteingang. Chandigarh ist eine Stadt des Optimismus, der Möglichkeiten. Eine gebaute Utopie. Die Planung dafür begann, nur wenige Jahre nachdem Indien sich 1947 aus der Kolonialherrschaft befreit hatte und die Teilung des Subkontinents in Indien und Pakistan im indischen Teil der Provinz Punjab eine neue Verwaltungsstadt nötig machte. Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru, der mit Gandhi für die Unabhängigkeit gekämpft hatte, erteilte den Auftrag dafür persönlich.

Entworfen hat die Stadt der Schweizer Architekt Le Corbusier, der damit die Ideale der Moderne von Licht, Luft und Sonne im urbanen Massstab angewendet hat. Die Schweizer Filmemacher Karin Bucher und Thomas Karrer spüren seiner Vision in einem Dokumentarfilm nach und fördern überraschende Erkenntnisse zutage. Sie befragten Studenten, Architekten, Schauspieler, Touristenführer und Gastwirte. Das Resultat ist eine liebenswürdige Ode an eine Stadt. Von ihren Bewohnern.

Der Film verklärt Chandigarh nicht. Verschiedene Probleme plagen die Stadt: steigende Wohnungspreise, der schwierige Umgang mit dem Bestand, der Verlust von öffentlichen Räumen. Und trotzdem: Die Realität kann die «Kraft der Utopie», so der Titel des Films, nicht schmälern. Chandigarh wirkt als Wahrzeichen eines aufstrebenden Indiens und hält wichtige Lehren bereit, die heute oft infrage gestellt werden.

Eine Stadt, erbaut im Glauben an die kühnen Lösungen der Moderne.

Eine Stadt, erbaut im Glauben an die kühnen Lösungen der Moderne.

Denis Brihat / Gamma-Rapho
«Ich werde hier das Werk meines Lebens vollbringen», schrieb Le Corbusier über seine Utopiestadt Chandigarh.

«Ich werde hier das Werk meines Lebens vollbringen», schrieb Le Corbusier über seine Utopiestadt Chandigarh.

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Der Glaube an die Utopie

Das liegt zunächst einmal am Glauben an die Utopie. «Chandigarh ist ein grosses Experiment in Indien», schrieb Jawaharlal Nehru 1959. «Ob man es mag oder nicht: Es ist das grösste Projekt seiner Art in Indien, weil es zum Nachdenken anregt.» Die Umbruch- und Aufbruchstimmung erinnert an die heutige Zeit, in der Indien China als bevölkerungsreichstes Land abgelöst hat und Narendra Modi Flughäfen, Autobahnen und Eisenbahnstrecken im Monatsrhythmus eröffnet.

«Die Utopie ist die Realität von morgen.» Dieses ebenso banale wie verheissungsvolle Zitat von Le Corbusier fasst den ganzen Optimismus des Architekten zusammen. Vorwärts war seine Richtung, die Vergangenheit gehörte abgerissen. Doch die Postmoderne hat den Glauben an kühne Lösungen der Moderne untergraben. Und wer heute noch an Utopien glaubt, wirkt naiv. In unseren scheinbar fortwährenden Krisenzeiten denken wir lieber in Dystopien.

Doch diese Haltung verkennt die Kraft des grossen Plans, der an der Realität scheitern muss, dessen Linien aber den Weg aufzeigen in eine Zukunft. Die Utopie wirkt. Und sie muss nicht zwingend mit der Vergangenheit brechen. «Jawaharlal Nehru legte den Keim des Modernismus selbst. Er sagte, es solle eine neue Stadt sein, symbolisch für die Freiheit Indiens, frei von den Traditionen der Vergangenheit», sagt Deepika Gandhi, Direktorin des Le Corbusier Centre in Chandigarh. «Manche missverstehen es als Lösen von Traditionen, aber befreit von ihnen heisst, nicht daran gebunden.»

Zum Vorwärtsdrang der Moderne gehörte eine gute Portion Egoismus. «Ich werde hier zwischen diesen Menschen endlich das Werk meines Lebens vollbringen», schrieb Le Corbusier unbescheiden. Der Architekt plante die Stadt als Gesamtkunstwerk und gestaltete alles, von der Architektur über die Kunst am Bau bis zur Skulptur einer offenen Hand, die als Stadtsymbol dient. «In Chandigarh entkommt man Le Corbusier nicht», sagt ein Fotograf im Film. «Er ist immer da. Jeden Tag.» Heute könnte selbst ein «Stararchitekt» nicht mehr so viel gestalterische Macht auf sich vereinen – zu Recht.

Le Corbusier hat seine Stadt in Indien nach universellen Werten konzipiert.

Le Corbusier hat seine Stadt in Indien nach universellen Werten konzipiert.

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Die allgemein gültige Architektur von Chandigarh steht allen gleichwertig offen.

Die allgemein gültige Architektur von Chandigarh steht allen gleichwertig offen.

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Universelle Werte

Le Corbusier hat Chandigarh nach universellen Werten konzipiert, die im Westen in manchen Kreisen in Verruf geraten sind. Ausgangspunkt seiner Architektur war der Mensch, was in markantem Kontrast zu aktuellen utopischen Idealstädten steht wie «The Line» in Saudiarabien. «Chandigarh wurde als Fussgängerstadt entworfen», sagt die Direktorin. Der Architekt adaptierte seine Betonmoderne an das lokale Klima und plante eine Gartenstadt. Auf einem Drittel der Fläche wachsen Bäume.

Der Schweizer Baukünstler kam jeweils nur für wenige Monate im Jahr nach Indien. «Ich bezweifle, dass er ein umfassendes Verständnis hatte vom Kontext der Kultur, in der er entwarf», sagt der Architekt Siddhartha Wig. Die indischen Architekten in seinem Team hatten an westlich geprägten Schulen gelernt. Doch für Wig und seine Kollegen ist das kein Grund, die Stadtplanung zurückzuweisen. «Wir haben einen fremden Meister genommen und ihn zu unserem eigenen gemacht», sagt der Architekt. «Es nimmt unserer Identität nichts weg, sondern bereichert sie.» Während die Identitätspolitik die Welt immer präziser aufdröselt, setzt das gebaute humanistische Ideal Chandigarh auf Verbindung.

Die Landbevölkerung zog aus dem Bundesstaat Punjab in die Stadt, wo sich viele Menschen entfremdet fühlten. Die allgemein gültige Architektur stand aber allen gleichwertig offen. «Chandigarh hat mir einen Geschmack dafür gegeben, was ein städtischer Raum sein und bieten kann», sagt ein Künstler und Stadtaktivist. Zu Chandigarhs universellem Verständnis gehört auch die Trennung zwischen Werk und Autor, was in Indien offenbar leichter fällt als in der Schweiz. Die Eidgenossenschaft hat Le Corbusier 1997 auf einer Banknote verewigt. Eine Dekade später wollte die Stadt Zürich den Platz bei der Europaallee nicht mehr nach dem Architekten benennen, weil ihm Antisemitismus vorgeworfen wurde. Die Zeit beurteilt den Baukünstler anders, sein Werk aber bleibt zeitlos.

Le Corbusier entwarf Chandigarh analog zum menschlichen Körper. Der Kapitol-Komplex mit dem Gericht, dem Parlament und einem Verwaltungsbau bildet den Kopf.

Le Corbusier entwarf Chandigarh analog zum menschlichen Körper. Der Kapitol-Komplex mit dem Gericht, dem Parlament und einem Verwaltungsbau bildet den Kopf.

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2016 kürte die Unesco das Ensemble des Kapitol-Komplexes zum Weltkulturerbe.

2016 kürte die Unesco das Ensemble des Kapitol-Komplexes zum Weltkulturerbe.

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Stadt heisst Veränderung

Der Kapitol-Komplex mit dem Gericht, dem Parlament und einem Verwaltungsbau gehört zum Kopf der Stadt, deren Masterplan Le Corbusier einem Körper nachempfunden hat. 2016 kürte die Unesco das Ensemble zum Weltkulturerbe. Doch seit einem Selbstmordanschlag ist der Komplex nur noch auf geführten Touren zugänglich. Die öffentliche Geste des Ortes hat ihre Funktion verloren.

«Chandigarh wird immer mehr zu einem Museum», sagt der Architekt Siddhartha Wig. «Dabei sollte es eine lebendige Stadt sein, die wachsen, sich entwickeln, aus der Vergangenheit lernen und in die Zukunft blicken können muss.» Die Konservierung geht zurück auf ein Edikt, das Beton, Ziegel und Stein als Baustoffe vorschrieb und alle Bäume unter Schutz stellte. Le Corbusier schaffte eine Utopie und meisselte sie in Stein. Seine unbedingte Kontrolle reichte nicht nur bis ins Detail, sondern bis in die Zukunft.

Die meisten Bauten sind bis heute unangetastet geblieben, obwohl die Stadt schnell gewachsen ist. Heute leben eine Million Menschen darin, doppelt so viele wie einst geplant. Doch eine Verdichtung ist wegen des Edikts nicht möglich und das Stadtgebiet begrenzt. Die Folgen: Im Umland sind zwei weitere Städte entstanden mit gesichtslosen Hochhäusern. Am Siedlungsrand wachsen Slums, im Zentrum steigen die Immobilienpreise.

Die Entwicklung in Chandigarh ist extrem. Dennoch erinnert sie an manche Städte in Europa, die man vor Wandel bewahrt. Der Denkmalschutz ist richtig und wichtig und hat auch in Chandigarh die Qualitäten bis heute erhalten. Doch der Preis dafür ist eine exklusive, wenig dynamische Stadt. Die Regierung überlegt, das Edikt mit Beteiligung der Bevölkerung anzupassen. Dazu müsse diese allerdings erst die Architektur und die Geschichte ihrer Stadt verstehen, meint die Direktorin Deepika Gandhi. Jede Veränderung beginnt mit dem Verständnis für das Vorhandene.

«Kraft der Utopie – Leben mit Le Corbusier in Chandigarh» von Thomas Karrer und Karin Bucher. Filmstart am 24. August.