Vorbild Bülach: Eine Agglo-Gemeinde zeigt den Städten, wie man richtig verdichtet

Bülach ist Schweizer Meister im Verdichten. Dies zeigt eine Auswertung der 50 grössten Gemeinden der Schweiz. In den grossen Städten kommt die allseits geforderte bauliche Verdichtung und die Verbesserung des Wohnungsangebots hingegen nicht voran.

Jürg Zulliger 5 min
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Glasi-Quartier in Bülach: Eine hohe Ausnützung, vorwiegend sechs Stockwerke, mit direktem Bahnanschluss.

Glasi-Quartier in Bülach: Eine hohe Ausnützung, vorwiegend sechs Stockwerke, mit direktem Bahnanschluss.

Pascal Meier / Unsplash

Vor uns erhebt sich das neu gebaute Glasi-Quartier in Bülach, eines der grössten Wohnbauprojekte der letzten Jahre. Die Firma Glashütte Bülach hat hier 111 Jahre lang Einmachgläser und Christbaumständer aus Glas produziert. Kult sind auch die 25-Liter-Glasballons für Wein. Jetzt ist auf dem Areal ein neuer Stadtteil mit 583 Wohnungen, Gewerbeflächen und öffentlichen Plätzen entstanden. Das gesamte Bild wird von einem 19-stöckigen Hochhaus dominiert, das über dem Quartier thront.

Die Zürcher Agglomerationsgemeinde hat schon seit dem Jahr 2000 ein beachtliches Bevölkerungswachstum von 40 Prozent erlebt. Eine neue Analyse zeigt nun, dass Bülach zugleich ein Modell für die bauliche Verdichtung geworden ist. Keine andere Schweizer Gemeinde hat ihre Bewohnerdichte pro Hektare Bauzone so drastisch erhöht wie Bülach – der Zuwachs von 2017 und bis 2022 beträgt 18 Prozent. Die Bewohnerdichte ist neben Gebäudehöhen und baulicher Dichte ein massgeblicher Indikator dafür, ob bestehender Raum besser genutzt wird oder nicht.

Agglomerationen schaffen Wohnraum

Auf Rang 2 liegt Kloten mit 7,4 Prozent mehr Bewohnerinnen und Bewohnern pro Hektare, es folgen Schlieren, Bulle und Nyon (siehe Tabelle). «Die Dynamik der baulichen Verdichtung und der Bewohnerdichte spielt sich derzeit vor allen in Agglomerationsräumen im Raum Zürich, in Kriens, teils aber auch in Lausanne und in Genfer Vororten ab», sagt Robert Weinert. Er ist Ökonom beim Beratungsunternehmen Wüest Partner und hat die Zahlen ausgewertet. Raumplanerisch geht der Trend laut dem Experten zumindest in einem Punkt in die richtige Richtung: Wenn Dübendorf, Bülach, Kloten oder Renens bei Lausanne neuen Wohnraum schaffen, handelt es sich um gut erschlossene Standorte. «Das verspricht verkürzte Distanzen in die Arbeitszentren», so Weinert.

Eine weitere wesentliche Erkenntnis: Von den 50 grössten Gemeinden haben nur gerade 12 in dem Mass verdichtet, wie es das durchschnittliche Bevölkerungswachstum der Schweiz erfordern würde. Im gleichen Zeitraum legte die ständige Schweizer Wohnbevölkerung um 3,9 Prozent zu. Die oft zitierte «Entwicklung nach innen» droht zu scheitern. «Die Verdichtung der Städte ist definitiv nicht ausreichend», erklärt Matthias Engel vom Baumeisterverband. Nach der Raumplanung sollte schweizweit möglichst kein weiteres Bauland mehr eingezont werden. Kein Weg führt also daran vorbei, dass Städte und Agglomerationen das bestehende Siedlungsgebiet besser und effizienter nutzen.

Bülach an der Spitze: Die 20 Top-Gemeinden bei der Verdichtung

Zunahme der Wohnbevölkerung 2017-2022 innerhalb der verfügbaren Bauzone, Veränderung in Prozent

Doch mit all diesen Bemühungen bewegen sich die Behörden, Grundeigentümer und Investoren in einem höchst delikaten Kräftefeld: In den Innenstädten sind die Risiken am grössten, dass Projekte am Lärmschutz, an Einsprachen oder am politischen Widerstand in den Stadtparlamenten scheitern. Die Raumplanung lenkt die Entwicklung just in bestehende Siedlungsgebiete, wo die Bewilligungsverfahren am längsten dauern. Kommt dazu, dass Bauland in den Städten und in stadtnahen Gebieten signifikant teurer ist als an anderen Lagen. Den Preis dafür zahlen alle: Wohnraum bleibt knapp und teuer.

Berner Stadtpräsident: «Transformation ist Knochenarbeit»

Die meisten grösseren Städte wie Bern, Luzern oder St. Gallen landen im Ranking auf den hinteren Plätzen. Der Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried begründet die geringen Fortschritte damit, dass auf Berner Stadtgebiet kaum noch Baulandreserven vorhanden seien: «Die Entwicklung im Bestand ist unsere grösste Reserve, und diese Transformation ist Knochenarbeit.» Das geltende Stadtentwicklungskonzept stelle die Qualität der Innenentwicklung in den Vordergrund und erlaube deutlich höhere Dichten als in früheren Planungen. «In den kommenden Jahren erwarten wir deshalb einen grösseren Entwicklungsschub», betont Alec von Graffenried.

In Basel geht es insofern vorwärts, als Neubauten wesentlich höher sind als früher. Basler Wohnbauten der letzten Jahre kommen auf eine durchschnittliche Gebäudehöhe von rund neun Geschossen. «Die Verdichtungsmusterschüler Bülach, Kloten und Dübendorf bauen ebenfalls deutlich höher», stellt Robert Weinert fest. Auch Meyrin und Vernier bei Genf fallen mit neuen, grossmassstäblichen Wohnbauten auf.

«Die Dynamik findet derzeit tatsächlich in den Agglomerationen statt», bestätigt Markus Mettler, CEO des Familienunternehmens Halter AG. Die Gründe liegen für den Bauunternehmer auf der Hand: «Der Widerstand gegen Verdichtung und überhaupt gegen neue Projekte ist in den Städten um ein Vielfaches grösser als in der Agglomeration. Jeder Quadratmeter muss erkämpft werden.» Dem Schein nach seien zwar alle für diese Innenverdichtung, doch in der Praxis würden Interessenverbände und Anwohner alle Hebel in Bewegung setzen, um neue Vorhaben zu verhindern. Baugesetze und Gestaltungspläne bieten viele Angriffsflächen: etwa mit Mindestabständen, der Erhaltung schützenswerter Bauten, gestalterischen Fragen und Vorschriften zum Lärmschutz. «Dabei verspricht ja gerade ein verdichtetet gebauter Wohnbau mit autofreien Innenhöfen eine spürbare Reduktion des Lärms», so Mettler.

Genf: Gründe für schwachen Wohnbau

Ein Extremfall ist Genf: Die Stadt am Lac Léman leidet unter einer tiefen Wohnbautätigkeit und legt auch bei der baulichen Dichte kaum zu – ganz im Unterschied zur Agglomeration im Kanton Genf. Rigorose Vorschriften und Preiskontrollen in den kantonalen Entwicklungsgebieten, aber auch die strenge Mietrechtsauslegung sind für die Investitionstätigkeit offenbar hemmend. So hat die Bewohnerdichte in der Stadt Genf seit 2017 nicht etwa zugenommen, sondern sie war stark rückläufig. Mit minus 20 Prozent ist die Stadt Genf die Verliererin in diesem Vergleich. Robert Weinert geht aber von einer positiven Wende aus: «Die Zahlen für Genf werden sich schon bald verändern. Denn aktuell verzerren neue Einzonungen das Ergebnis.» Weinert ist überzeugt, dass das neu eingezonte Land in nächster Zeit Raum für neue Projekte schaffen wird. Dann könnte auch die bauliche Dichte wieder steigen.

Dass die Verdichtung der Städte stockt, kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt: Denn zugleich ist der Neubau deutlich rückläufig. Während noch vor acht oder zehn Jahren pro Jahr über 55 000 Wohnungen realisiert wurden, brachen die Investitionen letztes und dieses Jahr um mehr als 20 Prozent ein. Für die Wohnraumversorgung der Schweiz sei dies der «perfekte Sturm», sagt der Unternehmer Markus Mettler. Dabei ist keine Trendwende in Sicht: Die Flaute im Wohnungsbau wird wohl noch einige Zeit anhalten – Inflation, höhere Baukosten, höhere Zinsen und strenge Richtlinien der Banken bei der Baufinanzierung hinterlassen deutliche Spuren.

Wer eine Verbesserung erreichen wolle, müsse die Raumplanung neu denken: Markus Mettler fordert die Öffnung der Arbeitszonen für Wohnnutzungen. Und um die von allen Seiten propagierte Verdichtung tatsächlich umzusetzen, müssten die Vorgaben in den Bau- und Zonenordnungen unter anderen Vorzeichen stehen: «Was wir brauchen, ist nicht eine zulässige maximale Ausnützung eines Grundstücks, sondern umgekehrt eine vorgeschriebene Mindestdichte», sagt Mettler. Denn selbst wenn Städte gewisse Planungsinstrumente schaffen, die dichtere und höhere Bauten zulassen würden – wirklich ausgeschöpft werden sie bis jetzt nur selten.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»